Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Pestalozzis Kindheit und Jugendzeit in Zürich

Wir schreiben das Jahr 1755. Die Erde bebt, Portugals Hauptstadt Lissabon wird zerstört, und auch in Zürich wackeln die Häuser. Der Schulunterricht wird unterbrochen, die Kinder und Lehrer rennen die Treppe hinunter, um sich ins Freie zu retten. Aber die Bücher, Hüte und Kappen sind im Haus geblieben. Da geht ein neunjähriger Bub seelenruhig ins Haus und holt den Lehrern und Schülern ihre Sachen.

Dieser unerschrockene Bub war Johann Heinrich Pestalozzi. Heute ist Pestalozzi ohne Zweifel weltweit der bekannteste Schweizer. Von ihm sind fruchtbare geistige Impulse ausgegangen, und er hat das Denken und Handeln vieler Menschen geprägt oder beeinflusst. Vieles von dem, was Pestalozzi gedacht und getan hat, kann man in seinen Schriften und in einigen Tausend Briefen, die noch erhalten sind, nachlesen. Noch ist nicht alles gedruckt, aber die wissenschaftliche Ausgabe all seiner Schriften und Briefe (auch jener Briefe, die er erhalten hat), wird in den nächsten Jahren fertiggestellt und umfasst dann rund 50 Bände.

Das Verhalten des kleinen Pestalozzi anlässlich des Erdbebens zeigt einen wesentlichen Charakterzug dieses seltsamen Menschen: Er war mutig, wo andere verzagten, er handelte, wo andere zögerten oder zauderten, er gehorchte seinem Gefühl, wo andere klug abwogen, aber darum verkannte er oft auch Gefahren, wo andere mit Grund vorsichtig waren. Pestalozzi selbst berichtet in der Rückschau auf sein Leben, kurz vor dem Tod, dass er schon als kleiner Bub infolge seiner Anlagen und seiner Erziehung das Gefühl hatte, „mehr zu sein und mehr zu bedeuten als andere Leute“: „Ich liebte zu können, was andere nicht konnten, und zu tun, was andere nicht durften: über die Balken auf Gerüsten bei Häusern in die Dachstühle hinaufzusteigen und auf einem Fuss am Rand des Hirschengrabens zu springen.“In der Rückschau erkennt der greise Mann, dass ihn dieses „montierte Selbstgefühl“ in viele Schwierigkeiten gebracht hat.

Dass sich Pestalozzi dieses Gefühl, mehr als andere zu bedeuten, als Fehler anrechnet, zeugt für sein ehrliches Ringen um Selbsterkenntnis. Aber wir andern dürfen doch in der Rückschau mit Fug und Recht behaupten: Pestalozzi war tatsächlich mehr als andere. Er hat wie kaum einer auf seine innere Stimme gehört und blieb dem, was er als seinen Lebensauftrag erkannte, trotz allen Schwierigkeiten treu. Dabei hat er Gedanken entwickelt, die sich gerade in der heutigen Zeit als hilfreich erweisen, und hat er ein Werk geschaffen, das Tausende von Menschen packte, begeisterte und auf irgend eine Weise innerlich bereicherte. Durch sein Denken und sein Handeln hat er nachhaltig auf seine Zeit und in die Zukunft hinein gewirkt.

Pestalozzis Vater amtete in Zürich als Wundarzt, trieb ein bisschen Weinhandel und hätte eben die Stelle als Unterschreiber in der Stadt erhalten, als er erkrankte und starb. Das war 1751, Heinrich war gerade fünfjährig. So wurde er zum „Mutterkind“, überbehütet und eingeengt, auch früh gedemütigt durch eine versteckte Armut, welche die Witwe Pestalozzi nicht zeigen durfte. Die Pestalozzis waren immerhin ein renommiertes Stadtgeschlecht mit allen bekannten Vorrechten: Nur Stadtbürgern standen alle Schulen und alle Ämter offen, und nur sie durften ohne Einschränkung Handel oder ein Gewerbe betreiben. So gab es in Pestalozzis Ahnenreihe Bürgermeister, Pfarrherren, Seidenhändler, und Heinrichs Grossvater Andreas Pestalozzi war Pfarrer in Höngg. Auch Heinrich wollte zuerst diese Laufbahn antreten und durchlief alle Schulen, die einem Stadtzürcher damals offen standen, bis hinauf zum „Carolinum“, dem Vorläufer der heutigen Universität.

Pestalozzi erzählt, er hätte einmal, da er in einem Schulexamen der Erste war, das Vaterunser laut vorbeten sollen, dies aber nicht zustande gebracht, weil er immer lachen musste. Das mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb er den Plan, Pfarrer zu werden, aufgab und sich dem Rechtsstudium zuwandte. Aber der wahre Grund lag wohl tiefer. Pestalozzi hatte sich – gemeinsam mit einer Reihe anderer Studenten – dem Bund der „Patrioten“ angeschlossen, welcher sich um den berühmten Professor Johann Jakob Bodmer geschart hatte. Wöchentlich trafen sie sich in der Zunftstube der Gerber und diskutierten vorwiegend über drei Gebiete: über die Philosophie der Griechen, über zeitgenössische Philosophie und über aktuelle politische Fragen. Sie begeisterten sich für die Ideen der Aufklärung, waren gierig auf jede Zeile des in Frankreich lebenden Philosophen Jean Jacques Rousseau und versuchten sich gegenseitig in tugendhaftem Lebenswandel zu übertreffen. Dabei trat die traditionelle christliche Lehre etwas in den Hintergrund und machte einer als „natürlich“ empfundenen Religiosität Platz, die sich mehr auf die eigene Vernunft als auf die Bibel oder die reformatorische Überlieferung stützte. Pestalozzi selbst war in der Kindheit zwei christlichen Strömungen ausgesetzt: einerseits dem offiziellen reformierten Protestantismus von Ulrich Zwingli, andererseits – durch seine Familie – dem Pietismus, der von Deutschland her in die Schweiz hineingewirkt hatte. Der Pietismus setzte sich ein für ein einfaches Tatchristentum, das aus dem Herzen heraus gelebt wurde, und lehnte das vernünftelnde Herumdeuten am Schriftwort ab. Kein Wunder also, dass Pestalozzi kein besonderes Interesse an theologischen Fragen entwickelte, denn dazu hatte er weder als pietistisch erzogenes Kind noch als an der Aufklärung interessierter Student besonderen Grund. Vielmehr erregten die sozialen und politischen Ungerechtigkeiten sein Interesse. Schon als Knabe hatte er, wenn er bei seinem Grossvater in Höngg weilte – Höngg war damals noch ein Weinbauerndorf – , die Not der armen und politisch benachteiligten Landbevölkerung gesehen. Schon früh erwärmte sich sein Herz für die Ausgestossenen, Entrechteten, Notleidenden. Im Patriotenkreis wurde das Gebaren der selbstherrlichen Zürcher Regierung heftig kritisiert, denn diese hatte die Landbevölkerung im Laufe der Zeit systematisch entrechtet. So erhoffte sich Pestalozzi, einmal als Rechtsgelehrter der Landbevölkerung beistehen zu können.

Pestalozzis Einstehen für die arme Landbevölkerung ging aber auch Hand in Hand mit einer damals aufkommenden Modeströmung. Unter Rousseaus Einfluss begann man nämlich ganz allgemein, das einfache Landleben höher zu schätzen, ja es entwickelte sich eine eigentliche Land- und Bauernschwärmerei. Dazu hatte auch ein Buch des Zürcher Stadtarztes Hans Caspar Hirzel beigetragen. Es war betitelt mit „Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers“ und beschrieb das Leben und die Unternehmung des Katzenrüti-Bauern Jakob Guyer, genannt „Kleinjogg“. Die Zürcher Studenten rechneten es sich zur Ehre an, von ihm empfangen zu werden und sich von ihm bei Speck und Most über „das wirkliche Leben“ belehren zu lassen. Und manch einer griff, wenn Not am Mann war, selber zur Hacke oder Heugabel und zeigte dann seinen Mitstudenten stolz seine Blasen und Schwielen an den Händen. So war es denn auch kein Wunder, dass sich auch Pestalozzi für die Landwirtschaft interessierte. Aber im Gegensatz zu seinen Mitstudenten, die zwar für das Landleben schwärmten, dann aber doch bei Gelegenheit das väterliche Geschäft übernahmen, war es Pestalozzi bei seinem Interesse für das Leben des Bauern ernst. Wie es dazu kam, dass er selber Bauer wurde, soll in einem späteren Beitrag geschildert werden.

Liebe und Berufswahl

Die wohl stärkste Persönlichkeit im Zürcher Patriotenkreis war Johann Kaspar Blunschli, von den Studenten „Menalk“ geheissen. Durch sein mustergültiges Beispiel und durch offene, unzweideutige Ermahnungen trieb er die Patrioten an zu einem asketischen Lebenswandel. Lustbarkeiten, Luxus oder gar Ausschweifungen waren verpönt. Das Lebensideal war spartanische Einfachheit, Selbstbeherrschung, Ruhe und Gelassenheit bei widrigen Umständen, Aufopferung fürs Vaterland, mutiges Einstehen für Recht und Gerechtigkeit – dies alles verbunden mit gläubiger Gottergebenheit. Kein Wunder, dass sich Pestalozzi für diese Ideale begeistern liess. Er hat sie bewahrt bis zu seinem Lebensende.

Menalk pflegte eine Seelenfreundschaft mit Anna Schulthess. Diese fühlte sich durch die hochgemute Gesinnung ihres um fünf Jahre jüngeren Freundes innerlich erhoben, bei ihm blieb ihre „Reinheit“ unangetastet, und er war ihr ein Stütze, wenn es ihr nicht gut ging. Das war häufig der Fall, denn in ihrer Familie gab es oft Streit. Zwar hielten die fünf Brüder zu ihrer einzigen Schwester, und der Vater – der wohlhabende Zuckerbäcker Johann Jakob Schulthess – war ein frommer Pietist mit einem weichen Herzen, doch die Mutter Anna, geb. Holzhalb, gab den Ton an, und sie war – leider muss man das sagen – kaltherzig, zänkisch und herrschsüchtig.

Menalk erkrankte früh an Tuberkulose, und er sah seinem Ende gefasst entgegen. Auch hierin war er all seinen Freunden, zu denen auch Pestalozzi gehörte, leuchtendes Beispiel. Mit 24 Jahren starb er, nachdem er Pestalozzi gleichsam den Auftrag erteilt hatte, das zu verwirklichen, was ihm selbst nun nicht mehr möglich war: sich für das Wohl des Vaterlandes, für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen, und zwar mit aller Kraft, selbst auf die Gefahr des Lebens hin.

Pestalozzi hatte in den Tagen vor Menalks Tod ein „Denkmal“ über ihn verfasst, worin er sich – wie wir aus späteren Äusserungen schliessen können – auch in Annas Seelenlage einfühlte. Über diese – leider verschollene – Schrift entspann sich mit Anna nach Blunschlis Tod ein kurzer Briefwechsel, und dabei entflammte Pestalozzis Herz für die trauernde Schulthess, der er sich bisher kaum zu nähern gewagt hatte. Er war 21, sie acht Jahre älter, und man hiess sie „die schöne und kluge Jungfer Schulthess“. Studentinnen gab es damals noch nicht, aber sie nahm als eine der wenigen Frauen lebendigen Anteil an den Gesprächen und den Aktionen der Patrioten.

Pestalozzi wurde mit unerhörter Heftigkeit von der Liebesleidenschaft gepackt. Er konnte nichts mehr essen, schrieb Briefe und zerriss sie wieder, und schliesslich eröffnete er seiner Angebeteten in einem langen Brief seine Seelenlage. Darin lesen wir: „Den ganzen Tag gehe ich ohne Beschäftigung, ohne Arbeit, gedankenlos immer seufzend umher, suche Zerstreuung und finde sie nicht, nehme Ihren Brief, lese ihn, lese ihn wieder, träume, habe Hoffnung, habe dann wieder keine, betöre eine zärtlich ängstliche Mutter mit Erzählung von den Gründen einer Krankheit, die ich nicht kenne, fliehe den Umgang mit meinen Freunden, fliehe die Heiterkeit des Tags, sperre mich ins einsamste, dunkelste Zimmer, werfe mich auf das Bett hin, finde keinen Schlaf, keine Ruhe; ich verzehre mich selbst.“

Anna reagierte reserviert, fast betreten. Solche Töne waren auch für sie neu, und sie brauchte ihre Zeit, um in sich Gefühle zuzulassen, die kaum Platz hatten im beinahe fanatischen Streben der Patrioten nach Tugendhaftigkeit. Auch Pestalozzi rechnete sich seine Liebesleidenschaft als Schwäche an, die es zu besiegen galt. Im Bestreben, die Vernunft über die Leidenschaft siegen zu lassen, schlug er Anna vor, sich brieflich gegenseitig ganz so zu zeigen, wie man wirklich ist – mit allen Fehlern. So begann er gleich, seine wichtigsten Fehler aufzuzählen. Neben seiner „grossen, wirklich sehr fehlerhaften Nachlässigkeit in allen Etiketten“ erwähnt er Unvorsichtigkeit, Unbehutsamkeit, Mangel an Geistesgegenwart bei unerwarteten Vorfällen und die Unfähigkeit, Freunde und Feinde wirklich gerecht zu beurteilen. Als Fehler rechnet er sich auch an, dass er beim Unglück seines Vaterlandes und seiner Freunde selber unglücklich ist, obwohl er doch – als Christ – in allem das Walten der göttlichen Vorsehung erkennen müsste. Dann lässt er Anna aber auch nicht im Unklaren über seine Zukunftspläne. Er sagt ihr frei heraus, dass er die Pflichten gegenüber dem Vaterland über die Pflichten gegenüber der geliebten Gattin stellen werde. „Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen.“ Er ist entschlossen, sich „ganz dem Vaterland zu widmen“ und nie aus Menschenfurcht zu schweigen, wenn ihn der Vorteil des Vaterlandes reden heisst. „Ich werde meines Lebens, ich werde der Tränen meiner Gattin, ich werde meiner Kinder vergessen, um meinem Vaterlande zu nützen.“ Und er macht Anna wortreich auf alle Gefahren – einschliesslich seines möglichen Todes – aufmerksam, die aus diesem Entschluss erwachsen könnten.

Anna hat es also gewusst, mit wem sie sich einliess, als sie seinen Liebeswerbungen nachgab. Nach etwa einem Vierteljahr war sie dann so weit. Am 19. August 1767 teilt sie ihm ihr Ja zu einem Ehebund mit, bezeichnenderweise in der Form eines Gebetes an Gott. Und dann richtet sie ihr Wort an ihren Geliebten und spricht ihn – nach einem dreimonatigen Briefwechsel – erstmals mit „Du“ an: „Falle auch Du nieder auf Deine Knie und bete den Allmächtigen an und erflehe ihn, dass er uns glücklich mache! Ich will Dich lieben, solange Du der Tugend getreu bist, und Du wirst ihr nicht ungetreu!“

Das alles – Briefwechsel, geheime Stelldicheins, Verlobung – spielte sich hinter dem Rücken der Eltern Schulthess ab. Denn dass diese, vorab die Mutter, gegen den Habenichts Pestalozzi eingestellt waren, war beiden klar. Und tatsächlich: Als Pestalozzi seine Werbung den Eltern vortrug, wurde er aus dem Haus geworfen und hat dieses bis nach seiner Vermählung mit Anna nie mehr betreten. Gerade darum, weil sich die beiden nur noch im Geheimen treffen konnten und deshalb vor allem brieflich miteinander verkehrten (wobei Pestalozzis Briefe seiner Geliebten von den Brüdern insgeheim zugesteckt wurden), können wir heute noch Anteil nehmen an dieser ergreifenden Brautschaft der beiden Liebenden, denn es sind immerhin über 450 Liebesbriefe erhalten.

Anna befand sich in einer schwierigen Lage: Einerseits wollte sie es nicht auf einen Bruch mit den Eltern ankommen lassen, da sie nicht ohne deren Segen heiraten wollte, andererseits drängte Pestalozzi auf eine baldige Entscheidung und Verbindung, denn er hatte sich unterdessen in Mülligen angesiedelt und war mit dem Aufbau einer landwirtschaftlichen Unternehmung auf dem Birrfeld beschäftigt. Schliesslich willigte der Vater in eine Vermählung ein, aber die Mutter blieb hart. Trotzdem heirateten die beiden im September 1769 in der Kirche Gebenstorf, in engstem Familienkreise. Die Eltern Schulthess blieben der Feier fern. Mitnehmen durfte Anna bloss ihre Kleider und das Klavier …

Pestalozzi als Bauer

Pestalozzi hatte im Sommer 1767 von Anna Schulthess das Jawort zur Ehe erhalten, und so galt es nun, sich nach einem Broterwerb umzusehen. Für einen Stadtzürcher hiess dies: entweder eine Staatsstelle erhalten oder ins elterliche Geschäft einsteigen oder eine eigene Unternehmung gründen. Pestalozzi hatte sich durch seine politischen Aktivitäten bei der Regierung ausreichend unbeliebt gemacht, und so blieb angesichts seiner familiären Situation bloss noch die dritte Möglichkeit. Zuerst gedachte er mit der – eher bescheidenen – Hinterlassenschaft seines früh verstorbenen Vaters in der Stadtnähe Land zu kaufen, um dort Gemüse zu pflanzen. Das nötige Wissen wollte er in einer landwirtschaftlichen Lehre erwerben.

Sein Lehrmeister war ein Musterbauer im bernischen Kirchberg, Johann Rudolf Tschiffeli, Gründer und Präsident der ökonomischen Gesellschaft Bern. Bei ihm konnte Pestalozzi den Gemüse-, Acker- und Obstbau erlernen. Am 7. September 1767 traf er in Kirchberg ein. Anderntags schrieb er seiner Freundin Anna begeistert von seinem Meister: „Tschiffeli ist der beste Vater, der grösste Landwirt, in allem mein Beispiel, mein Lehrer, mein Vater.“ Er musste den Brief seiner Geliebten über allerlei Umwege senden, denn ihre Eltern wussten ja noch nichts von dieser Liebschaft. Bereits zwei Wochen später schrieb er seiner ‘Nanetten’: „Ich habe jetzt einen Beruf, mein teures, liebes Kind, ein Beruf, der uns reichliche Unterhaltungswege zeigen wird. Tschiffeli bereichert sich wirklich mit seinem Landbau sehr. Ich lerne ihn ganz aus dem Grund verstehen und bin der Sicherheit, mich so etablieren zu können, ganz gewiss.“

Man sieht: Pestalozzi war in allem Optimist. Bereits nach sieben Monaten glaubte er über das notwendige Wissen zu verfügen, und so hielt er denn Ausschau nach geeignetem Land, zuerst in der Umgebung Zürichs, dann im Aargau. Anfangs 1769 nahm er Wohnsitz in Mülligen und betrieb von hier aus er den Kauf von Grundstücken auf dem Birrfeld. Dabei geriet er in die Fänge des berüchtigten Grundstückmaklers Heinrich Merki, Wirt und Metzger zu Lupfig. Allmählich durchschaute Pestalozzi dessen Hinterlist und Grobheit. Zuerst ermahnte er ihn, „dass er doch sein rohes, wildes Wesen … ablege und auch gesetzter und anständiger sich betrage,“ dann löste er sich von ihm, und schliesslich rächte er sich auf seine Weise, indem er ihm später in seinem Roman ‘Lienhard und Gertrud’ ein unrühmliches Denkmal setzte: Er nahm ihn zum Muster für den Roman-Bösewicht Hummel, den Dorfvogt, der alle unterdrückte und schamlos ausbeutete. Damit auch wirklich jedermann wusste, wen er sich für seinen Dorftyrannen zum Vorbild genommen hatte, erzählte er von ihm, er habe dem Kirchmeier mit dem Abendmahlskelch zugeprostet. Tatsächlich war Merki Jahre zuvor wegen dieser Gotteslästerung ins Gefängnis gesteckt worden.

Pestalozzi kaufte insgesamt gegen 60 Grundstücke und arrondierte sie zu einem neuen Besitztum. Das Land war billig zu haben, denn es war bis jetzt bloss extensiv, weitgehend als Weideland genutzt worden. Der junge Unternehmer wollte es aber intensiv nutzen: Er verwarf die alte Dreifelderwirtschaft, führte die Gips- und Mergeldüngung ein und gedachte durch die Pflanzung von Krapp und Esparsette der Landwirtschaft einen neuen Erwerbszweig zu erschliessen. Die Krapp-Pflanze, aus deren Wurzel ein roter Farbstoff für die Textilindustrie gewonnen werden konnte, benötigte eine Wachstumszeit von vier Jahren. Pestalozzi konnte für eine Teilfinanzierung seiner Unternehmung den Bankier Schulthess „zum gewundenen Schwert“ gewinnen, einen entfernten Verwandten seiner künftigen Frau, der sich allerdings im Verhältnis des eingeschossenen Kapitals am Gewinn beteiligen wollte.

Im September 1769 heiratete Pestalozzi seine geliebte Anna und begann – immer noch von Mülligen aus – bei Birr mit dem Bau eines stattlichen Herrschaftssitzes: dem Neuhof. Keine Frage: Was da Pestalozzi plante, war wenig zweckmässig und überstieg seine finanziellen Möglichkeiten. Zudem war ja erst in ein paar Jahren mit dem Erlös aus dem Krapp zu rechnen. Da erschien im Mai 1770 unangemeldet der Zürcher Bankherr, nahm in Pestalozzis Abwesenheit dessen Knecht aus, und als der in seiner Naivität die ganze Unternehmung abschätzig beurteilte, erklärte der Bankier die Sache als gescheitert und verlangte das Kapital zurück.

Nun war der junge Unternehmer in der Klemme. Der zweistöckig geplante Bau auf dem Neuhof blieb einstöckig, und erstmals musste die Familie Schulthess einspringen. Als Anna im August 1770 ihr erstes und einziges Kind, den schwächlichen und epileptischen Jacqueli, gebar, waren Pestalozzis Aussichten düster. Vorerst gelang es den beiden, sich auf dem Neuhof über Wasser zu halten, aber es kamen neue Schwierigkeiten hinzu. Es war nämlich jahrhundertelanges ungeschriebenes Recht, dass auf der Brachzelg das Kleinvieh weiden durfte. Nun machten sich also Schafe und Ziegen über Pestalozzis Pflanzungen her, und der geplagte Herrenbauer geriet mit seinen Nachbarn in einen unversöhnlichen Streit. Das hatte er sich damals in Kirchberg ganz anders vorgestellt, als er seiner Geliebten die Zukunft in den rosigsten Farben malte und sich und seine Frau als Wohltäter sah: „O liebe, liebe Nannette, wie wohl wird uns nicht sein, wenn wir bei unseren Spaziergängen niemand mehr fürchten müssen, und uns jeden Schritt ein bekannter Nachbar darum kennt, dass wir ihm gut sind, dass wir ihn lieben, einem Mann, dem wir Gefälligkeiten erwiesen, dann ein Weib, das Du in einer Krankheit, die sie erst verlassen, besucht, dann Kinder, denen wir tausend kleine Freuden machen, dann ein Greis, der, unvermögend, dennoch kein Almosen bittet, aber uns kennt, dann frohe Arbeiter, die uns segnen, dass wir ihnen durch unseren Beruf nützen. Mein Kind, wie unaussprechlich entzückend wird dieses Leben sein. … Ach, Segen und Freude um sich her zu verbreiten, welche Wollust, welche Entzückung! Und aus einer unbemerkten niederen Hütte der Segen des Landes sein, o Geliebte, wie überfliesst mein Herz von Hoffnungen!“ Die harte Realität war leider anders: Pestalozzi musste die Gerichte gegen seine Nachbarn anrufen, und dann folgten Frost, Hagel und Missernten, und die Unternehmung war am Ende.

Als Achtzigjähriger schaut Pestalozzi in seinem ‘Schwanengesang’ auf sein Leben zurück und erkennt, dass auch Tschiffeli die Möglichkeiten des Krappanbaus überschätzt hatte. Tatsächlich konnte sich dieser später auch nur dank einem grossen Los-Gewinn vor dem Konkurs retten. Pestalozzi beklagt, er sei zwar „mit vielen einzelnen, grossen und richtigen Ansichten und Aussichten über den Landbau“, aber eben doch als ein „grosser landwirtschaftlicher Träumer“ von seinem Lehrmeister weggegangen. Jedenfalls habe das Scheitern seiner landwirtschaftlichen Unternehmung entscheidend auf das „ökonomische Unglück“ seines Lebens eingewirkt und erfülle sein Herz jetzt noch vor allem deshalb mit Wehmut, weil es das Schicksal seiner Frau, „einer der reinsten, edelsten Seelen, die ich je auf Erden gesehen“, an seiner Seite für ihre ganze Lebenszeit unglücklich gemacht habe.

Armenanstalt auf dem Neuhof

Der Übergang von der landwirtschaftlichen Unternehmung zur Armenanstalt auf dem Neuhof in den Jahren 1773/74 war fliessend. In jener Zeit verschafften sich viele Bauern einen zusätzlichen Verdienst durch die Verarbeitung von Baumwolle. Mädchen und Frauen sassen vorwiegend am Spinnrad, während die Knaben und Männer in feuchten Kellern den Webstuhl traten. Pestalozzi hatte verwandtschaftliche Beziehungen zu Baumwollhändlern, was es ihm ermöglichte, sich als Fergger zu betätigen: Er lieferte den Bauern das Rohmaterial und übernahm dann die Gewebe zum Weiterverkauf. Je schlechter es nun Pestalozzi in der Landwirtschaft erging, desto stärker rückte er das Baumwollgeschäft ins Zentrum.

Kinderarbeit war damals – wie überhaupt in früheren Zeiten – selbstverständlich. Der Anblick von herumstreunenden verwahrlosten Bettelkindern brachte nun Pestalozzi auf die Idee, diese bei sich aufzunehmen und sie auf dem eigenen Hof zu beschäftigen. Einerseits sollte diese neue Unternehmung ihm und seiner Familie eine Existenzgrundlage sichern, und andererseits bot ihm dies die Möglichkeit, dem Drang seines Herzens zu folgen und einen Beitrag zu leisten, um „die Quellen des Elends zu stopfen“. Das war seiner Ansicht nach nur möglich, indem die Kinder arbeiten lernten. Die Mädchen sollten sich im Spinnen, Stricken, Kochen, Haushalten üben, wogegen die Knaben den kleinen Feldbau und das Weben zu erlernen hatten. Darüber hinaus sorgte Pestalozzi für die Unterrichtung der Kinder in Lesen, Scheiben und Rechnen. Und schliesslich setzte er sich als höchstes Ziel, das Gemüt der Kinder zu bilden und sie gemeinsam mit seiner Frau zu guten Christenmenschen zu erziehen.

Nach Pestalozzis Absicht sollte die Anstalt selbsttragend sein. Er glaubte, jene Kinder, die bei ihm spinnen und weben gelernt hatten, blieben wohl noch einige Zeit in der Anstalt und er könnte mit dem Ertrag ihrer Arbeit die Kosten der Anfänger und Behinderten bestreiten. Aber da täuschte er sich, denn kaum hatte er ein Kind eingekleidet und aufgepäppelt und ihm die ersten Fertigkeiten beigebracht, holten es die Eltern wieder aus der Anstalt und liessen es auf eigene Rechnung arbeiten. So entsprachen denn auch die Gewebe, die Pestalozzi an der Zurzacher Messe feilbot, nicht den Ansprüchen der Käufer, und er musste sie weit unter dem erhofften Preis losschlagen.

Um den finanziellen Ruin abzuwenden, wandte sich Pestalozzi Ende 1775 an die Öffentlichkeit. In seiner „Bitte an Menschenfreunde und Gönner zu gütiger Unterstützung einer Anstalt, armen Kindern auf einem Landhause Auferziehung und Arbeit zu geben“ legte er seine Ideen der Armenerziehung erstmals dar. Dabei verteidigte er sich gegen den Vorwurf, das Arbeiten schade den Kindern: „Erfahrungssache ist es mir, dass nicht das frühe und späte Arbeiten die ärmste Jugend in ihrem Wuchs und in ihrer Entwicklung hemmt, sondern Unordnung im Leben, öfterer Mangel des Notwendigen, hastiger sich überfüllender Genuss beim seltenen Anlass. Mehr aber noch ungehemmte und gereizte Leidenschaften, Wildheit, beständige Unruhe, Unwille und niedergedrückter Mut sind Ursachen der Hemmung ihres Wuchses und ihrer Gesundheit und nicht anhaltende Arbeit.“ In seiner Schrift bittet Pestalozzi um jährliche Darlehen von „einigen wenigen Gulden“, die er vom 10. Jahre an zurückzuzahlen gedenke.

Der Aufruf blieb nicht ohne Erfolg, aber 1776 war ein berühmtes Hungerjahr, und mancher zugesicherte Betrag blieb aus, weshalb sich Pestalozzi wiederum zunehmend verschulden musste. Seine Anstalt war auch zu einem aufwendigen Betrieb herangewachsen. Um 1778 beherbergte der Neuhof 37 Kinder und Jugendliche die von einer Hausgehilfin, einem Webermeister, zwei gelernten Webern, einer Spinnermeisterin, zwei erwachsenen Spinnern, einem Hilfslehrer, zwei Knechten und zwei Mägden betreut wurden.

Pestalozzi betrachtete seine Anstalt als ein Modell und hielt darum die Öffentlichkeit über seine Unternehmung und seine leitenden Ideen stets auf dem Laufenden. Er tat dies am gründlichsten in seinen drei berühmten Briefen an den früheren Landvogt auf Schloss Wildenstein, Niklaus Emanuel von Tscharner. Dieser hatte in einer Zeitschrift seine allzu idealistischen Vorstellungen über Armenerziehung entwickelt, und Pestalozzi, der im Gegensatz zu Tscharner über praktische Erfahrung verfügte, trat ihm entgegen: der Arme dürfe nicht in einer schönen Anstalt verwöhnt, sondern müsse zur Armut erzogen werden, damit er dereinst seine schwierige Lebenslage aus eigener Kraft meistern könne. Später trat Pestalozzi nochmals mit zwei Schriften an die Öffentlichkeit. In seiner „Zuverlässigen Nachricht von der Erziehungsanstalt armer Kinder“ erwähnt und charakterisiert er alle 37 Kinder namentlich. Hier treffen wir denn auch auf den später als „Katzenraffael“ berühmt gewordenen Friedly Mynth (Mind), den Pestalozzi als „sehr schwach, unfähig zu jeder anstrengenden Arbeit, voll Talent zum Zeichnen der sich besonders auszeichnenden Kreatur, voll Künstlerlaunen, mit einiger Schalkheit begleitet“ beschreibt. Pestalozzi beharrte nicht darauf, dem Friedly das Weben beizubringen, sondern konzentrierte sich auf die Entwicklung seines Talents: „Zeichnen ist seine ganze Arbeit.“

Derweil wuchsen Pestalozzis Schulden, und schliesslich wurden diese beglichen, indem seine Frau Anna auf ihr Erbe verzichtete. Das vermochte aber den finanziellen Niedergang der Anstalt nicht auf Dauer aufzuhalten. Schliesslich glaubte sich Pestalozzi mit einem Scheinverkauf von 20 Jucharten Land an seinen Bruder Baptist retten zu können. Dieser war recht haltlos, genoss auf dem Neuhof freie Kost und Logis und hatte sich in Fehlspekulationen in Schulden gestürzt, die dann Heinrich Pestalozzi übernehmen musste. Aber Baptist hatte immerhin, im Gegensatz zu seinem Bruder, sein Erbe noch nicht verpfändet, und so liess er sich in Zürich darauf 5200 Gulden auszahlen. Aber statt diese grosse Summe auf den Neuhof zu bringen, steckte er sie ein und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Im Februar 1780 gab er in einem erschütternden Brief sein letztes Lebenszeichen aus Amsterdam, bevor er sich in der Fremdenlegion auf See verdingte. In diesem Brief an einen Schwager Pestalozzis lesen wir unter anderem: „Ach Gott, wird mir meine verehrungswürdige Mutter ganz verzeihen, nur doch auch nicht den Fluch an den Hals wünschen. Lebt sie auch noch und wie? O Gott, wie sehr martert mich das, und wie wird es mich martern, dass ich keinen Bericht empfangen kann. Und mein Bruder, ach mein Bruder, Gott, o Gott, wie geht es ihm. O, wie habe ich eine Last auf meinem Gewissen! O Gott, sei ihnen gnädig. Alle Züchtigungen, die ich jetzt erwarte, werde ich mit ergebenem Willen an Gott annehmen. Wenn nur meine liebe, ewig geliebte Mutter nicht zu sehr darunter erliegt! Nur dies ist mein einziger Wurm, der mich stündlich nagt. …“

Pestalozzi war mit seiner Anstalt am Ende. Die Kinder musste er wegschicken. Die Scheune und einen Teil des Landes verkaufte er der Familie Schulthess, und dann lebte er als einsamer, verarmter Mann auf dem Neuhof. Seine Frau hatte sich krank gearbeitet und verbrachte hinfort viele Wochen und Monate in Zürich oder bei ihrer Freundin, der Gräfin Franziska Romana, auf Schloss Hallwil. Wer Pestalozzi vor der völligen Verzweiflung rettete, war der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin. Doch dies ist ein anderes Kapitel.

Pestalozzi als Schriftsteller

Jede Woche des Jahres 1782 begab sich Pestalozzi vom Neuhof nach Baden, um seine eigene Wochenzeitung ‘Ein Schweizerblatt’ drucken zu lassen. Nach dem Zusammenbruch seiner Armenanstalt sah er nur noch eine Möglichkeit, auf das Volk einzuwirken: nämlich zu schreiben. Allerdings war er auch als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift nicht in allem sein eigener Herr, denn alles Gedruckte unterlag damals der staatlichen Pressezensur. Wohl deshalb wich er als Bewohner von Berner Untertanengebiet nach Baden in die ‘Gemeine Herrschaft’ aus: Wegen dem häufigen Wechsel des Landvogts war hier die Zensur offensichtlich weniger streng als andernorts.

Am 15. Juli 1782 starb der hoch gelehrte Basler Ratsschreiber Isaak Iselin. Aus gutem Grund widmete ihm Pestalozzi im ‘Schweizer Blatt’ einen persönlichen Nachruf: Iselin hatte nicht bloss Pestalozzis ‘Tscharner-Briefe’ (1777) und die gedankenschwere Schrift ‘Die Abendstunde eines Einsiedlers’ (1780) in seiner Zeitschrift ‘Ephemeriden der Menschheit’ abgedruckt, sondern spendete ihm beim Zusammenbruch der Armenanstalt als liebender Freund Trost und Beistand. Auch war er ihm bei der Drucklegung von ‘Lienhard und Gertrud’ behilflich. So bekennt Pestalozzi im ‘Schweizerblatt’: „Ich hatte das Vergnügen, den ersten Beifall über ‘Lienhard und Gertrud’ von Iselin einzuernten, dem ich einige Stücke desselben in Manuskript an der Seite seiner Gemahlin vorlas. Er übernahm die mühsame Sorgfalt, das unkorrekte und von Sprachfehlern äusserst beladene Manuskript zu reinigen und zum Druck zu befördern.“

‘Lienhard und Gertrud’, Pestalozzis erstes Volksbuch (1781), machte den Autor auf einen Schlag in ganz Europa berühmt. Im Zentrum steht das Dorf Bonnal, geprägt durch Armut und Sittenverderbnis. Erste erkennbare Ursache des Übels ist Hummel, der korrupte Dorfvogt und Besitzer des Wirtshauses. An ihm zeigt Pestalozzi, dass nicht bloss alles Gute, sondern eben auch alles Schlechte „von oben“ kommt. Wenn das Volk verwahrlost ist, so tragen die Machthaber dafür die Schuld, denn an ihnen ist es, durch Beispiel und gerechte Staatsführung so zu wirken, dass Elend, Verwahrlosung, Schlechtheit zurückgedämmt werden und sich Wohlstand und Volksmoral entwickeln können. Kein Wunder also, dass in Pestalozzis Roman auch ein Hummel bloss darum sein Unwesen treiben kann, weil eben der Nächsthöhere, der Dorfjunker, seinen Vaterpflichten gegenüber dem Dorf nicht nachgekommen ist. In den späteren Bänden von ‘Lienhard und Gertrud’ (die 4 Bände erschienen im Abstand von je 2 Jahren 1781 bis 1787) spinnt Pestalozzi den Faden weiter bis hinauf an den Fürstenhof und zeigt, wie sich Schlendrian und Korruptheit der Mächtigen bis „in die ärmste Hütte hinab“ auswirken.

Und nun unternimmt Pestalozzi den literarischen Kampf gegen diese Verderbnis. Ausgelöst wird das Werk der Gesundung durch Gertrud, Inbegriff der guten, untadeligen Mutter, die sich entschliesst, die ganze Dorfmisere dem neuen Dorfjunker zu enthüllen und ihn um Hilfe zu bitten. Mit dem Namen des tatkräftigen, väterlichen Junkers, Arner, ehrt Pestalozzi seinen Gönner Niklaus Emanuel von Tscharner, der 1767 bis 1773 bernischer Landvogt auf dem Schloss Wildenstein war. Weitsichtig, ruhig und entschlossen setzt Arner all jene Massnahmen durch, die Pestalozzi von der führenden Schicht erwartet. Ihm zur Seite stehen (neben der Gertrud und dem Weiberbund) der Pfarrer, ein Textil-Unternehmer mit dessen Schwester, der neue Schulmeister und ein Graf am Fürstenhof. Damit sind den negativen Kräften die gutwilligen entgegengesetzt, welche schliesslich unter Pestalozzis Feder siegen.

Pestalozzi wollte sich an seinem literarischen Erfolg nicht so recht freuen, denn er sah wohl, dass zwar sein Buch als Roman gefiel, aber kaum jemand gesonnen war, sein Verhalten entsprechend zu ändern. So schickte er sich an, sein Werk in einem zweiten Volksbuch, ‘Christoph und Else’, selber auszudeuten. Die Handlung ist einfach: Das im Titel genannte Bauern-Ehepaar sitzt allabendlich zusammen mit dem weitgereisten und klugen Knecht Joost – er vertritt Pestalozzis Ansichten – und dem Knaben Fritz; man liest ein Kapitel aus ‘Lienhard und Gertrud’ und führt ein vertiefendes Gespräch darüber. Für den Freund Pestalozzischer Gedanken ist das natürlich eine Fundgrube, aber die trockene Handlung missfiel, weshalb Pestalozzi das Projekt vorzeitig abbrach und künftig seine Überlegungen in die Geschichte von ‘Lienhard und Gertrud’ einarbeitete. Das machte dann aber wieder die beiden letzten Bände schwer lesbar. Es ist eben schwierig, über ein Buch die Welt verbessern zu wollen.

Im November 1780 erfuhr Pestalozzi aus Iselins Zeitschrift, dass von einem Menschenfreund 100 Dukaten ausgesetzt wurden für die beste Beantwortung der Frage: ‘Welches sind die besten ausführbaren Mittel, um dem Kindsmord Einhalt zu tun?’. Pestalozzi fühlte sich sofort angesprochen, und er verbiss er sich so sehr in den Stoff und stellte auch so umfangreiche historische Studien an, dass seine Abhandlung ‘Über Gesetzgebung und Kindermord’ schliesslich zu einem dicken Buch anwuchs, das er dann 1783 auf eigene Kosten drucken liess.

Der Kindsmord erregte damals viele Gemüter. Unehelicher Beischlaf war nicht nur von der Kirche verpönt, sondern vom Staat verboten, und so wurden ledige Mütter nicht bloss gesellschaftlich geächtet, sondern zusätzlich von den Sittengerichten empfindlich und entehrend bestraft. Das bewog manche Frau, ihre ungesetzliche Schwangerschaft zu verheimlichen und ihr Kind gleich nach der Geburt zu töten. Auf diesem Vergehen stand die Todesstrafe. Pestalozzi machte sich nun zum leidenschaftlichen Fürsprecher für diese unglücklichen Frauen. Er zeigte auf, dass die herrschenden Sitten und die Tätigkeit der Sittengerichte den Kindsmord nicht aufzuhalten geeignet waren, sondern ihn im Gegenteil erzeugten. Dementsprechend forderte er ein Umdenken im Umgang mit unehelicher Mutterschaft und erzieherische Massnahmen anstelle von Bestrafung.

Schon im Nachruf auf Iselin bemerkte Pestalozzi, er hätte sich kaum mehr mit dem Studium von Büchern, sondern nur noch mit dem Menschen selber befasst. Tatsächlich liess ihn die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen in jenen Jahren nicht mehr los. Sein Ringen um eine befriedigende Antwort fand seinen Abschluss im philosophischen Hauptwerk ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’, das er 1797 veröffentlichte. Darin zeigt er auf, dass der Mensch einerseits natürlich und andererseits gesellschaftlich existieren muss und darüber hinaus, sofern er will, auch sittlich existieren kann. Deshalb lebt er grundsätzlich im Widerspruch und kommt immer nur dann zum Erlebnis der Harmonie mit sich selbst, wenn er sich selbst vervollkommnet, indem er den eigenen Egoismus aus freiem Entschluss selber überwindet.

Zur möglichst farbigen Illustration seiner theoretischen Gedankengänge stellte Pestalozzi das Verhalten der Mächtigen gegenüber den Ohnmächtigen, der Weitsichtigen im Vergleich zu den Narren, der Hochmütigen im Unterschied zu den Bescheidenen in insgesamt 237 Fabeln symbolhaft dar und veröffentlichte sie ebenfalls 1797. Mit der ersten Fabel meint Pestalozzi sich selbst: Er malt den Menschen, nicht mit dem Pinsel, sondern mit der Feder. Er war düster gestimmt, denn er wollte helfen, wurde aber für unbrauchbar gehalten:

Der Menschenmaler

Er stand da. Sie drängten sich um ihn her, und einer sagte: „Du bist also unser Maler geworden? Du hättest wahrlich besser getan, uns unsere Schuhe zu flicken.“

Er antwortete ihnen: „Ich hätte sie euch geflickt. Ich hätte für euch Steine getragen. Ich hätte für euch Wasser geschöpft. Ich wäre für euch gestorben. Aber ihr wolltet meiner nicht. So blieb mir in der gezwungenen Leerheit meines zertretenen Daseins nichts übrig, als malen zu lernen.“

Pestalozzi in Stans

Am 9. September 1798 fielen 10’000 französische Krieger in Nidwalden ein, um den Widerstand der Bevölkerung gegen die neue Verfassung zu brechen. Wutentbrannt ob der erbitterten Gegenwehr, mordeten sie wahllos – auch Frauen, Kinder, Säuglinge – und steckten Häuser und Kirchen in Brand. Bis nach Aarau hinunter sah man die Brandröte am nächtlichen Himmel.

Wie kam es dazu? In der ‘Alten Eidgenossenschaft’, einer lockeren Verbindung von weitgehend selbständigen Bundesgliedern, besassen die Menschen sehr ungleiche Rechte. In den Untertanengebieten war die Bevölkerung ganz von der politischen Willensbildung ausgeschlossen, Handel und Gewerbe lagen in den Händen von Bevorrechteten, und die freie Meinungsäusserung war vielerorts eingeschränkt. Zu jenen, die sich mit diesen Zuständen der Ungerechtigkeit und rechtlichen Ungleichheit nicht abfinden wollten, gehörte auch Heinrich Pestalozzi. So begrüsste er denn auch grundsätzlich den Umsturz der Verhältnisse in Frankreich im Jahre 1789. Zwar lehnte er das Blutvergiessen ab, aber er wollte dafür nicht einseitig die Revolutionäre verantwortlich machen. Vielmehr sah er die Schuld bei denen, welche die Menschen seit langer Zeit entrechteten und aussaugten. Sein Eintreten für Recht und Gerechtigkeit und für eine verbesserte Volksbildung brachte ihm 1792 eine unerwartete Ehrung ein: Die französische Nationalversammlung verlieh ihm als einzigem Schweizer neben 16 weiteren Persönlichkeiten – unter ihnen Schiller, Klopstock, Wieland, Washington – das Ehrenbürgerrecht Frankreichs.

In der Schweiz wünschten sich damals viele Neuerer einen Einmarsch der Franzosen, um der alten Ordnung den Todesstoss zu versetzen. Pestalozzi ging nicht so weit, aber er erwartete, dass der Druck aus dem revolutionären Frankreich zu einer grundlegenden Änderung der schweizerischen Verhältnisse führen würde. Entgegen dieser Hoffnung marschierten die Franzosen im März 1798 ein und wandelten die ‘Alte Eidgenossenschaft’ um in einen zentralistischen Einheitsstaat nach französischem Muster. So entstand die ‘Helvetische Republik’, geleitet von einem fünfköpfigen Direktorium mit Sitz in Aarau.

In diesem Direktorium sassen bedeutende Männer, u.a. die beiden Brugger Albrecht Rengger und Philipp Albrecht Stapfer. Stapfer war Pestalozzi sehr gewogen und förderte ihn, wo er konnte. So machte das Direktorium den Verfasser von ‘Lienhard und Gertrud’ zum Redaktor am ‘Helvetischen Volksblatt’, einer regierungstreuen Zeitung, die der Bevölkerung den Sinn und die Vorteile der neuen Ordnung nahelegen sollte.

Diese neue Ordnung wurde nicht ohne weiteres akzeptiert. Besonders die Innerschweiz mobilisierte den Widerstand, da sich die Revolutionäre in Frankreich als Feinde der Kirche und der Religion entlarvt hatten. Um sich des Gehorsams der Bevölkerung zu versichern, verlangte das Direktorium von allen einen Eid auf die neue Verfassung und setzte, als der Widerstand dagegen in der Innerschweiz wuchs, die französischen Besatzungstruppen als letztes Machtinstrument ein. Pestalozzi hatte diesem Schritt zugestimmt, da er durch die Haltung der Innerschweizer ‘die Einheit des Vaterlandes’ in Gefahr sah. Wohl kaum hatte er sich vorgestellt, dass es zu einem solch entsetzlichen Blutvergiessen kommen könnte. Sei dem, wie ihm wolle – jedenfalls übernahm er vom Direktorium den Auftrag, in Stans die Kriegswaisen zu sammeln und ihnen als ‘Waisenvater’ beizustehen.

Man wies Pestalozzi Räume in einem baufälligen Flügel des Kapuzinerinnenklosters zu. Zuerst musste vieles hergerichtet werden, weshalb er die Anstalt erst am 14. Januar 1799 eröffnen konnte. In seinem berühmten ‘Stanserbrief’ lesen wir:

„Ich war in den ersten Wochen in einem Zimmer eingeschlossen, das keine 24 Schuh ins Gevierte hatte. Der Dunstkreis war ungesund, schlechtes Wetter schlug noch dazu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllte, vollendete das Unbehagliche des Anfangs.

Ich musste im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Teil heimschicken. Diese alle kamen dann am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück. … Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, dass sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst, und Stirnen voll Runzeln des Misstrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber misstrauisch, lieblos und furchtsam. … Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern, konnte kaum eins das ABC. Von anderem Schulunterricht oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede.“

Viele Nidwaldner waren nicht bereit, den Protestanten Pestalozzi, den Vertreter der neuen Ordnung zu akzeptieren. So kann man sich fragen, weshalb er diese fast unlösbar scheinende Aufgabe übernahm. Verständlich wird es, wenn man bedenkt, dass er sich seit der Schliessung seiner Armenanstalt als arbeitslos und unnütz vorkam und er mit aller Kraft danach strebte, praktisch etwas für die Erziehung des Volkes leisten zu können. So lesen wir im ‘Stanserbrief’:

„Mein Eifer, einmal an den grossen Traum meines Lebens Hand anlegen zu können, hätte mich dahin gebracht, in den höchsten Alpen, ich möchte sagen, ohne Feuer und Wasser anzufangen, wenn man mich nur einmal hätte anfangen lassen.“

Pestalozzi erlebte seinen Stanser Auftenthalt fast wie eine zweite Geburt, denn die Erziehungsidee, die sich in ihm in den verflossenen Jahrzehnten entwickelt hatte, erwies sich nun in der praktischen Anwendung als richtig: In jedem Menschen – gleich welcher Herkunft – liegen von Geburt an ‘Kräfte und Anlagen’; im Rahmen einer liebenden Beziehung zwischen Erzieher und Kind lassen sich diese entfalten, und so kann jeder Mensch sich selbst werden, im eigentlichen Sinne ‘Mensch’ werden.

Pestalozzi war eigensinnig: Er wollte alles alleine machen. Lediglich eine Haushälterin stand ihm bei, die rund 80 Kinder zu betreuen. Er gönnte sich kaum Schlaf. Alle wollte er unterrichten und erziehen. Das Wichtigste war ihm die Herzensbildung, die Entfaltung ‘sittlich-religiöser Kräfte’. Keinesfalls wollte er mit Belehrung anfangen, denn er misstraute schönen und frommen Worten. Zuerst musste es ihm gelingen, das Gemüt der Kinder anzusprechen. War die ‘sittliche Gemütsstimmung’ geweckt, so liess er die Kinder das Gute tun. Und erst jetzt, wenn die Gefühle geweckt und das Handeln erreicht war, redete er mit den Kindern über das Gutsein und bildete in ihnen so sittliche Begriffe. Pestalozzi war hocherfreut über die Erfolge:

„Ich sah also meine Wünsche erfüllt, und war überzeugt, mein Herz werde den Zustand meiner Kinder so schnell ändern, als die Frühlingssonne den erstarrten Boden des Winters. Ich irrte mich nicht; ehe die Frühlingssonne den Schnee unserer Berge schmelzte, kannte man meine Kinder nicht mehr.“

Aber es ging auch in Stans nicht so, wie sich Pestalozzi wünschte. Dem Luzerner Regierungskommissar Heinrich Zschokke kam manch Ungünstiges über den eigenwilligen Pädagogen zu Ohren, und er fürchtete um den guten Ruf der Regierung. Damals verlief die Kriegsfront zwischen Frankreich und den Alliierten (Österreich und Russland) mitten durch die Schweiz, und das gab Zschokke die Gelegenheit, Pestalozzis Räumlichkeiten für ein Militärlazarett zu beanspruchen. Am 9. Juni 1799 verliess der ‘Waisenvater’ Stans und gönnte sich einen Kuraufenthalt auf dem Gurnigelbad. In der Gewissheit, mit seinen pädagogischen Ideen auf dem richtigen Weg zu sein, entschloss er sich hier endgültig, Schulmeister zu werden – im Alter von 53 Jahren.

Pestalozzi in Burgdorf

Minister Stapfer hätte es gerne gesehen, wenn Pestalozzi ein Lehrerseminar eröffnet hätte, denn es gab damals noch keine Lehrerbildung. Aber Pestalozzi hatte es sich in den Kopf gesetzt, ‘von unten auf zu dienen’ und ein einfacher Schulmeister zu werden. Dieser Beruf war damals sehr verachtet. Ausgediente Soldaten oder Männer, die sonst zu nichts Rechtem zu brauchen waren, verdienten sich mit der ABC-Paukerei einen kargen Lohn; oder Handwerker, deren Geschäft schlecht lief, kamen durch die Schulmeisterei zu einem kleinen Zustupf. Und ausgerechnet diesen Beruf wollte Pestalozzi ergreifen, im Alter von 53 Jahren, er, der berühmte Mann, Schriftsteller, Verfasser von ‘Lienhard und Gertrud’, Ehrenbürger von Frankreich.

Aber es war gar nicht so einfach, irgendwo angestellt zu werden. Schliesslich fand Pestalozzi in der Hintersassenschule des Schuhmachers Samuel Dysli in Burgdorf eine erste Wirkungsstätte. Hier durfte er in einem Winkel des Schulzimmers eine Gruppe Kinder unterrichten und seine Versuche anstellen. Dysli tat, was damals Brauch war: Er lehrte die Kinder anhand frommer Bücher das Lesen, aber von einer systematischen Lesemethode konnte keine Rede sein. Das Resultat war entsprechend: Es vergingen Jahre, bis die Kinder einigermassen lesen konnten. Pestalozzi hingegen hatte eine klare Idee. Er sagte sich: Das Lesen setzt das Sprechen voraus, also müssen die Kinder zuerst sprechen lernen. Aber das Sprechen setzt das Denken voraus, also müssen sie zuerst Denken lernen. Und das Denken? Das beruht auf deutlichen Begriffen, und diese sind primär zu erwerben durch die Anschauung. So legte er die frommen Bücher beiseite, was ihm bald den Ruf eintrug, er sei gegen die Religion. Dann liess er die Kinder die realen Dinge mit möglichst allen Sinnen erfahren. Da stellte sich beispielsweise eines an die Wand, fuhr mit den Händen über die löchrige Tapete und sprach laut dazu: „Hier ist die Wand, die Mauer ist rauh, ich fühle ein Loch in der Tapete.“ Auch schulte der neue Schulmeister systematisch das laute Sprechen; voll Begeisterung schrien die Kinder im Chor: „Ba be bi bo bu, pfa pfe pfi pfo pfu, kla kle kli klo klu.“ Dysli schüttelte den Kopf. Und dann setzte er das Gerücht in Umlauf, Pestalozzi könne selbst nicht schreiben. Dieser ärgerte sich darüber – weil es stimmte. Bekanntlich hat er, obwohl er ein grosser Schriftsteller war, die Rechtschreibung zeitlebens nie gelernt. Dysli hat es dann durchgesetzt, dass Pestalozzi wieder ausziehen musste. Schliesslich fand er in der Unterstufenklasse der Jungfer Stähli Unterschlupf. Und als nach Monaten eine Kommission feststellte, dass die Kinder bei Pestalozzi in Wochen so viel lernten, wie sonst in Monaten oder gar Jahren, anvertraute man ihm eine Knabenklasse in der Stadt.

Pestalozzi war wohl kaum ein besonders guter Lehrer. Gewiss liebte er die Kinder über alles, und er packte alles Neue an mit jugendlicher Begeisterung. Aber auf lange Sicht planen, etwas bis ins Detail ausfeilen, die Realität unverstellt sehen – das war nicht unbedingt seine Sache. Da kam ihm das Schicksal zu Hilfe: Minister Stapfer hatte nämlich unterdessen seinen Sekretär, Rudolf Fischer, zum Seminardirektor ernannt, und kaum hatte sich dieser oben auf dem Burgdorfer Schloss eingerichtet, erkrankte er und starb, erst 26jährig. Kurz zuvor war der junge Lehrer Hermann Krüsi mit 26 Schulkindern aus Gais im Appenzellerland zu ihm gestossen, um die Schulmeisterei zu erlernen. Die Kinder hatten ihre Heimat verlassen, weil damals – im Jahr 1800 – in der Ostschweiz Krieg und Hungersnot herrschten, und die wohlhabenden Burgdorfer hatten sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Aber was sollte nun Krüsi mit seinen Kindern machen? Was lag da näher, als dass Pestalozzi mit seiner Klasse auch aufs Schloss zog und sich mit Krüsi zusammentat? So wurde Pestalozzi – fast ohne es selbst zu merken – nun doch Seminardirektor. Er sah sich nach neuen Mitarbeitern um, und in kurzer Zeit herrschte oben auf dem Schloss ein reges Treiben, ein Ein- und Ausgehen wie in einem Taubenschlag. Pestalozzis Schulgemeinschaft war Lehrerseminar, Pensionsanstalt, Armenschule und Burgdorfer Normalklasse in einem. Nun endlich konnte er umsetzen, was sich in ihm als pädagogische Idee in den letzten Jahrzehnten entwickelt hatte. Er nannte seine Erziehungsweise schlicht ‘Methode’ und war bestrebt, alles Lernen auf ein psychologisches Fundament zu stellen und zu systematisieren. Sein oberster Grundsatz war es, die Natur des Kindes ernst zu nehmen und jede Tätigkeit mit der menschlichen Natur in Übereinstimmung zu bringen. Er war überzeugt, und die Erfahrung gab ihm recht: In jedem Kind liegen in unentwickeltem Zustand Kräfte und Anlagen, die sich entfalten möchten, und sie lassen sich entwickeln, indem sie zur Tätigkeit gebracht werden. Dabei muss man bei allem mit dem Einfachen, Grundlegenden beginnen und in einem lückenlosen Stufengang vom Leichten zum Schweren schreiten. Auf jeder Stufe muss so lange geübt werden, bis ein vollendetes Können erreicht ist.

Pestalozzi wollte aber nicht bloss den Verstand schulen, sondern auch die handwerklichen Kräfte und insbesondere die Kräfte des Herzens. Letztlich ging es ihm darum, jedes Kind zu einem guten Menschen zu erziehen, und er wusste, dass dies nur durch die Bildung des Gemüts zu erreichen war. Er hat seine grundlegenden Erkenntnisse in seinem Buch ‘Wie Gertrud ihre Kinder lehrt’ niedergelegt, das bereits 1801 erschien und weit herum Aufsehen erregte. Pestalozzis Erziehungsanstalt wurde bald europaweit berühmt, und wer die Schweiz bereiste, machte gewöhnlich einen Abstecher nach Burgdorf, um Pestalozzi und seine Mitarbeiter am Werk sehen und sich von den Erfolgen überzeugen zu können.

Pestalozzis Werk wurde unterstützt durch die Helvetische Regierung, aber diese hatte nur kurzen Bestand, denn in der Schweiz brach der Bürgerkrieg aus, was schliesslich Napoleon veranlasste, erneut einzugreifen. Er berief eine Anzahl Abgeordnete nach Paris, damit sie eine neue Staatsverfassung ausarbeiten könnten. Auch Pestalozzi war dabei. Bekannlich liess Napoleon die Schweizer Deputierten mehrere Wochen lang warten, ehe er geruhte, sie zu empfangen. Dabei machten sie grosse Augen, denn der oberste Franzose überreichte ihnen eine fixfertige Verfassung und beauftragte sie, nun noch die einzelnen Kantonsverfassungen auszuarbeiten. Pestalozzi hatte die Wartezeit genutzt und in seiner ‘Denkschrift an die Pariser Freunde über Wesen und Zweck der Methode’ seine pädagogischen Einsichten niedergeschrieben. Sein Herzensanliegen war es, dass sich der neue Staat für die Volksbildung stark machen sollte. Als er dann aber sah, wie der Hase lief, reiste er vorzeitig ab.

Die neue Verfassung (Mediationsverfassung) trat 1803 in Kraft und verlieh den Kantonen wieder eine weitgehende Selbständigkeit. Das führte dazu, dass die Berner Regierung das Burgdorfer Schloss für den neuen Oberamtmann beanspruchte. Pestalozzi musste also Mitte 1804 Burgdorf verlassen und fand in einem verfallenenen Kloster in Münchenbuchsee vorübergehend eine Bleibe. Dies liegt in der Nähe von Hofwil, wo der Berner Patrizier Philipp Emanuel v. Fellenberg eine als mustergültig bekannte Erziehungsanstalt führte. Da Pestalozzis mangelndes Organisations- und Führungstalent auch seinen Lehrern und Mitarbeitern auffiel, kamen diese auf die Idee, Pestalozzis Erziehungsanstalt mit Fellenbergs Betrieb zu verschmelzen. Fellenberg sollte organisieren, verwalten und führen, und dem alternden Pestalozzi war die Rolle als geistiger Anreger zugedacht. Pestalozzi biss in den sauren Apfel, aber als er dann gewahrte, dass er aufs Abstellgleis geraten war, zog er aus und machte sich mit zwei, drei Mitarbeitern auf die Suche nach einer neuen Möglichkeit. So begann er gegen Ende des Jahres 1804 von vorne in Yverdon. Der junge Kanton, der eben von Bern unabhängig geworden war, liess es sich nicht nehmen, dem berühmten Pädagogen das Schloss Yverdon auf Lebenszeit unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.

Pestalozzi in Yverdon

An einem nebligen Oktoberabend des Jahres 1804 schritt Pestalozzi im waadtländischen Cossoney durch die Rebberge, als vor ihm plötzlich zwei trabende Pferde auftauchten. Er gedachte, das eine Pferd links, das andere rechts passieren zu lassen, und gewahrte zu spät, dass es sich um ein Wagengespann handelte. Er wurde durch die Deichsel zu Boden geworfen und geriet unter die Beine der Pferde. Aber es gelang ihm, bevor die Räder kamen, sich durch einen Sprung auf die Seite zu retten. In seinem Brief an seine Frau lesen wir:

„Ich fragte mich lächelnd: Hab ich das getan? Ich antwortete mir auch bestimmt: Nein, das habe nicht ich, das hat Gott getan! Aber seitdem Gott dieses an mir getan, bin ich auch ein anderer Mensch. Ich glaubte vorher wie Moses sterben zu müssen, ehe ich einen Fuss breit von meinem Kanaan sehe. Jetzt glaube ich es nicht mehr; ich werde leben, und Gott wird durch mich wirken; der mich also errettet, wird das auch retten, was unendlich mehr wert ist als ich. Ich will jetzt nichts mehr; ich will kein Institut, kein Seminarium, keinen Ort, keinen Menschen, ich will jetzt nur, was Gott will, und das, was er will, wird sich von selbst geben.“

Pestalozzi hielt sich in der Waadt auf, weil er mit dem Aufbau der Anstalt in Yverdon beschäftigt war. Mittlerweile wurde in Münchenbuchsee die Stimmung unter den Lehrern und Zöglingen immer schlechter, denn Fellenberg entschied alles selbstherrlich und duldete keinen Widerspruch. Sie vermissten die Wärme und Güte, die herzliche Teilnahme am Schicksal jedes Einzelnen, wie sie es bei Pestalozzi gewohnt waren. Darum trennten sie sich im Laufe des Jahres 1805 von Fellenberg und zogen geschlossen wieder zu Pestalozzi ins Schloss Yverdon.

Pestalozzis Institut wurde rasch berühmt in aller Welt. Seine eigentliche Blütezeit waren die Jahre 1807 bis 1809. Da zählte die Schulgemeinde 165 Zöglinge, 31 Lehrer und Unterlehrer, 32 Seminaristen und 10 Mitglieder der Familie Pestalozzi mit ihren Hausangestellten. Ferner gehörte zu Pestalozzis Gemeinde in Yverdon noch sein Töchterinstitut gleich neben dem Schloss. Die Voraussetzungen bei den Zöglingen waren sehr unterschiedlich. Neben Hoch- und Normalbegabten brachte man Pestalozzi auch Minderbegabte, Verhaltensgestörte und Schwererziehbare, und er sah sich sogar veranlasst, dem Institut eine Anstalt für Schwerhörige anzugliedern. Das Mindestalter der Zöglinge war 7 Jahre. Wer älter als 11 Jahre war, wurde in der Regel nicht mehr aufgenommen. Man behielt die Knaben bis zum 15. Altersjahr, sofern sie nicht als Seminaristen weiter im Institut bleiben wollten.

Der Schulstoff wurde zumeist in Gruppenunterricht bewältigt. Schüler, die eine Sache begriffen hatten, wurden sogleich als Lehrer für ihre Mitschüler eingesetzt. Die Unterrichtszeit betrug 60 volle Stunden in der Woche. Zu gewissen Zeiten wurden den Kindern täglich eine oder mehrere Stunden zum individuellen Lernen eingeräumt. Hatten sie nichts zu arbeiten, sollten sie sich nach Pestalozzis Ansicht im Spiel vergnügen. Wenn eines nicht mitspielte, fürchtete er, es wäre körperlich oder seelisch krank, und er nahm sich seiner persönlich an. Arbeit und Erholung, Schulunterricht und Spiel gehörten nach seiner Überzeugung zum Dasein.

Grosse Beachtung wurde der körperlichen Bildung und Ertüchtigung geschenkt. Pestalozzis Lehrer entwickelten viele gymnastische Übungen, bei denen sämtliche möglichen Gelenkbewegungen systematisch geübt wurden. Man strebte damit eine allseitige Durchbildung des ganzen Körpers an. Im nahen See wurde regelmässig gebadet, und alle Knaben lernten schwimmen. Im Winter wurden mächtige Schneeburgen erbaut, und wenn der See einfror, liefen die Knaben Schlittschuh. Einem Vater, der seinen Buben nicht mehr aufs Eis lassen wollte, schrieb er:

„Für uns aber halten wir das Schleifschuhgehen für eine der interessantesten Leibesübungen der Jugend … Es macht gewandt, mutvoll und hat vorzüglich den Vorteil, dass es die Lust der Kinder, auch im härtesten Winter an der Luft zu sein und ihren gesunden Einfluss zu geniessen, ausserordentlich erhöht.“

Ferien gab es damals noch nicht, aber dafür oft ausgedehnte Schülerwanderungen. Sie dauerten oft mehrere Wochen, führten in die Alpen und ins umliegende Ausland und standen im Dienste der Anschauung, galten folglich als Bestandteil des Geschichts-, Naturkunde- und Geographieunterrichts. Zuvor wurden jeweils Orts- und Reisebeschreibungen gelesen, Landkarten studiert und die Reiseausrüstung besprochen. Auch sonst zog man während des Unterrichts oft ins Freie, um Pflanzen, Landschaftsformen, Tiere oder Gesteine zu betrachten, zu beschreiben und abzuzeichnen. Der Lehrer nannte von einem Gegenstand oft nur den Namen, und alles weitere mussten die Schüler selbständig erarbeiten.

Von grossem erzieherischen Wert hielt Pestalozzi auch Hand- und Gartenarbeiten. Die Schüler lernten darum auch den Umgang mit Säge, Hammer und Hobel, sie betätigten sich an der Drehbank, sie halfen im Haushalt, in der Buchdruckerei und Buchbinderei des Instituts mit, sie arbeiteten auch in den Werkstätten der Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher und Drechsler von Yverdon, und sie hielten Tiere (Kaninchen, gelegentlich ein junges Schäfchen) und besorgten ihre eigenen Gartenbeete. Man wollte im Institut möglichst natürlich, wie in einer Grossfamilie zusammenleben.

Dementsprechend arbeitete Pestalozzi auch intensiv mit den Eltern zusammen und forderte sie auf, ihre allfällige Kritik offen auszusprechen. Der Klassenlehrer jedes Schülers musste die Eltern regelmässig über das Verhalten und die Lernfortschritte ihres Kindes schriftlich orientieren. Vergleichende Leistungsbewertungen oder Noten gab es nicht, denn Pestalozzi hielt streng darauf, dass kein Kind mit einem andern verglichen wurde; jedes sollte seine Leistungen nur mit seinen eigenen Kräften und Anlagen vergleichen.

Pestalozzi unterrichtete selbst nicht, sondern nahm in seinem Hause die Stellung eines Vaters und geistigen Anregers ein. Er strahlte eine unbeschreibliche Liebe aus. Jeden, der ins Haus trat, umarmte er als seinen Mitbruder und freute sich wie ein Kind am grossen Interesse, das man der pädagogischen Arbeit des Instituts entgegenbrachte. Er widmete sich seinen umfangreichen schriftstellerischen Arbeiten, überwachte die pädagogische Arbeit der Lehrer, sprach mit Zöglingen, die ihm bedrückt schienen, und richtete Tag für Tag ermahnende Worte an die ganze Hausgemeinde. An Festtagen hielt er seine berühmten Reden, die heute einen nicht unbedeutenden Teil seines geschriebenen Werkes ausmachen.

Leider konnte sich Pestalozzi an seinem Werk nicht ungetrübt erfreuen. Erstens hatte die Anstalt immer finanziell zu leiden, und zweitens entspann sich unter zwei Lehrern bald ein unversöhnlicher Streit um Pestalozzis Nachfolge. Auf der einen Seite stand der nüchterne Realist Joseph Schmid (Mathematiklehrer) und auf der andern der hochfahrende Philosoph und Idealist Johannes Niederer (Theologe), und beide hatten unter den Lehrern ihre Anhänger. Pestalozzi hat sich intuitiv Schmid angeschlossen. Nach dem Tod vom Pestalozzis Gemahlin 1815 brach der Streit in aller Heftigkeit aus, und 1817 sagte sich Niederer von Pestalozzi los. Der Streit wurde öffentlich und auch vor den Gerichten ausgetragen und hat schliesslich Pestalozzis Werk zerstört. Immer weniger Zöglinge kamen nach Yverdon, und als es schliesslich Niederer gelang, die Waadtländer Regierung zu veranlassen, Schmid des Kantons zu verweisen, musste Pestalozzi 1825 sein Institut schliessen, und er zog mit den wenigen noch verbliebenen Schülern auf den Neuhof. Hier verfasste er seine letzten Schriften. Er verstarb am 17. Februar 1827 in Brugg.

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