Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Ein paar Überlegungen zum Problem der Strafe

1. Hinführung zur Problematik

Ein althergebrachtes Sprichwort besagt: „Strafe muss sein.“ Tatsächlich haben Erzieher (Eltern, Lehrer, Pfarrer, Jugendführer u.a.) seit eh und je zur Durchsetzung ihrer Absichten die Kinder und Jugendlichen bestraft, wenn diese nicht ihren Erwartungen entsprachen. Ich habe dies als Kind selbst erlebt und selber als junger Lehrer praktiziert. Auch ist kein Staat bekannt, der ungesetzliches Verhalten nicht geahndet hätte.

In diesem Jahrhundert sind indessen über die Berechtigung oder Notwendigkeit des Bestrafens zunehmend Zweifel aufgekommen, weshalb man schon vor Jahrzehnten pädagogische Arbeiten lesen konnte mit dem Titel „Muss Strafe sein?“. Und heute scheint die Frage bei uns endgültig geklärt: Strafe muss, ja darf nicht sein.

Um es vorwegzunehmen: Für mich ist strafloses Erziehen und Unterrichten ein Ideal, das es anzustreben gilt. Zu oft habe ich in jungen Jahren erlebt, dass das Bestrafen Situationen herbeiführt, die wiederum einer Strafe rufen, weshalb sich in mir schon nach wenigen Jahren pädagogischer Praxis die Einsicht herausbildete: Je weniger ich strafe, desto weniger muss ich. Darüber hinaus habe ich immer wieder nach den sogenannten ,sinnvollen’ Strafen gesucht, und ich gestehe ohne weiteres ein, dass meine Phantasie hier nicht besonders kreativ war, dies um so mehr, als ich manches, was andere als sinnvoll betrachteten, nicht ebenso beurteilte.

Trotzdem regt sich in mir gegen die totale Beseitigung der Strafe und gegen die moralische Abwertung strafender Erzieher und Lehrer Widerstand. Er wurzelt in folgenden Erfahrungen, die ich ohne besonderen inneren Zusammenhang aufreihe:

  • Ein Zustand, in welchem Strafe unterlassen werden kann, wird sehr oft nicht ohne Bestrafung erreicht.
  • Nicht jedes Kind ist gleich: Wo beim einen eine Ermahnung fruchtet, reagiert ein anderes erst auf Bestrafung.
  • Nicht jeder Erzieher ist gleich: Wo der eine ohne Strafe auskommt, erlitte ein anderer in derselben Situation Schiffbruch.
  • Notwendigkeit und besondere Art einer allfälligen Bestrafung sind sehr altersabhängig.
  • Ob eine Bestrafung gut oder schlecht ist, hängt von vielen Umständen ab, insbesondere von der Art der Strafe, von der Einsicht des Kindes in sein Handeln und vom emotionalen Bezug zwischen dem Erwachsenen und dem Kind.
  • Schliesslich ist der Begriff ,Strafe’ sehr undifferenziert (siehe die Begriffsanalyse unter Punkt 4), weshalb man bei der Beurteilung, ob eine Sanktion nötig oder berechtigt ist, nicht mit einem einfachen Ja oder Nein antworten kann.

2. Voraussetzungen

Ich werde im folgenden die Strafe – neben den logischen Konsequenzen, der Wiedergutmachung und der Genugtuung – in den grössern Zusammenhang von pädagogischen Sanktionen stellen. Vergegenwärtigen wir diese vier Sanktionsarten, so wird sofort deutlich, dass es sich dabei um bestimmte Formen von dem handelt, was man traditionellerweise als Erziehungsmittel bezeichnet. Die Anwendung von Erziehungsmitteln (und damit der Strafe) kann indessen nur sinnvoll diskutiert werden, wenn gewisse Voraussetzungen grundsätzlich akzeptiert werden. Dass diese Voraussetzungen heute von vielen nicht geteilt werden, ist offensichtlich. Es sind im wesentlichen die folgenden:

  • Menschliches Verhalten ist nicht wertfrei, sondern unterliegt stets einem von innen oder aussen gesetzten Anspruch entweder von gesellschaftlichen Normen oder sittlichen Werten. In dem Masse, wie das Verhalten des Menschen diesen Normen und Werten entspricht, wird es als gut (erwünscht, korrekt, richtig), und in dem Masse, wie es ihnen widerspricht, als schlecht (böse, falsch, unerwünscht) erachtet. Das menschliche Leben ist eingespannt zwischen ,Gut’ und ,Böse’, auch zwischen ,Gut’ und ,Besser’, zwischen ,Gelingen’ und ,Versagen’, zwischen ,Stärke’ und ,Schwäche’, zwischen ,Vernunft’ und ,Unvernunft’, und jeder Einzelne muss sich stets neu entscheiden.
  • Die Fähigkeit, das Gute (Erwünschte, Richtige) einerseits zu erkennen und andererseits im eigenen Tun und Lassen zu wollen und zu vollziehen, bedeutet ,Mündigkeit’.
  • Der Mensch bewegt sich von der Geburt bis zum Erwachsenendasein in einem Prozess zunehmender Selbstbestimmung: Ausgehend von totaler Unmündigkeit, entwickelt er sich allmählich zur Mündigkeit (Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Sittlichkeit).
  • Die bei der Geburt gegebene Unmündigkeit steht in engstem Zusammenhang mit der ebenfalls mit der Geburt gegebenen totalen Ich-Bezogenheit. Andererseits bedeutet Mündigkeit die Fähigkeit, den Egozentrismus und Egoismus überwinden zu können, womit der Mensch in die Spannung gestellt ist zwischen dem Verharrenwollen in unmündiger Selbstbezogenheit und mündiger Bezogenheit auf die Um- und Mitwelt. Da die Realisation egoistischer Ansprüche zumeist mit Lust, deren Überwindung hingegen oft mit Unlust verbunden ist, erlebt der Mensch seinen Entwicklungsprozess zu einem gewissen Teil als anstrengend oder gar schmerzhaft. Der junge Mensch ist daher bei diesem Entwicklungsgang auf die Hilfe und Führung relativ mündiger Erwachsener – und damit auf ,Erziehung’ –  angewiesen. Der Mensch ist grundsätzlich ein erziehungsbedürftiges Wesen.
  • Daraus folgt: Die für die Mündigkeit eines heranwachsenden Menschen verantwortlichen Erwachsenen haben nicht bloss das Recht, sondern die Pflicht, erzieherisch auf die jungen Menschen einzuwirken.
  • Daraus leitet sich das Recht und die Verpflichtung des Erziehers ab, jene Mittel verantwortungsbewusst einzusetzen, die geeignet sind, die Mündigkeit des jungen Menschen zu entwickeln und zu fördern. Ob, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise die oben erwähnten Sanktionen unter diese Mittel fallen dürfen oder sollen, soll Gegenstand der folgenden Erörterungen sein.
  • Erzieher können nur Sanktionen verhängen, wenn sie über bestimmte Formen von Macht über das Kind verfügen.

3. Abgrenzungen

In der vorliegenden Analyse von Sanktionen als einem Teil möglicher Erziehungsmittel sehe ich grundsätzlich von den folgenden Situationen und Verhaltensweisen von Erziehern ab:

  • Erstens klammere ich den gesellschaftlichen Bereich aus, wo der Staat als Inhaber des Gewaltsmonopols im Rahmen eines ausformulierten Strafrechts Übertretungen von gesetzlichen Vorschriften und Verboten ahndet. Ich beschränke mich vielmehr auf den Bereich der Erziehung und des Schulunterrichts, somit auf ein personales Handeln von Erziehern und Lehrern gegenüber den ihnen anvertrauten jungen Menschen.
  • Zweitens: Bekanntlich treten wir Erwachsene den jungen Menschen nicht bloss als Erzieher gegenüber, sondern eben auch als Mitmenschen, die sich um ihre eigene Haut kümmern und auf Kinder ebenso spontan reagieren können wie auf andere Mitmenschen, denen gegenüber wir keine erzieherische Verantwortung tragen. Mit andern Worten: Ein Kind kann uns ärgerlich und wütend machen, und aus dieser Gefühlslage heraus kann Macht auf das Kind ausgeübt werden, die – oberflächlich betrachtet – allenfalls als „pädagogische Sanktion“ missverstanden werden könnte. Der klassische Fall ist hier der Einsatz von Händen oder gar Fäusten, der dann beschönigend und vollkommen unzutreffend als ,Körperstrafe’ deklariert wird. Als Psychologe und praktisch tätiger Pädagoge kann ich es durchaus verstehen, wenn Lehrern oder Eltern gelegentlich „die Hand ausrutscht“ (und ich betrachte dies weder von psychologischem noch von pädagogischem Standpunkt aus als eine Katastrophe, wenn sonst das Grundlegende erfüllt ist: eine annehmende, liebende Beziehung, die einzelne Irritationen überdauert), aber mit einer pädagogischen Sanktion hat dies nichts zu tun. Es ist vielmehr eine spontane aversive Reaktion auf Verhaltensweisen eines Mitmenschen (hier eines Kindes), die provozierend wirken.
  • Ausgrenzen aus meinen Überlegungen möchte ich drittens jene (gelegentlich von Lehrern verwendeten) „Bestrafungen“, die nur sekundär auf eine Verhaltensänderung beim Bestraften abzielen und statt dessen vielmehr der Demonstration der eigenen Macht angesichts einer als schwierig taxierten Klasse dienen. Man spricht in diesem Fall von „ein Exempel statuieren“, oder eben von „exemplarischer Bestrafung“. Ich will nicht behaupten, dass es in der Praxis nicht Situationen gebe, in welchem einem Lehrer, sofern er überleben will, nichts anderes mehr übrig bleibt, aber in diesem Zusammenhang genügt es mir, diese Möglichkeit erwähnt zu haben.
  • Viertens möchte ich (die für mich unproblematischen) Konditionierungen des Kindes in der frühen Kindheit ausnehmen, die zu seinem eigenen Schutze dienen und bei denen man – da das Kind andere Signale gar noch nicht als negative Verstärker deuten kann – ruhigen Gewissens einen Klaps auf die Hand oder den Hinterteil einsetzen darf (z. B. dass es nicht mit den Fingern oder Gegenständen in Steckdosen stochert oder nicht mit zerbrechlichen Gläsern oder spitzen Scheren hantiert).
  • Und fünftens gehören zwingende Reaktionen der Umwelt auf irgendwelches Fehlverhalten (die berühmte ,heisse Herdplatte’, der zurückschlagende Hackenstiel und der beissende Hund, dem man auf den Schwanz getreten ist) nicht zu den Sanktionen. Solche stehen vielmehr im freien Ermessen der Erzieher.

Neben diesen sachlichen Ausgrenzungen möchte ich mich verwahren gegen den falschen Gebrauch meiner Beispiele. Wie bereits erwähnt, gehe ich bei meiner Analyse vom allgemeineren Begriff ,Sanktionen’ aus, da die Strafe lediglich eine von ihren möglichen Formen darstellt. Dabei bin ich selbstverständlich auf die Illustration meiner Gedanken durch Beispiele angewiesen. In diesem Zusammenhang ist mir die Feststellung wichtig, dass keines dieser Beispiele als rezepthafte Anweisung zu pädagogischem Handeln zu verstehen ist. Ich will dies darum nicht, weil es in allen Fällen grundsätzlich immer auch die Möglichkeit alternativen (nicht strafenden) Handelns gibt.

4. Begriffsanalyse

Das folgende Schema ist ein Versuch, die Strafe in einen erweiterten logischen Zusammenhang zu stellen und Bezüge im Rahmen des Begriffs ,Sanktionen’ aufzuzeigen:

Sanktionen

4.1. Über Wesen, Berechtigung und Problematik der Sanktion

Es ist nicht bloss eine störende Begleiterscheinung einer pädagogischen Sanktion, dass sie dem Streben nach Lust und Vermeiden von Unlust seitens des Kindes entgegensteht, sondern es gehört zum Wesen einer Sanktion, dass sie als unangenehm, als Belastung empfunden wird. Wer nicht den Mut hat, dem Kinde eine Frustration zuzumuten, ja sogar zuzufügen, ist nicht in der Lage, eine Sanktion zu verhängen.

Es ist wohl selbstverständlich dass das Erleidenlassen von Unlust niemals Selbstzweck sein kann. Dieses rechtfertigt sich erst im Hinblick auf den beabsichtigten Zweck. Dieser besteht vorerst einmal darin, dass das Kind sein nicht akzeptables Verhalten ändert. Dem auf Selbstbestimmung des Kindes hinwirkenden Erzieher genügt allerdings dieses angewöhnte Wohlverhalten nicht, da dies in neuen sozialen Situationen sofort wieder verschwinden kann, sondern er möchte in die Tiefe wirken: Das Kind soll Einsicht gewinnen in das Verwerfliche seines Tuns, und es soll in sich den Willen entwickeln, sein Handeln ganz allgemein ethischen Werten zu unterwerfen. Die Erfahrung zeigt, dass mit einem System konsequenter Bestrafung von unerwünschtem Verhalten durchaus ein gewisses Mass an Wohlverhalten erreicht werden kann, was das Ergreifen von Sanktionen vordergründig rechtfertigt. Aber eine vollgültige Rechtfertigung der Strafe (bzw. verwandter Sanktionen) ergibt sich erst dann, wenn sie sich als wirksames Mittel erweist, um im Kind die innere Bereitschaft zu ethisch werthaftem Handeln zu entwickeln.

In jedem Fall ist eine Sanktion ein Eingriff in den freien Willen des Kindes. Meines Erachtens rechtfertigt sich dies nur, wenn das Kind erstens eine Einsicht oder ein Gefühl für das Falsche oder Verwerfliche seines Handelns haben konnte und zweitens auch anders hätte handeln können. Sanktionen sind nach meinem Empfinden schwerwiegende Erziehungsmittel und darum mit grösster Zurückhaltung einzusetzen. Ich widerspreche hier bewusst Rousseau, der – gewissermassen nach der Devise „durch Schaden wird man klug“ – Emile dadurch erziehen wollte, dass er ihn den Willen seines Erziehers ebenso unerbittlich erfahren liess wie das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Natur (siehe ,beissender Hund’). Der gute Erzieher erzieht denn auch nicht primär durch Reagieren auf störendes Fehlverhalten (Gegenwirkung), sondern hauptsächlich durch ,positive Verstärkung’ all des Guten, das vom Kinde selber ausgeht, d.h. durch Anerkennung und Ermutigung, durch das Ausdrücken von Freude über erzielte Fortschritte und durch das gute Beispiel (Unterstützung). Und als Antwort auf nicht akzeptierbares Verhalten verfügt er nicht in erster Linie irgendeine Sanktion, sondern wählt er in der Regel vielmehr die liebevolle und geduldige Ermahnung und das Gespräch.

Nun ist es eine alte Erfahrung, dass der Mensch gegen frustrierende Massnahmen eines Mitmenschen, die ja aus seiner Sicht ebensogut ausbleiben könnten, primär aversiv reagiert, weil er eben das Verhängen einer Sanktion zumeist ebenfalls als Angriff deutet. Wer eine Sanktion ergreift, muss daher stets in Rechnung stellen, dass damit das Beziehungsverhältnis zum Kinde erneut belastet wird. Er wird darum gut tun, zuerst alle andern Möglichkeiten zu prüfen, die den oben genannten Zweck (Verbesserung von nicht akzeptablen Verhaltensweisen und Haltungen des Kindes) allenfalls besser erreichen könnten.

4.2. Grundlegende Entscheidungskriterien

Der Erzieher muss somit in jedem Falle zuerst entscheiden, ob er in einer konkreten Situation überhaupt eine Sanktion verhängen will oder nicht. Für diesen Entscheid benötigt er Kriterien:

4.2.1. Erfolgsaussicht

Das erste Kriterium scheint selbstverständlich, da es reiner Logik entspricht: Die Sanktion muss sich in Beziehung auf die Zielsetzungen als grundsätzlich erfolgversprechend darstellen. So logisch dies daherkommt, so wenig selbstverständlich ist es leider in der Praxis. Wer kennt nicht Eltern oder Lehrer, die beinahe gewohnheitsmässig in bestimmten Situationen (teilweise im voraus festgelegte) Sanktionen verfügen, obwohl sie doch selber ohne besondere Mühe feststellen könnten, dass dies gelegentlich alles nichts nützt. Stellt man dies fest, so ist dies Grund genug, um auf solche Sanktionen zu verzichten. Was dann bleibt, ist die Suche nach Alternativen. Sollten auch diese möglicherweise nicht zum erhofften Erfolg führen, rechtfertigt dies das Ergreifen von Sanktionen (und damit das Bestrafen) noch lange nicht.

4.2.2. Machtverhältnisse

Auch das zweite Kriterium ist logisch: Um Sanktionen zur Wirkung bringen zu können, braucht der Erzieher über das Kind die dazu nötige Macht. Ein Erzieher handelt unklug, in Unkenntnis seiner Möglichkeiten Sanktionen verfügen zu wollen, die dann das Kind wirksam zu verweigern vermag.

In diesem Zusammenhang verweise ich auf meinen Aufsatz über ,Macht und Autorität in der Erziehung’, wo ich die personale Macht in Parallele setzte zu den drei menschlichen Wesensschichten Körper, Seele und Geist. Um den Zusammenhang mit diesem Konzept herstellen zu können, muss ich in meinem Gedankengang kurz vorausgreifen auf das Problem der Haltung des Kindes gegenüber einer Sanktion irgendwelcher Art: Wie im obigen Schema dargestellt, kann sich das Kind ja entweder durch Einsicht in seine Verfehlung sowie durch Einwilligung in die Sanktion positiv einstellen, oder es kann einen inneren Widerstand aufbauen oder aufrecht erhalten, indem es sich der Einsicht in sein Fehlverhalten entzieht und/oder die damit verbundene Sanktion innerlich ablehnt. Es leuchtet sofort ein, dass die Macht – verstanden als Möglichkeit, das Handeln des Kindes zu beeinflussen – ganz anderer Natur sein muss, wenn es sich der Einsicht und der entsprechenden Sanktion innerlich widersetzt oder wenn es einsichtig ist und die Sanktion als berechtigt auf sich zu nehmen bereit ist. Dieser zweite und eigentlich erwünschte Fall ist indessen oft beim Kind nicht einfach da, sondern ist eine Folge des Einflusses des Erziehers. Dieser Einfluss ist exakt das, was ich im erwähnten Aufsatz als ,geistige Macht’ oder als ,echte Autorität’ beschrieb. Ist diese da, erübrigt sich natürlich der Einsatz von psychischer oder gar physischer Macht, da sich das Kind der in Erwägung gezogenen Massnahme ja nicht entziehen will.

Damit offenbart sich nun aber eine eigentümliche, als Widerspruch erscheinende Gesetzmässigkeit. Um sie zu verstehen, muss man sich wieder vergegenwärtigen, dass der letzte Zweck einer Sanktion ja darin besteht, die Einstellung des Kindes gegenüber nicht akzeptablen Verhaltensweisen zu verändern. Diese Veränderung des Kindes aus seinem eigenen Innern heraus tritt nun aber um so sicherer ein, je echter die Autorität des Erziehers ist. Wenn nun aber Einsicht und Wille zur Veränderung beim Kinde da sind, kann doch – so möchte man meinen – die Bestrafung unterbleiben. Daraus folgt: Je selbstverständlicher ein Kind die Autorität des Erziehers anerkennt, desto weniger ist er bei der Wahl der Erziehungsmittel auf das Verfügen von Sanktionen angewiesen. Oder anders gesagt: Je grösser die Autorität eines Erziehers, desto weniger braucht er zu strafen. Daraus ergibt sich die bedrückende Tatsache, dass Bestrafung eigentlich ausgerechnet in jenen Beziehungsverhältnissen angezeigt scheint, wo sie nicht optimal wirken kann, weil das Kind die geistige Autorität des Erziehers nicht anerkennt und sich darum innerlich gegen die Einsicht in sein Fehlverhalten stemmt und eine damit verbundene Sanktion ebenso ablehnt. Da es dies dann natürlich mit der ihm zu Gebote stehenden Energie tut, nötigt es den strafenden Erzieher, mit psychischen Mitteln (Schelte, Drohung, Druck, Liebesentzug usf.) oder gar mit physischer Gewalt die gewählten Sanktionen durchzusetzen, was in der Regel die gegenseitige Beziehung noch mehr untergräbt, womit ein verhängnisvoller Teufelskreis in Gang kommt, der einfach lautet: Je mehr ich strafe, desto mehr muss ich.

Aufgrund des oben aufgezeigten Widerspruchs (um die Strafe ihr letztes Ziel erreichen zu lassen, ist die echte Autorität des Erziehers nötig, und je mehr diese da ist, desto weniger ist die Strafe nötig) können idealtypisch zwei Bestrafungssituationen unterschieden werden:

Entweder: Der Erzieher hat beim Kind nicht die erforderliche Autorität, um dessen Einsicht und Willen hinsichtlich des besseren Handelns zu gewinnen, und darum muss er unter Einsatz von psychischer oder physischer Macht eine Sanktion gegen den Willen des Kindes durchsetzen. Im günstigsten Fall erreicht er damit, dass das Kind durch das Erleiden der Sanktion zur Einsicht in sein Tun kommt (was grundsätzlich immerhin möglich ist), im ungünstigeren Fall hat er es soweit konditioniert, dass es sich künftig (zumindest im Einflussbereich des Erziehers) an die Regeln hält, und im ungünstigsten Fall hat er einfach das Beziehungsverhältnis zum Kind noch mehr verschlechtert und dessen Entschlossenheit zum Widerstand noch mehr angeheizt.

Oder: Das Kind anerkennt die Autorität des Erziehers und entwickelt dementsprechend in sich Einsicht in sein Fehlverhalten sowie den Willen zur künftigen Veränderung, womit beide – Erzieher und Kind gemeinsam – vor der Frage stehen, ob und weshalb nun eine Sanktion angezeigt sein könnte. Wird eine solche verhängt, geschieht dies stets unter Einwilligung des Kindes, womit der Erzieher weder psychische noch physische Macht einsetzen muss, um sie durchzusetzen.

Das Mass der einzusetzenden Macht seitens des Erziehers hängt zusätzlich aber auch davon ab, ob die ins Auge gefasste Sanktion passiver oder aktiver Art ist. Im ersten (passiven) Fall erleidet das Kind etwas Frustrierendes, wobei es hier wiederum zwei Möglichkeiten gibt: Entweder wird ihm etwas vorenthalten, das es gerne hätte, oder es wird ihm etwas zugefügt, das es schmerzt. Im zweiten (aktiven) Fall soll es etwas leisten, das es als frustrierend erlebt, ist folglich Gehorsam erforderlich. Es ist klar, dass für diesen zweiten Fall ein grösseres Machtpotential nötig ist als für den ersten. Wenn es also schon nicht gelingt, das Kind von innen her zur Umkehr umzustimmen, so ist es wohl besser, es etwas erleiden zu lassen, als mit viel Druck und Androhung weitergehender Bestrafungen eine Sanktionen durchsetzen zu wollen, bei der es etwas aktiv leisten muss. Was das inhaltlich bedeuten könnte, soll weiter unten erörtert werden.

4.3. ,Verhaltensmodifikation’

Der Behaviorismus leitet Eltern und Lehrer bei ihrer Aufgabe an, wie Kinder durch positive, gelegentlich auch negative Verstärker den gesellschaftlich erwünschten Normen anzupassen sind. Genaueres darüber kann man vorwiegend bei Skinner nachlesen. Im Rahmen dieser Theorie geht es nicht um den Aufbau von Haltungen und von Entwickeln eines autonomen Gewissens und schon gar nicht um Sühne als Kompensation von Schuld (siehe später), sondern lediglich um Verhaltensmodifikationen. Im Zusammenhang mit ,Sanktionen’ fallen natürlich die positiven Verstärker ausser Betracht, da diese ja nicht als frustrierend erlebt werden.

Es gehört zum Wesen der Verstärker – hier also der negativen – im Sinne Skinners, dass sie vom Erzieher frei gewählt werden können. Es liegt also an ihm, ob er, um unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken, negative Verstärker wählen will, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit eben diesem Verhalten stehen, oder ob er einfach etwas Beliebiges einsetzen will, das vom Kind prinzipiell als negativ empfunden wird. Im ersten Fall handelt es sich um das, was Rudolf Dreikurs (ein Schüler Adlers) als ,logische Folgen’ oder ,logische Konsequenzen’ bezeichnet. Dreikurs geht so weit, dass er nur diese gelten lässt und jede Form von Bestrafung ablehnt, eine Position, der ich darum nicht zu folgen vermag, weil es inakzeptable Verhaltensweisen von Kindern gibt, die unmöglich mit logischen Folgen geahndet werden können. Wenn ein böser Bub einen Goldkäfer zertritt, so gibt es darauf keine logische Folge, die der Erzieher anordnen könnte. Ich habe in meinem Schema ,logische Konsequenzen’ in Anführungsstriche gesetzt, weil eine verfügte Sanktion stets bloss der Logik des Erziehers entspricht, in sich aber durchaus nicht logisch sein muss. Ein Beispiel: Wenn ein Kind den Bleistift vergisst, so scheint es logisch, dass es ihn holt. Sanktionen dieser Art finden sich bei Dreikurs in Menge. Aber: Logisch ist eigentlich nur, dass das Kind nicht mit Bleistift schreiben kann, und das muss nicht verfügt werden, sondern liegt in der Sache selbst. Anstelle der oben erwähnten und vom Lehrer verfügten ,logischen Konsequenz’ könnte genau so gut dem Kind ein Bleistift gegeben oder ihm erlaubt werden, mit Kugelschreiber zu schreiben bzw. sich einen Bleistift bei einem Kameraden auszuleihen. Den von Dreikurs (Bücher: ‚Psychologie im Klassenzimmer‘, ‚Kinder fordern uns heraus‘) hochgelobten logischen Konsequenzen, die klar in der Tradition Rousseaus stehen, fehlt meines Erachtens das Wichtigste: die Liebe.

Genau genommen, unterscheidet Skinner zwischen negativer Verstärkung und Bestrafung, aber für die Erziehungspraxis ist dies kaum von Belang. So setzt denn auch Lotte Schenk-Danzinger negative Verstärker der Bestrafung gleich. Im obigen Schema (S. 4) kommt der Begriff ,Bestrafung’ sowohl auf der Seite der behavioristischen Verhaltensmodifikation wie auch auf der Seite der moralischen Erziehung vor. Es gibt indessen wesentliche Unterschiede: Bestrafung im behavioristischen Sinne hat keinen Zusammenhang mit der Vorstellung eines Gewissens oder einer Schuld. Es geht vielmehr darum, mit dieser Methode dem Kind irgend eine Unart abzugewöhnen. Im schulischen Bereich kommt dies vielerorts zur Anwendung, etwa da, wo jeder Schüler für irgendwelche Verfehlungen auf der Liste einen Strich einfängt und dann bei Erreichen einer bestimmten Anzahl irgend etwas Belastendes tun muss, das natürlich in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang steht mit den Verstössen. Es gibt auch pädagogische Anstalten, in denen jeder Jugendliche pro Woche über eine Anzahl Münzen (mit persönlicher Nummer) verfügt, die er stets bei sich tragen muss. Wird er bei einer unerwünschten Verhaltensweise ertappt, muss er eine Münze abgeben. Jeweils nach Ablauf der Woche muss er die fehlenden Münzen wieder einlösen, indem er irgend eine Strafe akzeptiert. Auch dieses Münz-System basiert auf dem behavioristischen Prinzip der Bestrafung.

Es gibt heute viele Lehrer, die die Überzeugung vertreten, dass nicht ohne solche Bestrafungen auszukommen ist. Als Strafmassnahmen kommen etwa in Frage: In freier Zeit nachsitzen, einen Text abschreiben, einen zusätzlichen Aufsatz schreiben oder zusätzliche Rechnungen lösen, Reinigungs- und Aufräumarbeiten verrichten u.a. Ich will es nicht verschweigen, dass mir all diese Massnahmen widerstreben, und zwar einfach deshalb, weil dies alles Tätigkeiten sind, die zum Leben oder zur Schule gehören, und in dem Masse, wie ich sie als Strafe einsetze, beweise ich ja den Schülern, dass dies an sich etwas Frustrierendes ist. Ich möchte aber, dass die Kinder gerne in der Schule sind (dann ist Nachsitzen eben keine Strafe), dass sie gerne Aufsätze schreiben usf.  Mit dem Verhängen der erwähnten Strafe mache ich in meinen Zielsetzungen, dass die Schüler z. B. das Üben als etwas Erfreuliches erleben sollten, unglaubwürdig. Ich zweifle darum, ob es in diesem Bereich überhaupt ,sinnvolle’ Strafen gibt. Da war – übers Ganze geblickt – wohl die heute verpönte Strafe, dass ein Schüler zwanzigmal denselben Satz schreiben musste („Ich darf meine Mitschüler nicht anspucken“) ,sinnvoller’, denn sie trug einerseits das notwendige Gepräge des Frustrierenden und brachte andererseits erwünschte Tätigkeiten wie das Schreiben von Aufsätzen nicht in Verruf.

Eine mögliche Alternative wäre, dass die Bestrafung nicht aktiv, sondern passiv ist, das Kind also etwas erleiden muss. Hier gibt es – ich wiederhole es – grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wird ihm aktiv ein Schmerz zugefügt oder es darf etwas nicht tun, was ihm angenehm wäre.

Zuerst ein paar Erwägungen zum Zufügen von Schmerz. Dies kann psychisch oder physisch geschehen:

  • Die einfachste und verbreitetste Form der psychischen Verletzung ist der Tadel, der sich nicht auf die Ermahnung mit Blick auf die Zukunft beschränkt, sondern einen Vorwurf und eine Verurteilung des Verhaltens enthält. Tadel im Kollektiv wird in der Regel als schmerzlicher empfunden, als wenn er unter vier Augen ausgesprochen wird. Die nichtstrafende Alternative zum Tadel ist die Ermahnung, die etwas Aufbauendes, Ermutigendes an sich hat.
  • Die klassische Form des Zufügens von Schmerz auf der physischen Ebene ist die Körperstrafe. Erzieher in früheren Zeiten scheinen das Unpassende, dass ein älterer Mensch einem Kind bewusst Schmerzen zufügt, gespürt zu haben, weshalb sie Situationen ersannen, die für das Kind schmerzlich waren, in welchen sie aber den Schmerz nicht selbst zufügen mussten. So liess man etwa unbotmässige Kinder eine Zeitlang auf ein kantiges Holz knien oder die Arme seitwärts ausstrecken und dergleichen mehr oder sperrte sie ein, womöglich in finstere Räume (was immerhin seinerzeit Rousseau empfahl). Das bewusste Zufügen von physischem Schmerz lehne ich ab, und zwar grundsätzlich. (Ausnahmen sind die oben erwähnte Konditionierungen in der frühen Kindheit zum Schutze des Kindes oder zur ‚Abgewöhnung‘ gröbster Unarten in einer Zeit, wo das Kind eine Ermahnung oder Argumentation gar nicht verstehen kann.)

Somit bleibt noch, dass man dem Kind etwas vorenthält, das es möchte. Mit Sicherheit haben hier Eltern gegenüber ihren Kindern mehr Möglichkeiten als Lehrer. Auch wenn sie nicht den seinerzeitigen Brauch, die Kinder ohne Nachtessen ins Bett zu schicken, aufgreifen wollen, so gibt es eben für einmal das übliche ,Bettmümpfeli’ oder die obligate Gut-Nacht-Geschichte nicht, der Fernsehapparat bleibt für eine bestimmte Zeit ausser Betrieb, die Einwilligung zum abendlichen Ausgang oder für eine Einladung wird verwehrt, oder der Ausflug in den Zoo oder ins Berner Oberland fällt ins Wasser. Lehrer geraten auch in dieser Sparte rasch in Verlegenheit, denn ein Ausschluss vom Unterrichtsgeschehen ist meistenorts gesetzlich verboten, und insgesamt sind wir Lehrer eben nicht in der Lage, dass wir wie Vater und Mutter die lustbedingten Wünsche der Schüler erfüllen können. In der Kirschenzeit könnte man allenfalls allen Schülern ein Hämpfeli Chriesi geben und dann eben die zu Bestrafenden auslassen, aber das ist Theorie und dazu noch schlechte. Bekannt ist auch die Strafe, dass jemand nicht am Schulausflug teilnehmen darf, aber damit schneidet sich jeder Lehrer, dem soziale Erziehung ein Anliegen ist, wiederum ins eigene Fleisch.

Ich kann es, wie man sieht, drehen und wenden, wie ich will, ich finde keinen rechten Zugang zur behavioristischen Verhaltensmodifikation mittels negativer Verstärker: Entweder bringe ich positive Schulaktivitäten wie Aufsätzeschreiben oder Rechnungenlösen in Verruf, oder ich muss – wie auch immer – den Schülern, die ich immerhin liebe, irgendwelchen ersonnenen Schmerz zufügen, oder dann muss ich ihnen etwas vorenthalten aus einer Auswahl-Kiste, die praktisch leer ist.

Auf Grund dieser Erwägungen rate ich davon ab, Verstösse unterschiedlichster Art zu addieren und sie auf der Basis rein quantitativer Kriterien („Bei 5 Strichen gibt’s das und das“) zu ahnden. Vielmehr sollte eine allfällige Bestrafung, wenn’s denn sein muss, in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Verfehlung stehen. So greife ich, wenn die Ermahnung nichts fruchtet, eben zuerst einmal zum Tadel oder stelle eben einen Schüler, wenn er trotz Ermahnung und Tadel nicht zu stören aufhört, bei Gelegenheit vor die Türe – eine Massnahme, die ich immerhin damit begründen kann, dass der Schüler die andern stört. Oder wenn einer, obwohl er es viel besser könnte, miserabel schreibt, so macht er eben die Arbeit nochmals. Vergesslichkeit kann besser als mit den Strichli-Strafen beseitigt werden: durch annehmende Zuwendung, durch Hilfestellung, um zur rechten Zeit daran zu denken, oder – um dies wieder einmal in Erinnerung zu rufen – dadurch, dass man dem Problem auf den Grund geht.

Damit gelangen wir auch im Bereiche des behavioristischen Verhaltensmodifikation an den Punkt, wo es klar wird, dass die Bestrafung eigentlich erst dann sinnvoll ist, wenn das Kind sein Fehlverhalten einsieht und irgend eine Sanktion akzeptiert. Das wiederum ist nur möglich, wenn wir uns als Lehrer Zeit nehmen für einfühlsame Gespräche. Es wird sich dann in den meisten Fällen zeigen, dass sich dann die Bestrafung erübrigt.

4.4. Moralische Erziehung

Bei den meisten oben erwähnten Verstössen handelt es sich nicht eigentlich um moralisch zu wertende Vergehen, d.h. um ernsthafte Verstösse gegen ethische Werte, sondern vielmehr um Unarten, Schwächen oder Kopflosigkeiten, wie sie eben mehr oder weniger zum normalen Kindsein gehören. Angesichts der heute rasant zunehmenden Gewalt auf Schulhöfen und Schulwegen, die teilweise ernste gesundheitliche und seelische Schäden zur Folge hat, muss es uns Lehrern wieder vermehrt bewusst werden, dass wir die Schüler nicht bloss zu ,dressieren’ haben, um sie für den Schulbetrieb tragbar zu machen, sondern dass sie im Vollsinne erzogen werden müssen. Erziehung ist in jedem Falle mehr als Verhaltensmodifikation, sie greift tiefer. Erziehung will den Menschen von innen her umgestalten, mindestens insofern er dazu neigt, gegen unverzichtbare Werte (Wahrheitsliebe und soziale Haltungen wie Liebe, Gerechtigkeitssinn, Hilfsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein usf.) verstossen zu wollen.

Wenn ich in diesem Zusammenhang von Sanktionen spreche, so soll zuerst klar gestellt sein, dass die ,Gegenwirkung’ (d.h. ,Sanktionen ergreifen’) das Sekundäre ist und dass moralische Erziehung primär fördernd, unterstützend, entwickelnd ist. Es geht darum, dass das Kind das Positive immer mehr und besser äussert.

Der Hinweis auf die Gewalt zeigt indessen, dass Kinder durchaus zu ernsten Verstössen gegen eine sittliche Lebensordnung fähig sind, und es wäre naiv und auch verantwortungslos, ernsthafte Verfehlungen einfach übersehen zu wollen. Ein Lehrer, der von einer Untat erfährt und nichts dagegen unternimmt, macht sich – auch in der Wahrnehmung des fehlenden Schülers – zum Verbündeten des Übeltäters, indem er dessen Tun stillschweigend gutheisst.

Ein Schüler, der viel schwatzt und damit den Unterricht stört, hat wohl kaum danach ein schlechtes Gewissen, und das ist auch gut so, denn man sollte solche Bagatellen nicht auf die moralische Ebene ziehen. Dies ist aber ganz anders, wenn ein Kind stiehlt, lügt, verleumdet, andere willentlich verletzt. Unter normalen Umständen meldet sich das schlechte Gewissen, und wenn dies nicht geschieht, so ist dies ein äusserst alarmierendes Zeichen einer moralischen Verwahrlosung, die nichts Gutes verspricht.

Damit ist eines der geheimnisvollsten und auch interessantesten Phänomene des Menschseins angesprochen: dass der Mensch in seinem Innern einerseits zum Gutes-Tun angeregt, andererseits nach vollbrachter Untat geplagt wird. Dieses Phänomen ist der sprechendste Beleg dafür, dass der Mensch – wie eingangs erwähnt – ein Wesen ist, dessen Handeln an moralischen Ansprüchen gemessen wird.

Dem schlechten Gewissen als einem subjektiven Erleben entspricht auf der objektiven Seite die Schuld. ,Schuld’ ist ein schwieriger Begriff, und in der ihm entsprechenden Wirklichkeit verbirgt sich ein letztlich nie ganz zu erhellendes Geheimnis. Dem Menschen als einem geistigen Wesen ist es nicht gegeben, sich nach getanem Verbrechen das Blut von der Hand zu wischen und zur Tagesordnung überzugehen. Mit jeder Tat, ob gut oder schlecht, lädt er sich etwas auf, auf der einen Seite ein Verdienst, auf der andern eine Schuld. Jede Gegenwart wirkt in die Zukunft, und auf jeder Gegenwart lastet die Vergangenheit. Verdienste tragen Früchte, wie auch immer, und Schulden müssen, wie auch immer, beglichen – ausgeglichen – werden. Ich kann als Mensch nicht dem Nachbarn das Haus über dem Kopf anzünden und dann sagen: Schade, ich sehe, es war falsch, ich tue es nicht mehr. Damit ist der Fall nicht erledigt. Ich habe mich schuldig gemacht, und jede Schuld ruft nach einer Sühne. Man kann sich nicht Christ nennen und diesen Gedanken ablehnen wollen. Für den Christen ist klar: Schuld auf sich laden heisst Sündigen, sich von Gott sondern. Das ruft einer Antwort.

Nun kann man natürlich argumentieren, um die Schuld kümmere sich Gott, uns Menschen möge es genügen, dass einer eine Untat nicht wiederholt. Als Pädagoge müsste ich zuerst sagen: Es ist eben gerade meine Aufgabe, mich dafür einzusetzen, dass Untaten nicht wiederholt werden. Und zweitens müsste ich fragen: Wie soll ein junger Mensch ein Verhältnis zum Zusammenhang von Schuld und Sühne finden, wenn er dies nicht in jungen Jahren in jenen Fällen, wo er klar gegen sittliche Werte verstösst, in seiner eigenen Seele erfährt? Es ist ein wichtiger Auftrag der Erziehung, dem jungen Menschen zu helfen, bei moralischen Verstössen zum Bewusstsein von Schuld zu finden. Und er soll nicht nur das Belastende des Schuldbewusstseins erfahren, sondern auch das Erlösende und Befreiende der Sühne.

Wie im Schema schon erwähnt, lassen sich drei Arten von Sühne unterscheiden, wobei die erste (Wiedergutmachung) in einem direkten Zusammenhang mit der Verfehlung, die zweite (Genugtuung) in einem direkten Zusammenhang mit dem Geschädigten und die dritte in keinem direkten Zusammenhang mit der Verfehlung oder dem Geschädigten stehen muss:

  1. Die Wiedergutmachung. Glücklicherweise gibt es Verstösse, die man wiedergutmachen kann. Sie liegen ausnahmslos im Bereiche materieller Werte. Man kann gestohlenes Gut wieder zurückerstatten und beschädigtes Eigentum wieder flicken oder ersetzen. Es genügt nicht, einzusehen, dass der Diebstahl oder die Brandstiftung oder die Zerstörung von materiellem Gut falsch war, es genügt auch eine noch so schöne Entschuldigung nicht, und auch der Vorsatz, hinfort nicht mehr stehlen, brandstiften und Sachen beschädigen zu wollen, reicht nicht aus. Der Schaden muss wiedergutgemacht werden, und dies erst ist – neben allem andern, das soeben erwähnt wurde – eine angemessene Sühne für die materielle Schädigung eines Mitmenschen oder der Gesellschaft. Wo ein materieller Schaden wiedergutgemacht wird durch den inzwischen einsichtig und reuig gewordenen Verursacher, ist Bestrafung grundsätzlich nicht mehr erforderlich. Diese ist da am Platz, wo dem Fehlbaren eine Wiedergutmachung gar nicht möglich ist.
  2. Die Genugtuung. Verstösse im sozialen Bereich lassen sich im strengen Sinne nicht „wieder gut machen“. Eine Verleumdung kann man nicht unwirksam machen, eine seelische Verletzung kann auch nach einer Entschuldigung weiter schmerzen, und körperliche Verletzungen können allenfalls zu lebenslanger Benachteiligung führen. Da besteht die Sühneleistung nicht in „Wiedergutmachen“, sondern in einer Genugtuung, d.h. einem angemessenen Ersatz für erlittene Schmerzen oder erlittenes Unrecht. Auch hier drängt sich in jenen Fällen die Bestrafung des Fehlbaren auf, wo er zur Genugtuung nicht in der Lage ist.
  3. Die Bestrafung. Neben Verstössen gegen sittliche Werte, die in irgend einer Weise Auswirkungen auf die Mitmenschen haben, gibt es moralische Verfehlungen, die im Einzelfall keine besonderen Nachteile für andere nach sich ziehen. Das ist etwa der Fall, wenn jemand lügt, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, der aber andere nicht schädigt, wenn jemand Tiere quält oder sinnlos umbringt, sich durch Drogenkonsum gefährdet oder Gott lästert. In all diesen Fällen ist kein Adressat da, dem gegenüber etwas wiedergutgemacht oder dem Genugtuung verschafft werden könnte. Und doch hat sich der sündigende Mensch schuldig gemacht, und die Schuld ruft einer Antwort: der Bestrafung.
    Bestrafung ist – wie bereits angemerkt – darüber hinaus angezeigt, wenn der fehlbare Mensch keine Möglichkeit hat, einen angerichteten Schaden wiedergutzumachen oder einem geschädigten Menschen Genugtuung zu leisten. In all diesen Fällen gilt die Strafe als Ausgleich für aufgeladene Schuld.

Eltern und Lehrer tun gut daran, bei moralischen Verstössen die drei Möglichkeiten der Sühneleistung zu unterscheiden. Wiedergutmachung kommt in Frage bei Diebereien und Sachbeschädigungen, Genugtuung für Verstösse im sozialen Bereich. Diese kann etwa geleistet werden, indem ein Kind einem von seiner Verfehlung Betroffenen über eine gewisse Zeit besondere Hilfe leistet oder besondere Zeichen der Zuneigung zeigt. Dies ist natürlich nur möglich, wenn das Kind in diese Massnahme einwilligt, sonst entartet die Genugtuung zur reinen Farce. Über die Bestrafung äussere ich mich weiter unten nochmals.

Grundsätzlich sind alle drei Formen der Sühneleistung ohne die Einsicht des Fehlbaren möglich, aber dann ist die Macht des Erziehers stark gefordert, da jener sowohl eine mögliche Wiedergutmachung wie auch eine Genugtuung gegen den eigenen Willen leisten müsste. Und auch im Bereich der Bestrafung müsste sich der Erzieher, sofern er vom Kind eine aktive Handlung verlangt, mit grosser Kraft durchsetzen können.

Da die Sühneleistung grundsätzlich auf die innere Umgestaltung des Fehlbaren abzielt, ist sie natürlich sehr problematisch, wenn es nicht gelingt, dessen Einsicht (sein Schuldbewusstsein) und Einwilligung in die Sanktion zu erreichen. Der Erzieher wird in diesen Fällen deshalb alles daran setzen, im Gespräch, das durch Verständnis und Einfühlung geprägt ist, dem Kind zur Einsicht zu verhelfen. Das ist wiederum nur möglich, wenn man das Wecken von Schuldbewusstsein (nicht das Manipulieren mit Schuldgefühlen) nicht mit Verurteilen verwechselt. Im Idealfall kommt beim fehlbaren Kind kein Zweifel auf, dass wir es lieben und verstehen und keinesfalls verurteilen, aber eben auch, dass wir ihm in seiner inneren Entwicklung, da sie uns nicht gleichgültig ist, beistehen wollen. Und in diesem Idealfall, an dem wir uns immer orientieren sollen, kann dann das Kind auch das Erlösende und Befreiende der Sühne erfahren, was für seine weitere sittliche Entwicklung grundlegend ist.

In diesem Idealfall (den es glücklicherweise immer wieder gibt) kann man dann auch die Art der Sühneleistung mit dem Kind besprechen, ja sie von ihm vorschlagen lassen. Dabei stehen dem Erzieher im Bereich der Bestrafung mehr Möglichkeiten zur Verfügung als in den andern beiden Bereichen, da sie ja nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Verfehlung stehen muss. Der Tendenz nach ist überall dort passive Bestrafung (das Kind muss einen Verzicht erleiden) eher angezeigt, wo die Einsicht in das schuldhafte Handeln gering  ist oder ganz fehlt, und überall dort, wo sie vorhanden ist, können sozial sinnvolle Verrichtungen (d.h. aktive Formen der Bestrafung) eingesetzt werden, ohne dass man befürchten muss, dass diese, da sie nun als Strafe eingesetzt werden, künftig an sich einen negativen Beigeschmack erhalten. Zwei Beispiele: Ein mutwillig zertretener Käfer kann nicht mehr lebendig gemacht werden, aber vielleicht gelingt es, das Kind dazu zu bewegen, über eine längere Zeit irgend ein Tier zu besorgen. Ein Kind, das mich als Lehrer angelogen hat (was ja nicht mir, sondern ihm schadet), kann es auf sich nehmen, im Sinne eines sühnenden Ausgleichs einen Ferien-Tag lang in einem Heim ohne Lohn mitzuhelfen.

Man könnte nun einwenden, in diesen Beispielen fehle das Frustrierende der Sanktion. Ganz verlieren zwar diese Sanktionen den Charakter des Frustrierenden nicht, da das fehlbare Kind in beiden Fällen Zeit einsetzen muss, die es sonst für allerlei Liebhabereien zur Verfügung hätte, aber im wesentlichen ist der Einwand zutreffend. Trotzdem sind die vorgeschlagenen Massnahmen im Sinne der hier vorgetragenen Theorie, denn die Straf-(oder auch Genugtuungs-)massnahme bietet dem Kind einerseits die Möglichkeit, die Schuldgefühle auszugleichen, und stellt andererseits ein Erlebnis dar, woran es künftig denkt, ist folglich eine ,Lehre’, ein ,Denkzettel’.

Der pädagogisch heikelste Fall liegt vor, wenn aufgrund einer moralischen Verfehlung eine Strafe angezeigt ist, aber das Kind uneinsichtig bleibt. In diesem Fall gilt die Erkenntnis, dass eine Strafe nicht bloss auf Einsicht in die Verfehlung beruhen kann und muss, sondern dass sie in vielen Fällen auch zur Einsicht führen kann und soll. Deshalb kann es sich rechtfertigen, von einem Kind auch eine Wiedergutmachung (weniger eine Genugtuung) zu verlangen oder eine Strafe auch gegen seine Einsicht und seinen Willen zu verfügen. Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass durch das Erleiden der Strafe die Einsicht wachsen kann. Die Chance dazu steigt in dem Masse, als der Erzieher für das Kind glaubwürdig ist und diesem durch seine Art der Lebensführung die Möglichkeit nimmt, seinen Missmut an ihm abzureagieren.

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