Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Die Bedeutung der Autorität für den Bildungserfolg

Ohne Autorität kann man weder erziehen noch bilden. Wenn es als akzeptabel oder gar normal gilt, wenn mir ein Schüler die Zunge herausstreckt, weil ich ihn auffordere, eine Rechnungsaufgabe zu lösen, dann hat sich das System Schule, in dessen Zentrum die Vorstellung wirkt, junge Menschen seien gemäss einem Lehrplan zu bilden, von selbst erledigt. Aber obwohl sämtliche Alltagserfahrungen belegen, dass kein Lehrer oder Erzieher ohne Autorität etwas ausrichten kann, pflegen viele im Gefolge der antiautoritären Welle (und der daraus resultierenden Missverständnisse) erschreckt zu reagieren, wenn bloss das Wort ‚Autorität’ oder gar ‚Macht’ ausgesprochen wird. Ich habe darum bereits vor Jahren die ganze Problematik in einem grundlegenden Aufsatz zu erhellen versucht. Er findet sich hier, auf meiner Website, unter Nr. 2 der Texte über Pädagogik Macht und Autorität in der Erziehung  , weshalb ich mich hier mit einer summarischen Zusammenfassung des Gedankengangs begnüge:

Entgegen der beinahe stereotyp zitierten Aussage Jakob Burckhardts, Macht sei „an sich böse“, gehe ich von einem wertneutralen Begriff der Macht aus, da ich in der Macht als der Möglichkeit, Leben oder Verhältnisse gemäss eigenem Wollen zu gestalten, nichts primär Unmoralisches erkennen kann. In pädagogischen Zusammenhängen blende ich die Macht von Institutionen (institutionelle Macht) und jene, die von den Strukturen der Gesellschaft ausgeht (strukturelle Macht), aus und beschränke mich auf eine Analyse jener Macht, die von einzelnen Menschen ausgeübt wird (personale Macht).

Verstehen wir ein Individuum als ein komplexes Konglomerat existentieller Möglichkeiten, so kann jeder dieser Möglichkeiten irgend ein Bezug zur Machtausübung zugeordnet werden. Hilfreich zur Strukturierung menschlicher Existenzmöglichkeiten erscheint mir die vom Griechentum her tradierte Unterscheidung in Leib, Seele und Geist bzw. – in Anlehnung an Nikolai Hartmann – in physisches, psychisches und geistiges Sein. Dementsprechend lassen sich drei typische Formen menschlicher Machtausübung unterscheiden, nämlich physische, psychische und geistige Macht:

  • Bei der physischen Macht handelt es sich um den Einsatz des Körpers oder von Werkzeugen (Waffen aller Art) auf der Basis von Muskelkraft und Geschicklichkeit, mithin um Gewalt.

  • Macht auf der psychischen Ebene kann in zwei Formen erscheinen, nämlich offen als Druck, Nötigung oder Einschüchterung, oder verschleiert als Erwecken von Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen, Entzug der Zuneigung, Anstachelung des Ehrgeizes und alle übrigen Formen der psychischen Manipulation. Der Macht auf der psychischen Ebene zuzurechnen ist ferner eine gewissen Menschen gleichsam als Talent gegebene Eigenheit: dass sich ihnen nämlich andere Menschen bereitwillig unterordnen, und zwar ohne dass sich jene mit dieser natürlichen Autorität Begabten allzu sehr um ihre Dominanz oder ihren Einfluss bemühen müssen.

  • Wenn es auch oft schwierig und nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch nicht völlig sauber zu unterscheiden ist: die erwähnte natürliche Autorität ist etwas anderes als geistige Autorität. Diese erscheint als geistige Stärke, als Ausstrahlung einer reifen Persönlichkeit auf der Basis ihres inneren Wertes und ihrer Sachkompetenz, als Glaubwürdigkeit, Überzeugungs- und Durchsetzungskraft.

Der Hauptgrund, weshalb jeder Lehrer grundsätzlich auf den Besitz von Macht und ebenso auf Machtausübung angewiesen ist, liegt darin, dass er gemäss seinem Lehrauftrag von den Schülern ein Verhalten verlangen muss, das sie in der Regel aus eigenem Antrieb nicht wählen würden. Aber der Lehrer braucht nicht bloss Macht, um seinen Lehrauftrag erfüllen zu können, sondern er braucht sie auch, um seine Autorität (als notwendige Voraussetzung für die Hauptaufgabe) zu wahren. So führen die meisten Lehrer einen doppelten Kampf: einerseits gegen die Trägheit oder die Lernunlust der Schüler, andererseits gegen ihr aufsässiges Verhalten ihm gegenüber, das tendenziell seine Autorität zu untergraben sucht. Diese Zusammenhänge negieren zu wollen, hiesse die Augen vor der alltäglichen Realität zu verschliessen.

Gemäss der vorstehenden Analyse stehen ihm zur Bewältigung der Problematik somit theoretisch drei Formen von Machtausübung zur Verfügung:

Der Einsatz physischer Macht im Sinne der Körperstrafe steht heute ausser Diskussion. Die Anwendung physischer Gewalt ist nur dort legitim, wo damit grösseres Unheil vermieden werden kann, sei es, dass  z.B. ein Lehrer in eine Auseinandersetzung zwischen Streithähnen eingreift oder dass er ein Kind, das unbesonnen eine befahrene Strasse betreten will, mit raschem Griff zurückhält. 

Meistens hingegen gelangt psychische Macht zum Einsatz, sei es als Druck, Nötigung (z.B. mit Noten), Einschüchterung, Zufügen psychischer Verletzungen jeglicher Art (Beschimpfung, Blossstellung, Beschämung) oder sei es in einer der zahlreichen Formen der Manipulation (siehe oben). Natürlich ist es wünschenswert, ohne all dies auszukommen, und je mehr dies einem Lehrer gelingt, desto besser. Absolut wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass ein gewisses Mass der oben erwähnten natürlichen Autorität eine grosse Hilfe ist, ja dass ein Mensch, der davon nichts besitzt, den Lehrberuf nicht ausüben kann, selbst wenn er noch so gebildet ist und sich ethisch untadelig verhält.

Die einzige Form von Machtauswirkung indessen, die ethisch vollkommen unbedenklich ist, ist das Wirken geistiger Autorität. Sie ist daran zu erkennen, dass es einer  Erzieherpersönlichkeit dank ihrer Stärke, dank ihrer Ausstrahlung, ihrer Glaubwürdigkeit, ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Sachkompetenz gelingt, in den Schülern jene positiven Kräfte zu wecken und zu stärken, die sich als Freude am Lernen und Leisten äussern.

Die tägliche Erfahrung lehrt, dass eigentlich niemand diese geistige Autorität vollkommen besitzt und dass – selbst wenn es dies gäbe – deren Wirkung nicht nur vom Erzieher, sondern auch vom zu Erziehenden abhängig ist. Je grösser nämlich dessen Verhaltensschwierigkeiten sind, desto kleiner ist seine Bereitschaft, auf geistige Autorität angemessen zu antworten. Versagt aber die geistige Autorität, steht der Lehrer stets vor der Wahl, sein Ziel aufzugeben oder aber auf eine tiefere Ebene der Machtausübung zurückzugreifen – d.h. zur psychischen – und somit Druck auszuüben, zu drohen, einzuschüchtern usf. Fruchtet auch dies nicht, ist guter Rat teuer, wenn man die Ziele nicht aufgeben will. Dass es immer wieder vorkommt, dass nochmals auf eine tiefere Ebene – die physische – gegriffen wird, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ein Lehrer, der seine Autorität gegenüber den Schülern nicht mehr aufrecht erhalten kann, existenziell bedroht ist: Er kann seinen Lehrauftrag nicht mehr erfüllen und muss letztlich den Beruf aufgeben. Kein Wunder, dass Lehrer im allgemeinen sehr heftig auf die Verweigerung ihrer Autorität reagieren, denn die aufkommende Angst ist durchaus berechtigt.

Bis jetzt wurde gezeigt, dass der Lehrer zur Machtausübung – in welcher Form auch immer – insofern genötigt ist, als er von den Schülern ein Verhalten (Lernverhalten) fordern muss, das sich aus der staatlichen Schulgesetzgebung ergibt. Neben diesen sachlichen Gründen der Machtausübung gibt es aber noch ein psychisch begründetes Machtbedürfnis, das gemäss der Adler’schen Individualpsychologie als Kompensation unbewältigter Minderwertigkeitsgefühle zu deuten ist. Es ist wohl kein Mensch in dieser Hinsicht völlig ungefährdet. Für Menschen, die berufsmässig mit Macht umgehen müssen und auf Autorität angewiesen sind, ergibt sich sehr oft die fatale Situation, dass sich die objektiv geforderte Machtausübung mit dem subjektiv begründeten Machbedürfnis vermengen. Je mehr dies der Fall ist, desto mehr verhindert dies das Entstehen geistiger Autorität.

Damit ist ein Weg angedeutet, den letztlich jeder Erzieher zu beschreiten hat: Er muss primär objektiv erforderliche Machtsituationen von seinem subjektiv begründeten Machtbedürfnis unterscheiden lernen, um nicht dieses hinter jenem zu verstecken und damit an Glaubwürdigkeit einzubüssen. Er muss sich ferner um jene Existenzvollzüge und Lebensweise kümmern, die das Entstehen geistiger Autorität ermöglichen und begünstigen. Damit begibt er sich existenziell auf ein Gebiet, dass kaum mehr etwas mit Ausbildung zu tun hat, das nicht einfach durch das Absolvieren eines Kurses oder die Lektüre eines Buches zu erreichen ist, sondern letztlich seine eigene geistige Entwicklung als Person betrifft.

Das Anliegen, dass sich der Lehrer – nicht zuletzt durch seine eigene Lebensführung und -gestaltung – um echte, d.h. geistige Autorität bemüht, um nicht bloss mit äusserem Druck (vorab psychisch) akzeptable Schülerleistungen erwirken zu müssen, dieses Anliegen ist letztlich identisch mit dem Streben nach wirklicher Bildungsqualität und dem Bemühen um einen geistvollen Unterricht, bei dem sich die Schüler wohl fühlen und in welchem sie aus innerer Freiheit mitmachen.

Mehr zu diesem Thema im erwähnten Aufsatz sowie im Text Ursachen und Lösungen von Konflikten . Siehe auch das Kapitel „Was tun ohne Stock?“ in meinem Buch „Menschen bilden – Impulse zur Gestaltung des Bildungswesens nach den Grundsätzen von Johann Heinrich  Pestalozzi“, Baden-Verlag, Baden 2008, S.  179 ff. (siehe: www.menschenbilden.ch ).

Weitere Themen: