Arthur Brühlmeier

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Die Interpretation eines Textes am Beispiel von Adalbert Stifters Novelle „Der Hagestolz“

Wenn ein Schriftsteller eine Geschichte erzählt, geht es ihm im allgemeinen um mehr als um die blosse Darstellung einer interessanten Begebenheit. Dem einzelnen, konkreten Geschehnis liegt zumeist etwas Allgemeines zu Grunde. Die Erzählung bedeutet somit für den Leser eine Herausforderung, der es standzuhalten gilt. Das führt natürlich dazu, dass jeder Leser aus dem Text etwas anderes macht. Dies ist auch – allerdings innerhalb gewisser Grenzen – erwünscht. Lesen erweist sich dadurch als höchst aktiver, ja kreativer Prozess. Die Kreativität des Lesers darf indessen nicht wuchern, sie muss sich vielmehr in den Dienst des vorliegenden Textes stellen. Es geht also darum, den wirklich im Text liegenden tieferen Sinn herauszulesen, und nicht etwa darum, eigene Vorurteile und Interessen in den Text hineinzulesen. Die Grenzen zwischen Heraus-Lesen und Hinein-Lesen sind allerdings unscharf und fliessend.

Das Herausschälen allgemeiner Gedanken und Prinzipien aus einem gegebenen Text nennt man Interpretieren bzw. Deuten. Wenn wir einen Text deuten wollen, was ja nichts anderes heisst, als ihn richtig zu verstehen, müssen wir uns also den tieferen Sinn von ihm selbst sagen lassen und dürfen nichts Fremdes in ihn hineinlegen. Was das heisst, versuche ich nun am Beispiel von Stifters ‘Hagestolz’ aufzuzeigen:

Überblicken wir die Erzählung als Ganzes, so stellen wir fest, dass ein junger Mensch den gewohnten und liebgewonnenen Lebensraum verlassen und sich mit einem völlig neuen auseinandersetzen muss. Dazwischen liegt ein Weg. Das legt als erstes den Gedanken nahe, dass es Stifter einerseits auf die Charakterisierung der zwei gegensätzlichen Lebensräume, andererseits auf die Probleme ankommt, die durch die Konfrontation der beiden „Welten“ entstehen. Unsere Vermutung wird nun sogleich bestätigt durch den ersten Untertitel „Gegenbild“. Es sind offenbar zwei Welten, die hier im Erleben des „Helden“ (und das ist ja Viktor und nicht etwa der Oheim) aufeinanderprallen: die warme, milde, durch liebende Umsorgung geprägte Welt Ludmillas auf der einen und die harte, schroffe, vorerst frostige Welt des Hagestolz auf der andern Seite.

Überdies fällt sofort auf, dass sich Viktor im Laufe der Geschichte verändert. Es liegt also nahe zu fragen, wodurch diese Veränderungen bewirkt werden, und die Antwort ist dann auch nicht schwer zu finden: nämlich durch den Wechsel des Milieus.

Damit haben wir das Grundthema gefunden: Stifter zeigt die Entwicklung eines jungen Menschen, die eben darum glückt und fruchtbar wird, weil er gegensätzlichen Erziehungseinflüssen ausgesetzt ist.

Wenn wir also die Geschichte besser verstehen wollen, so müssen wir uns zuerst die beiden Welten innerlich genau vergegenwärtigen. Stifter geht uns dabei sehr an die Hand, indem er in beiden Welten gleiche „Themen“, aber eben auf die jeweils typische Art, behandelt. So widerspiegelt z.B. die Landschaft jeweils den geistig-seelischen Charakter der jeweiligen „Welt“: ein sonniges, liebliches, von Bächen durchflossenes Tal bei Ludmilla – eine einsame Insel, deren Uferfelsen steil in einen abgeschiedenen See abfallen, beim Oheim. Dies bringt uns auf den Gedanken, dass Stifter ganz allgemein das äussere Geschehen (Landschaft, Naturerscheinungen) als Ausdruck innerer Vorgänge betrachtet und dichterisch verwendet. Plötzlich stellen wir fest, dass die Formen von Gewässern, Tälern, Gebirgen und Pflanzen, die Gestalt und das Verhalten von Tieren sowie die Witterungserscheinungen nicht durch den Zufall bestimmt sind, sondern Symbole sind für geistig-seelisches Leben.

Ich stellte schon fest, dass Stifter in beiden „Welten“ gleiche Themen behandelt und gleiche Motive bearbeitet. Es gibt also einen Weg, das Wesen der beiden Gegen-Welten zu erfassen, indem wir nach solchen parallelen Motiven suchen und sie dann miteinander vergleichen. Motive, die in beiden Lebensräumen vorkommen, sind z.B. die folgenden:

Tiere (insbesondere Hunde und Vögel)

Beziehung zur Pflanzenwelt

Gewässer

topographische Gegebenheiten

Behausung (dabei speziell: Umgang mit Türen und Schlüsseln)

Garten

Nahrungsbeschaffung,

Essgewohnheiten

Haltung gegenüber dem Alter, Erscheinungsbild des Alters, Antlitz alter Menschen

Bedeutung der Zeit, Umgang mit der Zeit und mit Uhren

Staub und Umgang mit dem Staub

Beziehungsgefühle zwischen den Menschen

Bedeutung, Erwerb und Verwendung des Geldes

Bekleidung

alltägliche Tätigkeiten

Fürsorge für Viktor

Bücher

Belehrung

Religion

Lebensgrundsätze (Ludmilla und der Oheim formulieren sogar einige aus; solche Stellen springen dem geübten Leser sofort in die Augen).

Die Tatsache, dass eine solche Fülle von Motiven gefunden werden kann, die in beiden Welten auf irgendeine Weise bedeutsam sind, beweist, dass wir beim Deuten des Textes die richtige Fährte gefunden haben.

Nun sehen wir weiter, dass die beiden Welten nicht isoliert nebeneinander gestellt werden, sondern durch ein feines Gespinst von Beziehungen (alte Liebesbeziehungen, verwandtschaftliche Verhältnisse, rechtliche Ansprüche etc.) miteinander verbunden sind. Das führt uns zum Gedanken, diese beiden Seiten des „Gegenbildes“ miteinander in Beziehung zu setzen.

Vorerst in Erwägung zu ziehen ist die Beziehungsgestalt ‘entweder – oder’. Da wäre dann Ludmilla die gute Wohltäterin und der Oheim der böse Egoist, und die Erziehungsweise und der Erziehungserfolg wären dann dementsprechend. Aber der Verlauf der Geschichte verbietet diese Schwarz-Weiss-Malerei. Viktor reift ja in der Gefangenschaft des Oheims, und allmählich offenbart der verbitterte, ängstliche Alte ein anderes Wesen. Stifter selbst führt uns ja nicht das Entweder-Oder, sondern die Verbindung dieser beiden Welten vor Augen, und zwar im Entwicklungsweg Viktors. Der Schriftsteller zeigt eindrücklich, dass Viktor erst durch die Verbindung dieser beiden Welten das wird, was er werden soll: ein fruchtbar wirkender Mann. Die Welt Ludmillas und die Welt des Oheims sind demgemäss zwei Seiten des Lebens, und Stifter zeigt, dass beide nötig sind für die gute Entwicklung des jungen Menschen.

Damit haben wir das Hauptthema herausgeschält. Aber eine gute Erzählung enthält wie jede gute Komposition noch Nebenthemen, die selbstverständlich in einem inneren Bezug zum Hauptthema stehen. Ein solches Nebenthema ist in unserem Text die Frage des Heiratens. Die Geschichte beginnt ja mit Viktors Vorsatz, nie zu heiraten, und endet mit dessen Verehelichung. So etwas kann nicht Zufall sein, und „lesen“ heisst, aufmerksam zu werden auf solche Themen und Bezüge. Es wird deutlich, dass Stifter Viktors Vorsatz als Auswuchs jugendlicher Unreife erkennt, die dann durch die Lebensschule des Oheims überwunden wird.

Sind wir nun zum Motiv der jugendlichen Unreife gestossen, so verstehen wir auch die ersten Szenen der Erzählung, wo Viktor mit seinen jungen Freunden durch Wald und Feld und über Tal und Hügel schweift. Stifter zeigt den Zusammenhang der jugendlichen Unbekümmertheit mit dem Aufbruch der Natur im Frühling. Diese jungen Menschen können denn auch die Ehe nur verstehen als eine entweder durch Erotik oder durch Machtanspruch geprägte personale Beziehung. Für Stifter selbst stehen diese Aspekte der Ehe im Hintergrund. Ihm geht es vielmehr um die Fortpflanzung, ums Kinderhaben. Die Bestätigung für diese Behauptung finden wir auch in einer andern Erzählung Stifters, im „Waldgänger“. Hier lässt er zwei kinderlose Eheleute, die sich innig lieben und im Glück leben, sich scheiden, um die Fortpflanzung mit andern Partnern neu zu versuchen. Beide scheitern allerdings. Wir erkennen hier ein tiefes persönliches Problem Stifters: Lebenslang litt er darunter, dass er keine Kinder bekam. Im Rahmen unserer Geschichte dient die Ehe auch als Symbol für die als notwendig betrachtete Verschmelzung des männlichen und weiblichen Prinzips. – Weitere Nebenthemen wären etwa: das Verhältnis von Jung und Alt, von Natur und Kultur, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Haben wir einmal entdeckt, dass bei einem Schriftsteller kein Detail dem Zufall überlassen wird, so können wir uns ja auch die Frage vorlegen, ob allenfalls die Namen der Personen etwas über ihr Wesen aussagen könnten. Ludmilla war die erste christliche Fürstin Böhmens, also so etwas wie eine Urmutter. Auch in unserer Erzählung verkörpert die Ziehmutter Ludmilla das Urweibliche, Urmütterliche. Alles, was für die Welt Ludmillas typisch ist und im Gegensatz steht zur Welt des Oheims, ist demgemäss eine Wesensäusserung des Weiblichen, des Mutter-Prinzips. Der Gedanke liegt nahe, dass sich in der typischen Lebens- und Anschauungsweise des Hagestolz das wesentlich Männliche, das Vater-Prinzip zeigt, wenn auch in sehr einseitiger und daher teilweise krankhafter Ausprägung. Damit sind wir zum Grund-Gegensatz (zur Grund-Polarität) vorgestossen: männlich – weiblich. Viktor benötigt sowohl eine weiblich-mütterliche wie auch eine männlich-väterliche Erziehungsweise, wenn er den Aufgaben des Lebens gewachsen sein soll. Oder noch etwas grundsätzlicher: Wirkliches Leben ereignet sich im Spannungsfeld entgegengesetzter (polarer) Prinzipien.

Hat sich in einem Fall die Deutung des Namens als fruchtbar erwiesen, so darf wohl auch bei andern Namen der Versuch gewagt werden, sie als bedeutungsträchtig zu verstehen. „Viktor“ heisst: der Sieger. Das legt den Gedanken nahe, dass Stifter nicht nur das Leben eines ganz bestimmten jungen Menschen beschreiben will, sondern dass Viktor gleichsam das Modell für den Menschen schlechthin darstellt. Das bedeutet: In und an uns müssen männliche und weibliche Kräfte wirksam werden, wenn wir den Lebenslauf als Sieger bestehen wollen. – Es zeigt sich, dass auch die andern Namen nicht zufällig gewählt sind, doch möchte ich hier nicht auf jedes Detail eingehen. Vielmehr liegt mir daran, eine Warnung auszusprechen: Anfänger neigen dazu, das, was sich im einen Fall bewährt hat, unter allen Umständen in andern Fällen auch anzuwenden. Es ist indessen zu beachten, dass jeder Schriftsteller seine Eigenart hat, und deshalb kann das, was bei Stifter geht, sich bei einem andern Schriftsteller als völliger Fehlgriff erweisen. Auch gibt es viele Texte, die gar nicht in der Weise symbolisch interpretiert werden können, wie ich dies am Beispiel des ‘Hagestolz’ zeigte. Ob dies möglich ist, muss man durch sehr aufmerksames Lesen erspüren und von Fall zu Fall entscheiden.

Der ‘Hagestolz’ ist jedenfalls für eine symbolische Deutung sehr ergiebig. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass es in diesem Text kaum Zufälligkeiten gibt und dass alle Einzelheiten einer symbolischen Deutung zugänglich sind. Die symbolische Ausdeutung aller Einzelheiten wäre eine ausserordentlich aufwendige Arbeit, die ich hier nicht leisten kann und will. Statt dessen seien zum Schluss einige Fragen formuliert, die eine weiterführende Interpretation anzuregen geeignet sind:

Worin unterscheidet sich die Erziehungsweise des Vormunds von derjenigen des Oheims?

Was symbolisiert der Spitz (der Hund)?

Wie ist der Satz Viktors „weil mich schon gar nichts mehr freut“ zu erklären?

Worin besteht die Schattenseite der Erziehung Viktors durch Ludmilla?

Inwiefern zeigen Witterungserscheinungen innere Stimmungen an?

Worin bestehen die Veränderungen des Oheims und wodurch werden sie bewirkt?

Warum trägt der Hagestolz als einzige der zentralen Personen keinen Namen?

Was bedeutet für die handelnden Personen „Freiheit“, wie gehen sie damit um, wie kommen sie dazu?

Und noch ein Letztes: Es macht das Wesen eines Kunstwerks aus, dass es letztlich unauslotbar ist. Darum lässt sich bei jedem erneuten Lesen eines guten Textes Neues entdecken. Das ist auch beim ‘Hagestolz’ so. Eine solche Erzählung ist kein Wegwerfartikel, man liest sie nicht wie eine Zeitung. Sie ist vielmehr mit einer Sinfonie zu vergleichen, die man gerne immer wieder hört und in welcher der aufmerksam Hörende stets wieder Neuem begegnet.

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