Arthur Brühlmeier

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Rezension des Buchs von Hebenstreit

HEBENSTREIT, Sigurd (1996):

JOHANN HEINRICH PESTALOZZI

Leben und Schriften.

Freiburg, Basel, Wien: Herder. 175 Seiten, Fr. 25.-

Pestalozzis 250. Geburtstag bringt es mit sich, dass viele über den Gefeierten schreiben, Berufene und Unberufene. Der Bochumer Professor Sigurd Hebenstreit, mit einem Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und evangelischen Theologie und einer reichen pädagogischen Erfahrung als Grundlage, gehört zu den Berufenen. Sein Buch „Johann Heinrich Pestalozzi – Leben und Schriften“ ist als Einführung geeignet, für Leser also, die sich zuvor kaum mit Pestalozzi befasst haben. Nach einer kurzen Lebensbeschreibung stellt Hebenstreit zehn zentrale Schriften Pestalozzis vor, entwickelt deren Grundgedanken und druckt einige ausgewählte Auszüge aus den betreffenden Texten ab. Behandelt werden ‘Die Abendstunde eines Einsiedlers’ (1780), der 1. Teil von ‘Lienhard und Gertrud’ (1781), ‘Über Gesetzgebung und Kindermord’ (1783), dann die Schrift über die Französische Revolution ‘Ja oder Nein?’ (1793) und die ‘Nachforschungen’ (1797), ferner der ‘Stanserbrief’ (1799), ‘Wie Gertrud ihre Kinder lehrt’ (1801), das ‘Buch der Mütter’ (1803) und schliesslich die ‘Unschuld’ (1815) und der ‘Schwanengesang’ (1826). „Eine Analyse von zehn zentralen, gewichtigen Schriften auf so engem Raum – das kann nicht gut gehen“, möchte man denken. Das hängt natürlich von den Erwartungen ab. Gerechterweise darf man unter diesen Umständen nicht das beurteilen, was fehlt, sondern lediglich das, was dasteht. Und da stellt man dann mit Genugtuung fest, dass Hebenstreit tief in die Materie eingedrungen ist, und zwar nicht bloss mit dem Kopf. Zwar jubelt er Pestalozzi nicht enthusiastisch hoch, aber in jeder Zeile ist des Autors Achtung vor dieser seltenen Persönlichkeit, ihrem Leben und Schicksal zu spüren. Und immer wieder schlägt Hebenstreit ein Brücke zu den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen, wodurch die Bedeutung Pestalozzis für die heutige Zeit erlebbar wird.

Natürlich liesse sich im Rahmen jeder einzelnen Werkanalyse darüber diskutieren, ob nicht der eine oder andere Aspekt auch hätte berücksichtigt werden müssen und ob die getroffene Auswahl aus der jeweiligen Schrift die bestmögliche ist. Aber jeder Autor hat ein Recht auf ein gewisses Mass von subjektiven Gewichtungen. Wesentlich ist, dass keine Missverständnisse entstehen und Pestalozzi nicht als Knecht für irgend eine Ideologie herhalten muss. Es ist Hebenstreit hoch anzurechnen, dass er bei seinen Werkanalysen weder Irrtümer verbreitet noch Pestalozzi für irgend etwas ihm Wesensfremdes vereinnahmt. Sein Buch bietet ein grundlegendes Verständnis und regt zu weiterer Vertiefung an. Wer es liest, ist ein gutes Stück weit über Pestalozzi im Bild, und manch einer wird sich noch stärker in dessen Gedankenreichtum vertiefen wollen.

Problematisch ist das letzte Kapitel, in welchem Hebenstreit noch besonders auf Pestalozzis Bedeutung für die heutige Praxis eingeht. Dabei trägt er eine Reihe kritischer Anmerkungen vor, unterscheidet aber zu wenig zwischen Pestalozzis Erziehungsgrundsätzen auf der einen und dessen eigener Erziehungsfähigkeit bzw. Anwendung dieser Grundsätze auf der andern Seite. Es geht ja nicht darum, Pestalozzis Person als Richtschnur zu nehmen, sondern die Idee der Elementarbildung zu verstehen und sie in jeder historischen und sozialen Situation je und je neu zu verwirklichen. Wenn z.B. Hebenstreit zu Recht anmerkt, dass Pestalozzi die Bedeutung des kindlichen Spiels zu wenig erkannte, so ist dies eine Beschränkung seiner Person und nicht seiner Theorie, denn in der Forderung, die Erziehung müsse „naturgemäss“ sein, ist eben auch die Berücksichtigung des Spiels mitenthalten, sobald erkannt wird, dass der Spieltrieb und das spielerische Element zum Wesen der kindlichen Natur gehören.

Unberechtigt ist auch Hebenstreits Kritik an Pestalozzis angeblicher „standesmässiger Restriktion“ (S. 163), der gegenüber der Autor die Forderung erhebt, jedes Kind habe „Anspruch auf eine möglichst weitgehende Förderung entsprechend seiner Fähigkeiten“. So etwas ist gewiss nicht gegen Pestalozzi einzuwenden, denn dieser hat dies selber stets in aller Deutlichkeit gefordert. Zwar warnt Hebenstreit selber immer wieder vor Missverständnissen des Pestalozzischen Standes-Begriffs, weshalb es erstaunt, dass er schliesslich doch über diese – zugegebenermassen komplexe – Angelegenheit stolpert.

Schliesslich erscheint auch Hebenstreits Liste des für die gegenwärtige Praxis „Konstruktiven“ als zu wenig ergiebig. Natürlich wird man sich nie darüber einigen können, was Pestalozzi heutzutage „noch“ hergibt. Es setzt eben jeder Denker und Praktiker das um, was ihm beim Studium einer Philosophie einleuchtet und bedeutsam wird. Das kann bei Pestalozzi allerdings sehr, sehr viel mehr sein als das, was Hebenstreit sieht. So erwähnt er etwa im didaktischen Bereich lediglich die Bedeutung der Anschauung.

Ungeachtet dieser Kritik am letzten Kapitel ist Hebenstreits Buch sehr wertvoll und auf alle Fälle zur Lektüre zu empfehlen. Es ist in gutem Deutsch geschrieben (unter Verzicht auf irgend eine „wissenschaftliche“ Renommiersprache), informiert klar, weckt Interesse und vermag einen offenen Leser zu bereichern. Ein sympathisches Buch.

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