Arthur Brühlmeier

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Der Unterschied zwischen gesellschaftlichem und sittlichem Zustand im Anschluss an Pestalozzis Lehre von den drei Zuständen

Oder: Wider die Illusion der reinen Sittlichkeit

Der insgesamt lehrhafte Duktus dieser Abhandlung erklärt sich aus der Tatsache, dass ich sie im Anschluss an mehrere staatsphilosophische Diskussionen für meine Studenten schrieb. – Beim Nachweis der Zitate beziehe ich mich auf die Bände der Kritischen Werkausgabe und die entsprechende Seitenzahl.

Anwendung der Lehre von den drei Zuständen

Bekanntlich hat Pestalozzi in seinem 1797 erschienenen Werk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ eine Analyse der individuellen und sozialen Existenz des Menschen vorgelegt, die einerseits die Widersprüche menschlichen Seins erklärt, andererseits – durch eben diese Klärung – die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen beantwortet. Mit der Aufschlüsselung der menschlichen Existenz als natürliches, gesellschaftliches und sittliches Sein gibt uns Pestalozzi ein Erkenntnis–Instrument an die Hand, das wie kaum ein anderes geeignet ist, die Komplexität individuellen und kollektiven Seins sinnvoll zu strukturieren und damit ein differenziertes Verständnis des menschlichen Lebens zu gewährleisten. So hat alles wesentlich Menschliche diese drei Aspekte, handle es sich nun um Freiheit, Friede, Ehe, Erziehung, Berufsarbeit, Konfliktlösungen, Religion oder was auch immer. Ich gestatte mir, dies – im Sinne einer Anregung – skizzenhaft auszuführen:

 

Naturzustand

gesellschaftlicher Zustand

sittlicher Zustand

Beruf

  • primäre Bedürfnisse
  • physische und psychische Voraussetzungen
  • physische und psychische Belastungen
  • Arbeitsvertrag
  • staatliche Gesetzgebung
  • Partizipation am Bildungswesen
  • Zugehörigkeit zu einer Organisation
  • Berufung
  • Verantwortung für andere Menschen und Umwelt
  • Identifikation mit Idealen
  • Motivation: Erhaltung der eigenen Familie

Ehe

  • Verliebtheit
  • Sexualität
  • Gewohnheiten des gemeinsamen Lebensalltags
  • „neurotische“ Beziehungsstrukturen
  • Zivil–Ehe
  • staatliches Eherecht
  • Ehe–Verträge
  • Liebe, Treue
  • Wille zu gemeinsamem seelisch–geistigem Wachstum
  • gegenseitige Hilfe
  • Verantwortung für die Gemeinschaft

Erziehung

  • Pflege
  • ungewertete Entfaltung natürlicher Anlagen und Kräfte
  • Einübung in gesellschaftliche Normen
  • Erwerb von Kulturtechniken
  • Entfaltung der Herzenskräfte
  • Unterordnung der intellektuellen und handwerklichen Kräfte unter die sittlichen

Freiheit

  • Anspruch und Möglichkeit, tun und lassen zu können, was einem beliebt
  • gesellschaftlich zugesicherter Freiraum zur Wahrung eigener Interessen und Befriedigung eigener Bedürfnisse
  • politische Mitbestimmung
  • negativ: Freiheit von eigenen inneren Zwängen und Abhängigkeiten
  • positiv: Wille zu selbstverantwortetem Handeln aus dem Gewissen

Friede

  • Fehlen von Konfliktursachen
  • Diktatur der Stärkeren
  • im Innern des Kollektivs: Konfliktlösungen auf der Basis des anerkannten Rechts
  • gegen aussen: vertragliche Absicherung der gegenseitigen Unantastbarkeit
  • jeweilige Absicherung des Rechts durch kontrollierte kollektive Macht
  • negativ: Verzicht auf Gewalt bei Konflikten
  • positiv: Annahme des Nächsten als Mitmenschen

Konflikt-
lösung

  • Ausspielen physischer oder psychischer Überlegenheit
  • Inanspruchnahme des Rechts und der für Konfliktlösungen vorgesehenen Institutionen
  • gegenseitiges Eingehen auf die Probleme und Bedürfnisse des Konfliktpartners
  • niederlagelose Konfliktlösung

Macht

  • physische Gewalt
  • psychische Macht
  • strukturelle Macht
  • institutionelle Macht
  • Autorität, geistige Ausstrahlung
  • Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft
  • Kompetenz

Religion

  • Angst vor dem Numinosen
  • „sinnliche“ Jenseits- und Heilsphantasien
  • äussere Organisation in Kirchen, Vereinigungen, Sekten
  • Religiöse Sitten und Gebräuche
  • innere Erhebung zu Gott, persönliches Gebet
  • Lebensführung als Antwort auf das Faktum der Geschöpflichkeit

 

Von besonderer Bedeutung ist nun der Nachweis, dass die Sittlichkeit des Menschen nicht, wie es Rousseau und in seinem Gefolge Marx lehrten, in der gesellschaftlichen Existenz des Menschen zu ihrer Erfüllung kommt, sondern vielmehr zu verstehen ist als Ausdruck des von den gesellschaftlichen Verhältnissen zwar beeinflussten, in seinem Wesen aber doch selbständigen freien Willens des einzelnen Individuums. Durch diese realistische Einschätzung entlastet Pestalozzi die Gesellschaft von absoluten Ansprüchen, die sie eben als Gesellschaft niemals wird erfüllen können, und macht statt dessen deren instrumentale Funktion im Hinblick auf die Existenzsicherung und die Versittlichung des Individuums bewusst. Gleichzeitig macht er verstehbar, dass der Einzelne in seinem gesellschaftlichen Handeln – insofern es bloss gesellschaftlich ist – andere Massstäbe anlegen darf und muss, als wenn er sich zur Sittlichkeit emporhebt.

Nun ist unverkennbar, dass der heute herrschende Zeitgeist wenig geneigt ist, die wesensmässigen Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Existenz zu sehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Dies zeigt sich etwa darin, dass Angehörige der sog. Friedensbewegung immer wieder mit Forderungen aus der Bergpredigt argumentieren, wenn es um Fragen kollektiver Bedrohung geht, oder dass Vertreter der sog. Befreiungs-Theologie die Vorstellung des Gottesreiches mit der totalen Befreiung des Menschen identifizieren und diese als politisch realisierbar betrachten. In diesen Rahmen gehört auch die grosse Beliebtheit von Erich Fromms Buch „Haben oder Sein?“, in welchem er ein grundsätzlich negatives Verständnis des „Prinzips Haben“ vorträgt, das Haben insgesamt bloss oder doch weitgehendst als Ausfluss der menschlichen Habsucht sehen kann und schliesslich die Forderung erhebt, die „Gesellschaft des Habens“ durch eine „Gesellschaft des Seins“ zu ersetzen.

Von Pestalozzis Anthropologie her lässt sich ohne weiteres ein Brücke schlagen zur modernen Unterscheidung menschlicher Existenz in die beiden Modalitäten „Haben“ und „Sein“: Der gesellschaftliche Zustand sowie der verdorbene Naturzustand decken sich mit dem „Prinzip Haben“, der sittliche und der unverdorbene Naturzustand mit dem „Prinzip Sein“. Aus Pestalozzis Philosophie ergibt sich zwar auch die Höherbewertung des „Prinzips Sein“, aber er sieht auch – im Gegensatz zu Fromm –, dass das Haben das Schicksal des Menschen ist und es darum nicht grundsätzlich negiert werden darf, sondern verantwortungsbewusst in die gesamte menschliche Existenz integriert werden muss. Der Gedanke, die „Gesellschaft des Habens“ durch eine „Gesellschaft des Seins“ zu ersetzen, ist aus der Sicht Pestalozzis geradezu absurd, denn die Gesellschaft stellt an und für sich schon den grundsätzlich unverzichtbaren Bereich des Habens dar und kann darum niemals durch die Modalität Sein ersetzt werden. Die gesellschaftlichen Mittel – nämlich: Produktionsmittel und Produkte, Kapital, Arbeitsteilung, Institutionen jeglicher Art, insbesondere der Staat und seine gesamte Gesetzgebung – gehören aus ihrem Wesen heraus in den Bereich des Habens und sind dazu da, sowohl die Existenz der Menschen zu sichern, als auch die Voraussetzungen zu schaffen für die (dem Bereiche des Seins zuzuweisende) Selbstverwirklichung des Einzelnen.

Für Pestalozzi stellt sich daher auch gar nicht die Frage: Haben oder Sein? – wie Fromms Buch bezeichnenderweise übertitelt ist –, sondern er anerkennt Haben und Sein, ja sogar Sein durch Haben. Mag auch der Bereich des Habens für den Menschen eine ständige Versuchung darstellen, ihn in immer neue Widersprüche treiben und ihm die denkbarsten Mühseligkeiten aufladen – Pestalozzis Sichtweise nötigt uns zur Einsicht, dass wir diesem Bereich nicht entfliehen und dass wir uns dessen Obsorge nicht entziehen können. Zur Erfüllung im Sein kommt nur, wer auch das Haben – trotz seiner Bedingtheit und Widersprüchlichkeit – akzeptiert.

Pestalozzis Stimme

Über das Verhältnis zwischen Erfordernissen, die das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen, und sittlichen Anforderungen an den Einzelnen, wie sie die Bibel lehrt, äussert sich Pestalozzi in den „Nachforschungen“ ausführlich. Anhand zahlreicher Anspielungen auf bekannte Bibelstellen zeigt er, dass der Mensch „die Folgen nicht tragen könnte“ (d.h. dass er unterginge), wenn er die erwähnten Sätze im Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bis zur letzten Konsequenz befolgen und damit den Anspruch erheben wollte, in jedem Fall rein sittlich handeln zu können. (Man beachte: Pestalozzi meint mit „ich“ den Menschen schlechthin.)

„Reine Sittlichkeit streitet gegen die Wahrheit meiner Natur, in welcher die tierischen, die gesellschaftlichen und die sittlichen Kräfte nicht getrennt, sondern innigst miteinander verwoben, erscheinen.

So wie ich die Folgen nicht tragen könnte, die es auf mich haben würde, wenn ich alle Dinge dieser Welt bloss als ein für mich selbst bestehendes Tier oder bloss als ein in bürgerlichen Verhältnissen stehendes Wesen ins Auge fassen würde, ebensowenig könnte ich die Folgen tragen, die es auf mich haben müsste, wenn ich selbige einzig und ausschliessend in dem Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, und von meiner tierischen Natur und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängend ins Auge fassen wollte. Ein solches Ins-Auge-Fassen würde mich reizen, beides, die tierische und die gesellschaftliche Kraft meiner Natur sowie alle Formen des gesellschaftlichen Zustands zu vernachlässigen und so das Fundament des Mittelstands (P. meint den mittleren der drei Zustände: den gesellschaftlichen) zu untergraben, durch dessen Drang und Erfahrungen ich allein zur Anerkennung der wahren und das ganze meiner Natur und meiner Verhältnisse umfassenden und vervollkommnenden Sittlichkeit zu gelangen vermag. Der Anspruch an eine ganz reine Sittlichkeit würde mich dahin bringen, mich der verlorenen Unschuld meiner Natur näher zu glauben, als ich im Verderben des gesellschaftlichen Zustands ihr nahe sein kann; sie würde mich mitten in den Leiden und den Hemmungen meines tierischen Verderbens dennoch in den Traum der Unkunde des Übels einwiegen und zu aller Sorglosigkeit des Lebens hinlenken.

„Sorgt nicht für euer Leben“, würde mich eine solche Sittlichkeit lehren, „noch was ihr essen oder was ihr trinken wollt.“ Sie würde die Bande des Eigentums wegwerfen: „Verkaufe, was du hast –.“ Die Bande des Blutes würden vor ihren Augen verschwinden: „Weib was gehst du mich an? — Wer sind meine Brüder und meine Schwestern?“ Sie würde ihr Recht nur in der Kraft der Unschuld suchen: „Habe ich unrecht geredet –?“ Sie würde unser ganzes Dasein an diese Unschuld anketten: „Wenn ihr nicht werdet wie diese Kinder –.“ Sie würde auf die Menschennatur bauen als auf einen Felsen: „Seid gerecht“, würde sie sagen, „und die Menschen werden es nicht ausstehen können, ungerecht zu sein, wenn sie sehen werden eure guten Werke –.“ Sie würde gegen das Unrecht keine tierische Gewalt (P. meint physische Gewalt) versuchen: „Stecke dein Schwert in die Scheide –!“ Sie würde in Knechtsgestalt einhergehen: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel haben Nester“, aber sie fände nichts, wohin sie mit Sicherheit und Recht ihr Haupt hinlegen könnte. —

Ganze Reinheit der Sittlichkeit muss notwendig auf den Punkt hinführen, von dem sie ausgeht, und dieser ist offenbar meine Unschuld, das ist: ich selbst ohne Kunde des Übels, des Lasters und der Gefahr.

Tierisches Wohlwollen, sorgenlose Ruhe, Abscheu vor dem Blut, Glauben an das Lächeln der Menschen, diese Merkmale der Unverdorbenheit meiner Natur sind auch die ersten Kennzeichen, an denen ich die Beschaffenheit meines Geistes, von welcher meine Sittlichkeit ausgeht, wie in ihrer Knospe, ehe sich noch ihre Blüte entfaltet, zu erkennen vermag. Und wenn ich dann diese Beschaffenheit meines Geistes wieder bis an die äussersten Grenzen meiner sittlichen Vollendung verfolge, so finde ich auf den äussersten Punkten, auf denen ich die Vollendung der gereiften Früchte der Sittlichkeit zu erkennen vermag, eben diese Heiterkeit einer unumwölkten Stirne, eben diesen Frieden der Seele, eben diesen Abscheu vor dem Blut und eben diese Neigung zum Glauben an das Lächeln der Menschen. Aber in der Mitte zwischen meiner tierischen Unschuld und meiner sittlichen Vollendung steht eine Welt, die weder die Unschuld der unentwickelten Knospe, noch diejenige ihrer gereiften Früchte zu ertragen vermag; ein Geschlecht, das ebenso unvermögend ist, in der Unschuld seiner tierischen Natur sich zu beruhigen, als in vollendeter sittlicher Reinheit auf Erden zu leben.

Der Unschuld unbeflecktes Eigentum ist nicht das Teil des sterblichen Mannes, er hat sie beim ersten weinenden Laut an dem Schoss seiner Mutter verloren und stirbt, ehe er sie in seiner Brust wiederhergestellt hat.“ (12, 109 ff.)

Damit ist selbstverständlich nicht gesagt – und Pestalozzi ist keinesfalls dieser Ansicht –, es müsse jedes gesellschaftliche Phänomen in seiner jetzigen Form akzeptiert werden. Gerade weil der Mensch durch seinen Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand seinen Egoismus nicht überwindet, sondern ihn höchstens einschränkt, ihm aber auch Freiräume zugesteht, kann eine konkrete Gesellschaft niemals vollkommen gerecht sein, was immer das heissen mag. Daraus ergibt sich der Auftrag an den verantwortungsbewussten Menschen, seinen ihm möglichen Beitrag zur Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse zu leisten. Insofern zeigt sich ein zwingender Zusammenhang zwischen dem sittlichen Handeln der einzelnen Menschen und der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Denn solange die Gesellschaft nur von jenen Kräften organisiert wird, die bloss ihren Egoismus befriedigen wollen, kann wirkliche Gerechtigkeit keinen Raum gewinnen. Auf dieses Verhältnis zwischen sittlicher Gesinnung der Gesetzgeber und politisch tätigen Menschen und gesellschaftlichem Recht, in welchem dann deren Sittlichkeit ihren Niederschlag findet, kommt Pestalozzi in seiner Fabel „Der Unterschied des Waldlebens und des gesellschaftlichen Zustands“ zu sprechen. Nachdem der eine Gesprächspartner, Nerin, festgestellt hat, dass er im gesellschaftlichen Zustand weit herum dieselbe Unterdrückung und Ausbeutung sehe wie im verdorbenen Naturzustand („im Waldleben“), antwortet Philo (d.h. Pestalozzi):

„Das ist allgemein so, wenn der Mensch im gesellschaftlichen Zustand nicht zur Erkenntnis einer höheren Wahrheit und eines höheren Rechts gebracht wird, als diejenige ist, die er bei der sinnlich-tierisch befangenen Ansicht dieser Gegenstände schon im Waldleben besitzt. …  Sie (diese höhere Wahrheit) ist nichts anderes, als die Erkenntnis, dass der Segen des gesellschaftlichen Zustands, sowohl in seinem Einfluss auf das Privatleben seiner einzelnen Glieder als auf den öffentlichen Zustand des gesellschaftlichen Lebens überhaupt, nicht aus dem Fleisch und Blut unserer sinnlich-tierischen Natur, sondern aus dem Geist und Leben des inneren, göttlichen Wesens unserer Menschlichkeit selber hervorgeht.“ (11, 322 f.)

Die Sittlichkeit des Individuums hat somit sehr wohl ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, aber gleichzeitig gilt, dass wer reine, absolute Sittlichkeit in allen Lebensverhältnissen beansprucht, damit die Grundlagen des gesellschaftlichen Zustands und damit wiederum der Möglichkeit der Sittlichkeit untergräbt.

Gesellschaftlicher Zustand versus sittlicher Zustand

Angesichts der oben beklagten Vermengung gesellschaftlicher und sittlicher Betrachtungsweisen und Prinzipien halte ich es für hilfreich, unter weitgehender Vernachlässigung des Naturzustands den gesellschaftlichen Zustand dem sittlichen Zustand gegenüberzustellen, so dass der qualitative Unterschied beider Existenzweisen deutlich und erlebbar wird. Dabei gestatte ich mir, über das hinauszugehen, was Pestalozzi terminologisch leistet und in seinen Schriften explizit ausspricht, und seinen Ansatz in seinem Sinne weiterzuführen. Um dem Leser die Lektüre zu erleichtern, führe ich zu Beginn jene Gegensatzpaare auf, die ich in meine Erörterungen einzubeziehen gedenke, ohne mich sklavisch an die Reihenfolge zu halten:

 Gesellschaftlicher Zustand

Sittlicher Zustand

Zivilisation

Kultur

Kollektivexistenz

Individualexistenz

Teilaspekt des Menschen

Ganzer Mensch

Mensch als Mittel

Menschsein als letzter Wert in sich

das Quantitative

das Qualitative

das Abstrakte: Gesetze, Regelungen, Institutionen

das Konkrete: Existenz als unwiederholbares Ereignis, personale
Beziehungsphänomene, kreative Lösungen

das Statische, Überdauernde, Tradierbare

das Aktualisierbare (durch Resonanz), gegenwärtig sein

das Perfektionierbare

Leben als Ereignis der Fülle

Absicherung, Misstrauen

Offenheit, Wagnis, Ver- und Zutrauen

Kampf um Positionen, Einfluss, Besitz Macht, Recht

Liebe, Verständnis, Hilfe

Problemlösungen schaffen neue Probleme

Möglichkeit echter Problemauflösungen

heteronome Verpflichtungen: aussengeleiteter Mensch

autonome Verpflichtungen: innengeleiteter Mensch

Zwecke

Sinn

Modalität: Haben

Modalität: Sein

Zivilisation versus Kultur

Die ersten beiden Gegensatzpaare bilden das Grundthema im 1815 erschienenen Werk „An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes“. Schon die Trilogie „Unschuld – Ernst – Edelmut“ zeigt die Bezugnahme auf die drei Zustände in den „Nachforschungen“. Zwar im Bewusstsein um die Unausweichlichkeit der Zivilisation, doch ernüchtert durch den Verrat Napoleons an den Idealen der Französischen Revolution, betont Pestalozzi die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Zivilisationserscheinungen. Er meint damit sämtliche Einrichtungen des gesellschaftlichen Zustands (wozu Gesetze, Institutionen und insbesondere jede Form von Besitz gehören), insofern sie bloss gesellschaftlich sind, d.h. insofern sie bloss dazu dienen, die Egoismen der Einzelnen und von Gruppen zu befriedigen. Benutzt der Mensch die gesellschaftlichen Mittel nicht für höhere Zwecke, führen sie ihn ins Verderben – Pestalozzi verwendet oft den Ausdruck „Zivilisationsverderben“ –, d.h. sie befriedigen seine tierischen Gelüste, kitzeln seine Ehrsucht und Eitelkeit und sind die Mittel, deren er sich bedient, um den andern zu übervorteilen und an die Wand zu spielen.

Als Kultur bezeichnet Pestalozzi das Insgesamt aller sittlichen Handlungen und Haltungen der Individuen, insofern sie sich segensreich und gestaltend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken. Kultur ist ein Ausdruck wirklicher Gebildet- und Erzogenheit der Individuen und eine unbedingte Voraussetzung dafür, dass der gesellschaftliche Zustand nicht entartet, sondern ein Zustand wirklichen Rechts und wahrhafter Gerechtigkeit ist.

Daraus ergibt sich, dass eigentlich zwei Formen des gesellschaftlichen Zustands zu unterscheiden sind: eine bloss zivilisatorische gesellschaftliche Vereinigung, in der sich der Geist der Tyrannei und der Barbarei der gesellschaftlichen Mittel bemächtigt, und eine gesellschaftliche Vereinigung, in der die Kultur der gebildeten Menschen die Gesetze und deren Vollzug dem Geist des Rechts unterwirft. Die gesellschaftlichen Mechanismen sind in beiden Fällen dieselben – Gesetze, die auf der Basis der staatlichen Macht wirksam werden –, aber im einen Fall führen sie den Kampf des verdorbenen Naturmenschen um eigensüchtige Vorteile im Gesellschaftlichen weiter, und im andern Fall schaffen sie Recht, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Obwohl Pestalozzi weiss, dass reine Sittlichkeit nicht möglich und daher eine völlige Befreiung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von egoistischen Einflüssen undenkbar ist, schwebt ihm doch vor, dass eine Entwicklung des gesellschaftlichen Zustands aus dem bloss Zivilisatorischen ins Kulturelle in Gang kommt:

„Das gereifte bürgerliche Recht ist ein Resultat des gereiften Lebens im bürgerlichen Zustand, es ist ein Resultat von bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen, die sich progressiv in ihrer innern Wahrheit oder vielmehr in ihrer innern Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Menschennatur nach dem Grad der allmählich steigenden Völkerkultur immer mehr entfaltet haben und entfalten sollen. Und, Vaterland, die Nichtanerkennung dieser progressiven Entfaltung des bürgerlichen Rechts sowie der Köhlerglauben (= Aberglauben) schwacher Menschen und sinkender Staaten an die Notwendigkeit des Ewigerhaltens veralteter barbarischer Rechts- und Regierungsformen ist in seinem Wesen ein lautes Zeugnis des Stillstehens des Staats auf Stellen, wo er durchaus nicht stillstehen sollte; sie ist in ihren Folgen Quelle von Staatsschwächen in allen Fächern, in denen die Staatskraft durchaus nicht geschwächt werden darf, und endlich ist sie beim Emporstreben der Völker zur bürgerlichen Kultur und rechtlichen Selbständigkeit eine unversiegliche Quelle der schreiendsten Ungerechtigkeiten .“ (24A,100 f.)

Dieser Glaube an eine Entwicklung des gesellschaftlichen Zustands in Richtung zunehmender Gerechtigkeit ist offensichtlich auch ein deutliches Merkmal der modernen pazifistischen und anarchistischen Bewegungen. Beide gehen aber im Gegensatz zu Pestalozzi von der Annahme aus, dass die Staatskraft als solche diese positive Entwicklung verhindere, und haben jener daher den Kampf angesagt. Während die anarchistischen Gruppierungen den Staat in jeder Erscheinungsform bekämpfen, um ihn schliesslich abschaffen zu können, betreiben die Pazifisten die Untergrabung des staatlichen Machtinstruments und damit des staatlichen Schutzes. Dabei gibt man sich u.a. dem Glauben hin, dass niemand mehr einen Anreiz zum Angreifen verspüre, wenn man sich wehrlos präsentiert. Im zwischenmenschlichen Zusammenleben kann man diese Erfahrung gelegentlich tatsächlich machen. Von Pestalozzi her gesehen ist aber die Vermischung von Gesetzmässigkeiten im personalen Bereich (Naturzustand und sittlicher Zustand) mit solchen im gesellschaftlichen Zustand verhängnisvoll:

„Als Privattugend sind Zutrauen und Wohlwollen ewig der liebliche Schatten der Unschuld, die wir verloren. Aber mein Geschlecht als solches kann nichts weniger als auf Unschuld Ansprüche machen, und wenn es im gesellschaftlichen Zustand umwölkt von ihrem Schatten einhergeht, so wandelt es in den Labyrinthen des Trugs, mit denen der Boden der
gesellschaftlichen Erde bedeckt ist. Es ist unstreitig, Zutrauen und Wohlwollen ist eine Inkonsequenz gegen das Wesen des gesellschaftlichen Zustands, und wenn die Sicherheit irgendeiner bürgerlichen Einrichtung
darauf gebaut wird, so wird die menschliche Tugend eine öffentliche Narrheit.“ (12, 81)

Das Gute im gesellschaftlichen Zustand muss daher stets durch die Macht abgesichert sein, und darum ist sie für Pestalozzi auch nicht an sich schon verwerflich:

„Nicht die Macht, der Mensch, der sie in der Hand hat, ist schuld an dem Verderben seines Geschlechts. Alle Folgen der Macht sind heilig und gut, solange der Mensch, der sie in der Hand hat, treu ist und sein Wort ein biederes Wort und seine Treue unbeweglich wie die unbeweglichen Sterne.“ (12,  49)

Sittlichkeit entsteht eben gerade nicht dadurch, dass der Staat die Menschen schon von vorneherein als sittlich betrachtet – der Gesetzgeber „darf weder den König noch das Volk sittlich glauben …“ (12, 17) –, sondern einzig dadurch, dass sie je und je zur Sittlichkeit erzogen werden.

Mit andern Worten: Diese Entwicklung aus der blossen Zivilisation hin zur Kultur wird sowohl durch das Festhalten an veralteten Machtstrukturen wie auch durch Auflösung der Staatskraft verhindert, und kommt nur durch die Versittlichung des Einzelnen in Gang. Diese ist indessen einzig durch die Erziehung zu erreichen. Für Pestalozzi ist sie „das heilige Fundament der Kultur“ (24A, 5), und darum bekennt er auch ganz freimütig: „Der Anfang und das Ende meiner Politik ist Erziehung“ (24A, 12). Nur sittlich gebildete Menschen können einen Staat tragen und gestalten, der mehr sein will als rechtliche Sicherung von Einzel- und Gruppenegoismen:

„Lasst uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können und nicht durch Unmenschlichkeit zur Unfähigkeit des Bürgersinns und durch Unfähigkeit zum Bürgersinn zur Auflösung aller Staatskraft, in welcher Form es auch immer geschehe, versinken“. (24A,  39)

Kollektivexistenz

Im gesellschaftlichen Zustand ist die Kollektivexistenz des Menschen in Anspruch genommen. Das bedeutet zweierlei:

Einerseits sind die tragenden Fundamente der Gesellschaft, insofern sie personal und nicht institutionell) verstanden sind, zumeist Kollektive: Volk, Einwohnerschaft, Vereinigungen, Verbände, Räte, Behörden, Altersklassen usf. (einige der erwähnten Kollektive sind zugleich Institutionen);
anderseits beansprucht die Gesellschaft den kollektiven Aspekt des Individuums, d.h. jene Rollen, die er mit andern teilt.
So ist stets meine Kollektivexistenz in den Blick genommen, wenn man mich als Vater, als Ehemann, als Bürger meiner Heimatgemeinde, als Einwohner meiner Wohngemeinde, als Steuerzahler, als Wehrmann, als Berufsmann, als Mitglied eines Vereins oder einer politischen Partei, als Autofahrer, als Katholiken usf. ins Auge fasst. In jedem einzelnen Fall bin ich verstanden als ein Teil einer gleiche Merkmale tragenden Gruppe, und in jedem Fall ist durch diese Rollenzuweisung meine Existenz verdinglicht, was bedeutet, dass der Aspekt, der in den Blick genommen ist, zur überdauernden, feststehenden Sache wird, die bei andern Menschen mit denselben Rollen gleich ist bzw. als gleich angenommen wird.

Kollektiv existiere ich auch dann, wenn ich mich in die konkrete Dynamik einer realen Masse begebe und dabei – psychologisch betrachtet – mein persönliches Gewissen verliere und meine Selbstverantwortung an den dumpfen Willen der agierenden Masse delegiere.

In keinem der beiden Fälle kommt mein wahres, individuelles Wesen zum Ausdruck.

Teilaspekte des Menschen

Aber die Gesellschaft als Gesellschaft kann mich gar nicht anders erfassen. Sie ist stets nur an einem Teilaspekt des Menschen interessiert: Der Staat sieht mich als Staatsbürger, in der Armee ist die Wehrkraft gefragt, das Steueramt interessiert sich für die Einkommens- und Vermögensverhältnisse und registriert meine Steuerkraft, auf der Strasse bin ich für die Polizei ein Autofahrer, der allenfalls Gesetze übertritt, die Haftpflichtversicherung interessiert sich für mich nur insofern, als ich Schaden anrichte, bei Abstimmungen und Wahlen ist meine Stimmkraft gefragt, für die Elektrizitätsgenossenschaft bin ich ein Strombezüger, für die Bundesbahn ein Passagier, für die Fernsehgesellschaft ein Konzessionär, am Arbeitsplatz interessiert meine Arbeits- und in einem Verkaufsladen meine Kaufkraft.

Das Quantitative

All dies macht auch deutlich, dass im gesellschaftlichen Zustand stets das Quantitative zählt: wieviel verdiene ich, wieviel leiste ich, wie viele Jahre zähle ich, um wieviel habe ich die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten und wieviel beträgt dann die Busse, wie hoch bin ich versichert, wie viele Stimmen macht eine Partei oder eine Vorlage, wie viele Soldaten und Waffen hat die Armee, wie viele Einwohner hat der Kanton, die Gemeinde, wieviel Wasser und Strom verbrauche ich, wieviel kostet ein Produkt usf.? Mit andern Worten: Die gesellschaftliche Qualität eines Phänomens liegt in deren optimalen Quantität.

Der Mensch als Mittel für weiterführende Zwecke

Im Rahmen gesellschaftlicher Prozesse dient der einzelne Mensch oft auch als Mittel zu einem allgemeineren Zweck. Als Steuerzahler trage ich die Staatsfinanzen mit, als Soldat leiste ich meinen Verteidigungsbeitrag, als Arbeiter stehe ich im Produktionsprozess, als Käufer halte ich die Wirtschaft im Gange, und als Wähler verleihe ich einer Partei mehr Durchschlagskraft. Das ist die Folge davon, dass der gesellschaftliche Zustand grundsätzlich zweckorientiert ist: Er muss die Existenz der Menschen sichern und ihre Lebensqualität ermöglichen. Wenn sich daher der Mensch grundsätzlich der Zumutung entziehen möchte, in bestimmten Zusammenhängen Mittel zu weiterführenden Zwecken zu sein, würde er damit die Grundlage seiner Existenz und seiner Lebensqualität zerstören.

Der Mensch als Ganzheit

Nun wäre das menschliche Leben allerdings sehr belastend, würde man im bloss Gesellschaftlichen stecken bleiben. Dem Einzelnen ist vielmehr aufgetragen, in seinen engeren, überschaubaren Lebenskreisen seinen Mitmenschen als ganzer Mensch zu begegnen und sie ebenso als ganze Menschen anzunehmen. Darüber hinaus ist er aufgerufen, in seinem gesellschaftlichen Handeln zwar in Kenntnis der gesellschaftlichen Mechanismen, aber eben im Rahmen personaler sittlicher Verantwortung als ungeteilter, unverwechselbarer Einzelner zu handeln. So ins Auge gefasst, ist der Einzelne immer unendlich mehr als alle seine gesellschaftlichen Rollen; er ist eine einmalige, unwiederholbare Individualität mit einer unwiederholbaren Lebensgeschichte und einer ihm gemässen inneren Berufung. Unter religiösem Aspekt hat jeder Einzelne seine Geschichte mit Gott. Und jeder hat auch seine Ecken und Kanten, seine Schwächen, Ängste und seelischen Probleme. Sittliches Leben als vor dem Gewissen verantwortetes gesellschaftliches Handeln und als Begegnung mit dem Mitmenschen umfasst immer die ganzheitliche Wahrnehmung und ganzheitliche Annahme seiner selbst und seiner Mitmenschen.

Es ist aber undenkbar, dass der Staat als Staat und die Gesellschaft als Gesellschaft einem solchen Anspruch an ganzheitlicher Begegnung genügen könnten. So wäre der Staat beispielsweise völlig überfordert, wenn er in jedem Fall abklären müsste, wie sinnvoll jemand sein Geld verwendet, und dann aufgrund der Tatsache, dass jemand dies auf sittlich hochstehende Weise tut (was immer das heissen mag und wie immer das abzuklären wäre), die Höhe der Steuern oder der AHV–Renten bestimmte. Es bleibt ihm daher gar nichts anderes übrig, als dies ganz mechanisch nach der Höhe des Einkommens, nach dem Zivilstand, nach der Kinderzahl und einigen andern Voraussetzungen festzusetzen. Er tut dies nicht weniger mechanisch als irgend jemand, der am Kiosk eine Zeitung kauft und von der Verkäuferin nichts anderes erwartet, als dass sie den Preis nennt, die Zeitung aushändigt und das Geld entgegennimmt. Wir würden uns alle restlos überfordern, wenn wir den Anspruch erhöben, es müsste bei jedem gesellschaftlichen Kontakt – in unserm Beispiel zwischen Käufer und Verkäufer – eine echte, ganzheitliche Begegnung in einem sittlichen Sinne, die die Seelen aller Beteiligten zutiefst erfüllt, zustande kommen.

Individualexistenz, das Qualitative, Eigenwert des Menschen, Sinn

Solche Begegnungen sind nur in wesentlich sittlichen Verhältnissen möglich, wo also nicht die Kollektivexistenz des Menschen, sondern vielmehr seine Individualexistenz zum Tragen kommt. Dann ist er nicht erfasst in seinen gesellschaftlichen Rollen, sondern in seinen seelisch-geistigen Bezügen zum Mitmenschen, zu Gott und zu sich selbst. Und das Wesen dessen, was sich aus dieser Existenzweise heraus gestaltet, lässt sich niemals quantitativ erfassen, sondern macht die eigentliche Qualität des menschlichen Daseins aus. Existiert der Einzelne in dieser Weise sittlich, so erübrigt sich die Frage, wozu er das tut. Seine Lebensform ist kein Mittel mehr zu weiterführenden Zwecken, sondern ist ein eigenständiger, letzter Wert in sich selbst. Menschliches Leben kommt in der Sittlichkeit zu seiner letzten Erfüllung, zu seinem eigentlichen Sinn.

Bereiche der kollektiven und der individuellen Existenz

Als Konsequenz aus der Denkfigur, dass zwar eine Entwicklung in Richtung immer grösserer Kultur in Gang kommen sollte, andererseits aber das bloss Zivilisatorische ein Teil des gesellschaftlichen Lebens immer bleiben wird, da reine Sittlichkeit dem Menschen nicht möglich ist, macht sich Pestalozzi in seinem bereits erwähnten Werk „An die Unschuld …“ Gedanken darüber, welche Institutionen grundsätzlich nur von der Kollektivexistenz des Menschen her angegangen werden können und welche den Menschen so weit wie möglich in seiner Individualexistenz zu erfassen haben. Dabei akzeptiert er, dass alle Regierungen „die Angelegenheiten der Justiz, der Polizei, der Finanzen und des Militärs unbedingt als reine Angelegenheiten der kollektiven Existenz unseres Geschlechts, des Staats“ behandeln. Auf der andern Seite aber fordert er: „Kirchen–, Schul- und Armenwesen sind im Staate unwidersprechlich und vorzüglich als die Sache der individuellen Existenz unseres Geschlechts anzusehen“ (24A, 107).

Fragen wir uns, inwieweit diese Vorstellungen Pestalozzis mit unserer heutigen staatlichen Realität übereinstimmen. Dass wir, wenn wir von der Polizei erwischt werden, wenn wir vor Gericht stehen, wenn wir die Steuererklärung ausfüllen oder das Wehrkleid tragen, nicht primär als einmalige Individualitäten angesprochen werden, sondern in die gleichmachende Mühle des Kollektivs geraten, ist ganz offensichtlich. Dies ist zwar in jedem Falle frustrierend, aber doch, wenn man ehrlich analysiert, grundsätzlich nicht anders zu machen. Fatal wird die Sache, wenn sich die kollektive Ansicht des Menschen auch in jenen Gebieten ausbreitet, die von ihrer Fruchtbarkeit einbüssen oder sie gar weitgehend verlieren, wenn sie den Menschen nicht in seiner Individualexistenz erfassen. Pestalozzi nennt drei solche Bereiche: Armen-, Kirchen- und Schulwesen. Fragen wir uns, was das Gemeinsame dieser drei Bereiche ist, sehen wir, dass es hier nicht – wie in den übrigen Bereichen – um die Verwaltung und Verbesserung der konkreten und abstrakten Dingwelt geht, sondern um die Perfektionierung des Menschen selber. In der Schule soll der einzelne Mensch gebildet und erzogen werden, in der Religion geht es um die Nährung und Vollendung seiner individuellen Sittlichkeit durch eine persönliche Gottesbeziehung, und im Armenwesen geht es um die personale Fürsorge für den Einzelnen durch liebende Taten der Mitmenschen.

Im Bereiche des Armenwesens denken wir heute anders. Der moderne Wohlfahrtsstaat will nicht die Armen betreuen, sondern die Armut grundsätzlich abschaffen. Das geschieht nun gerade nicht dadurch, dass die wohlhabenderen die ärmeren oder notleidenden Mitmenschen aus sittlicher Verantwortung heraus unterstützen, sondern indem staatliche, d.h. kollektive Mechanismen in Gang gesetzt werden, die verhindern, dass der Einzelne – sofern er überhaupt von den vorgesehenen Hilfen Gebrauch machen will – ins Elend absinkt. In diesen Zusammenhang gehört in der Schweiz die traditionelle Sozialhilfe durch die Heimat- und Einwohnergemeinde, gehören Subventionen und Stipendien jeglicher Art, gehören aber insbesondere alle möglichen – zumeist obligatorischen – Versicherungen für den Brandfall, für Arbeitslosigkeit, für Erkrankung und Verunfallung, für Verwitwung und Verwaisung und für das Alter. Dieses reich verzweigte Netz sozialer Absicherung ist ein Musterbeispiel dafür, wie Sittlichkeit ins Gesellschaftliche hineinwirkt. Wahrhaft sittlich sind dabei allenfalls die Beweggründe der Gesetzgeber und ihr politischer Einsatz; sobald sich aber der sittliche Impuls im betreffenden Gesetzeswerk verdinglicht hat, bleibt mechanisches, gesellschaftliches Funktionieren übrig, das keinen Bedacht mehr nehmen kann auf die individuelle Existenz des Einzelnen. So bringt kein gütiger Nachbar dem notleidenden Bruder Essen, Kleidung oder Geld, weil er sich zu christlichem Handeln berufen fühlt, sondern der Computer sorgt für die mechanische Auszahlung der AHV–Renten.

Die Religion gerät dann in die Fänge kollektiver Mechanismen, wenn sich der Staat in die eigentliche Religionsausübung einmischt. Das war z.B. in der Schweiz in jenen Städten der Fall, deren Regierung via Sittenmandate auch den Kirchgang des einzelnen Menschen kontrollierten und Absenzen mit Strafe belegten. Pestalozzi hat sich daher grundsätzlich gegen die Gerichtsbarkeit des Staates in sittlichen Belangen gewendet, wie sie vor dem Einmarsch der Franzosen üblich war. Für ihn stand fest, dass staatliche Gerichte nur solche Vergehen ahnden dürfen, die die Existenz und die Sicherheit der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers gefährden. In diesen Fällen allerdings darf sich der Staat nicht – in falsch verstandenem Umsetzungsversuch des Evangeliums – durch Mitleid leiten und den Gesetzesbrecher einfach laufen lassen, weil ein solches Handeln zugleich eine (ebenso unchristliche) Aggression gegen die ungeschützten Mitmenschen bedeuten würde.

Das Verhältnis zwischen Religion und Staat ist heute in der Schweiz durch die Bundesverfassung und die Kantonsverfassungen geregelt. Der Staat garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, er schützt die Existenz der Kirchen und stellt deren Einkünfte durch die Institution der Kirchensteuern sicher. Mit andern Worten: Der Staat schafft einen Rahmen, den der Einzelne freiwillig akzeptieren und innerhalb dessen er nach seinem Gewissen seinen religiösen Gesinnungen Ausdruck geben kann. Pestalozzis Forderung ist somit, was den Staat betrifft, eingelöst.

Von besonderer Aktualität ist Pestalozzis Vorstellung, dass das Schulwesen eine Sache der Individualexistenz des Menschen sein soll:

„Das Individuum, wie es dasteht vor Gott, vor seinem Nächsten und vor sich selber, von Wahrheit und Liebe in sich selber gegen Gott und den Nächsten ergriffen, ist die einzige reine Basis der wahren Veredlung der Menschennatur und der sie bezweckenden wahren Nationalkultur.

Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich. Es bildet sich wesentlich nur in engen, kleinen, sich allmählich in Anmut und Liebe, in Sicherheit und Treu ausdehnenden Kreisen also. Die Bildung zur Menschlichkeit, die Menschenbildung und alle ihre Mittel sind in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen ewig die Sache des Individuums und solcher Einrichtungen, die sich eng und nahe an dasselbe, an sein Herz und an seinen Geist anschliessen. Sie sind ewig nie die Sache der Menschenhaufen. Sie sind ewig nie die Sache der Zivilisation.“ (24A, 106)

Grundsätzlich liesse sich im Bereiche der Bildung dasselbe Verhältnis zwischen staatlicher Gesetzgebung und individueller Gestaltung denken, wie es im Bereiche der Religion verwirklicht ist: Der Staat schafft einen Rahmen, in welchem die in die Erziehung einbezogenen Menschen – Eltern, Schüler, Lehrer, örtliche Behörden – auf der Basis von Selbstverantwortung erzieherisch wirken. In der Schweiz haben die Dinge indessen einen andern Gang genommen. Nachdem das Schulwesen über Jahrhunderte zu einem grossen Teil eine Domäne der Kirchen gewesen war, bemächtigte sich der Staat in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Schule. Dabei gestand er ihr ursprünglich weitgehend die – nicht nur von Pestalozzi geforderte – Eigenständigkeit zu, so dass unsere Schulen den Namen „Volksschule“ verdienten. In den letzten Jahrzehnten hat aber der Staat immer stärkeren Einfluss auf die Schulen genommen und betrachtet diese Institution heute auch in inhaltlicher Hinsicht als eine Domäne, die er bis in alle Einzelheiten hinein gestalten und kontrollieren will. Unsere Schulen sind heute eigentliche „Staatsschulen“: Der Staat stellt nicht nur die Finanzen und die Schulräume zur Verfügung, sondern wählt die Lehrer, schreibt die Lehrinhalte via Lehrplan vor und gibt heute sogar eigene Lehrmittel heraus. Er kontrolliert via Inspektorat die Leistungen der Lehrer und via Notenwesen die Leistungen der Schüler. Via Schulgesetz zwingt er alle Kinder in die Schulen hinein, und via Schulordnung bestimmt er, was in der Schule zu geschehen hat und was zu unterlassen ist. Und wenn gewisse Entscheide von Lehrern oder lokalen Behörden als anstössig empfunden werden, greifen die staatlichen Rekursinstanzen in konkrete Konfliktlösungen ein. Der Staat bildet auch die Lehrer selber aus, patentiert sie und kontrolliert ihre Fortbildung. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Freiräume, die der erziehende Lehrer braucht, um nicht nur Stoff zu vermitteln, sondern Menschen zu bilden, immer kleiner werden und dass somit – in Pestalozzis Sprache – unsere Schulen immer mehr zu einer blossen Einrichtung der Zivilisation zu werden drohen und wahre Bildungskultur erschweren.

Die Schweizer scheinen diese Situation gewissermassen als naturgegeben hinzunehmen. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt indessen, dass „Volksschule“ durchaus etwas anderes bedeuten kann. So erhält z.B. in Holland jedes Kind seinen „Bildungsgutschein“, den es in irgend einer Schule einlösen kann. Auch in Dänemark können interessierte Lehrer und Eltern ohne weiteres eine Schule gründen, die dann staatlich unterstützt wird. Der Staat selbst schafft einen Rahmen, mischt sich aber wenig in die konkreten Inhalte ein.

Das Abstrakte versus das Konkrete

Ist vom „gesellschaftlichen Zustand“ die Rede, gilt es stets zwei Bedeutungen auseinanderzuhalten:

  1. Die objektiv gegebenen Phänomene der Gesellschaft (Zivilisation): Institutionen und Systeme, die funktionieren auf der Basis von Regelungen, Ansprüchen, Abhängigkeiten, kollektiven Wertbegriffen.
  2. Das gesellschaftliche Existieren des einzelnen Menschen: Die subjektive Teilhabe an den obgenannten objektiv (überindividuell) gegebenen Prozessen und Einrichtungen. Diese Partizipation am gesellschaftlichen Zustand kann geschehen entweder aus der Sicht und den Interessen des verdorbenen Naturmenschen (Kollektivexistenz) oder aber vom Standpunkt sittlicher Verantwortung her (Kultur).

Die unter a. ins Auge gefassten Gegebenheiten, die das gesellschaftliche Leben in Gang halten und regeln (Rechte, Pflichten, Besitz, Staat, Wirtschaft, Verbände, Ehe und Familie als Rechtsinstitution, Massenkommunikation usf.), sind in hohem Grade abstrakt. Sie verdanken ihre Existenz und ihre Wirkung der Tatsache, dass die Menschen auf der gedanklich–begrifflichen Ebene einen Konsens finden können, und bestehen samt und sonders unabhängig von konkreten Individuen; diese sind lediglich Träger von (abstrakt definierten) Rollen und Funktionen und sind in jedem Falle ersetzbar. So trifft z.B. der – sicher gut gemeinte – Satz nicht zu, wir alle bildeten zusammen den Staat. Der Staat ist eine Institution, die weiterfunktioniert, auch wenn Menschen sterben und andere geboren werden. Der Staat ist daher nicht die Summe der Individuen, sondern ein auf ein definiertes Gebiet bezogenes Rechtssystem. Und wenn wir im Kriegsfall z.B. unser Land verteidigen, so verteidigen wir weder die Seen und Berge (oder, wie boshafterweise immer wieder unterstellt wird, unsere Banken), noch einfach die jetzt lebenden Menschen, sondern wir lassen nicht zu, dass unser Rechtsstaat zerstört wird, welcher politische Freiheit und Menschenwürde nicht nur für uns, sondern auch für die künftigen Generationen ermöglicht.

Demgegenüber tritt uns die Sittlichkeit immer nur konkret entgegen: in einzelnen Akten wahrer Erkenntnis, guten Wollens, kreativen Tuns, liebender Begegnung. Pestalozzis Rede vom sittlichen „Zustand“ ist insofern unzutreffend. Sittlichkeit ereignet sich in unwiederholbaren, je neuen Akten und verdichtet sich nicht abstrakt in einen Zustand.

Nun liesse sich einwenden, das Konkrete gehöre auch zum Wesen des Gesellschaftlichen, sei doch z.B. der Kauf einer Ware, die Leistung des Arbeiters am Schraubstock, die Verbüssung einer Gefängnisstrafe oder ein Haufen Geld ganz klar etwas sehr Konkretes. Genau besehen ist aber der konkrete Aspekt dieser Phänomene ein Ausdruck des Naturzustands: Als Käufer befriedige ich ein subjektives Bedürfnis oder mache ich meiner Trägheit ein Zugeständnis, als Arbeiter erlebe ich die Anstrengung und Ermüdung, im Gefängnis sind natürliche Bedürfnisse frustriert, und der Haufe Geld ist – für sich genommen – eine reine Illusion. Der gesellschaftliche Anteil dieser Phänomene ist jeweils abstrakt: Den Kauf kann ich nur tätigen auf dem Hintergrund eines funktionierenden, in seinem Wesen abstrakten monetären Systems und abstrakter rechtlicher Setzungen, welche den Handel regeln; die konkret verrichtete Arbeit beruht auf einem funktionierenden Wirtschaftssystem, woran ich via vertragliche Bindungen partizipiere; die Strafverbüssung ist konkrete (natürliche) Realität auf der Basis abstrakter gesellschaftlicher Vorstellungen von Recht und Unrecht bzw. von funktionierenden Gesetzes- und Machtstrukturen; und der Haufe Geld stellt für mich darum einen über die materiale Verwendbarkeit dieser Metalle oder Papiere hinausgehenden Wert dar, weil ich diese gesellschaftliche Vorstellung mit andern teile.

Dasselbe gilt vom Besitz materieller Güter. Als Materie sind sie ein Stück Natur; gesellschaftlich sind die ihnen zugesprochenen Bedeutungen, die Methoden der Produktion und die Besitzansprüche, mithin abstrakte Phänomene.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Konkret sind die natürliche und die sittliche Existenz, abstrakt ist die gesellschaftliche Existenz. Oder anders: Naturzustand und sittlicher Zustand gehören zum Bereich des Seins, der gesellschaftliche Zustand ist der Bereich des Habens. So ist z.B. eine Grenze, die Tiere mit Sekreten markieren, konkret; eine Grenze zwischen Grundeigentümern, Gemeinden, Staaten etc. ist insofern abstrakt, als sie unterschiedliche Besitz- und Rechtsansprüche auseinanderhält. Oder: Eine Gruppe von Menschen, die miteinander personal kommunizieren, ist eine konkrete Gemeinschaft; die (beliebig veränderbare) Anzahl der Mitglieder einer Gewerkschaft sind Teil einer an sich abstrakten gesellschaftlichen Formation. Gemeinschaft ist entweder natürlich oder sittlich, Gesellschaft ist eben – um mit Pestalozzi zu reden – „sozietätisch“.

Das Statische, Überdauernde, Tradierbare versus das Aktualisierbare

Genau genommen, trifft der Pestalozzische Begriff „Zustand“ nur auf das Gesellschaftliche zu. Natürliches und sittliches Leben manifestiert sich in Prozessen (kontinuierlichen Vorgängen) oder Akten (einzelnen Taten). Zuständlich kann nur etwas werden, das stille gestellt und in seinem Sosein belassen wird. Dadurch wird es habbar. Man kann darauf zählen, dass man es in jener Form wieder antrifft, in der man es ver- und belassen hat. Das trifft grundsätzlich nur für Einrichtungen zu, die dem menschlichen Denken entsprungen sind. Gesellschaftliche Phänomene sind daher statisch und überdauernd. Ein Vertrag gilt, bis er wieder gekündigt wird. Grenzen gelten, bis man sie ändert. Besitz bleibt beim Eigentümer, bis er veräussert, verschenkt oder vererbt wird. Eine Funktion, eine Beamtung hat man inne, bis man sie niederlegt oder verliert. Gesetze gelten, bis sie geändert oder aufgehoben werden.

Nur Statisches ist übertragbar, übertragbar in die je hereinbrechende Zukunft hinein, übertragbar auch in andere Situationen, auf andere Rollenträger. Nur weil es Statisches, Habbares gibt, ist Tradition (Übertragung) möglich. Und Tradition ist unverzichtbar, denn das Tradierte ermöglicht die konkreten Lebensbewegungen, indem es ihnen den festen Bezugsrahmen gibt. Der gesellschaftliche Zustand ist das Insgesamt des Verdinglichten, Tradierten. Und der gesellschaftliche Prozess ist somit kein unwillkürlicher, organischer Vorgang, sondern eine Folge von – der menschlichen Einflussnahme unterworfenen – Abänderungen des Überlieferten, mithin ein Mechanismus. (Erscheint er uns als naturwüchsig, so darum, weil der Mensch in seinen Einwirkungen in die Gesellschaft häufig genug seinen natürlichen Bedürfnissen, Gelüsten und Zwängen unterliegt. So gesehen, ist das freimarktliche Wirtschaftssystem, als vom Egoismus jedes Beteiligten – Produzent, Händler, Konsument – angetrieben, ein naturwüchsiger Gesellschaftsprozess.)

Sittliches Leben kann nicht tradiert werden. Meine Sittlichkeit von heute ist nicht diejenige von morgen. Sittlichkeit lässt sich nicht erwerben und festhalten im Besitz. Sie schwindet, wie sie gekommen ist, und muss je und je neu erzeugt werden. Ich kann darum auch nicht meine Liebe einem andern Menschen so geben, wie ich ihm materielle Güter gebe. Materielles Gut, das ich verschenke, besitze ich nicht mehr, es ist übertragen worden; Liebe, die ich verschenke, bleibt bei mir, sie lässt sich nicht übertragen.

Das ist bedeutsam für den Erzieher. Wie gerne übertrüge er seine Einsicht, seine Wahrheitsliebe, seine Verantwortung, seine Ideale, seine Liebesfähigkeit, seine religiöse Beziehung auf den heranwachsenden Menschen. Aber übertragen lässt sich nur Gesellschaftliches, z.B. Wissen oder gesellschaftlich entwickelte Fertigkeiten. Sittliches lässt sich nur erregen in der – personalen oder auch literarisch vermittelten – Begegnung mit sittlichen Menschen. Sittlichkeit ist nicht tradierbar, sondern aktualisierbar durch Resonanz. Wäre mein Vater ein reicher Mann gewesen, so wäre ich es heute auch. Wäre er ein Heiliger gewesen, so hätte er mich damit höchstens zu einer sittlichen Lebensführung anregen können, aber meine Sittlichkeit ist meine eigene.

Das Perfektionierbare versus Leben als Ereignis der Fülle

Verbessert kann nur Zuständliches werden, denn die Perfektionierung beruht darauf, dass das Ding, das ich verbessere, stets so bleibt, wie ich es eben gerade haben möchte. Darum lässt sich weder Natürliches noch Sittliches, sondern einzig Gesellschaftliches perfektionieren. Dank der Tradierbarkeit gesellschaftlicher Phänomene kann jeder, der verbessert, auf dem früher Erreichten aufbauen. So summiert sich das als gesellschaftlich gut Erkannte. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist in all ihren Belegen ein beredtes Beispiel dafür. Die stete Weiterentwicklung gesellschaftlich tradierter Phänomene nennen wir „Fortschritt“.

Die Sittlichkeit kennt keinen Fortschritt. Liebe ist Liebe, und wenn ich sie morgen grösser finde als heute, so ist es eine neue Liebe und nicht die Weiterentwicklung der heutigen. Sittliches Leben ist zu verstehen als Ereignis der Fülle und entzieht sich einem quantitativen Denken, das dem Fortschritts- und Perfektionierungsdenken zu Grunde liegt.

Die Tatsache, dass sich Gesellschaftliches perfektionieren lässt, nicht aber das Sittliche, hat insofern weitreichende Konsequenzen, als einerseits die durch die Gesellschaft bereitgestellten Möglichkeiten destruktiven Tuns täglich wachsen – im Bereiche der Waffen hat der Fortschritt von der Keule zur Atombombe geführt –, dass aber andererseits die Fähigkeit, Verantwortung zu tragen, – mindestens vom Einzelnen aus gesehen – nicht damit Schritt halten kann, weil jedes Individuum mit seiner Geburt stets wieder vor dieselbe Aufgabe gestellt ist, nämlich seinen Egoismus allmählich in Griff zu bekommen. Wenn heute das Böse frecher dominiert als in vergangenen Zeiten, so liegt wohl einer der Gründe im zunehmenden Auseinanderklaffen dieser Schere: die Möglichkeiten zur Destruktion steigen „dank“ der durch den gesellschaftlichen Zustand bewirkten Perfektionierung der Mittel, und die Verantwortungsfähigkeit des einzelnen Individuums bleibt grundsätzlich über die Zeit hinweg dieselbe. Eine Lösung dieser Problematik ergibt sich von Pestalozzi her einzig durch gesteigerte pädagogische Anstrengungen, um die blosse Zivilisation immer mehr zu durchdringen mit wahrhafter Kultur.

Von da aus zeigt sich auch, dass der häufig vorgetragene Vorwurf ans Christentum, man sei jetzt nach zweitausend Jahren immer noch nicht viel weiter, jeder Tiefsicht entbehrt. Die Christlichkeit lässt sich nicht aufsummieren wie alles gesellschaftlich Verdinglichte. Weiterentwickeln – im Sinne zunehmenden Wissens, das in Büchern schlummert – lässt sich (weil es eben gesellschaftlich ist) die Theologie, nicht aber die Religiosität an sich.

Offenheit, Wagnis, Vertrauen versus Absicherung und Misstrauen

Von der Humanistischen Psychologie und der Adler’schen Individualpsychologie her wird einleuchtend, dass der Mensch, der sich hinter einer Mauer von Vorsicht und Misstrauen absichert, vereinsamt und der liebenden Begegnung grossenteils entbehren muss. Bereicherung und Erfüllung finden wir in dem Masse, als wir uns öffnen auf den Mitmenschen und auf das Unerwartete hin und Wagnisse innerer und äusserer Begegnungen eingehen.

Diese psychologische Betrachtungsweise sieht den Menschen im Hinblick auf seine Möglichkeit des sittlichen Lebens. Im gesellschaftlichen Zustand gelten andere Gesetzmässigkeiten. Wer da nicht misstraut und sich absichert, ist ein gutmütiger Tropf, der von allen Bösewichten ausgesogen und missbraucht wird. Mit gutem Grund lesen wir das Kleingedruckte bei Vertragsabschlüssen, zählen wir das Geld nach und nehmen das verführerische Lächeln und Schmeicheln von zielstrebigen Verkäufern und Politikern nicht beim Nennwert. Und wenn wir Geld ausleihen und nicht verschenken wollen, tun wir gut daran, Sicherheiten zu verlangen. Auch den Behörden gegenüber lassen wir uns nicht auf schöne Zusicherungen ein, sondern wir wollen gesetzliche Verankerung und schriftliche Garantien unserer durchgesetzten Forderungen. Das gesamte gesellschaftliche Leben ist geprägt durch diese Vorsicht und dieses Misstrauen, und wir verzichten klugerweise nur dann darauf, wenn wir unsere Partner als Ehrenmänner und -frauen kennengelernt, d.h. wenn wir von deren Vertrauenswürdigkeit (sprich ‚Sittlichkeit‘) überzeugt sind. In partnerschaftlichen Verhältnissen (z. B. Vertrags-, Nachbarschaftsverhältnissen usf.) ist der Verzicht auf die gesellschaftlich gebotene Vorsicht nur dann am Platz, wenn beide vom Willen zum Guten durchdrungen sind. Und da die Sittlichkeit auf Freiheit beruht, kann dies auch nicht bedingungslos vorausgesetzt werden.

Machtkampf versus Liebe

Alfred Adler hat (nebst vielen andern Autoren) einleuchtend dargelegt, dass wir eigentlich die Wahl haben, in unsern Beziehungen zu den Mitmenschen eine kämpferische oder eine liebende Haltung einzunehmen. Je mehr vom einen, desto weniger vom andern. Wer sich im Zusammenleben stets vordrängt, die andern übertrumpfen will, alles an sich reisst, stets auf seine Rechte pocht und die andern nach seiner Pfeife tanzen lassen möchte, schafft eine Atmosphäre der Lieblosigkeit, Beargwöhnung und Gehässigkeit. Wirkliche menschliche Zuneigung gewinnt nur dort Raum, wo das Kämpfen aufgehört hat und auf Machtausübung über andere verzichtet wird.

Im Bereiche des Gesellschaftlichen beruht indessen nicht nur das Negative – rücksichtsloser Konkurrenzkampf in der Wirtschaft, Imperialismus, Unterdrückung, Terror usf. – auf der Ausübung von Macht und Gewalt, sondern auch das Positive, nämlich die Einhaltung der in allgemein akzeptierten Werten wurzelnden Gesetze durch diejenigen, die aus egoistischen Motiven dagegen verstossen wollen. Gerade um die Gewaltanwendung zwischen einzelnen Menschen oder Gruppen zu verhindern, muss der Staat das Gewaltmonopol beanspruchen; so widersprüchlich es erscheinen mag: Er benötigt die Gewalt, um damit den Einzelnen an der Gewaltanwendung gegen andere zu hindern. Polizei und Militär beziehen aus dieser Erkenntnis ihre Legitimation. Ein Ende dieser widersprüchlichen Situation träte erst dann ein, wenn alle Menschen in allen Lebenslagen sittlich handeln würden, eine Unmöglichkeit, wie Pestalozzi wiederholt nachgewiesen hat.

Da die Machtausübung zum Wesen der rechtlichen Regelung des gesellschaftlichen Lebens gehört, ist auch der Kampf um die gesellschaftliche Macht nicht nur verständlich, sondern auch vom sozial–ethischen Standpunkt her gerechtfertigt. Es ist ein wesentliches Merkmal eines Rechtsstaates, dass er die Formen und Bedingungen festlegt, unter welchen dieser politische Kampf ausgetragen werden kann, und dass er auch die Konsequenzen definiert, mit denen jene zu rechnen haben, die sich nicht an diese Spielregeln halten wollen.

Problemlösungen

Aus drei Gründen können im gesellschaftlichen Bereich keine Probleme gelöst werden, ohne dass neue geschaffen werden:

  1. Es ist daran zu erinnern, dass der Prozess der Vergesellschaftung deshalb in Gang kam, weil sich der Mensch durch diesen Schritt eine Erleichterung der Bedürfnisbefriedigung und erhöhte Sicherheit versprach. Die Geschichte hat gezeigt, dass dieser Prozess zu keinem Abschluss kam (und kommen wird), ganz einfach darum, weil die Möglichkeiten der Gesellschaft zu neuen Bedürfnissen und neuen Bedrohungen führten und noch führen.
  2. Hinzu kommt, dass eigentlich alle Werke der menschlichen Zivilisation etwas Gewaltsames an sich haben, denn sie sind stets Eingriffe entweder in die Natur – sei es das Reich der Mineralien, Pflanzen und Tiere, sei es die menschliche Natur – oder in vorhandene zivilisatorische Errungenschaften. Dieses Gewalttätige weckt immer gegenwirkende Kräfte, die den Menschen mit neuen Problemsituationen konfrontieren.
  3. In Anbetracht des abstrakten Charakters der Gesellschaft sind gesellschaftliche Problemlösungen – insbesondere im Rahmen der Rechtsetzung – stets allgemeiner Natur. Überspitzt formuliert, liesse sich sagen: Gesetze sind Problemlösungen auf Vorrat. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass sie keine Rücksicht nehmen auf die jeweils konkreten Verhältnisse.

Es wird daher schwer fallen, die These, dass gesellschaftliche Problemlösungen grundsätzlich neue Probleme schaffen, durch Beispiele zu widerlegen. Wer diese Zusammenhänge einmal eingesehen hat, ist geheilt von der Illusion eines irdischen Paradieses.

Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen (oder bloss natürlichen) Problemlösungen, beruhen diejenigen auf der sittlichen Ebene nicht auf Gewalt, im Gegenteil: Sie lösen Gewalts- und Machtwirkungen auf. Dadurch besteht prinzipiell die Möglichkeit (auch wenn dies nicht immer der Fall ist), dass Probleme gelöst werden können, ohne dass neue geschaffen werden. Wenn also der Mensch so etwas wie das Paradies erahnen möchte, kann ihm dies niemals in der Gesellschaft, sondern stets nur im Erleben sittlicher Verhältnisse begegnen.

Heteronomie versus Autonomie

Es ist offensichtlich, dass uns die Teilhabe am gesellschaftlichen Zustand in fremdbestimmte (heteronome) Verpflichtungen führt. Wir müssen Steuern bezahlen, uns an Verkehrsvorschriften halten und in den Militärdienst einrücken. Auf der andern Seite orientieren wir uns an der Idee des autonomen, d.h. selbstverantwortlichen und sich selbst verwirklichenden Menschen und spüren, dass ohne das Ringen um diese Autonomie unser Leben schal und leer bleibt. Pestalozzi hat diese zentrale Idee des Humanismus in sein Denken aufgenommen und ihr in seiner Vorstellung der Sittlichkeit Gestalt gegeben. Ihm war indessen klar, dass der Mensch dieses Ideal nie rein und vollständig erreichen kann, da die Sittlichkeit auf der natürlichen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen aufbaut und diese nur überhöhen, nicht aber überwinden kann. Darum gilt: In dem Masse, als der autonome Mensch Einsicht in die Bedingungen seiner Lage und seiner Existenz gewinnt, ist es Ausdruck selbstverantwortlichen Handelns, auch heteronome Verpflichtungen grundsätzlich bejahen zu können. Sofern man dies aber aus sittlichen Motiven nicht will, bedeutet selbstverantwortliches Handeln, jene Wege der rechtsstaatlichen Konfliktlösung einzuschlagen, die den Rechtsstaat und damit die im Gesellschaftlichen mögliche Freiheit und weitgehend auch die Möglichkeit der Sittlichkeit nicht untergraben, sondern stärken.

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