Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Die Noten als pädagogisches Problem

Veröffentlicht in der ‚Schweizer Schule‘ 10/1980

Siehe auch den Fortsetzungs-Aufsatz Nr. 5:
Einige grundsätzliche Überlegungen zur Notenproblematik

1. Einleitende Bemerkungen

In dieser Arbeit möchte ich die unverzichtbar scheinende Praxis, Schülerleistungen durch Benotung zu bewerten, von einem pädagogischen Standpunkt aus einer kritischen Analyse unterziehen. Wer sich in der reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur über das Problem der Beurteilung und Bewertung von Schülerleistungen umsieht, stellt bald einmal fest, dass die Schulnoten den Anspruch, klar definierte Schülerleistungen zu messen, nicht erfüllen können. Es kann verhältnismässig leicht nachgewiesen werden, dass Noten nicht objektiv, nicht zuverlässig und nicht gültig sind. Das heisst: Noten sind erstens in hohem Masse abhängig von den subjektiven Normvorstellungen und von der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen Lehrer; sie sind zweitens insofern unzuverlässig, als derselbe Lehrer identische Leistungen in unterschiedlichen Zeitpunkten anders bewertet; und sie können drittens nicht im strengen Sinne als gültig angesehen werden, da sie oft nicht das messen, was sie zu messen vorgeben. So ist z. B. weit herum unklar, ob eine Note die tatsächlich erbrachte Leistung oder – mindestens anteilsmässig – den aufgewendeten Fleiss und Einsatz ausdrücken soll.

Diese von der Erziehungswissenschaft aufgedeckten Unzulänglichkeiten der Noten führen dann zumeist zum Vorschlag besserer Beurteilungsinstrumente (objektive Leistungstests, ganzheitliche diagnostische Verfahren) oder allenfalls zur radikalen Forderung nach Abschaffung der Noten, dies freilich, weil sie unzulänglich und nicht, weil sie schädlich sind.

Das ist nun aber genau der Punkt, an dem es vom pädagogischen Standpunkt aus anzusetzen gilt. Man sollte meiner Ansicht nach damit aufhören, in immer neuen Untersuchungen die Unzulänglichkeiten der Noten nachzuweisen, sondern vielmehr den Blick umwenden, hin zu den pädagogischen Auswirkungen des Notensystems ganz allgemein. Ich tue dies im folgenden und versuche zu zeigen, dass die Schulnoten – unabhängig von ihrer Objektivität, Gültigkeit und Zuverlässigkeit – pädagogisch in hohem Masse schädlich sind.

2. Offene und verdeckte Funktionen

Die Überzeugung von der Berechtigung, ja Notwendigkeit von Schulnoten ist tief im Bewusstsein von Lehrern, Eltern und Behörden verwurzelt. Eine Änderung der Notenpraxis setzt daher ein allgemeines Umdenken voraus. Dieses kann nur in Gang kommen, wenn Klarheit herrscht über die zahlreichen Funktionen der Note und deren Stellung im Bildungsprozess. Ich führe im folgenden die wichtigsten der in der Literatur genannten Funktionen an und nehme dazu jeweils kritisch Stellung. Im Anschluss daran versuche ich, auf einige verdeckte Funktionen, d. h. auf unbeabsichtigte negative Auswirkungen der Noten hinzuweisen, und beschliesse dann das Kapitel mit einer zusammenfassenden Stellungnahme.

2.1. Offene Funktionen

2.1.1. Diagnostische Funktion

Die Note zeigt an, wo der Schüler leistungsmässig im Vergleich zu den gestellten Anforderungen, zu seinen Mitschülern und zu früheren Leistungen steht.

Kommentar: Wie bereits erwähnt, erfüllen die Schulnoten diese Funktion weder objektiv noch zuverlässig und gültig. Um dem Schüler Klarheit über seinen Leistungsstand zu verschaffen, braucht es indessen die Note gar nicht. Durch kurze Hinweise im täglichen Umgang, durch schriftliche oder mündliche Kommentare im Anschluss an schriftliche Leistungen und durch gelegentliche Gespräche kann der Lehrer dem Schüler helfen, sich objektiv einzuschätzen. Darüber hinaus zeigen die regelmässigen Lernkontrollen, die auch in einer notenfreien Schule zum Lernprozess gehören, dem Schüler deutlich genug, wo er steht. Wenn einer in einer Prüfung von 10 Mathematik-Aufgaben deren 8 falsch löst, so weiss er Bescheid; eine Umwandlung dieses objektiven Sachverhalts in eine subjektive Wertung (Note 2) ist überflüssig.

Unsere Notenpraxis basiert grossenteils auf dem ständigen Vergleich des einzelnen Schülers mit den andern, mit den bessern, mit dem Klassendurchschnitt. Der Vergleich eines Schülers mit einem andern ist nun aber pädagogisch grundsätzlich fragwürdig. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Schüler eine unverwechselbare Individualität darstellt, zu deren Ausreifung und Verwirklichung der Bildungsprozess in der Schule Wesentliches beitragen soll, so ist es eine der vordringlichsten Aufgaben, im Kinde das Bewusstsein seiner Einmaligkeit, seiner in ihm schlummernden Möglichkeiten, seiner eigenen „Kräfte und Anlagen“ (Pestalozzi) zu stärken. Der ständige und durch die Noten institutionalisierte Vergleich mit den andern behindert die Festigung eines gesunden Selbstwertgefühls und begünstigt Eigenschaften wie Eifersucht, Neid, Hochmut, Ehrgeiz, die das Zusammenleben erheblich belasten. Das Kind soll aber vielmehr daran gewöhnt werden, sich mit sich selbst, mit seinen eigenen Möglichkeiten zu vergleichen. Dadurch wird es auch nicht – wie in unsern Schulen, wo es sich häufig genug an einem fiktiven Durchschnitt orientiert – über- oder unterfordert.

2.1.2. Prognostische Funktion

Die Noten gestatten Vermutungen über die künftige Entwicklung eines Schülers (etwa hinsichtlich weiterführender Schulen).

Kommentar: Gemäss wissenschaftlichen Untersuchungen ist der prognostische Wert von Noten relativ gering. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Noten auf verschieden gründlichen Prüfungsverfahren beruhen. Auch gibt es Lehrer, die die Zeugnisnoten eher als Einschätzung der Leistungsfähigkeit eines Schülers verstehen, während sich andere mechanisch an erbrachte Leistungen und die daraus resultierenden Durchschnitte halten. Es ist daher anzunehmen, dass der prognostische Wert von Zeugnisnoten je nach Lehrer unterschiedlich gross ist.

Immerhin ist es ein Trugschluss zu glauben, der Lehrer benötige für seine Prognosen Zeugnis- oder Prüfungsnoten, denn sowohl die Benotung wie auch das Prognostizieren beruhen ja auf derselben Grundlage, nämlich auf dem Urteil des Lehrers.

2.1.3. Selektionierende Funktion

Die Note bildet die Grundlage für einen Pro- resp. Remotionsentscheid sowie für die Aufnahme in weiterführende Schulen.

Kommentar: Gegner des Jahrgangsklassen-Systems und der dreigliedrigen Oberstufe weisen darauf hin, dass sich in einem ihren Vorstellungen entsprechenden System das Problem der Remotionen und der Selektion gar nicht stellt und daher keine Noten gebraucht werden. Ich glaube indessen, dass es nicht möglich ist, alle Probleme auf einmal zu lösen, und gehe daher in meiner Stellungnahme von der jetzigen Situation aus.

Der Entscheid, ob ein Kind in die nächst höhere Klasse aufsteigen kann, sollte auf keinen Fall aufgrund von Zeugnisnoten, die ja ihrerseits Durchschnitte (zufällig) erbrachter Einzelleistungen darstellen, gefällt werden. Wenn dies geschieht, so machen es sich Lehrer und Behörden zu leicht. Diesem für das Kind oft folgenschweren Entscheid muss ein sorgfältiges Abwägen seiner Leistungsmöglichkeiten zu Grunde liegen. Dazu ist wohl in erster Linie der gegenwärtige Lehrer in der Lage. Er sollte sich daher für seinen Entscheid nicht an Notendurchschnitte gebunden fühlen müssen, sondern sich auf sein unmittelbares Gesamturteil berufen dürfen. Dieses Problem ist rechtlich ohne weiteres lösbar, denn der Staat kann den Promotionsentscheid genau so gut dem Urteil des Lehrers wie einem Notendurchschnitt (worin – zwar verschleiert, doch glücklicherweise – häufig genug ein Lehrerurteil steckt) unterwerfen. Das Verfahren kann durch einen allfälligen Beizug des Schulpsychologen und/oder eines andern Lehrers abgesichert werden.

Bezüglich der Selektion für höhere Schulen stellt sich das Problem anders, je nachdem, ob die Auslese bei der Zubringer- oder bei der Abnehmerschule liegt. Beim ersten Fall ist ein Zuweisungsverfahren, das auf dem Urteil des bisherigen Lehrers beruht, grundsätzlich denkbar. Im zweiten Fall sind Prüfungen und damit wohl auch Noten unumgänglich. In einzelnen Kantonen hat sich ein gemischtes Verfahren bewährt: Der Lehrer der Zubringerschule fällt den Entscheid, in welche der drei Züge der Oberstufe das Kind einsteigen kann, aus freiem Ermessen; wer damit nicht einverstanden ist, kann sich einer Prüfung an der weiterführenden Schule unterziehen. Dass die hier erbrachten Leistungen von den Prüfungsorganen benotet werden, setzt nicht voraus, dass der Schüler einen durch Noten gesteuerten (und belasteten) Lernprozess hinter sich hat.

2.1.4. Evaluations- und Planungsfunktion

Die Noten gestatten Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des vorausgegangenen Unterrichts. Sie geben dem Lehrer Hinweise für die weitere Unterrichtsgestaltung.

Kommentar: Lernkontrollen gehören in jedem Fall zum Lernprozess und sind nicht an das Notensystem gebunden. Ein Lehrer, der die Schülerarbeiten aufmerksam korrigiert und in den Übungsphasen auf den einzelnen Schüler eingeht, weiss, wie wirksam sein Unterricht war und was künftig not tut.

2.1.5. Berichtsfunktion

Die Note orientiert Eltern und andere Interessierte über die Leistungen des Schülers.

Kommentar: Dass die Eltern regelmässig über das Verhalten und die Leistungen ihres Kindes orientiert werden sollen, ist wohl selbstverständlich. Es ist zuzugeben, dass das Notenzeugnis dazu ein rationelles Mittel ist. Im allgemeinen wollen die Eltern gar nichts Genaueres wissen, es genügt ihnen ein Überblick über den „Stand“ des Kindes anhand der Zahlenwerte.

Die Berichtsfunktion ist einer der wichtigsten Aspekte der Note, weshalb bei einer allfälligen Ersetzung der Notenzeugnisse eine akzeptable Alternative angeboten werden muss. Vielerorts wird anstelle der Zeugnisse ein schriftlicher Bericht z. H. der Eltern gefordert, und in einzelnen Schulen ist dies bereits realisiert. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass dieses Verfahren für die Lehrerschaft eine grosse Belastung bedeutet. Möglicherweise ist das Elterngespräch die praktikablere Lösung. Im Kanton Zug ist eben ein Versuch in dieser Richtung angelaufen: In der 1. und 2. Klasse wird nur noch am Ende des Schuljahres ein Notenzeugnis ausgestellt (ergänzt durch einen kurzen schriftlichen Bericht), während das Halbjahreszeugnis vor den Sportferien entfällt und durch ein Gespräch mit den Eltern ersetzt wird. Dieses wird anhand eines vom Erziehungsrat erlassenen Beurteilungsschemas geführt. (Siehe den Beitrag von Vreni Näf auf S. 349 ’schweizer schule‘ 10/80.)

2.1.6. Beratungsfunktion

Die Note bildet eine Grundlage für Berufs- und Laufbahnberatungen.

Kommentar: Im allgemeinen hat der Lehrer den Umweg über die Zeugnisnote nicht nötig, um einem Schüler im Hinblick auf die Zukunft zu raten. Für Aussenstehende hat die Note ohnehin einen relativ geringen Informationswert, da von Ort zu Ort und von Lehrer zu Lehrer verschieden benotet wird. So wird sich denn auch der Berufsberater eher auf Resultate selbst durchgeführter Tests oder auf seine eigenen Beobachtungen verlassen. Noten sind hinsichtlich der Beratung nicht erforderlich.

2.1.7. Sozialisationsfunktion / leistungsvorbereitende Funktion

Das Notensystem konfrontiert den jungen Menschen mit Leistungsnormen der Gesellschaft und erzeugt in ihm das Bewusstsein, dass gute Leistungen belohnt, schlechte bestraft werden.

Kommentar: Vielen mag es Mühe bereiten, diese Funktion der Schulnoten einzugestehen. Persönlich halte ich die Notenpraxis für so etwas wie das pädagogische Pendant zur freien Marktwirtschaft: „Freie Bahn dem Tüchtigen! Es ist nur gut, dass das Kind möglichst bald den Ernst, den rauhen Wind des Lebens kennen lernt.“ Das mag in gewisser Hinsicht seine Berechtigung haben. Doch wer so argumentiert, setzt stillschweigend voraus, dass Schulleistungen vom Schüler als ein Muss erlebt werden (sollen), und er vergisst, dass in der Erziehung andere Gesetzmässigkeiten gelten als in der Wirtschaft. Oder, um es mit Pestalozzis Philosophie auszudrücken: Die Wirtschaft ist Teil des gesellschaftlichen Zustandes, wo Macht und Konkurrenz ihre (beschränkte) Berechtigung haben; die Erziehung aber ist in ihrer reinen Form Teil des sittlichen Zustandes, wo die Tugenden echter personaler Beziehungen (Liebe, Zuneigung, Vertrauen, Dankbarkeit) das Verhalten regeln sollen. Wir sollten doch eigentlich allmählich erkennen, wohin uns ein übersteigertes Macht- und Konkurrenzdenken geführt hat, und nun die pädagogischen Konsequenzen daraus ziehen. Das würde u.a. bedeuten, dass hinfort die Kinder nicht im Hinblick auf spätere Konkurrenzsituationen (woran sie durch die Noten gewöhnt werden sollen) lernen, sondern aus echter innerer Beteiligung am Lerngegenstand.

2.1.8. Motivationsfunktion

Gute Noten werden vom Schüler als positiv, somit als erstrebenswert empfunden, schlechte als negativ und als zu vermeiden.

Kommentar: Das war, will man ehrlich sein, der Vater des (Noten-)Gedankens: Wer brav lernt und gut vorankommt, der wird ausgezeichnet, und wer zurückbleibt, soll eben die Quittung erhalten. Sicher waren die Noten ursprünglich als Mittel (Verstärker) zu einem guten Zweck gedacht. Aber es ging, wie es immer geht, wenn das Mittel, das zur Erreichung eines Zwecks eingesetzt wird, an sich (zu) wertvoll ist: die Zweck-Mittel-Relation kehrte sich um. Das heisst: Der Schüler macht nicht gute Noten, um etwas zu lernen, sondern er lernt, um gute Noten zu machen. Und dass das ursprüngliche Mittel, die Noten, an sich in den Augen des Schülers wertvoll ist, kann man wohl im Ernst nicht bestreiten, wenn man bedenkt, dass allenfalls seine Promotion oder sogar seine berufliche Zukunft daran hängt.

Dieses Lernen um der Note willen halte ich für das Krebsübel unserer Schulen. Alles wirklich Wesentliche wird einer Fiktion, einem falschen Ziel geopfert: das Sich-begeistern-Können für eine Sache, das nachgehende, fragende Verweilen, das dauernde Bestreben, sich selbst im Lernstoff zu finden – kurz: die echte Begegnung mit der Sache. Auf all das kann man verzichten, wichtig ist das Endresultat, die Note. Und wer einen schlauen Kopf hat, kriegt bald heraus, dass auch die Note nicht maximal zu sein braucht, dass es sich so um 4–5 herum recht gut mitschwimmen lässt, bis hinauf an die Universität. Hoch im Kurs ist Noten-Mathematik: „Auf die nächste Chemieprobe lerne ich nicht, es liegt eine blanke Zwei noch drin, im Schnitt bringe ich es immer noch auf eine 3–4, und das macht mit dem halben Minuspunkt in Deutsch einen ganzen: immer noch gut definitiv.“ So denken nicht einige, so denkt die Mehrzahl unserer Mittelschüler, die ein Dutzend Jahre Umgang mit unserm Notensystem hinter sich haben. Und ein grosser Teil hat noch einiges dazu gelernt: nämlich raffiniert zu betrügen; dann kann man es nämlich noch billiger haben. Und wir Lehrer lassen uns schlank in die Rolle der Aufpasser drängen, ohne zu erkennen, dass wir darin Opfer eines Systems sind, das zwar seine bequemen Seiten hat (siehe 2.1.3. und 2.1.5.), das uns aber Schwierigkeiten einbrockt, die manchem die Freude am Beruf verleiden.

Im Rahmen der ganzen Notenproblematik scheint mir das Wichtigste, dass es gelingt, die Bedeutung der Noten als Motivationsinstrument zurückzudrängen. Durch die Pflege der personalen Beziehungen und bestimmter Unterrichts- und Lehrformen muss der Schüler dahin gebracht werden, dass er um der Bereicherung willen, die er in der Begegnung mit der Sache erfährt, sich engagiert. Das ist gewiss leichter gesagt als getan, und es hat weitreichende Konsequenzen bezüglich des Lehrplans (Beschränkung auf Elementares und wirklich Wesentliches; neues Verständnis für Lehr- und Methodenfreiheit), des Stundenplans (vermehrte Konzentration in längeren Einheiten; Epochenunterricht), der Beziehung des Lehrers zum Stoff (allseitiges Interesse, Engagement), der Lehrer-Schüler-Beziehung (sozial-integrativer Stil) und der Lehrerbildung (Persönlichkeitsbildung anstelle von Anhäufung von Wissensstoff).

Die Vermutung ist wohl berechtigt, dass viele Lehrer gerade im Hinblick auf die Motivationsfunktion an der bisherigen Notenpraxis festhalten wollen. Sie spüren intuitiv, dass sie durch die Änderung der Notenpraxis eines Machtmittels beraubt werden, und kommen sich deshalb als Versager vor, weil sie glauben, darauf angewiesen zu sein. Was sie leider oft zu wenig klar sehen: dass sie es erstens meist mit Schülern zu tun haben, die bereits durch das Notensystem verdorben sind, und dass sie zweitens in ein System eingespannt sind, das vom Ansatz her auf Machtausübung konzipiert ist (Schulzwang, Leistungszwang, Selektion, Notensystem) und sie in eine Rolle drängt, die sie wohl kaum freiwillig übernehmen würden. Wenn wir die Schule menschlicher gestalten wollen, so müssen wir erkennen, wo das System Menschlichkeit verhindert. Das ist meiner Ansicht nach beim Notensystem klar der Fall, und deshalb muss es geändert werden. Es gilt, ein Stück Macht zurückzunehmen, um der echten Begegnung – sei’s mit der Sache oder dem Mitmenschen – Raum zu geben.

2.2. Verdeckte Funktionen

Neben den erwähnten Funktionen, die alle mehr oder weniger eine positive und eine negative Seite haben, müssen Nebenwirkungen gesehen werden, die völlig unbeabsichtigt und nur störend sind.

2.2.1. Störung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses

Das Notensystem führt den Lehrer in eine widersprüchliche Beziehung zum Schüler. Als Erzieher soll er dem Schüler vertrauen, ihm gegenüber risikofreudig sein, ihm etwas zutrauen, ihn verstehen, ihn lieben, kurz: die Beziehung zwischen Erzieher und jungem Menschen ist – um mit Pestalozzi zu sprechen – ein sittliches Verhältnis. Als Handhaber des Notensystems übernimmt nun aber der Lehrer eine völlig andere Rolle: er wird, insofern Noten z. B. über den Verbleib eines Kindes in einer Klasse entscheiden, zum Vollstrecker gesellschaftlicher Forderungen, die im Endeffekt sogar dazu führen können, dass – wie im erwähnten Beispiel – das erzieherische Verhältnis zwischen ihm und dem Kind beendigt wird. Oder mit andern Worten: Als Benoter tritt der Lehrer dem Kind nicht als sittliches, sondern als gesellschaftliches Wesen entgegen, ausgerüstet mit gesellschaftlicher Macht (Promotionsordnung), die – da im Lehrer personal verkörpert – vom Kind als personale Macht und damit als Störfaktor im eigentlich pädagogischen Verhältnis wahrgenommen wird. Ich gestehe ein, dass ich unter diesem Widerspruch zwischen personaler und gesellschaftlicher Beziehung zum Schüler stets litt und dass ich den Schülern gegenüber, denen ich ihre Probleme lösen half und die – gerade als problematische Schüler – auf meine Hilfe angewiesen waren und auf sie bauten, ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich sie dann, als Vollstrecker gesellschaftlicher Forderungen, an der Prüfung scheitern lassen musste. Ich weiss, dass viele Lehrer diesen Widerspruch – mindestens bewusst – nicht empfinden; mir kommt er vor wie der Widerspruch, in dem sich ein Ehemann befindet, wenn er auf der einen Seite seine Frau liebt (sittlicher Zustand), am Arbeitsplatz aber als ihr Chef sie z. B. wegen Mangel an Aufträgen entlassen muss (gesellschaftlicher Zustand).

Ich bin überzeugt, dass diese widersprüchliche Beziehung zwischen Lehrer und Schülern ausserordentlich viel Schaden anrichtet und das Zusammenleben in der Schule sehr belastet. Mancher Lehrer wird mit dem Problem dadurch fertig, dass er sich einfach auf die gesellschaftliche Funktion zurückzieht. Er ist Funktionär, verschanzt sich in jedem Fall hinter Vorschriften und Reglementen und identifiziert sich mit der Position der Macht. Der grössere Teil der Lehrerschaft scheint sich indessen „irgendwie“ zu arrangieren und wird mit den widersprüchlichen Rollen (Freund und Helfer, Polizist und Richter) „irgendwie“ fertig. Ich möchte mich aber damit nicht abfinden, da mir klar geworden ist, dass das Aufrechterhalten einer derart doppeldeutigen Beziehung zu den Schülern etwas richtiggehend Krankmachendes an sich hat und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schülern – mithin das pädagogische Fundament – permanent untergräbt. Auch erschwert es dieses widersprüchliche Verhältnis dem Schüler, zu sich selbst zu stehen, da es ihm einen dauernden Vorwand abgibt, die Schuld für seine Schwächen und sein allfälliges Versagen dem (bösen, machthungrigen, misstrauischen usf.) Lehrer zuzuschieben.

2.2.2 Abschieben von Verantwortung

Die Notenpraxis beruht traditionsgemäss auf dem Brauch, dass der Lehrer die Leistungen der Schüler beurteilt und bewertet. Und da die Noten gleichzeitig als gehöriges Druckmittel eingesetzt werden, bildet sich im Schüler allmählich die feste Meinung aus, es sei eigentlich der Lehrer, der etwas von ihm wolle. Das führt dann einerseits dazu, dass der Schüler unbewusst den Lehrer für seinen Lernfortschritt verantwortlich macht (was sich etwa darin auswirkt, dass Schüler nichts arbeiten, solange sie keine konkreten Aufträge erhalten), andererseits dahin, dass er Wenig- bis Nichtstun als befriedigenden Normalzustand erlebt, der durch die Leistungsanforderungen des Lehrers gestört wird. Dabei kommt es zu einem psychischen Seilziehen, das wir Lehrer in der Regel mitspielen: Tut einer nichts, setzen wir Druck auf, und wenn es immer noch nicht fruchtet, verstärken wir den Druck. Noten sind dazu bestens geeignet, womit der Teufelskreis geschlossen ist.

Ich meine, dass eine allfällige Abkehr von der Notenpraxis nur dann einen Sinn hat, wenn es gelingt – mindestens in den höheren Jahrgängen –, die Verantwortung für das Lernen und den Lernfortschritt dem Schüler zurückzugeben. Das bedeutet, dass der Schüler lernen muss, seinen Lernprozess wach und ehrlich zu reflektieren und seine Leistungsqualität selbst zu beurteilen.

2.3 Zusammenfassende Stellungnahme

Die Noten erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen. Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass sie für die Diagnose des Leistungsstandes der Schüler, für prognostische Aussagen, für Evaluation und Planung des Unterrichts sowie für die Beratung unnötig sind. Einen echten Dienst leisteten sie bis anhin als Selektions- und Orientierungsinstrument. Selektion und Information können indessen durch andere Verfahren bewerkstelligt werden. Pädagogisch fragwürdig ist die Note hinsichtlich ihrer Sozialisierungs- und Motivationsfunktion. Darüber hinaus sind äusserst unerwünschte Nebenwirkungen festzustellen, die den ganzen Bildungsprozess erheblich belasten.

Die folgenden negativen Erscheinungen und Auswirkungen werden somit durch das Notensystem verursacht oder zumindest begünstigt (wenn auch offensichtlich ist, dass noch andere Ursachen mitbeteiligt sind):

  • Begünstigung von Eifersucht, Neid, Hochmut, Ehrgeiz durch den dauernden Vergleich mit den Mitschülern

  • Erschwerung der Heranreifung eines echten Selbstvertrauens

  • Orientierung an einem fiktiven Durchschnitt und damit teils Unter-, teils Überforderung

  • Verhinderung oder Erschwerung eines echten Interesses an der Sache

  • widersprüchliche Lehrer-Schüler-Beziehung und permanente Gefahr des Abgleitens in einen reinen Machtkampf

  • Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler

  • Verlagerung der Verantwortung für den Lernfortschritt vom Schüler zum Lehrer

  • Lähmung der Leistungsfreude.

Ich gestehe ein, dass diese negativen Auswirkungen nicht bei jedem Schüler voll zum Tragen kommen. Dass sie aber generell feststellbar sind und den Bildungsprozess in teils erheblicher Weise stören, weiss ich aus eigener Erfahrung und aus Gesprächen mit Hunderten von Schülern. Der empirisch orientierte Erziehungswissenschafter möge obige Feststellungen als Hypothesen annehmen zum Zwecke der Verifizierung bzw. Falsifizierung.

(Lesen Sie auch die Fortsetzung dieser Arbeit in Text Nr. 5: Einige grundsätzliche Überlegungen zur Notemproblematik.)

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