Arthur Brühlmeier

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Pestalozzi unter der historischen Lupe

Peter Stadler, PESTALOZZI, Geschichtliche Biographie, Verlag NZZ

Band 1: Von der alten Ordnung zur Revolution. 511 Seiten. 1988

Band 2: Von der Umwälzung zur Restauration. 680 Seiten, 1993

Peter Stadlers historische Biographie dürfte wohl schon wegen ihres beachtlichen Umfangs zu einem Standard-Werk der Pestalozzi-Literatur werden. Der Zeitpunkt ihres Erscheinens ist indessen nicht ganz ohne Probleme: Bekanntlich stagnierte die 1927 von Buchenau/Spranger/Stettbacher begründete Kritische Edition von Pestalozzis sämtlichen Werken und Briefen seit 1979 und verharrte seitdem auf dem Stand von 42 Bänden. Nach dem 1990 erfolgten Ableben des hochverdienten Dr. h.c. Emanuel Dejung, der die Ausgabe jahrzehntelang – fast im Alleingang – betreute und nachdem sich Dejungs Erben und der Kanton Zürich darauf einigten, den ‘Nachlass Dejung’ dem Pestalozzianum in Zürich zu übergeben, kam nunmehr die Edition der Kritischen Ausgabe ein gutes Stück voran: Im Moment sind der längst fällige Band 17B, ein Nachtrags-Werkband, ein Nachtrags-Briefband, mehrere Bände mit Briefen an Pestalozzi sowie die Gesamt-Bibliographie in Bearbeitung oder kurz vor dem Erscheinen, und vor wenigen Monaten ist der 1. Band des – allerdings auch auf den 42 greifbaren Bänden beruhenden – Gesamtregisters von Leonhard Friedrich/Silvia Springer erschienen. Dieses Material stand Stadler – im jeweiligen Zustand der Aufbereitung – bloss und auch nur teilweise für den 2. Band zur Verfügung, weshalb wohl gelegentlich an seinem grossen biographischen Werk die eine oder andere Retouche anzubringen sein wird. Im Hinblick auf das Pestalozzi-Jahr 1996 (250. Geburtstag) nimmt man indessen diese Gabe gerne entgegen.

Versuch einer Charakterisierung

1. Zuerst zum Äusseren: In einem leserfreundlichen Inhaltsverzeichnis finden sich zu Beginn jedes Bandes nicht nur die Übersicht über die Haupt- und Unterkapitel, sondern auch sehr hilfreiche knappe Stichworte zu den Inhalten auf den einzelnen Seiten. Stadler schreibt eine flüssige, informative Sprache, zumeist unter Verzicht unnötiger Fremdwörter, die sich gut liest und den routinierten Könner verrät. Die Pestalozzi-Zitate übernimmt er aus der Kritischen Ausgabe in der originalen, d.h. häufig sehr fehlerhaften Schreibweise Pestalozzis, was dem uneingeweihten Leser gelegentlich viel Phantasie abverlangt. Insgesamt 120 Seiten Anmerkungen geben vorwiegend über die Quellen, aber auch auf weitere interessante Zusammenhänge Aufschluss. Das beide Bände umfassende Personenregister am Schluss des 2. Bandes mit über 850 Namen verweist auf die entsprechenden Seitenzahlen. Schon diese Fülle von Namen lässt erahnen, mit welcher Hingabe sich der Autor dem informativen Detail gewidmet hat.

Der Schnitt zwischen dem ersten und zweiten Band überzeugt, ja drängt sich von Pestalozzis Lebenslauf her auf: Er hat sich als bedeutender Denker und Schriftsteller einen Namen gemacht, er hat in seinen ,Nachforschungen’ (1797) philosophischen Stand gefunden, der Einmarsch der Franzosen steht vor der Tür; und dies wird ihm nun – nach einem kleinen Zwischenspiel als Redaktor – einen neuen Wirkungsbereich als Erzieher in Stans, Burgdorf, Münchenbuchsee und Yverdon eröffnen. Liegt der Schwerpunkt des 1. Bandes auf Pestalozzis ökonomischem, politischem und schriftstellerischem Wirken, so steht im 2. Band mehr – aber durchaus nicht nur – der Erzieher Pestalozzi im Zentrum.

2. Stadler bezeichnet seine Arbeit als „Geschichtliche Biographie“. Dass hier ein mit allen Details der Zeitgeschichte vertrauter Kenner der historischen Szene, in der Pestalozzi allmählich seine Rolle zu spielen begann, am Werk ist, leuchtet aus jeder Zeile heraus und macht das Lesen zum Genuss. Stadler spricht gewissermassen den historischen Dialekt jener Zeit. Er kennt jede Ecke von Pestalozzis Heimatstadt Zürich aus eigener Anschauung und ist mit deren Bewohnern in der Pestalozzi-Zeit derart vertraut, als hätte er mit jedem persönlich zu Mittag gespeist. Insofern ist Stadlers Buch mehr als eine Biographie, es ist zugleich ein Zeitbild, das im Leser eine hochinteressante geschichtliche Epoche zum Leben erweckt: die Zeit des aufgeklärten Absolutismus, der gnädigen Herren in den eidgenössischen Orten, der aufkommenden Baumwollindustrie, der öffentlichen und geheimen Gesellschaften (Stadler macht auch keinen Bogen um Pestalozzis Mitgliedschaft bei den Illuminaten), der französischen und helvetischen Revolution, der Kriegswirren im Zuge der napoleonischen Herrschaftsansprüche, der Mediationszeit, der Restauration und beginnenden Regeneration.

Durch das geschichtliche Grundanliegen konzentriert sich Stadler bei der Auswahl und Interpretation des Materials naturgemäss vorwiegend auf all das, was Pestalozzi in einen Zusammenhang mit seiner Zeit und der Nachwelt stellt. Nicht, dass er deswegen die Privatsphäre völlig vernachlässigte, aber sie tritt – soweit sie überhaupt quellenmässig erfassbar ist – gegenüber der öffentlichen Bedeutung Pestalozzis stärker in den Hintergrund. So vernimmt man wenig – wohl zu wenig – von der Ehe mit Anna Schulthess und vom Leben seiner Gattin ganz allgemein, wobei hier die Quellenlage zugestandenermassen recht prekär ist.

3. Trotz der insgesamt guten Quellenlage und seinen immensen Geschichtskenntnissen, widersteht Stadler der Versuchung, nach Vollständigkeit zu streben, somit jedes Detail zusammenzuraffen und als nur gerade dem Spezialisten bekömmliches Hors d’oevre aufzutischen. Er weiss vielmehr klug auszuwählen und – trotz liebevoller Pflege des Details – auch in grossen Strichen zu malen. Er schreibt nicht nur für Fachleute, sondern auch für interessierte Laien.

Der Entschluss zur Beschränkung führt dann gelegentlich auch dazu, dass der Kenner vergeblich auf den einen oder andern Aufschluss wartet. Wenn z.B. Sturmius Fischer vor Jahren in einem im Schweizer Radio gesendeten Hörspiel den Unsinn kolportierte, Pestalozzi hätte gegen seinen 7jährigen Sohn prozessiert, so würde man gerne Genaueres erfahren über die rechtliche Auseinandersetzung Pestalozzis mit seinem Schwager Jacques Schulthess, den Fischer mit dem armen Jacqueli verwechselt hat. Stadler geht zwar immer wieder auf die schwierigen Verhältnisse Pestalozzis mit der Familie seiner Frau ein, doch verwöhnt er sonst den Leser mit so vielen historisch interessanten Belegen und klugen Überlegungen, dass eben der Appetit auf solche pikanten Details wächst. Auch wüsste man gerne noch Genaueres über Pestalozzis Prozesse gegen seine Nachbarn um Weid- und Wegrechte, die Sturmius Fischer in seinem Hörspiel so breit auswalzt.

Gespannt ist man natürlich auch auf Stadlers Darstellung des Yverdoner Lehrerstreits mit ihren Exponenten Joseph Schmid und Johannes Niederer. Auch hier stellt man fest, dass dieses traurige Geschehen bei ihm nicht jenen breiten Raum einnimmt, der ihm sonst zuerkannt wird. Stadler erreicht dies u. a. damit, dass er die ganze Thematik der finanziellen Forderungen und Gegenforderungen zwischen Pestalozzi bzw. Joseph Schmid auf der einen und Johannes Niederer bzw. seiner Frau Rosette geb. Kasthofer auf der andern Seite kurz abfertigt.

4. Ein weiteres Merkmal: Stadler geht seinen eigenen Weg, vollkommen unbeirrt durch die Rituale und Konventionen der zurückliegenden Pestalozzi-Forschung und nimmt von der einschlägigen Sekundärliteratur höchstens am Rande Kenntnis. Das mag erstaunen und wird gewiss auch Anlass zu Polemiken abgeben, auch wenn Stadler selbst erklärtermassen polemischen Auseinandersetzungen, da sie ihm „wenig fruchtbar“ erscheinen, aus dem Wege geht. Es ist gerade dieser unabhängige Standpunkt, der die Lektüre dieses gewichtigen Buches auch für den Kenner spannend und lohnend macht. So macht sich Stadler beispielsweise frei von allem Anekdotischen, das Pestalozzis Person in ganz besonderer Weise umrankt. Sein Werk markiert damit so ziemlich die Gegenposition zu Adolf Hallers 125 Seiten umfassender „Sammlung der Anekdoten, in denen“ – gemäss Umschlagtext – „Pestalozzis Gestalt unvergleichlich lebendig sichtbar wird“ (Basel, 1946). Wenn etwa ein Reithart zu erzählen weiss, Pestalozzi hätte sich im Bankkasten einer Dorfschenke versteckt gehalten, um die Bauerngespräche zu belauschen, hätte dann aber, da sich ein vierschrötiger Dorfmagnat daraufgesetzt habe und der Deckel vollends zugeklappt sei, mit Händen und Füssen gegen das Innere des Deckels klopfen müssen, um nicht zu ersticken, so stellt dies für den Historiker Stadler weder eine ernstzunehmende Quelle noch eine erhebliche Episode dar. Und ebenso verfährt er mit den übrigen Hunderten von Anekdoten: Er ignoriert sie allesamt. Dadurch verliert Pestalozzis Gestalt wesentlich das Skurrile, Bemitleidenswürdige, Kindlich-Kindische, Ungeschickte, ja tolpatschig Unbeholfene, das ihr – zur Recht oder zu Unrecht – in der Überlieferung anhaftet.

5. Pestalozzi wirkte wesentlich – auch wenn es ihm wenig behagte – mit der Feder. Dies zwingt jeden Biographen grundsätzlich, sich auch mit seinem Schrifttum zu befassen. Stadlers Stärke liegt darin, jede einzelne Schrift sauber in ihren biographischen und geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Notwendigerweise befasst er sich auch mit den Inhalten: Er referiert sie und drückt sich auch nicht um eine Interpretation herum. Dabei tritt er bei den oft interpretierten Schriften – „Abendstunde eines Einsiedlers“, „Lienhard und Gertrud“, „Gesetzgebung und Kindermord“, „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ – stärker zurück und konzentriert sich mehr auf Schriften, die sonst eher vernachlässigt werden (etwa: „Von der Freiheit meiner Vaterstadt“) oder – auch das gibt es – in der Kritischen Ausgabe unberücksichtigt blieben. Diese Entscheidung ist zu respektieren, denn hielte er sich nicht daran, wüchse sein Werk wohl auf den doppelten Umfang. Konsequenterweise muss man dann auch akzeptieren, dass jede Interpretation Stückwerk bleibt. Um konkreter zu werden: Zwar betont Stadler an mehreren Stellen, die Darlegung von Pestalozzis Pädagogik liege ausserhalb seines Interesses, was ihn u. a. dazu bestimmt, gewisse pädagogische Schriften (wie etwa ‘Geist und Herz in der Methode’, 1805) unerwähnt zu lassen oder – in andern Fällen – höchstens beiläufig zu berühren; aber Pestalozzis pädagogische Ideen nehmen eben in den drei letzten Lebensjahrzehnten einen so breiten Raum ein, dass ein Biograph kaum darum herum kommt, dazu Stellung zu beziehen. Stadler tut dies oft recht kritisch, wobei sich dann allerdings zeigt, dass dem im Historischen derart versierten Autor Pestalozzis Idee der Elementarbildung in wesentlichen Belangen doch eher fremd geblieben ist. So versteht er etwa den Begriff ‘Kunst’, den Pestalozzi als Synonym für ‘Hand’ verwendet (‘Geist, Herz und Kunst’ anstelle von ‘Kopf, Herz und Hand’), im modernen Sinne und missdeutet ihn dementsprechend als „Interesse für künstlerische Kultur“ (S. 564). Da kann man nur bedauern, dass dem Biographen ein exzellentes Forschungsinstrument noch nicht zur Verfügung stand: nämlich eine CD-ROM mit dem gesamten 42–bändigen Werk Pestalozzis inkl. weiterer Register, wissenschaftlich aufbereitet durch Prof. Leonhard Friedrich und Sylvia Springer und kürzlich herausgegeben vom Pestalozzianum Zürich. Eine entsprechende Recherche zeigt, dass Pestalozzi den Begriff ‘Kunst’ allein im ‘Schwanengesang’, auf den sich Stadler bezieht, so um die 220 mal verwendet, womit sich ‘Kunst’ als pädagogischer Schlüsselbegriff erweist, den es in seiner ganzen Tragweite zu erfassen gilt.

6. Stadler stellt – implizit und explizit – klar, dass er sich nicht zu den ‘Pestalozzi-Verehrern’ zählt, die naturgemäss dazu neigen, alles ein wenig zu vergolden. Nicht dass Stadler vor Pestalozzi keinen Respekt hätte – den erweist er ihm schon durch die Gründlichkeit seiner Arbeit – aber man spürt: Das heilige Zittern, das viele ergreift, wenn sie ein Portrait oder eine Zeile von Pestalozzi in Händen halten, befällt ihn nicht. Indessen ist kühle wissenschaftliche Distanz, die bloss beschreibt, nun auch wieder nicht Stadlers Sache. Vielmehr kommentiert, beurteilt und kritisiert er frisch von der Leber weg und scheut nicht davor zurück, dem vom Sockel der Extravaganz heruntergeholten Pestalozzi allerlei kritische Fragen zu stellen, ohne dauernd Rücksicht zu nehmen auf Eigenheiten, die man sonst niemandem verzeihen würde, aber Pestalozzi bloss darum hingehen lassen muss, weil er eben Pestalozzi ist. Im Gegenteil: Stadler deckt Pestalozzis unkonventionellen Umgang mit seinen Alltagssorgen und seine Schwächen schonungslos auf: „Der grosse Mann“ ist unbeholfen, unberechenbar, unzuverlässig, eitel; er neigt chronisch zu Selbstmitleid, nimmt im Versagen scheinbar alle Schuld auf sich, um sich dann doch wieder meisterhaft selbst zu rechtfertigen und jede berechtigte Kritik in den Wind zu schlagen; seine Widersprüchlichkeit reicht von unentschuldbarer Naivität bis zur Schlitzohrigkeit, von Unterwürfigkeit bis zur Angeberei. Stadler belegt dies mit schriftlichen Äusserungen, die uns der „Vielschreiber“ Pestalozzi hinterlassen hat, und auch mit vielen Äusserungen seiner Mitwelt, die eben deshalb recht zahlreich sind, weil Pestalozzi wirklich sehr berühmt war (Stadler stellt ihn in dieser Hinsicht noch über Goethe; Band 2, S. 465). Auf dem Hintergrund dieser kritisch nachfragenden Grundhaltung nimmt dann Stadler dem berühmten Mann einiges nicht ab, was man ihm üblicherweise nachzusehen gewohnt war. Ein Beispiel: Wenn Pestalozzi auf dem Neuhof zuerst als Landwirt und später als Armenerzieher scheiterte, so lässt Stadler dafür nicht bloss die bekannten (und kaum zu widerlegenden) Gründe gelten: dass der eigene Knecht Pestalozzi beim Geldherrn in Misskredit brachte und dieser prompt sein Kapital aufkündigte; dass er in die Fänge des korrupten Gütermaklers Heinrich Märki geriet und darum finanziell blutete; dass ihn Hagelschlag und Missernten heimsuchten; dass ihn in den ersten Jahren die verwöhnte Zürcher Verwandtschaft mit ihren aufwendigen Besuchen beinahe an den Bettelstab brachten; dass später die Spinner- und Weber-Kinder nicht jene Produkte-Qualität schafften, die den Ansprüchen der Käuferschaft entsprach; dass ihm die Kinder, kaum hatte er sie aufgepäppelt und spinnen oder weben gelehrt, wieder entliefen; dass die versprochene öffentliche Unterstützung in jenen Hungerjahren nur zähflüssig hereintröpfelte; und dass schliesslich sein eigener Bruder Baptist den Erlös von 20 Jucharten Land unterschlug und sich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staube machte. Stadler macht für Pestalozzis Scheitern auch ganz anderes verantwortlich: die viel zu kurze landwirtschaftliche Lehre beim Musterbauern Tschiffeli in Kirchberg; Pestalozzis Hang, den kompetenten Unternehmer zu spielen, zu renommieren, sich finanziell stets zu übernehmen und mit der grossen Kelle anzurichten; seine Unfähigkeit, sich von andern raten und belehren zu lassen, gepaart mit seiner grossen Fähigkeit, sich wortreich zu rechtfertigen.

Kein Wunder, dass dann auch Stadlers Sicht des Neuhof-Unternehmens ab 1774 insgesamt von der überkommenen Konvention abweicht: Vom „Retter der Armen auf Neuhof“, wie wir in Augustin Kellers Denkmalspruch lesen, ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Im Vordergrund steht nach Stadler weniger das soziale Engagement Pestalozzis als vielmehr die Sorge um sein eigenes Überleben. Der Übergang von der landwirtschaftlichen Unternehmung zur „Armenanstalt“ ist fliessend, und der Stein des Anstosses zur Aufnahme von Kindern in den eigenen Betrieb waren ökonomische und nicht soziale Überlegungen; diese gesellten sich erst im Nachhinein zu den ersten. So erscheint denn diese erste pädagogische Unternehmung Pestalozzis gewissermassen als Nebenprodukt seines Betriebs, in dem er – durchaus im Zuge der Zeit – Landwirtschaft und Baumwollindustrie miteinander verband. Mag sich die Lebensrealität auf dem Neuhof irgendwo ansiedeln lassen zwischen „ökonomischer Ausbeutung der Kinder“ und „sittlicher Erziehung verwahrloster Bettelkinder“: Stadler jedenfalls bewegt sich mit seiner Sicht- und Darstellungsweise näher am erstgenannten Pol. In diese Sichtweise wollen dann freilich Pestalozzis Worte der Entrüstung über die Ausbeutung der Kinder im zweiten Tscharner-Brief doch nicht so recht passen: „Nein, der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloss um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt. Nein! Nein! dafür ist er nicht da! Missbrauch der Menschheit, wie empört sich mein Herz!“ Stadler, dem Pestalozzis Gefühlsüberschwang immer ein wenig unheimlich und verdächtig ist, zitiert Pestalozzis Entrüstung mit der einleitenden Bemerkung: „Ja, er steigert sich ins Pathetische.“

So erhebt sich denn immer wieder die Frage – und Stadler spricht sie auch mehrmals selber aus – was denn an diesem Manne Besonderes war, das ihn so berühmt machte. Stadler versucht, dies sei betont, auch dies immer wieder zu beantworten: Pestalozzi war eben halt doch ein Genie, er konnte beleben, echt begeistern, ja verzaubern, sah vieles – insbesondere im Bereiche der durch die Industrialisierung entstandenen und entstehenden Probleme – klarer als andere, und hat durch seine Ausstrahlung und sein beharrliches Verfolgen seiner ‘Endzwecke’ unmittelbar und mittelbar auf Menschen und in seine und eine künftige Zeit hinein gewirkt.

7. Die grundsätzlich historische Sicht und Stadlers Hang, Pestalozzi zu kritisieren führen dazu, dass einige Aspekte von Pestalozzis Persönlichkeit deutlich zu kurz kommen. Das betrifft vorerst einmal Pestalozzis stürmisches Gefühlsleben, über das wir durch viele autobiographische Notizen unterrichtet sind; (überhaupt fällt auf, dass Stadler den autobiographischen Bemerkungen Pestalozzis eher mit Vorsicht begegnet und nur mit grosser Zurückhaltung auf sie zurückgreift). Stadlers Scheu, sich allzusehr mit Pestalozzis Gefühlsleben zu befassen oder sich gar in dieses hineinziehen zu lassen, führt dann auch dazu, dass die subjektiven – vorwiegend sozialen – Motive von Pestalozzis Handeln und Wirken oft zu wenig deutlich werden. Zu kurz kommt insbesondere das tragende Motiv, das man gelegentlich als das einzige wirklich Bedeutende in Pestalozzis Existenz sehen wollte, nämlich seine elementare, leidenschaftliche Liebe, die ihn zu den unfasslichsten Entscheiden mitreissen konnte, die ihn von Kind an mit Naturgewalt packte und durchglühte und ihn bis zum letzten Lebensaugenblick immer wieder von innen her wandelte – dies bei aller Widersprüchlichkeit seiner Person, bei aller Berechnung, bei allem Zynismus, den auch Stadler anspricht, bei allem Selbstmitleid und bei aller Eitelkeit, die man nur mit sehr gutem Willen übersehen kann. Und ein ähnlicher Vorbehalt ist in bezug auf die Darstellung von Pestalozzis Religiosität vorzubringen: Zwar diskutiert und beurteilt Stadler immer wieder gewisse religiöse Ansichten und Äusserungen Pestalozzis aus theologischer Sicht, aber Pestalozzis existentielles Ringen mit Gott und seine wesenhafte Verwurzelung im Religiösen bleiben zu sehr ausgeblendet.

So verdeckt denn doch Stadlers anschauliche Darstellung des Menschlich-Allzumenschlichen – so verdienstvoll diese Leistung an sich ist – der Tendenz nach eher die wahre Grösse Pestalozzis. Dieses – kaum erwünschte – Resultat liegt wohl teilweise bereits im Stadler’schen Ansatz begründet: Als Verfasser einer historischen Biographie dispensiert er sich immer wieder – implizit und explizit – von der Aufgabe, den philosophischen, pädagogischen oder gar theologischen Gehalt von Pestalozzis Schrifttum kompetent zu analysieren und zu würdigen; einzig Pestalozzis soziale, politische, ökonomische und historische Gedankengänge erfahren in Stadlers Werk eine ihnen angemessene Würdigung. Was dementsprechend in Stadlers Biographie wirklich im Zentrum steht, sind Pestalozzis konkrete Verstrickungen in gesellschaftliche Situationen. Nun mag zwar die spezifische (und das heisst bei Pestalozzi durchaus auch: teilweise neurotische) Art des Umgangs mit gesellschaftlichen Verstrickungen von grosser Vielfalt und Farbigkeit sein (Stadlers Werk spricht da Bände) – aber das, was in die Nachwelt hineinwirkt und die Genialität eines Menschen konstituiert, ist doch wesentlich das Geistige, und das ist bei Pestalozzi zuerst einmal die letztlich alles Krankhafte immer wieder transzendierende Liebe, es ist seine Tiefsicht in das Wesen des Menschseins, es ist der Reichtum und die innere Stimmigkeit seiner pädagogischen und übrigen Ideen, und es ist schliesslich auch seine ganz persönliche Art der Gotteserfahrung. Eine Biographie, die lediglich historisch sein will, folglich vor allem die historische Bedingtheit einer menschlichen Existenz aufzeigt, aber das in gewissem Sinne ‘überzeitliche’, die Alltagsnorm übersteigende Geistige zurückstellt oder zur Darstellung an andere delegiert, wird deshalb nicht in der Lage sein, einer Persönlichkeit in der vollen Breite und Tiefe gerecht zu werden. Es liegt nun einmal einer historischen Betrachtung eines Lebenslaufes näher, mehr auf dessen gesellschaftliche Bedingtheit und Wirkung zu sehen, als die Wurzeln individuellen Daseinserlebens aufzuspüren.

All die erwähnten Vorbehalte mögen vor der Versuchung warnen, nun Stadlers grosses Werk als die Pestalozzi-Biographie in einem abschliessenden Sinne zu verstehen. Er selbst räumt durchaus ein, Pestalozzi sei „eine so reiche und widersprüchliche Erscheinung, dass verschiedene Zugänge offen, abweichende Interpretationen stets möglich und vertretbar“ seien (Band 1: S. 449). So ist es durchaus denkbar, dass andere Autoren Pestalozzi wiederum stärker von seinem engen Erlebniskreis und seiner Selbstidentifikation her sichtbar zu machen versuchen.

8. So liesse sich denn zusammenfassend sagen: Stadlers Werk ist verdienstvoll, lesenswert, sehr informativ und bereichernd. Er verwertet ein breites Quellenmaterial und verknüpft dieses gekonnt mit jenen Schlüssen, die sich daraus ableiten lassen. Stadlers grosse Stärke liegt in der Einbettung von Pestalozzis Leben in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, aber auch in seiner selbstverständlichen Art, Pestalozzi als Menschen und nicht als Standbild wahrzunehmen und darzustellen. Sein Mut, nicht bloss zu rapportieren, sondern Stellung zu beziehen, zu beurteilen und zu kritisieren, ist zu loben, jedoch über die Berechtigung und wohl auch über das Ausmass der von ihm vorgebrachten Kritik an Pestalozzi lässt sich im Einzelfall diskutieren. Für eine Auseinandersetzung mit der Pädagogik oder Religiosität Pestalozzis zieht man indessen mit Vorteil noch andere Literatur bei. Trotz dieses Vorbehalts ist zu betonen: Wer bereit ist zu einem gründlichen Studium von Stadlers Werk, wird reichlich belohnt. Er erfährt eine Fülle interessanter Einzelheiten, sieht diese verwoben in einen ihm kompetent nahe gebrachten geschichtlichen Zusammenhang und beginnt biographische Details in ihrer Entwicklung im Rahmen der speziellen Umstände zu verstehen.

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