Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen
Startseite » Texte » Pestalozzi » Lehrtexte und Abhandlungen » Pestalozzis Gedankenwelt » Das Wesen und die Funktion des Staates

Das Wesen und die Funktion des Staates

(Zitiert wird aus der Kritischen Ausgabe: PSW = sämtliche Werke, PSB = sämtliche Briefe)

Pestalozzi hat sich während seines ganzen Lebens in zahlreichen Schriften über den Staat geäussert. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Gedankengängen, die sich auf konkrete Probleme der damaligen Staaten und insbesondere seines Heimatstaates bezogen, und grundsätzlichen Erwägungen über das Wesen und den Aufgabenbereich des Staates ganz allgemein. In unserem Zusammenhang sind vor allem diese zweitgenannten Erwägungen bedeutsam, denn sie sind von zeitloser Gültigkeit. Gewiss hat Pestalozzi – entsprechend der Entwicklung seiner Anthropologie – im Verlaufe seines Lebens da und dort andere Akzente gesetzt, jedoch gibt es einen Bestand an Grundgedanken, der sein gesamtes Werk durchzieht und darum hier abrisshaft dargestellt werden soll:

Vom Standpunkt der ‘Nachforschungen’ aus ist der Staat die wichtigste Institution des gesellschaftlichen Zustandes. Wie wir gesehen haben, tritt der Mensch nach Pestalozzis Erkenntnis in den gesellschaftlichen Zustand, weil er sich von diesem Schritt eine leichtere Befriedigung seiner Bedürfnisse verspricht. Dies aber macht das Eigentum nötig, womit Rechte und Pflichten ins menschliche Dasein kommen. Diese Rechte und Pflichten beruhen auf der grundlegenden – wenn auch nicht unbedingt wörtlich ausgesprochenen – Vereinbarung aller Individuen, dass sie das Eigentum und das Leben der Mitmenschen nicht antasten und bedrohen unter der Bedingung, dass die andern sich ebenfalls daran halten. Das bedeutet, dass künftig alle Konflikte nicht mehr mit der Faust ausgetragen werden sollen, sondern im Rahmen des Gesetzes, dem alle möglichen Beteiligten eines Konflikts unterstellt sind. Daraus ergibt sich die Hauptaufgabe des Staates: Gesetze zu erlassen, welche das Zusammenleben im Sinne der ursprünglichen gesellschaftlichen Vereinigung ermöglichen und erleichtern, und über die Einhaltung von Recht und Gesetz zu wachen, damit der Rückgriff auf die personale Gewalt durch die einzelnen Menschen im Falle des Konflikts und damit das Abgleiten des gesellschaftlich vereinigten Menschen in den verdorbenen Naturzustand und damit in den Kampf aller gegen alle verhindert werden kann.

Über die Einhaltung von Recht und Gesetz zu wachen ist gleichbedeutend mit der Sorge um die Sicherheit jedes Staatsbürgers. Deshalb erfüllt in einem Lande, wo sich der einzelne Mensch nicht sicher fühlen kann vor Bedrohung seines Lebens und seines Eigentums, der Staat seine Aufgabe nicht, geschehe dies nun, weil die Staatslenker dies nicht wollen oder – aus Schwäche – nicht können.

Diese Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, erwächst dem Staat aus der Erfahrung, dass es offensichtlich immer einzelne Menschen gibt, welche – angetrieben durch ihre Selbstsucht – ihre Mitmenschen physisch bedrohen oder sich ihres Eigentums bemächtigen wollen. Die Sorge für Sicherheit besteht somit im Aufrichten von Schranken gegen den Egoismus jener Menschen, welche ihre Interessen und Wünsche mit der eigenen Faust durchsetzen wollen. Da diese Menschen aber die Faust nur darum in egoistischer Absicht gegen ihre Mitmenschen erheben, weil bei ihnen das Werk der Erziehung, die Versittlichung, nicht zum gewünschten Ziel geführt hat, existiert gegen diese Faust kein anderes Mittel als die stärkere Gegengewalt jener Institution, die für die Sicherheit verantwortlich ist.

Der Staat kann somit dem einzelnen Menschen die Sicherheit nur gewährleisten, solange er im Besitze der Macht ist und sie so einsetzt, dass die einzelnen Glieder des Staates ihre Konflikte nicht mit physischer Gewalt austragen wollen und können. Pestalozzi ist daher weit davon entfernt, einen schwachen Staat zu wünschen. Nur wenn der Staat die Macht wirklich unbestritten inne hat, kann er jenen Aufgaben gerecht werden, denen er überhaupt seine Existenz zu verdanken hat.

Nun hat Pestalozzi aber auch zeitlebens erfahren, dass die Macht durch die Träger der Staatsmacht selbst missbraucht und statt zum Wohl des Volkes zu dessen Knechtung und Ausbeutung eingesetzt werden kann. Dies war so in der alten Ordnung vor der Französischen Revolution, und es war so in der neuen Ordnung. Die Macht darf darum nie allein stehen, sondern sie muss stets gebunden sein an das Recht.

Doch was ist das Recht? Pestalozzi unterscheidet – wie die ganze zeitgenössische Philosophie – zwischen ‘Naturrecht’ und ‘positivem’, das heisst durch den Staat gesetztem Recht, aber er legt in den ‘Nachforschungen’ dar, dass es eigentlich ein Naturrecht, wenn man es ganz exakt durchdenkt, nicht gibt. ‘Recht’ ist in jedem Falle vom Menschen gesetzt, aber es ist nicht in jedem Falle gut und heilsam. Es fragt sich somit, wie ein Recht gestaltet sein soll, damit es in seinem innersten Wesen auch rechtmässig ist. Das ist es nach Pestalozzi dann, wenn es mit dem Wesen der Menschennatur und mit dem grundlegenden Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung übereinstimmt. Diese Übereinstimmung liegt nur dann vor, wenn das Recht nicht als Anspruch des Egoismus, sondern als ‘Schutz des andern vor meinem Egoismus’, als ‘Sorge für den andern’ verstanden wird. Darum spricht sich Pestalozzi in seiner Schrift ‘Ja oder Nein?’, einer 1792/93 verfassten (und in dieser Ausgabe wiedergegebenen) Stellungnahme zur Französischen Revolution, vehement gegen das proklamierte Recht aus, alles tun zu dürfen, was nicht verboten ist. Auch hat Pestalozzi, wenn er von ‘Recht’ spricht, nur sehr eingeschränkt das Recht auf politische Mitbestimmung des Volkes im Auge. ‘Recht’ ist für ihn in erster Linie die rechtliche Absicherung jedes einzelnen Staatsbürgers gegen willkürliche Übergriffe der Staatsmacht und gegen Gesetzesbestimmungen, welche dem Wesen der Menschennatur entgegenstehen, dann aber auch gegen die Möglichkeit anderer Staatsbürger, ihn ausbeuten oder unterdrücken zu können.

Auch dieses Recht hat zu seiner Durchsetzung die Macht nötig. Die Macht hat somit durchaus zwei Gesichter: Bindet sie sich an das Recht, damit Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlergehen des Volkes im Lande herrschen, so ist sie nach Pestalozzis eigenem Ausdruck ‘heilig’, ist sie aber ein Instrument der blossen Willkür, so ist sie grausam und verderblich. Dies geschieht nach Pestalozzis Überzeugung immer dann, wenn von irgend jemandem der Anspruch an All-Macht erhoben und durchgesetzt wird. Die Macht des Staates muss daher geteilt sein, indem die Macht der Regierenden in den gesicherten Rechten und in der Kraft des Volkes ein Gegengewicht erhält.

Die Sorge um Sicherheit und das Wachen über die Einhaltung von Recht und Gesetz sind direkte Aufgaben des Staates, Aufgaben also, die er selbst zu erfüllen hat. Daneben aber gibt es nach Pestalozzi nicht minder wichtige Aufgaben, die der Staat zwar nicht selber wahrnehmen, für deren Erfüllung er aber den erforderlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmen schaffen muss. Solche indirekten Aufgaben sind insbesondere die Sicherstellung der Bedürfnisbefriedigung und die Erziehung.

In den ‘Nachforschungen’ hat Pestalozzi gezeigt, dass der Mensch aus der Sorge um seine Bedürfnisbefriedigung das positive Eigentum und damit auch das gesamte ökonomische System geschaffen hat. Pestalozzi betrachtet es nun zwar nicht als die Aufgabe des Staates, dem Einzelnen die Bedürfnisbefriedigung abzunehmen, aber doch, sie ihm unter Wahrung der Menschenwürde zu ermöglichen. Der Staat hat demnach vorerst einmal die Aufgabe, den Schutz des Eigentums zu gewährleisten, was einen Teil der bereits dargelegten Haupt-Aufgabe ausmacht: für Sicherheit zu sorgen. Kann nämlich der Staat dem Einzelnen das Eigentum nicht mehr garantieren, so lösen sich alle Bande der gesellschaftlichen Vereinigung auf, und die Menschen fallen wieder zurück in den barbarischen Kampf aller gegen alle, womit jede Sicherheit aufgehoben ist.

Nun sieht Pestalozzi freilich auch, dass das Eigentum in der Hand des einzelnen Individuums die Tendenz hat, sich immer mehr im Reichtum auf Kosten der Schwächeren zu vergrössern und diese ins Elend zu stürzen. Gerade das aber möchte Pestalozzi verhindern, denn nach seiner Überzeugung ist es ein Widerspruch zum Wesen des gesellschaftlichen Rechts, wenn dem Einzelnen gestattet wird, sein immer grösser werdendes Eigentum zum Schaden der Mitmenschen gebrauchen zu können. Aber trotzdem setzt sich Pestalozzi nicht für die generelle Enteignung des Menschen ein, weil nach seiner Ansicht dadurch der Einzelne zu einem blossen Element eines anonymen Kollektivs würde ohne die nötige gesellschaftliche Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Nach Pestalozzi ist aber gerade die Verpflichtung und Nötigung des Individuums, für sich und seine Angehörigen so weit wie möglich selbst zu sorgen – Pestalozzi nennt dies ‘Selbstsorge’ – das grundlegende Motiv für den Menschen, seine Kräfte anzustrengen und zu gebrauchen und sie dadurch zu entfalten. Pestalozzi fordert daher nicht die Abschaffung des Eigentums, wohl aber eine zunehmende Beschränkung von dessen freien Verfügbarkeit im Verhältnis zum steigendem Reichtum. Das grösser werdende Eigentum muss – soll es gesellschaftlich rechtmässig bleiben – mit den Bedürfnissen der Schwächeren belastet werden. Der Staat muss durch eine weise Gesetzgebung den Reichen nötigen, sein Eigentum so einzusetzen, dass es auch dem Schwächeren zum Vorteil dient. Nach Pestalozzis Erfahrung macht ja der grössere Eigentümer mit seinem Eigentum immer eine mehr oder weniger grosse Anzahl von Menschen von sich abhängig. Ihm schwebt also vor, dass der grössere Eigentümer gesetzlich genötigt wird, sich um das Wohlergehen der seinem Eigentum untergeordneten Mitmenschen zu kümmern und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Die genauen Gedankengänge über diese Problematik sind in den ‘Nachforschungen’ nachzulesen. Dabei muss man die oben dargestellte Vorstellung Pestalozzis im Zusammenhang mit seiner andern Forderung sehen, dass nämlich das Kapital wieder verwurzelt werden soll im Boden und seine Bindung ans Gold oder gar ans Papier aufgibt. Wenn also Pestalozzi von Eigentum sprach, hatte er in erster Linie Grundeigentum und nicht so sehr monetäres Kapital im Auge. Ferner ist zu beachten, dass er auch eine Gesellschaft vor sich sah, in welcher sowohl die politischen wie auch die wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse durch reale personale Beziehungen sehr konkret erlebbar waren. In einer Gesellschaft aber, in welcher das Kapital als mehr oder weniger irreale und rational kaum mehr fassbare Grösse anonym herrscht und somit kaum mehr konkrete personale Beziehungen zwischen einem ‘Reichen’ und einem ‘Armen’ feststellbar sind, scheint Pestalozzis Modell allerdings kaum mehr realisierbar zu sein und stellt insofern eine zwar gültige, aber von keinem Staat mehr gesetzlich durchsetzbare moralische Forderung an den Begüterten dar.

Mit der Frage nach der freien Verfügbarkeit seines eigenen Besitzes ist auch das Problem der ‘Freiheit’ des einzelnen Staatsbürgers grundsätzlich angesprochen. Der Anspruch, in Staat und Gesellschaft als Einzelner all das tun und lassen zu dürfen, was den eigenen egoistischen Ansprüchen dient, ist der Ausdruck des verdorbenen Naturzustandes – Pestalozzi nennt diese Freiheit ‘Naturfreiheit’ – und insofern ein grundsätzlicher Widerspruch zur gesellschaftlichen Vereinigung. Kein Staat kann und darf dem einzelnen Menschen volle Naturfreiheit zugestehen, sondern er muss diese im Gegenteil insoweit einschränken, als die Gefahr besteht, dass er sie zum spürbaren Nachteil der Mitmenschen und der Gesellschaft einsetzen würde.

Das Ausmass dieser Einschränkung ist nicht von vornherein gegeben, sondern ist abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen. Pestalozzi fordert aber, dass die Freiheit ‘um kein Haar stärker eingeschränkt’ werden darf, als unbedingt nötig, weil sonst auch positive Kräfte des Menschen verletzt und in negative umgemünzt würden und weil im übrigen einer solchen weiterführenden Einschränkung jede Legitimität fehlte. Der Staat muss also dem Menschen im gesellschaftlichen Zustand den grösstmöglichen Grad an Freiraum zugestehen und diesen gegen die Übergriffe der andern Staatsbürger auch schützen. Der klare Ausdruck dieser gesellschaftlichen Freiheit ist die Selbständigkeit des Staatsbürgers. Pestalozzis Idealvorstellung des Staatsbürgers ist somit nicht das in allen Teilen wie eine Marionette vom Staat gelenkte Individuum, sondern der selbständige Mensch, der fähig und willens ist, seinen Beitrag zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und derjenigen seiner Angehörigen, aber auch seinen Beitrag zur positiven Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens zu leisten.

Die gesellschaftliche Freiheit – verstanden als freier Spielraum zur Selbständigkeit – kann somit für Pestalozzi niemals Selbstzweck sein; sie ist immer nur Mittel zum Zweck. So schreibt er bereits 1779: „Ohne Endzweck für häuslichen Wohlstand, diesen obersten Segen der Menschheit, ist es unbegreiflich, dass ein Volk Freiheit mit Aufopferung suchen sollte.“ (PSW 1, 215) Die Freiheit ist so wenig wie der Staat für sich selbst da, sondern sie soll stets einem menschenwürdigen Leben des Einzelmenschen dienen. Darum kann sie auch nicht als das Recht angesehen werden, alles tun zu dürfen, was nicht verboten ist. Die Forderung nach Freiheit ist somit nicht ein egoistischer Anspruch des Staatsbürgers, sondern eine Handlungsnorm für den Gesetzgeber und die Regierenden, dem Einzelnen den grösstmöglichen Freiraum zu belassen, nicht, damit er sich darin als Egoist austobe, sondern damit er sich darin als Mensch vollende.

Demgemäss bleiben die Forderungen nach gerechter Handhabe der Macht und nach sinnvollem Gebrauch der gesellschaftlichen Freiheit reine Wunschträume, wenn der Mensch ausschliesslich aus Egoismus handelt, das heisst: wenn nicht auch die höhere Natur im Einzelmenschen zur Entfaltung gebracht wird. Darum müssen sowohl die Regierenden zur Regierungsfähigkeit wie auch die Staatsbürger zur Freiheitsfähigkeit gebildet werden. Geschieht dies nicht, entartet das Recht zum blossen Gesetzesbuchstaben, den sich die gesellschaftlich Stärkeren zunutze machen, um sich gegen die Schwächeren durchzusetzen. Der Staat kann sich somit höchstens der Form nach als Staat erhalten, aber niemals seinem inneren Auftrag entsprechen, wenn er sich nicht auch die Erziehung des Menschen als seine Aufgabe vorsetzt. Nur durch die Erziehung aller Menschen kommt ein Staat so weit, dass seine Gesetze nicht bloss ein äusseres Schein-Recht gewährleisten, sondern wahrhafte Gerechtigkeit schaffen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Erziehung keine direkte, sondern eine indirekte Aufgabe des Staates ist; sie beruht nämlich auf der sittlichen Einwirkung einzelner Menschen auf die Mitmenschen und kann daher vom Staat als Staat gar nicht geleistet werden.

Bis jetzt ist somit deutlich geworden, dass der Staat vorwiegend vier Aufgaben zu erfüllen oder zu begünstigen hat: als direkte Aufgaben die Gewährleistung von Sicherheit und den Schutz eines freien Spielraums für die Selbständigkeit des Staatsbürgers, als indirekte Aufgaben die gerechte Bedürfnisbefriedigung und die Erziehung; aber ebenso klar ist, dass er diese Aufgaben nur erfüllen kann auf der Grundlage der – zwar an das Recht gebundenen – Macht.

Nun stellt sich die weitere Frage: Wer soll Träger der Macht sein? Pestalozzi hat bekanntlich die Zustände vor der Französischen Revolution intensiv erlebt, dann auch die Revolution und eine Reihe weiterer Entwicklungen dieses grossen Geschehens. Im Alten Zürich hat er gelitten unter dem Unrecht der Machthaber, unter ihren Anmassungen und ihrer Verschwendungssucht. Und trotzdem hat er bis kurz vor der Revolution an der Auffassung festgehalten, dass die konkrete Regierungsgewalt nicht in die Hände des Volkes gehöre, sondern in die Hände ausgezeichneter, gebildeter Männer. Pestalozzi fasste das Prinzip der Aristokratie wörtlich auf: Es sollten wirklich die Besten im Volke sein, welche oben standen. Die direkte Demokratie, welche das Volk auch in vielen Einzelfragen entscheiden lässt, war ihm verdächtig, denn er sah, dass das Volk nicht gebildet war, und nach seiner Überzeugung war Erzogenheit die unverzichtbare Voraussetzung für die Mitsprache und die Regierungsgewalt im Staate. Pestalozzi war insoweit Demokrat, als er immer wieder forderte, dass dem Volk die Wahl seiner eigenen Regierung möglich sein sollte. Aber war dann jemand zur Regierung bestimmt, so sollte er wirklich mit zwar kontrollierter und im Recht verankerter, aber doch unbestrittener Macht zum Wohle des Volksganzen regieren können.

Das beharrliche Festhalten an einer aristokratischen Staatsform entspringt indessen keinesfalls dem Interesse, den Erb-Aristokraten ihre persönlichen Vorrechte zu sichern. Es steht vielmehr im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass das Gute ‘von oben’ kommt: von Gott zum Menschen, vom Vater zum Kind, vom Fürst zum Untertan. Pestalozzis Vertrauen in die Demokratie wuchs in dem Masse, als er die Möglichkeit sah, dass durch eine richtige Erziehung das ‘Gute von innen’ kommt, aus dem Innern jedes einzelnen gebildeten Menschen. Denn Pestalozzi sah immer schon, dass auch das Böse ‘von oben’ kommen kann, und so schrieb er 1785, „dass überhaupt das pflichtlose Leben der obrigkeitlichen Personen und des herrschaftlichen Standes die Hauptursache der Lebensverheerung sei, die in den niederen Ständen herrsche.“ (PSW 3, 96) Eigentlich hat er die zweite Fassung von ‘Lienhard und Gertrud’ (1790/92) in der klaren Absicht geschrieben, die Fürsten wachzurütteln und sie an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Aber Pestalozzis Hoffnung, die Adeligen brächten die Kraft auf zur inneren Erneuerung und könnten so die Revolution abwenden, wurde enttäuscht. Er setzte daher seine Hoffnungen zuerst auf das revolutionäre Frankreich, dessen Nationalversammlung ihn 1792 als einzigen Schweizer zum französischen Ehrenbürger ernannte. Aber erschüttert durch die Greuel der Septembermorde von 1792 wandte er sich innerlich wieder von Frankreich ab. Als 1798 die Alte Schweiz unterging, stellte er sich auf die Seite der Neuerer und unterstützte tatkräftig die Reformbestrebungen der neuen Helvetischen Regierung.

Die Erfahrungen mit der Französischen Revolution liessen in Pestalozzi seine alten Vorbehalte gegenüber der Demokratie eher wieder aufleben. Dass er die Demokratie nur im Verbund mit sehr grundlegenden Erziehungsbestrebungen als berechtigt ansah, war selbstverständlich. Nun sah er das Toben der Massen vor sich und konnte in ihm mit dem besten Willen nicht die Wirkung tatsächlicher Erzogenheit erkennen. So schrieb er denn 1815: „Ich bin ein Republikaner, aber nicht ein Republikaner für grosse Nationen. Ich bin ein Republikaner für kleine, aber edelmütig republikanisch organisierte Stadt- und Landgemeinden.“ (PSW 24 A, 9) In kleinen, überschaubaren Einheiten war es den Bürgern möglich, sich konkret miteinander zu verständigen, Verantwortung zu übernehmen und sie auch den Geeigneten aufzubürden; im Kleinstaat konnten sich die Menschen auch zu jener politischen Reife emporbilden, die zur Erfüllung dieser Aufgabe nötig ist. Für grosse Staaten hingegen sah er die Gefahr nur zu deutlich, dass der Einzelmensch in der sich vereinigenden Masse seine Selbstverantwortung verliert und ganz einfach schlechter wird, so dass diese Masse kaum die Interessen der höheren Menschennatur wahrnehmen kann, dafür aber in der Hand geschickter Drahtzieher um so manipulierbarer ist.

Damit ist ein weiteres grundlegendes Problem des Staates angesprochen, nämlich das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Pestalozzi hat diesem Problem grosse Teile seiner umfangreichen Schrift ‘An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes, 1815’ gewidmet. Er knüpft in diesem Werk an die drei Zustände, wie er sie in den ‘Nachforschungen’ entwickelt hatte, an, befasst sich aber vorwiegend mit dem Verhältnis des gesellschaftlichen Zustandes zum sittlichen. Dabei legt er grossen Nachdruck auf die Tatsache, dass im gesellschaftlichen Zustand die ‘Kollektivexistenz’ des Menschen, im sittlichen Zustand hingegen dessen ‘Individualexistenz’ in Anspruch genommen ist.

Unter ‘Kollektivexistenz’ des Menschen versteht Pestalozzi zwei verschiedene Sachverhalte: einerseits meint er die tragenden Fundamente der Gesellschaft in ihrer Erscheinung als personale Kollektive (also nicht als abstrakte Institutionen) – Beispiele: das Volk, die Einwohner eines Dorfs oder einer Stadt, irgendwelche Vereine, die Behörden, die Jugend, die Alten, anderseits versteht er darunter den kollektiven Aspekt des Individuums, das heisst: jene Rollen, die er mit andern teilt.

Demgemäss ist stets die Kollektivexistenz eines Menschen in den Blick genommen, wenn man ihn als Vater, als Ehemann, als Bürger seines Landes, als Einwohner seiner Wohngemeinde, als Steuerzahler, als Soldat, als Berufsmann, als Mitglied eines Vereins oder einer politischen Partei, als Christen usf. ins Auge fasst. In jedem einzelnen Fall ist er dann verstanden als ein Teil einer gleiche Merkmale tragenden Gruppe, und in jedem Fall ist durch diese Rollenzuweisung seine Existenz verdinglicht, was bedeutet, dass der Aspekt, der in den Blick genommen ist, zur überdauernden, feststehenden Sache wird, die bei andern Menschen mit denselben Rollen gleich ist.

Kollektiv existiert der Mensch auch dann, wenn er sich in die konkrete Dynamik einer realen Masse begibt und dabei – psychologisch betrachtet – sein persönliches Gewissen verliert und seine Selbstverantwortung an den dumpfen Willen der agierenden Masse delegiert.

Wesentlich ist nun: In keinem dieser Fälle kommt das wahre, individuelle Wesen des jeweiligen Individuums zum Ausdruck. Kommt nämlich die ‘Individualexistenz’ des Menschen zum Tragen, ist er nicht erfasst in seinen gesellschaftlichen Rollen, sondern in seinen einmaligen und unverwechselbaren seelisch-geistigen Bezügen zum Mitmenschen, zur Welt, zu Gott und zu sich selber. Entspricht also die Kollektivexistenz des Menschen dem gesellschaftlichen Zustand, so wird anderseits deutlich, dass sich in der Sittlichkeit des Individuums dessen Individualexistenz manifestiert, denn die Sittlichkeit ist ganz individuell.

Es mag zweckmässig sein, den Unterschied zwischen Kollektivexistenz und Individualexistenz noch etwas zu verdeutlichen. Erfasst man beispielsweise den Menschen in seiner Kollektivexistenz, so zählt stets das Quantitive: wieviel verdient ein Mensch, wieviel leistet er, wie viele Jahre zählt er, wieviel Wasser und Nahrung verbraucht er, usw.? Mit andern Worten: Die gesellschaftliche Qualität eines Phänomens liegt in deren optimalen Quantität. Aber das Wesen dessen, was der Mensch aus seiner Individualexistenz herausgestaltet – Taten der Liebe, Suche nach Wahrheit, schöpferische Leistungen usf., lässt sich nicht quantitativ erfassen, sondern macht die eigentliche Qualität des menschlichen Daseins aus. Weiter: Ist der Mensch in seiner Kollektivexistenz gesehen, so ist er immer auch Mittel zu einem weiterführenden allgemeinen Zweck: Er trägt als Steuerzahler die Staatsfinanzen mit, er leistet als Soldat seinen Verteidigungsbeitrag, er steht als Arbeiter im Produktionsprozess und hält als Käufer die Wirtschaft im Gange. Verwirklicht indessen ein Mensch in seiner Individualexistenz seine Sittlichkeit, so ist die Frage, zu welchem Zweck er dies tue, sinnlos, denn seine Lebensform ist kein Mittel mehr zu weiterführenden Zwecken, sondern ein eigenständiger, letzter Wert in sich selbst. Das menschliche Leben kommt in der Sittlichkeit zu seiner letzten Erfüllung, zu seinem eigentlichen Sinn.

Diese Gedankengänge untermauern Pestalozzis Überzeugung, dass letztlich nicht der Mensch für den Staat da ist und das Heil des Einzelmenschen nicht den Zwecken des Staates aufgeopfert werden darf, sondern dass umgekehrt der Staat – wie jede andere gesellschaftliche Institution auch – ein Mittel ist, um dem Einzelmenschen die sinnvolle Erfüllung seiner Existenz zu ermöglichen.

Diese Aussage würde aber missdeutet, wenn sie von einem egoistisch eingestellten Individuum als Vorwand benutzt würde, um sich den Pflichten, welche sich aus der gesellschaftlichen Vereinigung im Staate ergeben, entziehen zu können. Pestalozzi macht unmissverständlich klar, dass der Mensch keinen Anspruch auf reine Sittlichkeit machen kann. Damit ist auch der Anspruch auf ausschliessliche Verwirklichung seiner Individualexistenz nicht berechtigt, denn seine Kollektivexistenz ist ein nicht abzuschüttelnder Teil seines Wesens. Der einzelne Mensch muss darum auch bejahen können, dass er immer wieder vom Staat als kollektives Wesen gesehen und in Anspruch genommen wird. Wesentlich ist aber, dass die Kollektivexistenz grundsätzlich der Verwirklichung der Individualexistenz dienen muss. Darum ist eine gesellschaftliche Vereinigung, welche die Individualexistenz des Einzelnen grundsätzlich missachtet, gegen die Natur des Menschen gerichtet.

Darüber hinaus ist der um seine Sittlichkeit bemühte Mensch durchaus in der Lage, seine kollektiven Verpflichtungen von innen her auf die Stufe der Sittlichkeit emporzuheben. So sind zum Beispiel seine Leistungen in der Wirtschaft, seine Erfüllung politischer Aufgaben, sein Beitrag zur Landesverteidigung usf. in dem Masse sittlich, als er deren Bedeutung und Notwendigkeit für das Wohl der Gemeinschaft zu erkennen vermag und seine Leistung unter Verzicht auf persönliche Vorteile aus einem sozialen Motiv heraus erbringt.

Dieser Gedanke führt zu einem weiteren Begriffs-Paar, das Pestalozzi im erwähnten Werk von 1815 einander gegenüberstellt und welches dem unterschiedlichen Wesen des gesellschaftlichen Zustandes gegenüber dem sittlichen entspricht: nämlich Zivilisation und Kultur.

Unter Zivilisation versteht Pestalozzi sämtliche Einrichtungen und Vorgänge des gesellschaftlichen Zustandes (Gesetze, Institutionen, Besitz, Vertragsabschlüsse, politische Auseinandersetzungen usf.), insofern sie bloss gesellschaftlich sind, d.h. insofern sie bloss dazu dienen, die Selbstsucht der Einzelnen und von Gruppen zu befriedigen. Benutzt der Mensch die gesellschaftlichen Mittel nicht für höhere Zwecke, führen sie ihn ins Verderben – Pestalozzi verwendet oft den Ausdruck ‘Zivilisationsverderben’, d.h. sie befriedigen seine tierischen Gelüste, kitzeln seine Ehrsucht und Eitelkeit und sind die Mittel, deren er sich bedient, um den andern zu übervorteilen und an die Wand zu spielen.

Als Kultur bezeichnet Pestalozzi das Insgesamt aller sittlichen Handlungen und Haltungen der Individuen, insofern sie sich segensreich und gestaltend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken. Kultur ist ein Ausdruck wirklicher Gebildet- und Erzogenheit der Individuen und eine unbedingte Voraussetzung dafür, dass der gesellschaftliche Zustand nicht entartet, sondern ein Zustand wirklichen Rechts und wahrhafter Gerechtigkeit ist.

Daraus ergibt sich, dass eigentlich zwei Formen des gesellschaftlichen Zustandes zu unterscheiden sind: eine bloss zivilisatorische gesellschaftliche Vereinigung, in der sich der Geist der Tyrannei und der Barbarei der gesellschaftlichen Mittel bemächtigt, um dem Egoismus zu frönen, und eine gesellschaftliche Vereinigung, in der die Kultur der gebildeten Menschen die Gesetze und deren Vollzug dem Geist des Rechts unterwirft und das gesamte gesellschaftliche Leben sittlich zu durchdringen sucht. Die gesellschaftlichen Mechanismen sind in beiden Fällen dieselben – Gesetze, die auf der Basis der staatlichen Macht wirksam werden –, aber im einen Fall führen sie den Kampf des verdorbenen Naturmenschen um eigensüchtige Vorteile im Gesellschaftlichen weiter, im andern Fall schaffen sie Recht, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Obwohl Pestalozzi weiss, dass reine Sittlichkeit nicht möglich und daher eine völlige Befreiung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von egoistischen Einflüssen undenkbar ist, schwebt ihm doch vor, dass eine Entwicklung des gesellschaftlichen Zustandes aus dem bloss Zivilisatorischen ins Kulturelle in Gang kommt:

„Das gereifte bürgerliche Recht ist ein Resultat des gereiften Lebens im bürgerlichen Zustand, es ist ein Resultat von bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen, die sich progressiv in ihrer inneren Wahrheit oder vielmehr in ihrer inneren Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Menschennatur nach dem Grad der allmählich steigenden Völkerkultur immer mehr entfaltet haben und entfalten sollen. Und, Vaterland! die Nichtanerkennung dieser progressiven Entfaltung des bürgerlichen Rechtes sowie der Köhlerglauben (d. h. ‘Aberglauben’; AB) schwacher Menschen und sinkender Staaten an die Notwendigkeit des Ewigerhaltens veralteter barbarischer Rechts- und Regierungsformen ist in seinem Wesen ein lautes Zeugnis des Stillstehens des Staates auf Stellen, wo er durchaus nicht stillstehen sollte; sie ist in ihren Folgen Quelle von Staatsschwächen in allen Fächern, in denen die Staatskraft durchaus nicht geschwächt werden darf, und endlich ist sie beim Emporstreben der Völker zur bürgerlichen Kultur und rechtlichen Selbständigkeit eine unversiegliche Quelle der schreiendsten Ungerechtigkeiten.“ (PSW 24A, 100)

Es ist also offensichtlich die Aufgabe des Staates, solche Bedingungen zu schaffen, dass die Kultur gegenüber der blossen Zivilisation die Oberhand gewinnt, dass also das gesellschaftliche Leben zur Hauptsache von solchen Menschen gestaltet wird, welche auch in der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Aufgaben ihren Grundsätzen der Sittlichkeit getreu bleiben.

Das Wichtigste, was der Staat hierfür zu leisten hat, ist die Förderung einer der menschlichen Natur angemessenen Erziehung. Nur durch Erziehung ist zu erreichen, dass das Leben im Staat nicht als blosse Zivilisation entartet, sondern auf die Stufe einer wahrhaften Kultur emporgehoben wird. Diese Kultur strebt dann aber auch danach, den Menschen so weit wie möglich in seiner Individualexistenz zu erfassen.

‘So weit wie möglich’! Im Bewusstsein, dass reine Sittlichkeit dem Menschen nicht gegeben ist, ist sich Pestalozzi sehr wohl im klaren, dass es Bereiche gibt, in denen der Staat die Zügel fester in die Hand nehmen muss und in denen er die Staatsbürger grundsätzlich nur unter kollektivem Aspekt ins Auge fassen kann. Es sind dies die Gebiete der öffentlichen Ordnung, der Rechtsprechung, der Finanzen und des Militärs, also der Bereich der direkten Aufgaben des Staates.

Auf der andern Seite aber macht er ebenso klar, dass es Bereiche gibt, welche in erster Linie als eine Angelegenheit der Individualexistenz des Menschen zu betrachten und zu behandeln sind, nämlich die Bereiche der Religion, der Erziehung und Bildung sowie der Armenfürsorge. Es sind also jene Gebiete, in denen der Staat nur indirekt wirken soll: durch eine Gesetzgebung, welche die Eigeninitiative, die Eigenverantwortung und die Sittlichkeit der einzelnen Individuen nicht bloss nicht behindert, sondern sie begünstigt.

Im folgenden soll auf die drei Gebiete der Religion, der Armenfürsorge und der Erziehung noch in gesonderten Kapiteln eingegangen werden.

Weitere Themen: