Arthur Brühlmeier

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Menschenbildung im Zeitalter der Elektronik? – Eine Anfrage bei Pestalozzi

Festreferat zur Eröffnung des 30. Internationalen Kongresses für Sehgeschädigtenpädagogik in Zug vom 25. bis 29. Juli 1988

Hinführung zum Thema

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Das Thema meines Referates erfordert grundsätzliche Erwägungen über den Menschen, die Gesellschaft, die elektronische Technik und die Bildung. Ich sehe keinen Grund, dabei zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen zu unterscheiden.

Werfen Sie nun bitte einen Blick auf das Signet Ihrer Tagung. Wenn ich es richtig verstehe, symbolisiert es ein Auge, aus welchem sich durch den einen Pfeil eine nach rechts, d.h. in die Zukunft drängende Strebung entwickelt und in welchem durch den auf sich selbst und ins Zentrum weisenden Pfeil auf den unwandelbaren Ursprung jeder Lebensbewegung hingewiesen wird. Ihr Signet drückt damit auf seine Weise jenen Gedanken aus, den ich an den Anfang und ins Zentrum meines Referates stellen möchte, nämlich: Menschliches Leben entfaltet sich im Spannungsfeld zweier einander entgegenstehender Pole:

  • Auf der einen Seite steht eine sich ständig wandelnde gesellschaftliche Welt,
  • auf der andern finden wir unverrückbare Gesetzmässigkeiten der Natur und den objektiven Anspruch einer absoluten Wert-Welt, gegen den der Mensch nicht ungestraft verstösst.

Dies ist zu bedenken, wenn von Menschenbildung die Rede ist. Da ist dann redlich zu erörtern, was man nun einerseits der gewandelten Zeit schuldig ist, was deshalb entweder über Bord geworfen oder mutig bejaht werden muss, und was andererseits als zeitlos gültige Prämissen zwar stets neu befragt, neu verstanden, aber letztlich doch bedingungslos anerkannt werden will, wenn Pädagogik überhaupt fruchtbar werden soll.

Rückgriff auf Pestalozzi

Meine Damen und Herren, abgesehen davon, dass man ja wohl, wenn man sich in der Schweiz zum Thema Menschenbildung versammelt, an PESTALOZZI einfach nicht vorbeikommt, möchte ich nun zuerst zu rechtfertigen versuchen, weshalb ich Pestalozzis Denken als ein besonders ergiebiges Instrument betrachte, um das Wandelbare vom zeitlos Gültigen scheiden zu können:

Von Pestalozzi weiss man allgemein, dass er vieles versucht hat und oftmals gescheitert ist. Was man aber oft nicht bemerkt, ist eine unveränderliche Konstante in den sechs Jahrzehnten seines Wirkens: nämlich seine leidenschaftliche und rückhaltlos der Wahrheit verpflichtete Suche nach einer Antwort auf die jeden denkenden Menschen bedrängende Frage, die Frage nämlich: Was ist der Mensch und was ist dessen Bestimmung?

Pestalozzi als Empiriker

Um nun die Antwort auf diese Frage zu finden, sah Pestalozzi bewusst ab von allen gängigen Lehren und verliess sich einzig und allein auf seine eigene Beobachtung und Erfahrung. So schreibt er in seinem 1797 erschienenen anthropologischen Hauptwerk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ über die Methode seiner Untersuchung: „Ich kann also in meiner Untersuchung in keinem Stück von einem bestimmten philosophischen Grundsatz ausgehen, ich muss sogar von dem Punkt der Erleuchtung, auf welchem unser Jahrhundert über diesen Gegenstand steht, keine Notiz nehmen. Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen, als die Wahrheit, die in mir selbst liegt.“

Zu dieser Wahrheit kam er nun eben gerade nicht dadurch, dass er sich nobel in seine Klause zurückzog und die sich abrackernden Menschen aus Distanz einer Analyse unterzog, sondern vielmehr dadurch, dass er sich mit Haut und Haar hineinverfügte ins menschliche Leben mit all seinen Nöten, Sorgen und Kämpfen, in all seinen Höhen und Tiefen. So schrieb er 1805 über sich selbst (in der 3. Person): „Pestalozzi beobachtete die Menschen nicht, er sagte es tausendmal: Ich habe in meinem Leben keinen Menschen auch nur angesehen, um ihn zu beobachten. Aber er handelte mit den Menschen, geführt von seinem Herzen, und liess dann wieder die Handlungsweise der Menschen auf sein Herz wirken. Er suchte nie etwas an einem Menschen zu suchen, aber er fand täglich an ihnen, was er nicht suchte. Auch ist es sein unbefangenes Hingeben an die Menschen, es ist bestimmt sein Nichtswollen und Nichtssuchen bei Menschen, was ihn zum Kenner der Menschennatur machte.“ Pestalozzi, sonst gewohnt, seine eigenen Stärken eher in den Hintergrund zu stellen und gelegentlich mit sich selbst sehr ungerecht zu verfahren, verleiht sich also selbst den Ehrentitel „Kenner der Menschennatur“. Und als ein solcher Kenner ist er davon überzeugt, dass all das, was er erkannt hat, von jedem unvoreingenommenen Menschen selbst beobachtet und überprüft werden kann. So wörtlich: „Meine Wahrheit ist Volkswahrheit, und mein Irrtum ist Volksirrtum.“

Damit erweist sich Pestalozzi als Feind jeglicher Ideologie, insofern wir darunter ein gedankliches Gebäude verstehen, welches auf Grundsätzen beruht, die von vornherein eine absolute Geltung beanspruchen und demgemäss nicht der Bestätigung durch Erfahrung oder auch der stets neuen Bezweiflung offen gehalten werden. Und es ist diese Abwesenheit von Ideologie, die es mir zu rechtfertigen scheint, sich beim Versuch, den Menschen als Individuum und in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit zu verstehen, immer erneut mit den Beobachtungen und Überlegungen Pestalozzis auseinanderzusetzen.

Pestalozzi selbst legt auf ein vorurteilsloses, ideologiefreies Erkennen grössten Wert. So lesen wir in der bereits zitierten Schrift von 1805: „Wer immer bei den Menschen Belege dessen sucht, was er von der Menschennatur schon denkt, kommt nie dahin, die Menschennatur zu kennen.“

Empirie als äussere und innere Anschauung

Wenn also Pestalozzi in seinen pädagogischen Schriften den bekannten Satz postuliert, die Anschauung sei „das absolute Fundament der Erkenntnis“, so beruht eben auch dieser Satz auf Pestalozzis eigener Erfahrung, dass er nur als ein Mensch, der in der Anschauung lebt, zu tragenden Erkenntnissen kommen konnte.

Es ist zuzugeben, dieser Satz – „die Anschauung ist das absolute Fundament der Erkenntnis“ – ist fragwürdig und könnte Pestalozzi als linientreuen Sensualisten ausweisen. Dass dem aber nicht so ist, geht einem dann auf, wenn man Pestalozzis Anschauungsbegriff wirklich auslotet.

Meine Damen und Herren, eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Pestalozzischen Verständnis der Anschauung rechtfertigt sich hier wohl auch deshalb, weil – wie bekannt – das Anschauungsprinzip ein tragendes Fundament der Pestalozzischen Pädagogik ist und daher gerade für Sie von besonderem Interesse sein mag, die Sie sich für die Bildung und Erziehung jener Menschen einsetzen, welchen die Urgebärde des Anschauens, das reine Sehen mit den Augen, erschwert oder unmöglich gemacht ist.

Fundamental ist nun Pestalozzis Unterscheidung sinnenhaften Erfahrens in der „äusseren“ Anschauung und sinnhaften Erfahrens in der „inneren“ Anschauung.

Äussere Anschauung ist jede auf der Sinneswahrnehmung, aber auch auf der gedanklichen oder bildhaften Vorstellung beruhende Geistestätigkeit, welche zu einer wertfreien Erkenntnis des So-Seins der Dinge führt. Oder in einfacherer, an Pestalozzi angelehnter Ausdrucksweise: Die äussere Anschauung dient der Bildung des Kopfs. Die Organe der äusseren Anschauung sind die einzelnen Sinne der Sinnes-Organisation des Menschen, aber auch die Kraft der gedanklichen und bildhaften Vorstellung, und die Inhalte der äusseren Anschauung sind Gesichts-, Gehörs-, Geruchserfahrungen usf., die sich entweder aus der Realerfahrung ergeben oder in der Vorstellung erweckt bzw. wiedererweckt werden. Wie Sie also sehen, ist es nicht im Sinne Pestalozzis, die Vorstellung – obwohl ein innerer Vorgang – als „innere Anschauung“ zu bezeichnen.

Die innere Anschauung ist vielmehr zu sehen im Zusammenhange mit jenem in der Tiefe der menschlichen Wesenheit liegenden Bereiche, die Pestalozzi als „Herz“ bezeichnet. Im Herzen wurzelt das, was Pestalozzi ganz allgemein die „höhere Natur“ des Menschen nennt. Diese höhere Natur ermöglicht dem Menschen die Distanznahme von sich selbst als einem Wesen, das auf blosse Selbsterhaltung und eigene Behaglichkeit bedacht ist. Die höhere Natur ist es, die dem Menschen ein erfülltes Leben in der Liebe und in der interesselosen Hingabe an die Wahrheit ermöglicht, es ist die höhere Natur, die den Menschen in die wirkliche Freiheit entlässt und ihm jenen Weg der Selbstvervollkommnung nahelegt, die Pestalozzi als „Sittlichkeit“ bezeichnet. Und die innere Anschauung ist nun jene seelische Tätigkeit, die aller Sittlichkeit zu Grunde liegt und welche schliesslich dazu führt, dass das wertfreie Erkennen zu einem sittlichen Urteil und das selbstbezogene Handeln zu einem sittlichen, d.h. du- und gemeinschaftsbezogenen Handeln wird.

Pestalozzi ist nun davon überzeugt – und zwar darum, weil ihm die tägliche Erfahrung dies nahelegt –, dass diese höhere Natur genau so sehr über ein Erkenntnisorgan verfügt wie unser Leib. So, wie nämlich die äussere Anschauung auf der Sinnesorganisation unseres Leibes beruht, ebenso liegt in der Tiefe unseres Wesens ein „innerer Sinn“, welcher uns eine Herzens-Anschauung ermöglicht. Dieser innere Sinn versetzt uns in die Lage, die Welt nicht nur in ihrem ungewerteten So-Sein zu erfahren, sondern alles auf den Sollens-Anspruch einer als vollkommen erahnten Schöpfungsordnung hin zu beziehen. Der innere Sinn eröffnet uns die Innen-Erfahrung der Welt, er hilft uns, die Erfahrung des bloss Sinnlichen zu übersteigen und Sinn zu finden.

Meine Damen und Herren, all dies ist zu bedenken, wenn wir Pestalozzi grundsätzlich als Empiriker bezeichnen, als Menschen also, der bei der Wahrheitssuche der Erfahrung den unbedingten Vorrang gibt. Erfahrung muss also bei Pestalozzi weit verstanden werden: als umfassendes Ergreifen der Welt mit Hilfe der leiblichen Sinnesorgane und dem in der äusseren Anschauung wurzelnden Denkvermögen auf der einen Seite und mit Hilfe des inneren Sinns und der durch die innere Anschauung ermöglichten Sinndeutung auf der andern Seite.

Das Wesen des Menschen

Diese Art von Erfahrung nun führte ihn zu jenen Erkenntnissen, die er in seinen „Nachforschungen“ (1797) niedergelegt hat und welche auf die eingangs gestellte Grundfrage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen eine gewiss nicht erschöpfende, aber doch sehr fruchtbare Antwort geben. Ich möchte diese Erkenntnisse meinen weiteren Erörterungen zu Grunde legen:

Pestalozzi geht in seinen Überlegungen von der Tatsache aus, dass wir Menschen im Widerspruch leben: im Widerspruch mit uns selbst, insofern wir Bedürfnisse, Pflichten und Ideale nicht immer in Übereinstimmung bringen können, im Widerspruch auch mit Mitmenschen und Gesellschaft. Diese Widersprüche erklären sich nach Pestalozzis Überzeugung daraus, dass der Mensch auf drei verschiedene Arten (Pestalozzi sagt: in drei verschiedenen „Zuständen“) existiert:

Erstens leben wir im Naturzustand, welcher uns dem Tier vergleichbar macht. Als natürliche Wesen spüren wir in uns Triebe und Bedürfnisse, streben wir nach Lust und vermeiden wir Unlust und sind wir auch egoistisch, weil wir uns erhalten wollen und unseren eigenen Vorteil wünschen. Ein möglichst problemloses Leben in Behaglichkeit entspricht den Neigungen des blossen Naturmenschen.

Zweitens leben wir Menschen im gesellschaftlichen Zustand insofern unser Handeln durch Rechte und Pflichten bestimmt wird. Als gesellschaftliche Wesen erfahren wir die Einschränkung natürlicher Triebe und selbstbezogener Wünsche und partizipieren wir an Institutionen wie dem Staat und der Wirtschaft.

Drittens können wir, sofern wir wollen, sittliche Wesen sein. Im sittlichen Zustand sind wir immer dann, wenn wir der aus unserem Innern kommenden Aufforderung gehorchen, als Persönlichkeit zu wachsen und zu reifen, die Mitmenschlichkeit zu entfalten und das als das Gute Erkannte zu tun. Sittlichkeit ist überall dort, wo echter Geistigkeit Raum gewährt wird: dem erkennenden Lieben und dem liebenden Erkennen, dies in Freiheit und Selbstverantwortung.

Die Widersprüche unseres Lebens ergeben sich nun daraus, dass wir Menschen die Welt, das Handeln der Menschen und insbesondere unser eigenes Handeln aus den drei grundsätzlich unterschiedlichen Existenzweisen heraus unterschiedlich betrachten und beurteilen und als diese dreifältigen Wesen aus einander teilweise widersprechenden Motiven heraus handeln. Als natürliche Wesen sind wir auf unsere eigenen Vorteile bedacht, als bloss gesellschaftliche Wesen verfolgen wir dieselben Absichten mit rechtlichen Mitteln; erst als sittliche Wesen überwinden wir in uns den Egoismus, um in Verantwortung für das Ganze zu handeln, um dem Mitmenschen in Offenheit, Verständnis, Rücksichtnahme und Liebe zu begegnen und uns der Wahrheit ohne Rücksicht auf unsere Wünsche hinzugeben.

Selbstverständlich trachtet Pestalozzi auch – theoretisch und existentiell – nach der Harmonie des Menschen mit sich selbst, und er kommt zum Schluss, dass sie der Mensch nur im sittlichen Zustand finden kann. Da wir aber weder unserer physischen Natur, noch den gesellschaftlichen Bindungen und Mechanismen entfliehen können, ist dem Menschen die Möglichkeit reiner Sittlichkeit und damit die Möglichkeit unangefochtener Harmonie nicht gegeben. Damit kommt Pestalozzi zum realistischen Schluss, dass der Mensch zwar auf der einen Seite sich in der Verwirklichung der eigenen Sittlichkeit so entschlossen wie möglich um die Wiederherstellung der verlorenen Harmonie mit sich selbst bemühen soll, dass er aber auf der andern Seite mit der Erkenntnis leben lernen muss, dass der Widerspruch grundsätzlich sein Schicksal ist.

Das Wandelbare und das Unveränderliche

Meine Damen und Herren, und nun wende ich mich zurück zu meiner eingangs gemachten Aussage, dass sich das menschliche Leben im Spannungsfeld zwischen Wandelbarem und Unveränderlichem entfaltet. Setzen wir diese Aussage mit Pestalozzis Lehre vom Menschen in Beziehung, so stellen wir – in Übereinstimmung mit ihm – zuerst einmal fest, dass alle Phänomene des Naturzustandes als unwandelbare Prämissen menschlichen Lebens akzeptiert werden müssen. Jeder Mensch, ganz gleich, wann und wo er geboren ist, unterliegt seinen Bedürfnissen und ist mit Trieben ausgerüstet, die zur Befriedigung drängen, jeder unterliegt dem natürlichen Drang, Lust zu suchen und Unlust zu vermeiden, jeder trachtet nach der Erhaltung seines Lebens und erlebt sich selbst als zentralen Bezugspunkt der Welt, um dessen Wohlergehen er sich sorgt.

Aber unveränderlich ist nicht nur der natürliche Ursprung des Menschen, unveränderlich ist auch das Wesen seiner erfüllten Existenz in der Sittlichkeit. Zwar mögen die Inhalte dessen, was als wahr erkannt wird, dem Wandel unterworfen sein und mögen die Formen eines von Liebe geprägten Lebens sich im geschichtlichen Wandel verändern: Aber das Wesen der Wahrheit, das Wesen der Liebe, das Wesen des Guten und des Schönen und die Unbedingtheit des Anspruchs, der sich aus diesen Ideen herleitet, ist unveränderlich. Pestalozzi bezeichnet daher die innere, höhere Natur, die sich in der Sittlichkeit des Menschen vollendet, oft auch als „ewige“ Natur.

Ganz anders verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Zustand, der sich zwischen dem Naturzustand und dem sittlichen Zustand entfaltet. Der gesellschaftliche Zustand ist jener Bereich, in welchem sich der Wandel vollzieht.

Ursache und Wesen des gesellschaftlichen Wandels

Angesichts der Tatsache, dass in jenen Seins-Bereichen, in welchen sich die Natur ohne Einwirkung des Menschen entfaltet, kein geschichtlicher Wandel zu erkennen ist – ich spreche nicht von der Evolution, die etwas wesentlich anderes ist als geschichtlicher, gesellschaftlicher Wandel –, drängt sich die Frage auf, weshalb im gesellschaftlichen Zustand überhaupt Wandel möglich ist. Dieser Wandel ist nun nur darum möglich, weil der Mensch eine Fähigkeit besitzt, die ihn über die Existenzmöglichkeiten des Tiers hinaushebt: Der Mensch kann nämlich in seinem Handeln nicht bloss Antwort geben auf im Augenblick erlebte Spannungen, Gefahren, Bedürfnisse oder Triebregungen und damit Handlungen setzen, welche die Zeit verweht wie ein Lied oder einen Tanz, sondern er ist – im Gegensatz zum Tier – ein schaffendes Wesen. Als schaffendes Wesen spaltet der Mensch Werke von sich ab, seien sie nun dinglicher Art wie Gefässe, Kleider, Häuser, oder gedanklicher Natur wie Gesetze, Institutionen, Ideensysteme. Und dadurch, dass der Mensch Werke von sich abspaltet, schafft er eine neue, eigenständige Welt, nämlich die Welt des Habens. Diese Welt des Habens verhält sich indessen nicht indifferent neben dem Menschen, sondern sie vereinnahmt ihn, sie legt ihn auf ihre Gesetzmässigkeiten fest und fordert ihn als Habenden heraus. Die geschaffenen Werke häufen sich an und treten dem Menschen mit einem Anspruch entgegen: Sie wollen in Besitz genommen, gepflegt, erhalten, gebraucht oder wieder zerstört und beseitigt werden.

Der Wandel unserer Lebensverhältnisse beruht aber nicht nur darauf, dass im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer mehr Werke aufgehäuft werden, sondern dass jede neue Menschengeneration mit dem Weiterbau zivilisatorischer Errungenschaften dort weiterfahren kann, wo andere aufgehört haben. Die Perfektionierbarkeit ist ein wesentliches Merkmal des Habbaren und macht das möglich, was man gängig als Fortschritt bezeichnet.

Damit ist zwar die Frage beantwortet, weshalb der Mensch den gesellschaftlichen Wandel in Szene setzen kann, nicht aber, weshalb er ihn will. Blicken wir, um diese Frage zu beantworten, auf die Fülle der gesellschaftlichen Errungenschaften, so sehen wir, dass fast alle geschaffen wurden, um den Menschen – physisch oder geistig – zu entlasten. Im Hinblick auf die neueren Entwicklungen auf dem Gebiete der Elektronik ist nun die Erkenntnis von Bedeutung, dass die Entlastung des Menschen, wenn sie weit genug vorangetrieben wird, schliesslich allmählich dazu führt, dass sich der Mensch selbst – als arbeitendes Wesen – überflüssig macht, ein Gedanke, der den Pädagogen in ganz besonderer Weise zu beunruhigen vermag.

Segen und Fluch des Fortschritts

Nun liegt in der Fähigkeit des Menschen, Werke von sich abspalten und dadurch die Welt des Habens schaffen und weiterentwickeln zu können, zugleich Segen und Fluch.

Sprechen wir zuerst vom Segen. Eine einigermassen realistische Einschätzung lässt uns ein Leben ohne die Annehmlichkeiten, welche uns Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zur Verfügung stellten, doch recht mühselig erscheinen: Wir wären zumeist beschäftigt mit Nahrungssuche und müssten uns nicht nur vor wilden Tieren oder menschlichen Feinden, sondern auch vor Kälte, Krankheit und allen möglichen Naturkatastrophen fürchten. Die Segnungen des modernen gesellschaftlichen Lebens haben uns nicht nur die körperliche Arbeit weitgehend abgenommen, sondern sie gestatten uns – nicht zuletzt dank der elektronischen Technik – eine Lebensqualität, die alle Vorstellungen von Menschen früherer Jahrhunderte weit übersteigt: Wir können uns schnell von einem Ort zum andern bewegen, wir können uns erfreuen an den kulturellen Schöpfungen vieler Jahrhunderte und Völker, wir können unsere täglichen Bedürfnisse nach Nahrung, Schutz, Wärme oder Kühle, Sauberkeit, Schlaf und Behaglichkeit mit Leichtigkeit befriedigen. Ein Heer von Spezialisten steht uns für jede Art von Leiden zur Verfügung, wir werden ohne allzu grosse eigene Anstrengung informiert über fast alles, was auf der Welt läuft oder nicht läuft, wir können mit Millionen von Menschen augenblicklich in mündlichen Kontakt treten, und wir können uns in all der Zeit, die wir gewonnen haben, auf bequemste und angenehmste Weise unterhalten lassen. Alle diese Annehmlichkeiten sind möglich geworden, weil sich Werke vom schaffenden Menschen abspalten lassen, dadurch vom einzelnen Individuum unabhängig werden und auf diese Weise anderen Menschen und künftigen Generationen zur Verfügung und zur Weiterentwicklung gehalten sind.

Diese süsse Speise ist freilich nicht ohne bitteren Nachgeschmack. Wie sehr uns die im gesellschafllichen Prozess entwickelten Annehmlichkeiten auch locken, erfreuen und zufriedenstellen mögen, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie uns immer mehr in Widerspruch mit der Natur – auch unserer eigenen – bringen und uns ihr damit entfremden. Das hat zur Folge, dass sich die Spannung zwischen dem, was wir natürlicherweise sind, und dem, was wir mit uns machen können, vergrössert. Jede Benutzung einer Annehmlichkeit schwächt uns, mögen wir nun einen Lift benutzen, eine Rechenmaschine für uns denken lassen oder Musik aus der Dose konsumieren. Und mit zunehmender Schwächung steigen unsere zivilisatorischen Ansprüche und damit auch unsere Abhängigkeiten. Der moderne Mensch ist kollektiv stark, aber individuell im höchsten Grade schwach, viel schwächer, als er es meistens wahrnimmt. Niemand von uns kann nur einen Nagel oder eine Schraube selber herstellen. Würde der kollektive Produktionsprozess – aus welchen Gründen auch immer – auf einen Schlag zusammenbrechen, wir wären als Einzelne die hilflosesten Wesen und sicher wesentlich hilfloser als Menschen in weniger technisierten Verhältnissen.

Vom Wesen der Elektronik

Nun hat uns in den letzten Jahrzehnten der überindividuelle Prozess der Perfektionierung des Habbaren die Segnungen der Elektronik beschert. Diese haben unsere Möglichkeiten ins fast Unvorstellbare gesteigert und das Gesicht unserer Welt sehr erheblich verändert. Eine kurze Besinnung auf das Wesen der elektronischen Errungenschaften mag daher hier am Platze sein:

Vorerst teilt natürlich die Elektronik wesentliche Charakteristika mit andern technischen Errungenschaften, und zwar insofern, als sie die materielle Bedingtheit des Menschen, seine Gebundenheit an die Schwerkraft, an Raum und Zeit, relativiert oder gar überwindet. Daraus resultiert eine als angenehm empfundene Entlastung des Menschen in seinem Denken, Entscheiden und Handeln, was schliesslich – wie bereits erwähnt – im Grenzfall dazu führen kann, dass sich der Mensch selbst als schaffendes Wesen – zumindest im Rahmen konkreter Situationen – überflüssig macht.

Ein sehr konsequentes Nachdenken mag vielleicht erweisen, dass die Elektronik – im Vergleiche zu früheren technischen Errungenschaften – nichts grundsätzlich Neues gebracht hat, aber sie hat zumindest eine Möglichkeit des kulturschaffenden Menschen derart ins Unermessliche gesteigert, dass diese als ein für die Elektronik typischer Wesenszug aufgefasst werden darf: nämlich die Möglichkeit, Leben zu simulieren. Mit andern Worten: Als denkendes und forschendes Wesen vermag der Mensch alle berechenbaren Prozesse aus der Fülle des Seienden erkennend herauszugreifen, und die elektronische Technik liefert ihm das Instrumentarium, um mit diesen Erkenntnissen eine künstliche Eigenwelt zu schaffen, die Leben vortäuscht. Was auf dem Televisionsschirm erscheint oder aus irgend einem Lautsprecher tönt, wird ohne weiteres für das Leben selbst gehalten, und den Computern werden immer mehr die Merkmale wirklich lebender Personen zugeschrieben. Dieser Wesenszug, dass die Elektronik Leben vortäuscht, findet wohl seinen konsequentesten Ausdruck in den sog. Computer-Spielen, welche Millionen von Kindern und Jugendlichen faszinieren. Da wird die Maschine meist mit dem vertraulichen „Du“ angesprochen und erhält Schelte wie ein Mensch, wenn sie versagt, und da werden auch die sich bewegenden, kämpfenden und Probleme lösenden Kreaturen auf dem Bildschirm wie lebende Wesen empfunden, aber nichts von alledem hat irgend etwas mit wirklichem Leben zu tun. Das Erscheinen eines Wesens auf dem Bildschirm ist keine Geburt, und ihr Verschwinden ist kein Tod. Das Grösserwerden ist kein Wachstum, und die Verzerrung ist keine Krankheit. Die Erschütterungen der Membrane des Lautsprechers sind keine menschliche Sprache, und die verblüffenden Problemlösungen sind kein Denken. Mögen irgendwelche theoretischen Modelle diesen künstlichen Gebilden noch so sehr Intelligenz zuschreiben: Es sind keine ichhaften, sich selbst spürenden, geistig, seelisch und organisch lebendige Wesen.

Das Zeitalter der Elektronik

Meine Damen und Herren, und nun also sind wir so weit, auch unser Zeitalter selbst nach diesem technischen Phänomen zu benennen. Mit dieser Bezeichnung ist eine Welt in den Blick genommen, in welcher die Möglichkeiten der elektronischen Technik einen bestimmenden Einfluss haben. Die Elektronik ist so etwas wie die Spitze eines Eisbergs, der insgesamt etwa so beschrieben werden könnte: Der Mensch hat sich hochgradig entfernt vom Natürlichen, Elementaren, Ursprünglichen. Die agrarische Lebensweise in ihren ursprünglichen Formen wirkt als ein Relikt aus einer guten alten Zeit, deren Untergang allgemein als eine Frage der Zeit empfunden wird. Jede einzelne Handlung des Menschen ist hochgradig vernetzt mit superkomplizierten Systemen ökonomischer, technischer, wissenschaftlicher, politischer, juristischer, monetärer, massenkommunikativer oder ideologischer Art, mit Systemen also, die der Einzelne in ihrer Komplexität meist weder erahnt noch gar durchschaut. Diese Systeme haben sich weitgehend der willentlichen Steuerung des Menschen entzogen und haben eine Eigendynamik entwickelt, die den Menschen in ihren Dienst nimmt und zum Sklaven zu machen droht. Darüber hinaus sind sie – zwar nicht alle, aber doch einige wichtige – gegen die physische Natur gerichtet und verschandeln und zerstören sie permanent. Diese Systeme sind aber auch in hohem Grade verletzlich und erzeugen im Menschen ein Grundgefühl der Bedrohung, der Ohnmacht, der Angst und des Ausgeliefertseins. Man müsste völlig unsensibel sein, wenn man diese Grundgestimmtheit – insbesondere bei der jungen Generation – nicht bemerken würde. Diese Systeme eröffnen uns andererseits eine Überfülle von Möglichkeiten, welche die Lebensqualität in fast unvorstellbarer Weise zu steigern geeignet sind, in deren Fülle sich aber der einzelne Mensch auch zu verlieren droht; sie verlangen einen Grad von Freiheit und Selbstbestimmung, dem viele Menschen kaum mehr gewachsen sind. Insgesamt überspannen diese Systeme zunehmend den ganzen Erdball und ebnen damit all das ein, was sich in überschaubaren Bereichen als Eigenart von Individuen oder überblickbaren Gemeinschaften an Eigenständigem herausgebildet hat oder herausbilden möchte. Daraus resultiert tendenziell eine weltweite Uniformierung des Denkens, Fühlens, Wertens und Verhaltens. Diese Systeme sind insgesamt auch expansiv – und die Möglichkeiten der Elektronik begünstigen in jeder Weise die Expansion –, so dass sich der moderne Mensch dauernd neuen Gigantismen gegenübersieht wie das tapfere Schneiderlein dem berühmten Riesen. Diese Gigantismen begünstigen ein Denk-Klima, in dem das quantitativ Grössere an sich schon als Wert empfunden wird. Das Kleine, Vereinzelte sucht sich im Gefüge dieser Gigantismen noch verbleibende Nischen, in denen es von leicht versonnenen und versponnenen Minderheiten gepflegt und in einem Anhauch von Nostalgie ausgekostet wird.

Meine Damen und Herren, Sie werden sagen: Der malt schwarz. Ich fühle mich indessen in der Lage, jede einzelne Feststellung durch eindrückliche und offen daliegende Phänomene zu belegen. Im übrigen habe ich die positiven Seiten des Fortschritts bereits zuvor gewürdigt. Wenn ich aber insgesamt nicht schwarz sehe, so darum, weil ich an eine sinnvolle Menschheitsentwicklung und insbesondere an die Chancen einer Menschenbildung glaube, die wirklich auf der Kenntnis des Wesens und der Bestimmung des Menschen beruht.

Konsequenzen für die Bildung

Insofern nun die Schule eine Institution ist, die – in Pestalozzis Ansatz – am gesellschaftlichen Zustand partizipiert, hat sie sich zwei Fragenkomplexen zu stellen:

  • Erstens hat sie zu fragen, wie die Bildung geartet sein muss in einer Welt, wie sie oben – zugegebenermassen überspitzt – charakterisiert wurde.
  • Und zweitens muss sie sich die Frage vorlegen, ob und in welchem Masse sie selbst die spezifischen Möglichkeiten der Elektronik in den Bildungsprozess einbeziehen soll.

Fragen wir zuerst einmal grundsätzlich bei Pestalozzi an, denn dies ist ja das Thema. Da ist vorerst festzuhalten, dass nach Pestalozzi die Schule eine Doppelaufgabe zu erfüllen hat: Aufbauend auf der Natur des Menschen und unter Einbezug der gesellschaftlichen Situation muss sie die Kinder einerseits zum gesellschaftlichen Leben befähigen und andererseits deren Anlagen und Kräfte auf eine solche Weise zur Entfaltung bringen, dass sie zu einer sittlichen Lebensgestaltung finden können. Dabei sind die historisch und geographisch bedingten unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielsetzungen grundsätzlich als Mittel zu benutzen, um die kindlichen Kräfte in Richtung Versittlichung zu entfalten. Alle gesellschaftlichen Einflüsse indessen, die gegen die Natur des Kindes gerichtet sind oder seine Versittlichung beeinträchtigen, fordern die Opposition des Pädagogen heraus.

a) Bildung im elektronischen Zeitalter

Widmen wir uns nun zuerst der Frage, wie das Bildungswesen in einer Welt, wie sie als ‚elektronisches Zeitalter‘ charakterisiert wurde, auszusehen habe:

  • Wenn es nun zutrifft, dass sich das menschliche Leben im Zeitalter der Elektronik immer mehr von der Natur entfernt,
  • wenn es weiter zutrifft, dass aber der Mensch ein Wesen ist, das unaufhebbar im Bereiche der organischen Natur verwurzelt ist,
  • wenn somit die Spannung zwischen dem, was der Mensch ursprünglich ist und dem, was er mit sich machen möchte und in vielerlei Hinsicht auch macht, zunehmend stärker wird,
  • wenn weiter auch anerkannt wird, dass diese Spannung nicht beliebig weit getrieben werden kann, ohne den Menschen zu schädigen und die Welt zu zerstören,
  • dann erwächst der Bildung konsequenterweise immer mehr der Auftrag, den heranwachsenden Menschen einerseits zu befähigen, den ihm zumutbaren Spannungen des heutigen Lebens standzuhalten, ihn aber andererseits so weit zu bringen, dass er in seinem Erwachsenendasein zur Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Lebens einen solchen Beitrag leistet, der tendenziell auf die Verringerung der Spannung zwischen natürlichen Wurzeln und künstlich geschaffener Welt hinwirkt.

      Eine solche Bildung ist nur möglich, wenn die Natur des Menschen ohne Wenn und Aber respektiert wird. Nach Pestalozzi ist Naturgemässheit das oberste Gebot der Erziehung und Bildung. Mag z.B. unsere heutige Welt noch so lärmig sein: Pestalozzis Feststellung, dass sich der Mensch letztlich nur in der Ruhe menschlich bildet, bleibt gültig. Mag unsere Welt noch so sehr das Tempo lieben: Die Natur des Menschen erfordert, dass das Kind in Musse lernen kann. Mag unsere Welt noch so sehr dem Gigantismus frönen: Das Kind muss sich zuerst mit dem Kleinen, Überschaubaren vertraut machen. Mag unsere Welt noch so unvorstellbar kompliziert sein: Der junge Mensch muss zuerst das Einfache, das Elementare verstehen lernen, um im Komplexen bestehen zu können. Mag unsere Welt noch so sehr entpersönlicht sein und ohne den einzelnen Menschen funktionieren: Das Kind braucht Menschen, die sich ihm in ihrer Ganzheit liebend und verstehend zuwenden und sich mit seinem Schicksal verbinden. Mag unsere Welt noch so sehr die Intelligenz und Cleverness vergöttern: Der heranwachsende Mensch verkrüppelt seelisch und geistig, wenn seine Gefühlswelt nicht gepflegt wird und zu ihrem vollen Rechte kommt. Mag unsere Welt noch so künstlich sein: Das Kind muss, wenn es gedeihen soll, sich dem Ursprünglichen und Natürlichen widmen können, es muss das Elementare der Welt erfahren: die Erde, den Sand, das Wasser, Wind und Wetter, das Feuer, Berg und Tal, Tag und Nacht, die Zeit im Rhythmus der Jahreszeiten, die lebendigen Pflanzen und Tiere, die Menschen als Mitmenschen und sich selbst als ein Wesen, in dem sich Kräfte regen und zur Entfaltung drängen; es muss sich bewegen, tanzen, mit starkem Atem singen und sprechen können, obwohl die heutige Welt ihm dies alles abnehmen und zum Konsumgut vorsetzen kann und will.

      Vergleichen wir nun diese Welt, die das Kind für seine gesunde Entwicklung braucht, mit jener, die wir uns geschaffen haben, so wird deutlich, dass sie nicht identisch sind. Nun hat Pestalozzi den Grundsatz, dass das Leben bildet, immer wieder und wieder ausgesprochen. Diese Erkenntnis ist tröstlich in einer Welt, in der das Leben noch eng verbunden ist mit der Natur, aber sie vermag zu bedrücken in einer Welt, die ein künstliches Leben geschaffen hat. Bereits Pestalozzi hat es miterlebt und deutlich genug beklagt, dass die Natürlichkeit des Lebens immer mehr verloren ging. Er sah diese Natürlichkeit noch am ehesten verwirklicht in der gesunden, guten Wohnstube. Aber auch er beklagte schon damals den ‚Wohnstubenraub‘, das ‚Wohnstubenverderben‘. Seine Forderung lautete daher: Rückkehr zu einem einfacheren Leben, Rückkehr zur guten Wohnstube. Im Glauben an die Möglichkeit einer solchen Rückkehr konnte er auch immer wieder seinem Traume nachhängen, die Schule dereinst abschaffen und die elementare Bildung ganz in die Hände der Eltern, insbesondere der Mütter zurückzugeben. Nun ist eine solche Rückkehr leicht gefordert, doch lehrt uns der Lauf der Geschichte, dass sich zumindest bis jetzt der Ruf nach Rückkehr zu früheren Formen zumeist als wirkungslos erwies.

      Was bleibt also, wenn uns der Glaube an eine solche Rückkehr sinkt oder gar fehlt und doch der Satz, dass das Leben bildet, seine Gültigkeit behält? Wohl nur noch dies: Dass eben die Schule selbst zu einem vollgültigen Lebensraum wird, der bewusst kein Abbild unserer technisierten, künstlichen, computergesteuerten Welt sein will, sondern im Einklang steht mit den Bedürfnissen der kindlichen Natur. Eine solche Schule wird zum Raum, aus dem – wie Hans Saner sagt – Gegenbilder kommen, in welchem Kräfte gedeihen, um die gesellschaftlichen Aufgaben nicht weiterhin in jenem Geist zu bewältigen, der durch die künstliche Welt selbst permanent erzeugt und forterzeugt wird, sondern in einem Geist, der neu aufbricht aus der Erfahrung eines Lebens, in dem der ganze Mensch in allen seinen Kräften und Anlagen ergriffen wird und in dem der Wert des Strebens nach Sittlichkeit – nach Glauben, Liebe und Vertrauen – dem Kinde unmittelbar als Erfüllung seiner Existenz erfahrbar wird.

      b) Die Stellung der Elektronik in der Schule

      Ist nun mit dieser Vision einer Schule als einem Lebensraum, in dem sich das Kind naturgemäss entfalten kann, die Elektronik grundsätzlich aus der Schule verbannt? Um diesen zweiten Problemkreis zu erhellen, muss man zwei Fragenkreise deutlich unterscheiden, nämlich:

      • Erstens: Soll die Schule die jungen Menschen auf den Umgang mit den Möglichkeiten der Elektronik vorbereiten, und wenn ja: wie? (Stichwort: Informatik)
      • Und zweitens: Soll sich die Schule selbst bei der Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags der Möglichkeiten der Elektronik bedienen? (Stichwort: Programmierter Unterricht, computergesteuertes Lernen)
      ba) Hinführung zur Elektronik als Aufgabe der Schule

      Was nun die erste Frage betrifft – nämlich die Vorbereitung der jungen Menschen auf den Umgang mit den Möglichkeiten der Elektronik –, ergibt sich aus dem Denken Pestalozzis folgende Antwort: In dem Masse, wie die Auseinandersetzung mit der Elektronik eine Emporbildung der kindlichen Kräfte und Anlagen zur Sittlichkeit ermöglicht, soll ihr auch der Platz in der Schule eingeräumt werden, aber in dem Masse, wie sie allenfalls die wirklich naturgemässe Kräfte-Entfaltung des Kindes erschwert oder behindert, sind ihr die Tore unserer Schulräume zu versperren.

      Nun bedeutet ’naturgemäss‘ bilden zuerst einmal ‚elementar‘ bilden. In bezug auf die Elektronik heisst dies: Das Kind muss die wesentlichen Prinzipien der komplexen Phänomene wirklich durchschauen, somit von sinnlich und verstandesmässig erfassbaren Grundphänomenen her verstehen lernen. Das Unanschauliche muss auf das Anschauliche, das Komplexe auf das Einfache gebaut werden. Oder negativ ausgedrückt: Das Kind soll es verlernen, über Dinge – allenfalls noch in gelehrten Tönen – daherzureden, von denen es nichts versteht und die es – wenn’s hoch kommt – „irgendwie“ erahnt. Dieser Abwehr-Kampf gegen das „Maulbrauchen“ (Pestalozzi) ist letztlich ein positiver Kampf für Wahrheit, denn wer bloss tut als ob und Verständnis und Erkenntnis vortäuscht, lügt. Die Kräfte, die sich bei pädagogisch richtigem Umgang mit den Phänomenen der Elektronik bilden, sind somit die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte auf relativ einfache, jedenfalls im Prinzip durchschaubare Grundlagen zurückzuführen, dann auch schlicht die Fähigkeit, richtig zu denken, was letztlich immer auch heisst, sein eigenes Denken mutig den Ansprüchen der Wahrheits-Idee zu unterziehen.

      Wie man daraus ersieht, hat auch die Denk-Erziehung einen sittlichen Wert, insofern diese eben immer auch Erziehung zur Wahrheit ist. Pestalozzi möchte aber dabei nicht stehen bleiben. Letztlich bleibt nach seiner Überzeugung jede Bildungsbemühung unfruchtbar, wenn sie den Menschen nicht zur Liebe führt. Pestalozzi: „Die Elementarbildung lehrt das Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken.“ Der Einbezug der Phänomene der Elektronik in die Schule wird folglich in dem Masse wirklich bildend, als es gelingt, im Rahmen dieser Stoffbewältigung im Kinde auch seine Liebeskräfte anzusprechen und zu entwickeln. Dies ist aber nur dadurch möglich, dass die Bildung als ein Prozess verstanden wird, der sich grundsätzlich im Rahmen einer zwischenmenschlichen Beziehung ereignet, die von Liebe, Vertrauen und Verständnis geprägt ist.

      bb) Elektronik im Dienste der Schule?

      Die zentrale Bedeutung der personalen Beziehung für die Entfaltung innerer Kräfte wirft indessen ein Licht auf unsere zweite Frage, nämlich: ob und in welchem Masse es sinnvoll ist, sich die Möglichkeiten der Elektronik in der Schule selbst nutzbar zu machen, d.h. die Elektronik nicht bloss als Unterrichtsgegenstand, sondern auch als Unterrichtsmittel zu benutzen. (Ich klammere in meinem Gedankengang bewusst all jene technischen Erleichterungen im Rahmen der Behindertenpädagogik aus, deren sinnvoller Einsatz bzw. deren pädagogische Auswirkungen und Berechtigung in jedem einzelnen Falle vom Fachmann zu beurteilen ist; ich spreche lediglich von den elektronischen Unterrichtshilfen, die zur Erleichterung oder Effizienzsteigerung der Lehrer- und Schülerarbeit im Rahmen des Bildungsprozess konzipiert wurden und noch werden.) Die technischen und weitgehend auch die finanziellen Möglichkeiten lassen es heute und in naher Zukunft ja durchaus zu, dass der einzelne Schüler jeden beliebigen Stoff an einer elektronisch gesteuerten Lernstation programmiert erarbeitet. Diese Lernstationen sind durchaus in der Lage, auf bestimmte richtige oder falsche Antworten des Lernenden spezifisch zu reagieren, und sie sprechen im mindesten unsere beiden wichtigsten Sinne – das Auge und das Ohr – an. Mit andern Worten: Sie erscheinen „kommunikationsfähig“ und täuschen auf diese Weise – wie alle Spitzenprodukte der Elektronik – Leben vor. Sollte Pestalozzi mit seiner These „Das Leben bildet“ recht haben, so liesse sich aufgrund einer zugegebenermassen etwas einfachen Analogie schliessen, dass das vorgetäuschte Leben eben zu einer vorgetäuschten Bildung – oder, wie Pestalozzi sagt: zu einer Scheinbildung – führt. Mag nämlich eine luxuriöse Lernstation noch so sehr Kommunikationsfähigkeit vortäuschen, so ist sie eben doch nicht beziehungsfähig. Alles Individuelle, alles, was das Herz des Menschen aus dem Erleben einer an sich nicht wiederholbaren mitmenschlichen Begegnung heraus ergreift, bleibt ausgesperrt. Man müsste darum wohl jede komplizierte elektronische Lernstation mit einem Schild versehen, worauf Pestalozzis Satz in grossen Lettern stünde: „Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich.“ Was eben die Maschine gewährleisten kann – und auch dies nur ein Stück weit – ist die äussere Anschauung; was sie aber unmöglich leistet, ist die innere Anschauung, jenes Gewahrwerden sinnhafter Zusammenhänge mit Hilfe eines inneren Erkenntnisorgans, das Pestalozzi als den ‚inneren Sinn‘ bezeichnet. Diese innere Anschauung kommt nach Pestalozzis Überzeugung nur in der mitmenschlichen Beziehung zustande, und zwar nicht etwa auf dem einfachen Weg des moralischen Appells oder gar mit Druck und Zwang. Das, was Herzenskräfte in Tätigkeit versetzt und dem inneren Sinn Stoff zur inneren Anschauung sittlicher oder ästhetischer Verhältnisse gibt, ist das seelisch-geistige Leben des Erziehers selbst. Herzenskräfte lassen sich demzufolge nur durch Resonanz erregen. In dem Masse, wie der Erzieher seelisch-geistiges Leben in sich selbst erweckt hat und es in ihm lebendig bleibt, vermag es die entsprechenden Herzens-Kräfte in den Schülern anzuregen und in Tätigkeit zu versetzen. Vorausgesetzt ist allerdings, dass Schüler und Lehrer in einer lebendigen mitmenschlichen Beziehung stehen.

      Die Vision, dass lernende Menschen den gesamten Schulstoff an leistungsfähigen elektronischen Lernstationen erwerben können, ist heute oder zumindest in sehr naher Zukunft technisch und finanziell realisierbar. Dadurch hat die Elektronik den Lehrer nicht nur weitgehend – zu weitgehend – entlastet, sondern sie hat ihn – als lehrenden und damit auch als erziehenden Menschen – praktisch überflüssig gemacht. Damit werden aber jene Prozesse vernachlässigt und geschwächt, die prinzipiell auf die personale Beziehung angewiesen sind: nämlich die innere Anschauung und die Entfaltung von Herzenskräften auf der Basis der Resonanz.

      Es gibt aber aus der Sicht Pestalozzis noch zwei weitere Gründe, weshalb der unreflektierte Einsatz der Möglichkeiten der Elektronik in der Schule problematisch ist: Erstens entfalten sich nach Pestalozzis Erkenntnis alle menschlichen Kräfte ausnahmslos durch deren Gebrauch, mithin durch Anstrengung, aber jene Errungenschaften der Elektronik, die auf Entlastung des Menschen ausgehen, ersparen dem Schüler weitgehend den Gebrauch seiner Kräfte. Der klassische Fall ist hier der elektronische Rechner, der die arithmetischen Fertigkeiten der Schüler weitgehend verkümmern lässt. Und zweitens soll ja die Schule ein Lebensraum sein, in dem das Kind die Welt in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit erfahren und das Elementare erleben kann. Elektronische Maschinen stehen diesem Anliegen indessen entgegen. Es ist eben gerade nicht das perfekt Aufbereitete, das bildet, sondern das eigene forschende Anschauen und Handeln.

      Das Nein des Pädagogen: Ein Ja zum Leben

      Diese Gedankengänge zeigen, dass die Zeit gekommen ist, wo man nicht mehr alles machen darf, was man machen kann. Wir müssen nein sagen lernen, gegen die Versuchung, die Elektronik nicht bloss als Unterrichtsgegenstand aufzunehmen – wogegen prinzipiell nichts einzuwenden ist –, sondern ihre Möglichkeiten bei der Vermittlung von Wissen und Können unbekümmert und voll auszuschöpfen. Die Schule hat im Zeitalter der Elektronik vielmehr die Aufgabe, der Natur des Kindes eine Gegenwelt zu erhalten, in welcher das Ursprüngliche, das Elementare erfahrbar wird und – im Interesse der inneren Harmonie des Menschen – auch jene Kräfte und Anlagen entfaltet werden, die unsere auf Entlastung ausgerichtete technische Welt nicht mehr beansprucht und daher verkümmern lässt. Erkennt und übernimmt die Schule diese Aufgabe, haben wir Grund zur Hoffnung, dass immer wieder Menschen heranwachsen, die sich im Kampf der Zivilisation gegen die Natur auf die Seite der Natur stellen. Das Zeitalter der Elektronik erfordert, dass die Schule als Stätte menschlicher Bildung in ihrem eigenen Bereiche bewusst nein sagt gegenüber einer technischen Entwicklung, die den Menschen konsequent zu entlasten suchte und es in diesem Bestreben so weit gebracht hat, ihn allmählich überflüssig zu machen. Dieses Nein ist ein Ja zur Erkenntnis, dass es im Bereiche der menschlichen Existenz nicht bloss Wandelbares und damit immer Neues gibt, dem unter allen Umständen zugejubelt werden muss, sondern dass das Leben aus einem unveränderlichen, ewigen Ursprung hervorgeht, den es immer neu zu suchen und zu erringen gilt. Dieses Nein ist somit auch ein Ja zum Leben, das den ganzen Menschen erfasst, d.h. nicht nur seine gesellschaftliche, sondern auch seine natürliche und seine sittliche Existenz; es ist ein Ja zu einem Leben, das trotz des unaufhebbaren Widerspruchs, dem der Mensch durch sein Wesen ausgesetzt ist, die Harmonie anstrebt und nach der ausgewogenen Entfaltung aller menschlichen Kräfte trachtet, nach der Harmonie von Denken, Fühlen, Werten, Wollen und Handeln, nach der Harmonie von Kopf, Herz und Hand.

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