Kritische Entscheidungssituationen (KES)
Genau genommen, muss sich der Mensch als handelndes Wesen in jedem Augenblick zwischen mindestens zwei, oft aber mehreren Möglichkeiten entscheiden. Was immer er auch tut: Er kann sich – als geistiges Wesen – im Rahmen der gegebenen Umstände frei fühlen, das eine oder andere zu wählen. Freilich sind wir uns zumeist der gegebenen Möglichkeiten nicht klar bewusst, und statt dass unser Ich bewusst wählt, entscheidet es mehr oder weniger automatisch. Unsere charakterliche Konstitution, unsere Lebensgeschichte mit allem Anerzogenen und allen Erfahrungen fliessen in diese automatischen Entscheidungen ein.
Solange wir bloss automatisch entscheiden, verharren wir in einem mehr oder weniger eingeschränkten Rahmen und machen kaum je die Erfahrung, bislang unerprobte Handlungsmöglichkeiten könnten zu erwünschteren Resultaten führen. Eine entscheidende Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires erfahren wir erst, wenn wir uns unserer Entscheidungsfreiheit in möglichst vielen Situation bewusst sind und auch die Bereitschaft entwickelt haben, uns auf Handlungsvarianten einzulassen, auf die wir von andern Menschen aufmerksam gemacht wurden.
Automatisch vollzogene Entscheidungen sind zwar zumeist unproblematisch und ohne besondere Nachteile, doch oft werden sie für unser eigenes Schicksal, aber auch für dasjenige unserer Mitmenschen bedeutsam. Situationen, in denen viel von unserer richtigen oder falschen Entscheidung abhängt, lassen sich als ‚kritisch‘ bezeichnen. In diesem Ausdruck steckt der Begriff ‚Krise‘: Der weitere Verlauf der Ereignisse kann auf diese oder jene Seite ausschlagen. In einer ‚kritischen Entscheidungssituation‘ tun wir also gut daran, uns des noch möglichen Handlungsspielraums bewusst zu werden und genau abzuwägen, welche Variante wohl am ehesten zum Erfolg führen wird.
Es ist nun das Ziel meines Textes, Entscheidungen von Menschen, die wir nicht kennen, kritisch zu analysieren, d.h. zu fragen, inwiefern und weshalb diese ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ getroffen wurden. Dabei stellt sich die Grundfrage, was unter ‚richtig‘ und was unter ‚falsch‘ zu verstehen ist. Selbstverständlich sind diese Begriffe relativ, d.h. abhängig vom Standpunkt der beurteilenden Person. Als ‚falsch‘ soll hier all das gelten, was (1.) den Absichten des Entscheidungsträgers widerspricht und somit als klarer Misserfolg erkannt wird, was (2.) die Probleme vergrössert statt abbaut und was (3.) gegen grundlegende ethische Werte verstösst. ‚Richtig‘ ist demzufolge, was (1.) als Erfolg erlebt wird, was (2.) das Problem – soweit es überblickbar ist – löst und was sich (3.) von einer ethischen Warte aus rechtfertigen lässt. Oft lässt es sich allerdings nicht vermeiden, ethisch diskutable Mittel einzusetzen, um einen ethisch erwünschten Zweck zu erreichen. Ich vertrete hier weder den allgemeinen Grundsatz, der Zweck heilige die Mittel, noch wende ich mich prinzipiell dagegen. Eine rigorose Ablehnung des Gedankens, in gewissen Situationen den ethisch gerechtfertigten Zweck mit ethisch diskutablen Mitteln erreichen zu wollen, macht sich zwar deklamatorisch gut, ist aber im praktischen Lebensvollzug nicht durchzuhalten. Ich meine vielmehr, dass viele Mittel erst von ihrer Zwecksetzung her zu werten sind.
Das erste der hier diskutierten Beispiele (‚Rolf und Fritz‘) stammt aus einer Sammlung, die zu Beginn der siebziger Jahre von einem Forscherteam der Universität Zürich unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Hans Gehrig (Direktor der Zürcher Lehrerbildungsanstalt) erstellt wurde. Es ging diesem Team darum, die wirklichen ‚Bildungsbedürfnisse von Volksschullehrern‘ abzuklären (BIVO-Projekt), weshalb die Zürcher Lehrerschaft eingeladen wurde, ihren eigenen Schulalltag zu reflektieren und anonym sog. ‚Kritische Entscheidungssituationen‘ zu schildern, die sie zu bewältigen hatten, und zwar unabhängig davon, ob deren Bewältigung als erfolgreich oder nicht erlebt wurde. Die weiteren Beispiele erhielt ich selbst in den frühen achtziger Jahren im Rahmen eines Kurses für Schreibmaschinenlehrer.
Die Anonymität der in den Beispielen handelnden Personen ermöglicht es, bei der Analyse der KES eine klare Sprache zu sprechen, ohne gewärtigen zu müssen, die Gefühle der Betroffenen zu verletzen. Es ist ja auch auf der Basis dieser einzigen Informationsquelle gar nicht möglich, diesen Personen wirklich gerecht zu werden. Es geht also in keinem Fall um Schuldzuweisung oder gar Verurteilung einer konkreten Lehrperson, sondern um das Sichtbarmachen psychologischer und pädagogischer Zusammenhänge zum Zwecke der Ausbildung. Dabei muss ich mir gestatten, auf der Grundlage der von den Betroffenen selbst verfassten Texte Vermutungen anzustellen und diese dann mehr oder weniger als Tatsachen zu diskutieren. Es geht mir folglich nie um die anonyme Person, sondern um den Lerneffekt beim Leser dieses Textes.
KES 1: Rolf und Fritz
Problemsituation:
Rolf und Fritz sind die schwächsten Schüler meiner Klasse. Sie haben beide schon eine Klasse repetiert, vermögen dem Unterricht aber nur schwer zu folgen. Die beiden wurden nun von ihren Kameraden verklagt, sie hätten während eines Orientierungslaufes (einfacher Sternlauf in Vierergruppen) im Wald Zigaretten geraucht. Ich spreche mit der Klasse über den Vorfall.
Massnahmen/Reaktion
Nicht die Tatsache des Rauchens wird in erster Linie verurteilt (weil fast alle schon einmal geraucht haben), sondern das unkameradschaftliche und unsportliche Verhalten der beiden Mitschüler. Die Klasse verfügt, dass die beiden Knaben während des nächsten Ausfluges in der Schule unter Aufsicht eines Kollegen schriftlich arbeiten sollen.
Am Abend telefoniert mir die Mutter von Fritz und erklärt, dass Rolf die Zigaretten gekauft habe und ihren Knaben keine Schuld treffe. Sie war von Mitschülern über den Vorfall unterrichtet worden. Ich erkläre ihr, dass das Verhalten beider Knaben gerügt werden müsse. Weil ich aber wusste, dass Rolf über ein zu grosses Taschengeld verfügt, telefonierte ich noch dessen Mutter und empfahl ihr eine vernünftige Kontrolle.
Auswirkungen/Folgen
Am andern Morgen klopft es heftig an der Schulzimmertüre. Rolfs Vater steht trotzig und erbost da und fragt in recht ungehobeltem Ton, was eigentlich los sei. Sein Sohn sei von Fritz gezwungen worden (unter Androhung von Prügel), Zigaretten zu kaufen. Ich erkläre, dass die Angelegenheit für mich erledigt sei. Nun schimpft der Vater über ungerechte Behandlung seines Sohnes. Ich empfehle ihm einen andern Zeitpunkt zu einer Aussprache, weil der Unterricht nicht gestört werden dürfe, und weise seine Vorwürfe und die Art seines Auftrittes zurück. Das schürt aber den Zorn von Rolfs Vater. Er wendet sich grusslos zum Gehen und ruft dabei, er werde mit mir „an einem andern Ort“ sprechen, wenn es mir hier nicht passe.
(Primarlehrer, 4. – 6. Klasse, ca. 35 Schüler, zwischen 6 und 11 Dienstjahren)
Kommentar:
Hier fällt zuerst einmal auf, dass die Problemlage am Schluss ungleich verwickelter ist als zu Beginn. Eine relative Lapalie (zwei Burschen rauchen im Wald eine Zigarette) wächst sich aus zu einer nur noch schwer zu meisternden Situation: Zwei Knaben werden vom Schulausflug ferngehalten, ihr Verhältnis zur Klasse ist erheblich gestört, die beiden Burschen sowie deren Eltern sind nun auch unter sich entzweit, das Einvernehmen zwischen dem Lehrer und den Eltern der beiden Knaben ist zerstört, und die Angelegenheit droht an die Schulbehörde weitergezogen zu werden. Dies alles ist ein deutliches Zeichen dafür, dass das Problem falsch angegangen wurde.
Aus den spärlichen Angaben können wir schliessen, dass der Lehrer in den sechziger Jahren ausgebildet wurde, in einer Zeit, als in Pädagogenkreisen die Schlagworte ‚Demokratie in der Schule‘ und ‚Schulklasse als demokratisches Übungsfeld‘ die Runde machten. Dementsprechend anvertraut der Lehrer unseres Beispiels die Lösung des Problems – mindestens vordergründig – einer ‚Volksversammlung‘ und zwar einer ganz speziellen: Die Schulklasse wird zum Gerichtshof. Daher der Ausdruck „Die Klasse verfügt …“.
Dagegen gibt es auf zwei Ebenen Einwände: einerseits gegen die Art der Durchführung (a) und andererseits – was viel wichtiger ist – gegen diese Methode an sich (b).
a) Das Modell, an dem sich unser Lehrer mehr oder weniger orientiert, ist das Verfahren, das im Rechtsstaat gegen Gesetzesbrecher angewendet wird, etwa in folgender Reihenfolge: Verstoss bzw. Vergehen > Anzeige > Untersuchung > Anklage > Gerichtsverhandlung inkl. Verteidigung > Urteilsfällung (Schuldspruch, allfällige Festsetzung des Strafmasses) > Appellationsmöglichkeiten > Strafvollzug > Möglichkeit der Begnadigung. Es ist kein Zufall, dass in unserem Beispiel all das weggelassen wird, was der Staat zu Gunsten des Angeklagten vorsieht: Eine Untersuchung, die diesen Namen verdient, die Verteidigung, die Appellationsmöglichkeit und die allfällige Begnadigung. Meines Erachtens drückt dies alles die unbewusste Haltung des Lehrers und der Klasse gegenüber den beiden Knaben aus: Im Grunde sind sie bereits bei der Verzeigung als schuldig erklärt, und es geht nur noch darum, ihnen mit einer empfindlichen Strafe den Meister zu zeigen. Daher fällt dem Lehrer auch nicht auf, dass in einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren keinesfalls die Anzeigenden und direkt Betroffenen selber Richter sein dürfen und dann sogar noch – wie dies hier geschieht – von der Bestrafung einen Nutzen ziehen können. Denn da die beiden Knaben sozial am Rande stehen (sie sind ja auch sitzen geblieben und darum erst später – gewissermassen als Fremdkörper – in die Klasse gekommen), ist es der Klasse lieber, wenn sie auf der Schulreise nicht dabei sind. Die verfügte Strafe spricht hier eine eindeutige Sprache.
Zu denken gibt auch das überrissene Strafmass: Die beiden dürfen das Schönste, die Schulreise, nicht mitmachen, statt dessen müssen sie genau das tun, was sie am wenigsten können („Rolf und Fritz sind die schwächsten Schüler meiner Klasse“) und wohl am unliebsten tun: schriftlich arbeiten. Zudem stehen sie nun auch noch vor einer andern Klasse als ‚Sünder‘ da und werden vor ihnen blossgestellt. Meines Erachtens sagt dieses Strafmass kaum etwas über den Grad der Verschuldung aus, sondern lediglich über den Grad der Ablehnung durch jene, die über sie urteilen.
Auf der Basis der vorliegenden Information vermute ich auch, dass ein den Beteiligten kaum bewusstes Bündnis zwischen dem Lehrer und der Klasse gegenüber den beiden Knaben besteht, was dazu führt, dass die Klasse einerseits die Erwartungen des Lehrers unbewusst erfüllt und dass sich andererseits der Lehrer hinter den ‚Entscheiden der Klasse‘ verstecken kann. Das ist eine sehr raffinierte Form der Machtausübung, die ihre Entsprechung im Ausmass der Empörung bei Rolfs Vater findet. Die Machtausübung des Lehrers wird noch gesteigert durch seine Art, das Problem auf kühle Distanz zu halten („Ich erkläre ihr, dass das Verhalten beider Knaben gerügt werden müsse“ – „… empfahl ihr eine vernünftige Kontrolle“ – „Rolfs Vater steht trotzig und erbost da und fragt in recht ungehobeltem Ton, was eigentlich los sei“ – „Ich erkläre, dass die Angelegenheit für mich erledigt sei“ – „Ich empfehle ihm einen andern Zeitpunkt zu einer Aussprache, weil der Unterricht nicht gestört werden dürfe, und weise seine Vorwürfe und die Art seines Auftrittes zurück“). Wenn jemand, wie Rolfs Vater, so aufgebracht ist, so ist dies ein Zeichen, dass er sich hilflos und ungerecht behandelt fühlt. Nirgends findet sich ein Anzeichen, dass der Lehrer für die Gefühle der andern Verständnis haben könnte, und nirgends taucht eine Ahnung oder gar Einsicht auf, er selbst könnte allenfalls falsch gehandelt, ja sogar das Problem in dieser Tragweite selbst verursacht haben.
b) Ich halte indessen die ganze Methode, die der Lehrer wählt, für grundsätzlich verfehlt und gestatte mir, darüber ein fiktives Gespräch zwischen folgenden Persönlichkeiten zu arrangieren: Heinrich Pestalozzi, Alfred Adler, Ruth Cohn, Thomas Gordon.
Pestalozzi: Meine lieben Freunde, gewiss kennt ihr meine ‚Nachforschungen‘, wo ich dargelegt habe, dass die ‚Demokratie‘ nicht etwa den Verzicht auf Macht bedeutet, sondern eine Form der Herrschaft ist. Sie hat daher ihren Platz ganz klar im gesellschaftlichen Zustand, weshalb ihre Mechanismen (wie z.B. ein Gerichtsverfahren) in all jenen Verhältnissen fehl am Platze sind, die vom sittlichen Zustand her gestaltet werden müssen. Das ist klar der Fall in einer Schulklasse, denn hier geht es in erster Linie um Erziehung, und von wahrer ‚Erziehung‘ kann nur da gesprochen werden, wo insgesamt der Versuch unternommen wird, Konflikte auf der sittlichen Ebene zu bewältigen. Oder sehen Sie das anders, Herr Adler?
Adler: Keineswegs. Ich habe zeitlebens darauf aufmerksam gemacht, dass Machtausübung auf andere Menschen dazu führt, dass in diesen das Minderwertigkeitsgefühl angestachelt wird, weshalb sie dann diese kompensieren und zwar so, dass sie ihrerseits zur Machtausübung schreiten. Auf diese Weise werden die Konflikte verschärft, was wir ja in unserem Beispiel deutlich sehen. Ich vermute, dass die beiden Knaben zur Zigarette griffen, um – wenigstens unter sich – gross und erwachsen zu scheinen, also um mit dem Streben nach Geltung und Überlegenheit ihre Minderwertigkeitsgefühle unbewusst zu kompensieren. Der Lehrer scheint für diesen Zusammenhang keinerlei Verständnis zu haben, denn was er anordnet oder zulässt, steigert die Minderwertigkeitsgefühle der beiden nur noch: Sie stehen vor der ganzen Klasse als Angeklagte und sind dadurch blossgestellt, und sie bekommen durch diese eigenartige Strafe sehr deutlich zu spüren, dass man sie eigentlich nicht will.
Gordon: Ich kann Ihnen beiden, Herr Pestalozzi und Herr Adler, nur beipflichten: Personale Konflikte lassen sich nicht mit Macht lösen, denn diese schafft immer Sieger und Verlierer.
Ruth Cohn: Das ist auch der Grund, weshalb ich im Rahmen meiner Methode der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nicht abstimmen lasse. Das Abstimmen und damit das Entscheiden durch eine Mehrheit gegen eine Minderheit ist wohl im Staat richtig, da etwas Besseres nicht möglich ist. In einer Schulklasse ist aber zumeist das Bessere möglich, und daher ist alles ‚Demokratische‘ ein Fremdkörper. Wenn Konflikte in einer Gemeinschaft auftauchen, muss man sich eben der Mühe unterziehen, so lange miteinander nach einer Lösung zu suchen, bis ihr alle Beteiligten zustimmen können. Zugegeben: Das ist oft schwierig, besonders am Anfang. Aber wenn alle Gruppenmitglieder regelmässig erleben, dass man ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche ernst nimmt, wächst ihre Bereitschaft, auf die andern zuzugehen und von egoistischen Positionen Abstand zu nehmen. Der Lehrer unseres Beispiels hat durchaus recht, dass er die Klasse in die Lösung des Problems einbezieht, aber er dürfte keinesfalls das Gespräch so steuern, dass es auf das Finden von Schuldigen herausläuft.
Gordon: Es wäre eben wichtig, dass jeder Schüler in sich hineinhören und dann mitteilen würde, wie er die Situation erlebt und was er dabei gefühlt hat. Schüler dieses Alters sind durchaus zur Formulierung echter Ich-Botschaften fähig, wenn sie dazu richtig angeleitet werden. Diese Fähigkeit würde insbesondere dadurch gestärkt, dass der Lehrer allen – insbesondere auch den beiden ‚Missetätern‘ – echt, d.h. ‚aktiv‘ zuhört. Dann könnten diese auch den Mut fassen, ihren Mitschülern zu sagen, was in ihnen vorging, als sie sich zum Rauchen entschlossen. Und erst auf dieser Basis ist dann auch möglich, das Ziel eines solchen Gesprächs zu erreichen: nämlich keinesfalls die Bezeichnung und Bestrafung von Schuldigen, sondern Verständnis für das Geschehene und Hilfestellung für die Zukunft.
Pestalozzi: Das ist eben der sittliche Geist: Man bemüht sich ehrlich um Wahrheit und verlässt den Pfad der Liebe auch dann nicht, wenn nicht alles wie gewünscht geht.
Adler: Genau. Es geht um die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls. Das ist nur möglich, wenn man die Macht aus dem Spiel lässt und einander schliesslich durch Hilfe beisteht.
Gordon: Darum habe ich ja auch die ’niederlagelose Konfliktlösungsmethode‘ – ja, ich will nicht gerade sagen ‚erfunden‘, ich habe sie vielmehr ‚entdeckt‘.
Pestalozzi: Da haben Sie gewiss recht, denn im Erzieherischen lässt sich gar nichts erfinden, sondern man muss alles, was man tut – die ganze ‚Kunst‘ – der menschlichen Natur ablesen. Unser Beispiel ist eigentlich der Beweis, dass die vom Lehrer praktizierte Art des Umgangs mit Problemen nicht der menschlichen Natur entspricht, denn rundum verursacht er damit Aufruhr und Ablehnung. Ich bin überzeugt: Mit Ihrer Methode, Herr Gordon, die ich leider zu meinen Lebzeiten nicht kannte, erreichen Sie zuletzt ein allgemeines Einvernehmen, und die Liebe kehrt wieder.
Ruth Cohn: Nicht nur das, sondern es wächst das Verständnis, und erst dann lässt sich das Problem wirklich lösen. Es dürfte ja wohl klar geworden sein, dass das Problem nicht einfach im Rauchen der beiden Knaben – oder der Unsportlichkeit, wie der Lehrer meint – besteht, sondern darin, dass die beiden sozial abgelehnt werden. Somit sind alle – Lehrer und Schüler – am gesamten Problem beteiligt und darum auch für ihren Beitrag zu dessen Lösung verantwortlich.
Adler: Darum ist ja auch diese Bestrafung so falsch: Sie verdunkelt den Blick auf die Tatsache, dass dieser Konflikt das Problem aller ist, und entmutigt die beiden völlig, indem das wirkliche Problem – ihre soziale Isolation – verstärkt wird. Man bedenke doch, wie die vielen gemeinsamen Erlebnisse, die durch den Schulausflug zustande kommen, künftig die Schüler miteinander verbindet und wie nun die beiden Verurteilten von dieser ganzen Gemeinsamkeit, welche die Gemeinschaft festigt, ausgeschlossen sind. Nötig ist darum das Gegenteil: Die beiden müssen dadurch, dass die Klasse das wahre Problem erkennt und ernst nimmt, ermutigt werden. Und Mut fassen können sie nur, wenn sie sich künftig besser als Teil der Gemeinschaft, eben angenommen fühlen können.
Gordon: Dann zeigt sich eben, dass jeder Konflikt einen tieferen Sinn hat. Konflikte machen wunde Punkte sichtbar, und wenn man sie richtig angeht, erwächst daraus für alle ein wirklicher Gewinn.
Adler: Ganz richtig, und der Gewinn besteht eben darin, dass in allen das Gemeinschaftsgefühl wächst. Wir Menschen werden nur gute Menschen in der Gemeinschaft.
Pestalozzi: … was eben zeigt, dass man keinesfalls ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ einander gleichsetzen darf. ‚Gemeinschaft‘ ist eine Frage des Wechselspiels zwischen Naturzustand und sittlichem Zustand, und da ist immer der einzelne Mensch in der Begegnung mit konkreten Mitmenschen ins Auge gefasst; aber die ‚Gesellschaft‘ erfasst den Menschen unter kollektivem Aspekt und interessiert sich nicht wirklich für den Einzelnen als Individualität.
Noch ein letzter Hinweis: Im Rahmen dieses Konflikts verfällt der Lehrer auf die Idee, Rolfs Mutter zu telefonieren und ihr eine vernünftige Kontrolle von Rolfs Taschengeld zu empfehlen. Das ist gewiss gut gemeint, aber mit Sicherheit wirkungslos. ‚Empfehlungen‘, die man mit so viel Druck vorträgt, werden abgelehnt, und dies erst recht, wenn es in einer solch konfliktträchtigen Situation geschieht. Es scheint mir überhaupt die Tragik dieses Lehrers zu sein, das Gute zu wollen, aber in so hohem Masse von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt zu sein, dass ihn selbst der offensichtlichste Misserfolg nicht auf den Gedanken bringen kann, er könnte möglicherweise etwas falsch anpacken.
KES 2: Mario
Problemsituation:
Mario ist ein fertiger Kindskopf und macht mir immer alle Stunden kaputt. Letzthin brachte er einen Gummifrosch mit, der über ein Schläuchlein mit einem Blasebalg verbunden war. Wenn er auf den Balg drückte, machte der Frosch einen Sprung. Mit dieser Kinderei lenkte er dauernd alle Mitschüler ab, so dass alle ständig kicherten oder blöd grinsten.
Massnahmen/Reaktion:
Als ich genug von der Grinserei hatte, sagte ich zur Klasse, sie sollten endlich aufhören, so blöd zu tun, und Mario forderte ich auf, den Gummifrosch augenblicklich verschwinden zu lassen.
Auswirkungen/Folgen:
Da wandte sich Mario an seinen Gummifrosch und sagte zu ihm: „Lieber Micky, du hörst, die Alte mag dich nicht leiden, komm spring doch schön unter den Tisch!“ Dann drückte er mehrmals am Balg und wollte den Frosch auf diese Weise umständlich unter den Tisch manövrieren. Ich liess ihm dazu aber nicht Zeit, sondern riss ihm das Tier aus der Hand. Der Schlauch zerriss, und Mario hielt nur noch den Balg in den Händen. Ich ging zurück zum Pult und schloss den Frosch ein. Zur Klasse, die grölte vor Lachen, sagte ich, sie seien Kindsköpfe und benähmen sich wie kleine Kinder.
Als ich mit der Lektion weiterfuhr, sah ich, dass Mario streikte. Ich sagte ihm, dass ich das nicht dulde, und wenn er nicht augenblicklich zu schreiben beginne, mache ich ihm eine ungenügende Note. Aber Mario sagte, er schreibe erst wieder, wenn ich ihm einen neuen Frosch bezahle. In diesem Augenblick läutete es, und die Klasse verliess lärmend den Raum.
Am andern Tag fand ich im Briefkasten eine Rechnung von Mario in der Höhe von Fr. 8.50, und im Brief stand, er werde alles dem BLICK melden, wenn ich den Frosch nicht zahle. Ich meldete dann alles dem Rektor und verlangte, dass Mario umgeteilt werde. Der Entscheid steht noch aus.
Kommentar:
Alle drei Kriterien, die eine Problemlösung als falsch erweisen, sind hier erfüllt: Erstens erkennt die Lehrerin ihre Massnahmen selbst als erfolglos (weshalb sie sich den Burschen vom Halse schaffen will), zweitens wird die Problemsituation deutlich verschlechtert (zuerst ein Spielchen mit einem Gummifrosch und schliesslich die drohende Veröffentlichung der Angelegenheit im BLICK und die beantragte Versetzung des Schülers), und schliesslich ist die ganze Situation gekennzeichnet durch ethisch verwerfliche gegenseitige Verletzungen und Beschimpfungen. Durch eine psychologisch korrekte Problemlösung wäre dies alles vermeidbar.
Das wichtigste Kennzeichen eines verfehlten Problemlösungsversuchs ist der – zumeist immer härter geführte – Machtkampf. Er wird dadurch genährt, dass die Konfliktpartner einander – bewusst oder unbewusst – wechselseitig die latenten Minderwertigkeitsgefühle anstacheln. Dadurch wächst bei allen beteiligten die Bereitschaft bzw. der Zwang zur Kompensation, wodurch sich der Machtkampf ausweitet.
Diese Tendenz ist seitens der Lehrerin aus ihrer eigenen Sprache ablesbar: „fertiger Kindskopf“ – „Kinderei“ – „blöd grinsten“ – „Grinserei“ – „blöd tun“ – „sie seien Kindsköpfe und benähmen sich wie kleine Kinder“. Mario bleibt ihr natürlich nichts schuldig und versetzt ihr mit seinem Satz „Lieber Micky, du hörst, die Alte mag dich nicht leiden, komm spring doch schön unter den Tisch!“ einen gewaltigen Schlag unter die Gürtellinie. Er beschimpft die Lehrerin, ohne sie anzusprechen oder sie nur eines Blicks zu würdigen, bleibt locker und cool und zieht mit einem einzigen Satz die Sympathien der Klasse auf seine Seite. In einem solchen Kampf bleibt in der Regel der Schüler der Sieger, denn erstens fühlt er sich in keiner Weise verpflichtet, etwas zur Aufrechterhaltung des Unterrichtsbetriebs beizusteuern, und zweitens plagen ihn zumeist auch keinerlei moralische Bedenken. Er kann also sein Kampfinstrumentarium voll einsetzen, was hier auch geschieht.
In dieser Situation greift die Lehrerin zu weiteren Kampfmitteln:
- Befehl, augenblicklich zu gehorchen: Damit muss sich Mario wie ein kleines Kind fühlen
- Einsatz physischer Mittel (Entreissen des Gummifroschs): Dadurch kommt sich Mario wiederum sehr klein vor; er „muss“ folglich mit gröberem Geschütz auffahren
- Einschliessen des – mittlerweile defekten – Froschs: Das stellt Mario scheinbar endgültig schachmatt, weshalb er von den aktiven auf die passiven Kampfmittel umschalten „muss“: Er streikt.
Dies alles geschieht im Rahmen einer Schulklasse. Mario ist schlau genug, die Klasse auf seine Seite zu ziehen (dass alle lachen, ist für ihn ein grosser Erfolg), und leider tappt die Lehrerin auch in diese Falle: Sie legt sich mit den übrigen Schülern an, indem sie sie beschimpft („Kindsköpfe“, „kleine Kinder“) und sie natürlich durch diese Verletzungen, die wiederum deren Minderwertigkeitsgefühl anstacheln, gegen sich aufbringt.
Das Streiken des Schülers ist ein sehr perfides Kampfmittel: Er ist durch blosses Nichtstun der Stärkere. Das liegt daran, dass eben die Lehrerin von ihm etwas verlangen muss (das Maschinenschreiben zu lernen), er aber diese Absicht durch simple Passivität durchkreuzen kann. Das macht die Lehrerin vollends hilflos, weshalb sich nun der Kampf, der bislang auf der personalen Ebene ausgetragen wurde, auf die institutionelle verlagert wird. Mit Pestalozzis Worten: da die ‚natürlichen‘ Mittel nicht zum Ziel führen, greift man zu den ‚gesellschaftlichen‘ – die Lehrerin droht mit den Noten. Für einen Lehrling im ersten Lehrjahr kann dies einigermassen existenzbedrohend sein. Er müsste sich also fügen, aber so ohne weiteres will er dies nicht, da es für ihn im Angesicht der Klasse eine eklatante Niederlage wäre. Darum stellt er der Lehrerin eine Bedingung, von der er genau spürt, dass sie in dieser Situation für seine Gegnerin nicht akzeptabel ist: Sie soll den Frosch bezahlen. (Nebenbei bemerkt: An dieser Stelle hätte die Lehrerin, sofern sie die Angelegenheit allmählich zu überblicken in der Lage gewesen wäre, die Möglichkeit gehabt, aus dem Machtkampf auszusteigen, indem sie – für Mario überraschend – das Portemonnaie gezückt und ihm den Betrag erstattet hätte.)
Konsequenterweise greift nun auch Mario zu ‚gesellschaftlichen‘ Mitteln: Er droht mit dem BLICK. In der Phantasie sieht er gewiss schon den berühmten gelben Zettel am Kiosk-Aushang:
Wütende
Lehrerin
entreisst
hilflosem
Schüler
Gummifrosch
Nun kapituliert die Lehrerin und sieht bloss noch die Möglichkeit, Mario aus der Klasse zu entfernen. Das heisst: Sie übergibt den Fall der übergeordneten Instanz (dem Rektor), der sich nun mit dem Querulanten herumschlagen mag.
Lehrer, die bloss über dieses hier verwendete Konfliktlösungsinstrumentarium (Machtausübung) verfügen, sind geplagte Leute. Sie laden sich ohne Not eine Menge Probleme auf und belasten damit ihr eigenes Gemüt. Abhilfe schafft das Studium der Psychologie Adlers und der Methode Gordons, wobei natürlich die Fähigkeit entwickelt sein muss, aus den gewonnenen Einsichten heraus zu handeln.
Adler hilft uns, für Marios Verhalten Verständnis aufzubringen. Mir scheint er der typische Vertreter jener Gruppe zu sein, die mit Schabernack die Aufmerksamkeit – und nach Möglichkeit die Lacher – auf ihre Seite ziehen wollen. Bekanntlich vertritt Adler die Ansicht, dass jede Verhaltensweise einen Zweck verfolge, und Mario verfolgt doch recht eindeutig mit seiner Narretei den Zweck, im Zentrum zu stehen. Es wird hier eine ziemlich häufige Leitlinie sichtbar: „Ich muss den Clown spielen.“
Darauf gibt es zwei mögliche Reaktionen, je nach Gemütslage des Lehrers. Je mehr er die Sache durchschaut und je mehr er die relative Harmlosigkeit des störenden Verhaltens erkennt und darum den Schüler innerlich akzeptiert, desto eher ist er in der Lage, über der Sache zu stehen und mit etwas Humor ‚mitzuspielen‘. Er würde dann vielleicht augenzwinkernd zu Mario blicken, ihn kameradschaftlich auffordern, den Frosch unter den Tisch springen zu lassen, und ihm gestatten, wenn er eine halbe Seite fehlerfrei geschrieben habe, dürfe er mit ihm wieder ein paar Sprünge machen. Zugegeben, das kostet ein wenig Zeit, vielleicht eine Minute, aber die verfehlte Lösung, wie sie oben dargestellt ist, hat der Lehrerin nicht nur diese Stunde, sondern bereits frühere „kaputt“ gemacht. Durch die humorvolle Reaktion des Lehrers kommt der Schüler zuerst einmal zum Erfolg und entwickelt zum Lehrer eine positive emotionale Beziehung. Ist diese einmal zustande gekommen, kann man dann den Schüler bitten, nach der Stunde rasch dazubleiben (niemals in einem Konflikt, sondern in einer guten Situation), und ihm dann in aller Ruhe sagen, dass man eigentlich lieber hätte, er würde auf das Stören verzichten usf. Das ist dann eben eine Frage des Tons, auch der Ausstrahlung des Lehrers (ein Schüler merkt ohne weiteres, ob wir ihn mögen) und des pädagogischen Geschicks.
In unserem Falle ist ein solches kluges Verhalten der Lehrerin unterblieben. Mit andern Worten: Der Humor ist ihr längst vergangen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie mit ihren Reaktionen viel zu lange zugewartet hat. Sie dürfte es niemals so weit kommen lassen, dass sie dann einmal mit Grund sagen kann „… macht mir immer alle Stunden kaputt.“ Sie hätte bereits beim ersten Mal reagieren sollen. Kein Lehrer muss es sich gefallen lassen, dass ihm ein bald erwachsener Schüler die Stunde kaputt macht. Sobald dies passiert und man nicht die Gnade zum echten Humor hat, gibt es nur eines: eine klare Ich-Botschaft. Im Ton soll sie ein echter Ausdruck der momentanen Gefühlslage sein, aber niemals soll etwas Verletzendes gesagt werden, und jede Form von Du-Botschaft ist konsequent zu vermeiden. Wichtig ist, dass man dann dem Schüler, wenn er reagiert und – was dann oft geschieht – sich auch mit einer Ich-Botschaft ausdrückt, zuhört und seine Aussagen ernst nimmt. Zusätzlich zu dieser Intervention kann, sofern angezeigt, auch noch ein Gespräch unter vier Augen folgen, wobei auch hier Gordons Grundsätze zu beachten sind.
Schliesslich ist zu fragen, weshalb wohl die Lehrerin nicht mit Humor reagieren konnte und sich derart in einen unseligen Machtkampf verstrickte. Der Grund dürfte einfach sein: Angst, und zwar Angst vor den Schülern. Unsere existentielle Situation als Lehrer ist nicht ganz einfach: Einerseits sind wir nicht mächtig genug, um die Schüler in jedem Falle in den Schranken zu halten und sie zum Lernen zu veranlassen, und andererseits droht der Verlust unseres Arbeitsplatzes und damit unserer Existenzgrundlage, sobald uns die Schüler die Gefolgschaft bzw. den Gehorsam verweigern. Darum reagieren Lehrer ganz allgemein auf nichts so empfindlich wie auf den drohenden Verlust der Autorität. Ist diese einmal endgültig verloren, sind wir erledigt, und davor hat jeder Lehrer mehr oder weniger bewusst Angst. Die Tragik ‚unserer‘ Lehrerin besteht darin, dass sie dies spürt, aber ausgerechnet jene Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität wählt, die geeignet sind, diese zu untergraben. Das schallende Gelächter der ganzen Klasse spricht da eine deutliche Sprache.
KES 3: Andy
Problemsituation:
Andy ist ein sehr schlechter Schüler und macht im Maschinenschreiben fast keine Fortschritte. Er hat Finger wie Cervelats und drückt immer wieder zwei Tasten gleichzeitig hinunter. Von Anfang an konnte er den Takt nicht mithalten und rief immer in die Klasse hinein: „Nicht so schnell!“ Ich sagte ihm, ich könne auf ihn nicht Rücksicht nehmen, da ich noch 15 andere Schüler hätte. Auch guckt er ständig auf die Tastatur und behauptet, er könne nicht schreiben, wenn er nicht sehe, was er mache.
In der vorletzten Stunde schrieb er wieder alles Mögliche, nur nicht das, was in der Übung verlangt wurde.
Massnahmen/Reaktion:
Ich wurde ärgerlich und sagte ihm, er tappe auf der Tastatur herum wie ein Bär, und Bären bekämen bei mir schlechte Noten.
Auswirkungen/Folgen:
Da riss Andy das Blatt aus der Maschine, zerriss und zerknüllte es, warf es mir wutentbrannt ins Gesicht, verliess den Platz und schlug die Türe zu.
Als er heute morgen wieder kam, sagte ich ihm, ich wolle ihn nicht mehr sehen, bevor er sich entschuldige. Dann nahm er seine Mappe und verliess ohne Gruss den Raum. Ich frage mich, ob ich mir dieses ungehörige Verhalten bieten lassen muss.
Kommentar:
Erstaunlich ist eigentlich, dass der Lehrer, während er diese Situation beschrieb, nicht merkte, dass er selber grundlegende Fehler machte. Andy kann ja nun wirklich nichts dafür, dass er „Finger wie Cervelats“ hat, und wenn dies zutrifft, ist es sehr verständlich, dass er jeweils zwei Tasten gleichzeitig trifft. Auch sollte man ihm zuerst seine „Behauptung“ glauben, er könne nicht schreiben, ohne auf die Tastatur zu blicken. Aufgabe des Lehrers ist es in einem solchen Fall, sich etwas einfallen lassen, wie der behinderte Schüler diese Schwierigkeit meistern könnte. Immerhin will er das Maschinenschreiben ja lernen, sonst würde er ja nicht rufen „nicht so schnell“. Der Hinweis des Lehrers, er könne nicht auf ihn warten, da er noch 15 andere Schüler habe, ist zwar aus seiner Sicht verständlich, da er bemüht ist, sein Programm planmässig durchzuziehen, aber aus der Sicht des Schülers ist es ungerecht und kontraproduktiv. Gerade Schüler mit besonderen Schwierigkeiten brauchen Verständnis und Hilfe. Diese könnte z.B. darin bestehen, dass man ihm zuerst einmal erlauben würde, halb so schnell – auf jeden zweiten Taktschlag – zu tippen. Da hätte er zumindest einen Erfolg, der bekanntlich motivierend ist, und darauf liesse sich aufbauen. Statt dessen verletzt ihn der Lehrer mit der Verulkung seines Verhaltens und gibt ihn der Lächerlichkeit preis. Auch die Drohung mit den schlechten Noten ist alles andere als hilfreich. In dieser Situation ist es sehr verständlich, dass Andy in Zorn ausbricht. Zornausbrüche sind stets das Zeichen grösstmöglicher Macht- und Hilflosigkeit. Mit seinen Bemerkungen hat der Lehrer Andys Minderwertigkeitsgefühle aufs äusserste angestachelt, und der Wutausbruch ist die darauf folgende Kompensation. Spätestens an dieser Stelle müsste eigentlich der Lehrer inne werden, dass er sich falsch verhalten hat. Unter diesen Umständen dürfte es allerdings nicht gerade leicht sein, ihn zur Einsicht zu bringen, dass es an ihm ist, sich zu entschuldigen. Das erwartet insgeheim auch der Schüler, und da er sich getäuscht sieht, bleibt ihm, um seine Würde zu wahren, offensichtlich kein anderer Weg mehr, als wegzulaufen.
Überhaupt: Was soll eigentlich die verlangte Entschuldigung für einen Sinn haben? Das ist doch nichts anderes als die Gebärde der unbedingten Unterwerfung. Eine Entschuldigung ist nur sinnvoll als freiwillige Tat eines einsichtigen Menschen, andernfalls geht es lediglich darum, den Schwächeren zu demütigen und die eigene Macht zu demonstrieren. In einer solchen Atmosphäre der Unterdrückung ist Bildung nicht möglich.
Kes 4: Karin
Problemsituation:
Karin konnte beim Eintritt schon ziemlich schnell maschinenschreiben, aber sie machte vieles nicht korrekt, weil sie es selbst gelernt hatte. Schon von der ersten Stunde an machte sie mir Schwierigkeiten. Wenn ich von ihr verlangte, dass sie umlernen müsse, wandte sie stets ein, so, wie sie es mache, ginge das auch und sie könnte so viel schneller schreiben. Wenn ich dann darauf beharrte, dass sie wie alle andern die einfachen Übungen der Reihe nach machen müsse, tippte sie betont kindisch auf die Tasten oder gähnte laut und vernehmlich, um mir zu zeigen, dass sie sich langweile.
Massnahmen/Reaktion:
Letzte Woche nervte sie mich wieder besonders, und da explodierte ich und sagte ihr, dass mich ihr Verhalten fürchterlich aufrege, dass ich mir als Lehrerin „saublöd“ vorkomme, ich täte schliesslich nur meine Pflicht, und manchmal sei es mir nur noch ums Heulen.
Auswirkungen/Folgen:
Die Klasse wurde mäuschenstill, und als ich nach einer Weile mit der Lektion weiterfuhr, schrieb Karin wie alle andern. Heute morgen stellte sie mir ein paar Blumen auf den Tisch. Ich weiss nicht recht, wie ich jetzt reagieren soll.
Kommentar:
Zuerst gilt es, Karins Verhalten zu verstehen. Sie befindet sich in der Lage all jener Menschen, die irgend etwas – zumeist selber – gelernt haben und dann erleben müssen, dass die Grundlagen nicht korrekt gelegt wurden und darum ein neuer Aufbau von Grund auf notwendig ist. Das ist insofern entmutigend, als man in dieser Situation einerseits bereits Gelerntes wieder vermeiden muss und man sich andererseits vorerst wieder auf einer deutlich tieferen Leistungsstufe bewegt. Im allgemeinen sind zu dieser Prozedur nur solche Menschen bereit, welche die Zusammenhänge einzusehen vermögen und insbesondere erkennen, dass ein wirkliches Können nur durch dieses professionelle Erlernen der Grundlagen zu erreichen ist. Karin sieht dies offensichtlich nicht ein, oder dann lässt sie sich stärker durch ihr Frustrationsgefühl als durch ihre Einsicht leiten. Hinzu kommt, dass sie sich durch ihr bereits vorhandenes Können unbewusst eine bessere soziale Stellung verspricht, welche sie eben nun aufgeben müsste, wenn sie sich den Anweisungen der Lehrerin fügen würde. In solchen Situationen sind viele Menschen nicht bereit oder in der Lage, das Problem bei sich selber zu suchen, sondern sie ‚delegieren‘ es andern, in der Regel jenen, nach denen sie sich zu richten haben. Aus diesem Grund verweigert Karin das Verlangte nicht einfach still und ohne Aufhebens, sondern sie macht demonstrativ kindische Bewegungen in der – wohl unbewussten – Absicht, dass sich die Lehrerin, weil sie von ihr als ‚Fortgeschrittener‘ etwas so Simples verlangt, dumm vorkommen muss. Dies ist ein Kampfmittel, das darauf abzielt, im Gegner die Minderwertigkeitsgefühle zu aktivieren.
Die Lehrerin reagiert darauf zuerst wie die meisten: Sie will sich, ohne auf Karins psychisches Problem einzugehen, kraft ihrer Autorität durchsetzen. Aber die Spannung bleibt, und es ist anzunehmen, dass die Lehrerin latent Angst vor Karin hat. In einer solchen Situation pflegt das Unlustgefühl allmählich zu steigen, bis es zu einer Entladung kommt.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, reagiert nun die Lehrerin bei dieser emotionalen Entladung psychologisch korrekt: Sie beschimpft die Schülerin nicht, vermeidet jede Form von Du-Botschaft und drückt sich in einer perfekten Ich-Botschaft aus. Dabei steht sie echt zu ihren Gefühlen. Es ist darum völlig logisch, dass sich jetzt die Situation zum Guten wendet. Darum ist es eigentlich auch klar, wie die Lehrerin jetzt reagieren sollte – nämlich wieder mit einer Ich-Botschaft (an Karin persönlich gerichtet): „Karin, es freut mich, dass Du meine Lage verstanden und mich ernst genommen hast, und ich danke Dir herzlich für die schönen Blumen.“
Kes 5: Daniel
Problemsituation:
Daniel brachte es früher im Maschinenschreiben nicht auf genügende Leistungen. Wenn ich ihn zu mehr Fleiss ermahnte, wandte er stets grosssprecherisch ein: „Ich bin halt nicht motiviert.“ Einmal liess ich mich zur Bemerkung hinreissen: „Dich zu motivieren ist wohl eine besondere Kunst.“ Als er das hörte, lachte er verschmitzt, als wäre das ein Kompliment.
Vor einiger Zeit besserten sich seine Leistungen fast schlagartig. Das freute mich richtig, und ich sagte es ihm auch mehrmals. Einmal bemerkte er, er habe ein Geheimrezept, und als ich es wissen wollte, antwortete er, das könne er nur unter vier Augen sagen. Nach der Stunde bat ich ihn dazubleiben, und er verriet mir dann, dass er sich „zwei Errungenschaften zugelegt“ habe, nämlich eine Freundin und einen Computer. Da die Freundin ziemlich weit weg wohne, schreibe er ihr viel, und er habe gemerkt, dass er beim Schreiben grosse Fortschritte mache, wenn er nicht auf eine Vorlage gucken müsse, sondern auf dem Bildschirm verfolgen könne, wie die Buchstaben erscheinen. „Es stellt mich richtig auf, wenn ich sehe, dass das erscheint, was ich gedrückt habe,“ sagte er, „und wenn ich daneben getippt habe, merke ich es sofort und kann korrigieren, ohne dass mich jemand ‚zusammenscheisst‘.“ Ich sagte ihm dann, es sei das Ziel, blind schreiben zu können, aber er entgegnete nur, das sei ihm gleich, wichtig sei ihm, dass er es gerne mache und er voran komme.
Letzte Woche kam eine Gruppe von Schülern bei mir vorbei, und sie verlangten von mir, ich solle mich dafür einsetzen, dass sie das Maschinenschreiben am Bildschirm lernen könnten.
Massnahmen/Reaktion:
Ich sagte ihnen, das sei unmöglich, denn das Lehrbuch sei anders aufgebaut und die Schule hätte auch keinen Kredit, um plötzlich eine neue Einrichtung anzuschaffen.
Auswirkungen/Folgen:
Seither „machen ein paar Schüler den Kopf“ an mich, und einer bemerkte sogar ziemlich frech, ich sei halt altmodisch und konservativ.
Kommentar:
Zuerst fällt auf, dass Daniel in einer emotional positiven Beziehung zum Lehrer steht. Das zeigt der anfangs zitierte Dialog, insbesondere aber Daniels Wunsch, unter vier Augen mit dem Lehrer zu sprechen, und dann sein Eingeständnis, eine Freundin zu haben. Auf dieser Basis lassen sich eigentlich alle Probleme lösen. Es ist darum auch kein Zufall, dass der Lehrer mit seiner Bemerkung Daniels (vermutliche) Leitlinie tangiert, nämlich: „Ich muss eine spezielle Behandlung erfahren, um angenommen zu sein und mich nicht minderwertig zu fühlen.“ Logischerweise reagiert er dann auch mit dem Erkennungslächeln (einer von Rudolf Dreikurs in ‚Psychologie im Klassenzimmer‘ beschriebenen Reaktion auf das Erlebnis der Enthüllung), ohne dass er sich dessen bewusst wäre oder es der Lehrer deuten könnte.
Dann zeigt das Beispiel, wie es für das Lernen keine bessere Motivation gibt als das durch das wirkliche Leben erzeugte Bedürfnis. Es könnte sogar sein, dass der Bursche (wie heute die meisten) eine nicht sonderlich schöne Handschrift hat und darum der Freundin lieber per PC schreibt.
Darüber hinaus hat Daniel die optimale Lernmethode entdeckt, bei der er für jeden Lernschritt (jeden einzelnen getippten Buchstaben) ein Feedback (Rückmeldung) erhält. Jeder richtig getippte Buchstabe wird als Erfolg erlebt (Lernen durch ‚Versuch und Irrtum‘), was die Wahrscheinlichkeit für künftig richtige Reaktionen erhöht, und die Misserfolge haben keine sozialen Konsequenzen (er wird nicht gerüffelt und steht in der Klasse nicht als Versager da). Wir haben hier eine Bestätigung von Skinners Feststellung, dass positive Verstärker wirksamer sind als negative. Zudem kommt Daniel bei dieser Methode kaum in Versuchung, auf die Tastatur statt auf den Bildschirm zu schauen. Er kann auch sein eigenes Lerntempo wählen und hat durch das motivierte Üben einen optimalen Lernerfolg. Darum lernt man heute ja auch in der Regel das Maschinenschreiben direkt auf dem PC mittels eines Programms, das alle Elemente enthält, die Daniel spontan entdeckt hat. Der Lehrer reagiert eigentlich ungeschickt, wenn er Daniels Begeisterung mit der Bemerkung trübt, es sei das Ziel, blind zu schreiben. Dies stimmt nämlich nicht, denn es geht vielmehr darum, schreiben zu können, ohne auf die Tastatur zu blicken, so dass die Augen frei sind entweder für die Vorlage oder den Bildschirm.
Bezeichnenderweise hat Daniels Lernmethode in der Klasse eine ansteckende Wirkung: Die Schüler verlangten (es dürfte um 1984 herum gewesen sein) das, was heute (1997) fast selbstverständlich ist – nämlich das Lernen am Bildschirm. Der Lehrer reagiert eindeutig falsch: Er geht nicht auf die Gefühle, Gedanken und Wünsche der Schüler ein. Es geht nicht darum, dass er ihre Wünsche erfüllt – das kann er ja nicht –, sondern dass er ihnen verstehend zuhört. Das hätte ihm die Möglichkeit verschafft, mit der Klasse gemeinsam ein Gesuch an die Schulleitung zu formulieren, und er wäre dann als auf der Seite der Schüler stehend wahrgenommen worden. Es wäre dann Sache der Schulleitung gewesen, den Schülern den aktuellen Stand der Planung und Entwicklung der Methode darzulegen, und der Lehrer wäre nicht in den Verruf gekommen, „konservativ“ zu sein.
Glaubhaft ist eine solche Aktion natürlich nur, wenn der Lehrer selbst bereit ist, sich auf die neue Technologie einzulassen. Es könnte aber sein, dass er sich davon bedroht fühlt. Dazu hat er durchaus Anlass, denn die heutigen PC-Programme, die jedem Lernwilligen das Maschinenschreiben im Selbststudium ermöglichen und so leicht wie möglich machen, untergraben tatsächlich die Existenzberechtigung der Schreibmaschinenlehrer. Vielleicht hat der Lehrer dies instinktiv gespürt und ging darum reflexartig in die Abwehr. Aber das Resultat zeigt, dass diese Form der Gegenwehr die Beziehung zum Lehrer und damit auch seine Arbeitsbedingungen verschlechtert. Darum wäre es psychologisch richtig gewesen, ehrlich zur eigenen Situation zu stehen, etwa so: „Ich kann gut verstehen, dass Euch das Schreiben am Bildschirm Spass machen würde. Ob die Schulleitung zu dieser Umstellung bereit ist und auch das nötige Geld und die nötige Beschaffungszeit vorhanden ist, kann ich im Moment nicht beurteilen. Aber ich selber habe mich an den heute gültigen Plan und das vorhandene Lehrmittel gewöhnt, und ich würde wahrscheinlich ausreichend Zeit brauchen, um mich selber einzuarbeiten. Ich gebe auch zu, dass mir diese neue Entwicklung Angst macht, denn wenn künftig alle Schüler am Bildschirm mit einem Programm das Maschinenschreiben lernen, wird möglicherweise meine Stelle gestrichen. Trotz all dem will ich aber die Anregung entgegennehmen und gemeinsam mit der Schulleitung prüfen. Ich werde in einer der nächsten Stunden darauf zurückkommen.“
KES 6: Kollegen
Problemsituation
Im Umgang mit den Schülern habe ich keine Probleme, weil ich sie wie Erwachsene behandle. Aber in letzter Zeit bekomme ich immer mehr Reklamationen von Seiten meiner Kollegen und des Rektors. Eine ältere Lehrerin sagte mir, es sei unfair von mir, dass ich mit der Abschlussklasse „Duzis“ gemacht habe. Und als ich letzthin im Lehrerzimmer bemerkte, dass ich mich bei der Gestaltung von Briefen nicht stur an die Vorschriften halte, sondern den Schülern ihre eigene Meinung und ihren eigenen Geschmack lasse, bemerkte ein Kollege spitz: „Gewisse Leute haben eben Mühe, sich an Regeln und Abmachungen zu halten.“ Ich erwiderte darauf: „Und gewissen Leuten ist es eben nur wohl, wenn sie tun können, was man ihnen befiehlt.“ Seither grüsst mich der Kollege nicht mehr.
Vor zwei Wochen kamen ein paar Schüler zu mir und sagten mir, sie sollten die letzte Stunde am Freitag frei haben, da die Klasse an „einen Fez“ gehe.
Massnahmen/Reaktion:
Ich machte mit ihnen ab, dass sie dafür eine Stunde zu Hause üben sollten, und liess die Stunde ausfallen.
Auswirkungen/Folgen:
Gestern kam der Rektor zu mir und sagte, er müsse mir einen Verweis erteilen, weil ich gegen das Schulreglement verstossen hätte. Die Gewährung von Urlaub sei seine Sache, und er dulde ein solches Verhalten nicht ein zweites Mal. Ich bemerkte bloss, wir lebten in der Schweiz und nicht in einer Diktatur, worauf er sich umwandte und wortlos wegging. Ich kann jetzt noch nicht verstehen, warum ein Mensch so machthungrig sein kann. Sicher hat das etwas mit seinen Komplexen zu tun.
Kommentar:
Sollte es zutreffen, dass diese Lehrerin ihre Schüler wie Erwachsene behandelt – und das hiesse auch: die anstehenden Konflikte psychologisch korrekt löst –, so verhält sie sich jedenfalls in Konflikten mit Erwachsenen nicht ebenso. Zwar ist der spitze Hieb des Kollegen („Gewisse Leute haben eben …“) auch nicht die Art des feinen Mannes. Vermutlich hat er sich durch den Begriff ‚stur‘, den die Lehrerin als Adjektiv für ‚Vorschriften‘ verwendete, angegriffen gefühlt. Verständlich, denn es ist ja nicht sonderlich spassig, sich an Vorschriften zu halten, sondern man tut es im Allgemeinen aus Verantwortungsgefühl für das Ganze, und dann lässt man sich nicht gerne als ‚stur‘ beschimpfen. Aber die Entgegnung der Lehrerin zielt genauso sehr unter die Gürtellinie. Beide Konfliktpartner (so wollen wir sie immer noch nennen, obwohl man sich jetzt nicht einmal mehr grüsst) setzen massive Kampfmittel ein mit der Absicht, den andern klein und minderwertig erscheinen zu lassen. Beide reagieren denn auch gesetzmässig gemäss den Adler’schen Einsichten: Sie kompensieren durch Streben nach Überlegenheit über den andern.
Korrekt wäre gewesen, wenn der Lehrer nach der ersten Bemerkung gesagt hätte: „Ich sehe, dass es Dir leichter fällt, Vorschriften flexibel zu handhaben, und das ist ja wohl in Deinem Fach auch richtig, aber es verletzt mich, dass Du das Einhalten von Vorschriften so selbstverständlich als stur bezeichnest, da ich mir dann dumm vorkomme, wenn ich mich an solche halte.“
Aber diese gepflegte Art der Kommunikation (was eben ‚erwachsen‘ wäre) ist nicht mehr möglich, denn in diesem Lehrerkollegium herrscht allgemein ‚dicke Luft‘. Sicher ist die Position der Lehrerin bei ihren Kollegen problematisch, und ich vermute, dass sie in dem Masse die Schüler auf ihre Seite zieht, wie sie von den Kollegen abgelehnt wird. Es wird also so etwas wie ein Machtkampf aus der Ferne geführt. Das Duzis-Machen mit Schülern im Alleingang ist in diesem Zusammenhang ein Kampfmittel, wird aber ganz allgemein von den Kollegen nicht gerne gesehen, denn sie werden dadurch ohne ihren Willen in die Lage versetzt, nun allenfalls nachzuziehen (was ihren Gefühlen widersprechen kann) oder von den Schülern als altmodisch und autoritär zu gelten. Man sollte darum solche grundlegenden Regeln der Kommunikation im Kollegium besprechen und nach einer für alle akzeptablen Lösung suchen. Das würde dann natürlich wiederum die Fähigkeit verlangen, sich an Abmachungen halten zu können.
Das Duzis-Machen birgt in sich auch die Gefahr, dass es dem Lehrer künftig ziemlich schwer fällt, den Wünschen der Schüler allenfalls ein klares Nein entgegenzusetzen oder von ihnen das Erforderliche zu verlangen. Ich halte es darum für möglich, dass sich die Lehrerin unseres Beispiels selber täuscht und nicht erkennt, dass sie eigentlich gar nicht mehr anders kann, als den Schülern die Stunde frei zu geben.
Mit ihrem Handeln verstösst sie nun klar gegen die Schulordnung und provoziert damit den Rektor, der verpflichtet ist, über die Einhaltung der Vorschriften zu wachen. Und da stossen wir nun auf den blinden Fleck dieser Lehrerin: Ihr fehlt die Einsicht in den Unterschied zwischen persönlich motivierten Machtbedürfnis bzw. psychisch begründeter Machtausübung auf der einen und der institutionell gegebenen und erforderlichen Machtausübung der kompetenten Funktionsträger auf der andern Seite. Das Studium der Pestalozzischen Anthropologie würde ihr zeigen, dass es einerseits personales Handeln im Spannungsfeld zwischen Naturzustand und sittlichem Zustand, andererseits verpflichtetes Handeln im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen gibt. Sie würde dann erkennen, dass im personalen Handeln die Machtausübung ein Störfaktor, im institutionellen Handeln aber eine selbstverständliche Gegebenheit, ja eine unumgängliche Notwendigkeit ist. Dann käme sie auch nicht auf den Gedanken, den Rektor, dem sie mit ihrem Verhalten die höchst unangenehme Pflicht, sie zurechtweisen zu müssen, aufgeladen hat, in ihrem Innern als mit Komplexen behaftet zu erklären und ihn damit in den ‚Verein der Gestörten‘ einzureihen. Und sie würde dann auch nicht meinen, schweizerische Demokratie (im Gegensatz zur Diktatur) bedeute, dass man sich nach Lust und Laune an Vorschriften und Gesetze halten könne, sondern würde erkennen, dass auch die Demokratie eine Form der Herrschaft ist, in welcher genauso wie in jeder andern Staatsform Macht ausgeübt wird und ausgeübt werden muss, wenn nicht der Kampf aller gegen alle ausbrechen soll.
Das Verhalten der Lehrerin liesse sich auch von der Freud’schen Psychoanalyse her betrachten: Sie lehnt in ihrem Bewusstsein die Macht ab und projiziert ihre eigenen Formen der massiven unbewussten Machtausübung (z.B. durch die Bemerkung gegenüber dem Rektor, die darauf hinausläuft, ihn als Diktator zu bezeichnen) auf die andern. Es sind die (bösen) andern (die Vorschriften, der Rektor, die Kollegen), die Macht ausüben, nur sie nicht – eine klassische Form der Projektion.
KES 7: Die verträumten Romantiker
Problemsituation:
Im allgemeinen habe ich Erfolg im Unterricht, und viele meiner Schüler machen Spitzennoten. Aber es gibt einen Schülertyp, mit dem ich je länger, je mehr Mühe habe, nämlich die verträumten Romantiker. Wenn es um klare Regelungen geht und um Dinge, die völlig logisch sind, beginnen die immer zu jammern und zu meckern und wollen immer ihre Extra-Würste. Dabei kann ich ihnen doch glasklar beweisen, dass es im Maschinenschreiben um zwei ganz einfache Dinge geht: um Fingerfertigkeit und ein bisschen Köpfchen. Schon oft habe ich ihnen gesagt, sie sollten gefälligst ihre Gefühle zu Hause lassen, das interessiere mich nicht oder gehöre in den Deutschunterricht, aber das Übel ist, dass sie das nie begreifen wollen.
Vor etwa drei Wochen legte ich den Schülern einen Übungstext zum Abschreiben vor, den ich aus dem Wirtschaftsteil der NZZ herauskopiert hatte. Da begehrte eine Schülerin auf und sagte, sie verstehe das nicht, und überhaupt interessiere sie dieses ganze „Zeugs“ nicht.
Massnahmen/Reaktion:
Ich erklärte ihr, am Arbeitsplatz müsse sie auch Texte abtippen, die ihr nichts sagten, und bewies ihr dann, dass das Interesse für Wirtschaftsfragen für jeden kaufmännischen Angestellten wichtig sei. Zudem gehe es hier um eine Übung der präzisen Wahrnehmung und der Fingerfertigkeit, und wenn es ihr nicht passe, das mitzumachen, bekomme sie eben eine schlechte Note.
Auswirkungen/Folgen:
Die Schülerin sagte kein Wort und begann zu schreiben. Ihr „Meuel“, den sie an mich machte, störte mich nicht, aber sie machte viele Fehler und bekam eine ungenügende Note.
Kommentar:
Es wird nicht leicht sein, einem solchen Lehrer zu helfen, und zwar deshalb, weil er kaum der Ansicht sein dürfte, er könnte Hilfe brauchen. Er hat ja alles fest im Griff, beweist, macht klar, benotet und bleibt unbeeindruckt. Ich glaube ihm gerne, dass er bei den meisten Schülern gute Leistungen erzielt, aber ‚die verträumten Romantiker‘, die ihre Gefühle nicht zu Hause lassen können, scheinen doch unter die Räder zu kommen. Und das stört ihn je länger je mehr, nicht etwa, weil diese Schüler wenig profitieren, sondern weil er mit seinen Mitteln, auf die er eingeschworen ist, bei ihnen keinen Erfolg hat und somit seine Machtlosigkeit erlebt.
Eigentlich könnte man ihm nur wünschen, dass er immer stärker anrennt und der Widerstand der Schüler (sie „meckern“, wollen „Extra-Würste“, „jammern“, wenn es um „klare Regelungen geht“, wollen seine „glasklaren“ Beweise „nie begreifen“ und machen statt „Spitzennoten“ einen „Meuel“) immer grösser wird; dann würde er vielleicht irgend einmal begreifen, dass der Mensch nicht bloss aus Ratio, aus Intellekt, aus „Köpfchen“ besteht, sondern auch ein Gefühlsleben hat, das ebenso ernst zu nehmen ist wie die Ratio und das niemand „gefälligst zu Hause lassen“ kann. Die Projektion ist offensichtlich: Er lehnt in sich die Gefühlssphäre ab und reagiert daher gereizt auf jene Schüler, die sich dieser Diktatur des Intellekts nicht fügen wollen.
Seine einseitige Fixierung auf Logik und Intellekt macht es ihm auch unmöglich, auf die Schüler wirklich einzugehen und sie als ganze und nicht bloss halbe Menschen ernst zu nehmen. Die durch diese Haltung erzeugten Konflikte können darum auch nicht psychologisch richtig angegangen werden (z.B. aktiv zuhören), weshalb ihm als einziger Ausweg psychischer Druck und Ausübung institutioneller Machtmittel (Noten) bleibt.
KES 8: Mein Unterrichtsstil
Problemsituation:
Ich gebe zu, dass ich in den letzten Jahren immer mehr Mühe hatte, meine Schüler zur Mitarbeit zu gewinnen, und ich machte darum auch meine Arbeit nicht mehr gerne. Ich merkte, dass sich meine Schüler langweilten, und – ehrlich gesagt – ich selbst fand das Fach auch langweilig. Als ich vor einigen Wochen einmal mit einem Kollegen, mit dem ich mich gut verstehe, auf dieses Problem zu reden kam, empfahl er mir, ich solle doch einmal eine Stunde dafür einsetzen, um mir von den Schülern sagen zu lassen, was sie gut und was sie schlecht fänden.
Massnahmen/Reaktion:
Erstaunlicherweise waren die Schüler zu dieser Unternehmung sofort bereit und sagten mir vieles, woran ich nicht gedacht hätte. Erwähnen möchte ich die folgenden Aussagen:
„Manchmal wissen Sie nicht mehr genau, wo wir das letzte Mal aufgehört haben, und wir haben dann Mühe, den Anschluss nicht zu verpassen.“
„Als Sie uns einen Vortrag über moderne Bürotechnik hielten, haben wir es sehr geschätzt, dass Sie uns Diapositive zeigten und wir einen Lehrausgang in einen modernen Betrieb machen konnten.“
„Uns ’scheisst es an‘, wenn wir uns Mühe geben, und Sie das alles ohne ein Wort entgegennehmen.“
„Die Lehrmittel sind ja schon gut, aber manchmal möchten wir lieber unsere eigenen Wege suchen und selber etwas erfinden.“
„Uns dünkt es, dass es Sie kaum interessiert, wer wir sind.“
„Sie können gut erklären; wir schätzen es, wenn Sie langsam eins nach dem andern genau vorzeigen und genau beschreiben.“
Auswirkungen/Folgen:
Ich habe angefangen, in der Pause mit einzelnen Schülern zu sprechen. Ich gehe wieder viel lieber meinem Beruf nach.
Kommentar:
Hier kann man es kurz machen: Die Lehrerin macht vor, wie man sich in einer solchen Situation klugerweise verhält, und liefert den Beweis, dass es sich lohnt, genügend Zeit einzusetzen, um die emotionalen Probleme zu lösen, weil dann bei Lehrern und Schülern die Arbeitslust wieder steigt.
KES 9: Helen
Problemsituation:
Mit Helen komme ich fast nicht zurecht. Schon am ersten Tag sagte sie, als eine kleine Schwierigkeit auftauchte, das könne sie nicht. Als ich ihr entgegnete, das sei ganz einfach, bekam sie schon Tränen und bemerkte, niemand möge sie. In der Pause sondert sie sich von allen andern ab und schaut immer traurig drein. Ihre Leistungen sind insgesamt schlecht, und wenn ich ihr dafür eine schlechte Note geben muss, sagt sie immer, es seien alle gegen sie.
Massnahmen/Reaktion:
Da ich wollte, dass auch Helen einmal eine gute Note erreichen könnte, machte ich letzthin absichtlich eine ganz leichte Prüfung. Fast alle Schüler hatten eine 6, und auch Helen brachte es auf eine 5.
Auswirkungen/Folgen:
Entgegen meiner Erwartung freute sich Helen überhaupt nicht an ihrer guten Note. Sie sagte nur, sie wisse schon, dass sie nichts könne, und alle andern seien besser als sie. Darauf entschloss ich mich, mit ihr einmal gründlich zu reden, und bat sie, nach der Stunde dazubleiben. Sie setzte sich an einen Tisch und hörte mich mit unbeteiligter Miene an. Ich sagte ihr, dass ich ihr helfen wolle, und fragte, was denn los sei. Aber sie reagierte kaum und sagte bloss: „Nichts.“ Ich war ganz verzweifelt, dass ich kein anständiges Wort aus ihr herausbrachte. Ich versuchte sie dann etwas aufzumuntern und riet ihr, nicht alles so tragisch zu nehmen und sich vermehrt an ihre Klassenkameraden anzuschliessen. Aber auch darauf sagte sie nichts. Ich versprach ihr dann, dass ich den Notendurchschnitt im Zeugnis aufrunden werde, und entliess sie dann, weil sie immer nur dasass und kaum etwas sprach.
Es hat überhaupt nichts genützt, Helen sieht immer gleich betrübt aus und beteuert immer wieder, sie wisse schon, dass sie nichts könne.
Kommentar:
Nach Adler leidet jemand, der seine Hilflosigkeit so eklatant zur Schau stellt, an einem Minderwertigkeitskomplex. Das kann der Lehrer auch daran spüren, dass er sich durch Helenes Verhalten dauernd provoziert fühlt, ihr die Hilfe aufzunötigen, und dass sie diese auch beharrlich zurückweist und damit den Lehrer fast zur Verzweiflung treibt. Sie hat es – natürlich unbewusst – mit ihrer Hilflosigkeitsdemonstration darauf angelegt, jene, die sie als stark wahrnimmt (z.B. den Lehrer), selber hilflos zu machen, womit die Machtausübung deutlich wird. Man hätte darum dem Lehrer voraussagen können, dass die Massnahme, eine vorsätzlich leichte Prüfung zu machen, um Helene eine Chance zu geben, erfolglos sein würde. Die Idee des Lehrers, mit der Schülerin zu sprechen, ist richtig, aber er errichtet eine Menge ‚Strassensperren‘ (ungefragt Hilfe anbieten, Fragen stellen, Aufmuntern durch Bagatellisieren), weshalb die Sache nichts fruchtet. Vielmehr müsste er über eine Anzahl ‚Türöffner‘ (am besten auch Ich-Botschaften) verfügen und dann konsequent aktiv zuhören. Erst, wenn das Gespräch offener wird und das Mädchen eine konstruktive Haltung einnimmt, könnte man in aller Vorsicht die unbewusste Zwecksetzungen ihres Verhaltens ansprechen. Das braucht Geschick und wohl auch Erfahrung. Insgesamt würde ich dem Lehrer raten, streng auf seine eigenen Gefühle zu achten und dem Mädchen durch konsequente Ich-Botschaften immer wieder Rückmeldungen zu geben über das, was sie durch ihr Verhalten bei ihm auslöst.