Arthur Brühlmeier

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Einführung in die wissenschaftliche Psychologie

Das aus dem Griechischen abgeleitete Wort „Psychologie“ heisst „Seelenlehre“. Diese Wissenschaft ist alt; schon Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) hat ein grundlegendes Werk über die Seele geschrieben. Seine Gedanken sind durch die christliche Philosophie weitgehend übernommen worden.

Die traditionelle Psychologie verstand sich in den letzten zweitausend Jahren als Teil der Philosophie. Im Gegensatz zu heute, wo viele Psychologen experimentieren und messen, haben früher die philosophierenden Psychologen ihre Erkenntnisse durch die Alltagserfahrung und durch Nachdenken, teilweise aber auch durch Bezugnahme auf die Bibel gewonnen.

Die Wissenschaft von der Seele setzt bereits voraus, dass der Mensch überhaupt eine Seele hat. Im Rahmen des christlich geprägten Denkens wurde die Seele als eine Substanz (eine wirkliche Wesenheit, nicht bloss ein Hirngespinst) betrachtet, die das körperliche Dasein des Erdenmenschen überlebt und folglich auch ohne Körper existieren kann. Im Zuge des aufkommenden Rationalismus und Materialismus (ab dem 17. Jahrhundert) wurde die Existenz einer substanzhaften Seele immer mehr in Frage gestellt und schliesslich ganz klar verneint. Der Mensch wurde nicht mehr als ein Geschöpf gesehen, das aus einem sterblichen Leib und einer unsterblichen Seele besteht, sondern bloss noch als funktionierender Organismus, der mit dem physischen Tod insgesamt zugrunde geht. Damit hatte die Wissenschaft der Psychologie ihren Gegenstand, mit dem sie sich ehedem befasste (eben die Seele), verloren und sah sich vor der Aufgabe, jetzt zu definieren, was sie künftig unter Seele verstehen wollte.

Als eigentliche Geburtsstunde der modernen Psychologie gilt die Zeit um das Jahr 1875. Der Leipziger Professor Wilhelm Wundt (1832 bis 1920) gründete an der Universität Leipzig das erste psychologische Institut und machte damit die Psychologie von der Philosophie unabhängig. Er war konsequenter Materialist, d.h. er anerkannte bloss noch die Materie als einziges grundlegendes Prinzip allen Seins und betrachtete – wie alle Materialisten – den Geist als eine Ausdrucksform der Materie. Er führte in die neue, wissenschaftliche Psychologie jene Methoden ein, die sich bereits im Bereiche der Naturwissenschaften bewährt hatten, nämlich Beobachtung, Experiment und Mathematisierung (quantitative Erfassung).

Wundt definierte die Seele als „das Bewusstsein“. Wir bezeichnen darum die von Wundt begründete psychologische Richtung als Bewusstseins-Psychologie (oder: 1. Leipziger Schule). Wundt wandte sich mit seinen Experimenten und Beobachtungen all jenen Phänomenen (Erscheinungen) zu, die in irgendeiner Weise mit dem Bewusstsein zusammenhängen: Empfindung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken usf., und versuchte, deren Gesetzmässigkeiten zu beschreiben und in mathematische Formeln zu fassen. Er hielt indessen an der traditionellen Ansicht fest, dass all diese Bewusstseinsphänomene Vorgänge sind, die irgendwie „im Innern“ des Menschen ablaufen. Darum führte er als Methode die Selbstbeobachtung (die sog. Introspektion) in die Psychologie ein.

In der Folge ist Wundt von verschiedenen Seiten widersprochen worden. Eine starke Gruppe von Wissenschaftern hielt es für unvertretbar, das Bewusstsein mit der Seele gleichzusetzen; für sie war das eigentlich Seelische vielmehr das Unbewusste. Dies ist die grundlegende Ansicht der Tiefenpsychologie.

Eine andere Gruppe von Wissenschaftern (zumeist Zoologen oder Physiologen) hielten es von vorneherein für falsch, überhaupt von einer Seele zu sprechen, da es ihrer Ansicht nach eine solche ja gar nicht geben konnte. Sie begründeten damit die „Psychologie ohne Seele“, die sich darauf beschränkte, das von aussen sicht- und beobachtbare Verhalten des Menschen zu beschreiben und zu messen. Diese Richtung nennt man Verhaltenspsychologie bzw. – in Amerika – Behaviorismus (Russland: Reflexologie).

In den letzten rund 100 Jahren bildeten sich in der Psychologie viele Richtungen heraus, insgesamt weit über hundert. Man nennt solche Richtungen auch „Schulen“. Diese Schulen werden etwa bezeichnet nach dem Ort, wo ihre Begründer lehrten (Wiener Schule, Leipziger Schule, Berliner Schule), nach dem Gegenstand, dem sie sich zuwenden (Bewusstseinspsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Lernpsychologie, Verhaltenspsychologie, Tiefenpsychologie, Denkpsychologie, Sozialpsychologie, Individualpsychologie etc.), nach der Methode, die angewendet wird (Experimentelle Psychologie, Analytische Psychologie, Verstehende Psychologie) oder nach der Philosophie (dem Menschenbild), das der betreffenden Betrachtungsweise zu Grunde liegt (Ganzheitspsychologie, Humanistische Psychologie, Marxistische Psychologie, Astrologische Psychologie).

Heute sind vor allem drei grosse Richtungen von Bedeutung, die miteinander teilweise in Konkurrenz stehen: die Tiefenpsychologie, die Verhaltenspsychologie (Behaviorismus) und die Humanistische Psychologie. In der Folge sollen diese drei Schulen knapp charakterisiert werden:

1. Die Tiefenpsychologie.

Als die drei grossen Begründer der Tiefenpsychologie gelten Sigmund Freud, Alfred Adler und Carl Gustav Jung. Alle drei waren Ärzte und befassten sich primär mit dem seelisch bzw. geistig erkrankten Menschen. Sie und ihre Nachfolger waren (und sind) überzeugt, dass der Mensch keine gefühlsbetonten Erlebnisse vergisst, sondern sie in den Bereich des Unbewussten abdrängt, und dass diese Erlebnisse das weitere Verhalten des betreffenden Menschen auch künftig bestimmen. Sie vertreten allesamt die Ansicht, dass wesentliche Motive (Beweggründe) des Verhaltens dem einzelnen Menschen nicht bewusst sind. Das Bewusstmachen und Verarbeiten verdrängter Inhalte durch die Analyse der Psyche in Zusammenarbeit mit einem Psychoanalytiker vermag nach ihrer Ansicht den Menschen von unbewussten Zwängen zu befreien.

In der Psychologie hat es sich eingebürgert, die verschiedenen Richtungen mit feststehenden Begriffen zu benennen. So heisst Freuds Lehre Psychoanalyse (siehe hier), Jungs System analytische oder komplexe Psychologie und Adlers Theorie Individualpsychologie (siehe hier) . Es gibt aber noch andere Richtungen, z.B. Neo-Psychoanalyse (Schultz-Hencke), Daseinsanalyse (Ludwig Binswanger, Medard Boss), Primärtherapie (Arthur Janov), Schicksalsanalyse (Leopold Szondi) und noch viele dazu.

2. Die Verhaltenspsychologie

Die Verhaltenspsychologen betrachten die Psychologie als einen Teil der Naturwissenschaften und erheben den Anspruch, eine objektive Psychologie zu sein. Sie lehnen daher die Introspektion strikte ab, da sie bloss subjektiv gefärbte Ergebnisse zeitige, und konzentrieren sich ausschliesslich auf die Beschreibung und systematische Veränderung des von aussen sichtbaren Verhaltens. Das Verhalten wird verstanden als Reaktionen auf irgendwelche Reize. Ihrer Ansicht nach ist der Mensch grundsätzlich unfrei, d. h. abhängig von den zufällig auf ihn einwirkenden oder systematisch arrangierten Umwelteinflüssen (Reize). Die Veränderung eines Reiz-Reaktions-Musters durch neue Bedingungen bezeichnen die Behavioristen als Konditionierung bzw. als Lernen (siehe hier). Die meisten Behavioristen betrachten die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen als das Ergebnis unterschiedlicher Umwelteinflüsse; der Mensch als Individualität ist verstanden als „Produkt der Umwelt“.

Als Begründer des Behaviorismus gelten der Russe J. Pawlow und der Amerikaner J. Watson. Weitere wichtige Vertreter der Verhaltenspsychologie sind E. L. Thorndike, E. R. Guthrie, C. L. Hull, O. H. Mowrer und J. B. Skinner.

3. Die Humanistische Psychologie

Von den drei derzeit wichtigsten psychologischen Richtungen ist die Humanistische Psychologie die jüngste. Sie ist aus der Tiefenpsychologie herausgewachsen, betont aber im Gegensatz etwa zu Freud sehr stark die Möglichkeit der Freiheit des Menschen. Sie bekennt sich zum optimistischen Menschenbild des europäischen Humanismus und Neuhumanismus, wonach der Mensch von Natur aus gut ist, und strebt nach der Autonomie (Selbstbestimmung) des Individuums. Sie sieht indessen das Individuum nicht isoliert, sondern immer als Teil einer Gruppe. Aus der Humanistischen Psychologie ist eine reiche Palette von gruppendynamischen Bewegungen herausgewachsen.

Ein wesentliches Ideal der Humanistischen Psychologie ist die Echtheit. Das Gefühlsleben des Menschen soll ernst genommen werden, d. h. jeder soll seiner momentanen Befindlichkeit auf echte Weise Ausdruck geben.

Ein weiteres Ideal ist die Gegenwartsbezogenheit. Die Humanistische Psychologie ermutigt den Menschen, spontan zu sein und im „Hier und Jetzt“ zu leben. Insofern schöpft sie philosophisch aus den Ideen des Existentialismus.

Die meisten Vertreter der Humanistischen Psychologie haben eine Methode entwickelt, die nicht bloss zur Heilung seelisch leidender Menschen als geeignet betrachtet wird, sondern die auch dazu dienen soll, die Persönlichkeit des sich gesund fühlenden Menschen optimal zu entfalten. Diese Zielsetzung wird umschrieben mit dem Begriff der „Selbstverwirklichung“.

Wichtige Vertreter der Humanistischen Psychologie sind Carl Rogers (Nicht-direktive Gesprächspsychotherapie), Ruth Cohn (Themenzentrierte Interaktion), Eric Berne (Transaktions-Analyse), Fritz Pearls (Gestalt-Therapie), Moreno (Psychodrama), Thomas Gordon (Niederlagelose Konfliktlösungsmethode). Das Spektrum der Humanistischen Psychologie ist breit und umfasst zugleich marxistische (Erich Fromm, der auch der Tiefenpsychologie zugerechnet werden kann) und esoterische (Abraham A. Maslow) Tendenzen. Jene humanistischen Psychologen, die esoterisches Gedankengut in ihre Theorien einbeziehen, verstehen sich als „vierte Kraft“ und bezeichnen ihre Richtung als „transpersonale Psychologie“. Sie befindet sich nach wie vor im Zustand der Geburtswehen.

Kritiker der Humanistischen Psychologie werfen ihren Vertretern, insbesondere den Anhängern Pearls, vor, ihre Idee der Selbstverwirklichung gehe auf Kosten der Fähigkeit, sich in die Gemeinschaft einzufügen und sich ihr nützlich zu erweisen, und fördere den Egoismus des Menschen.

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