Arthur Brühlmeier

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Startseite » Texte » Didaktik » Grundsätze und Wege zur Steigerung der Bildungsqualität in der Volksschule » Eine tragfähige Bildungsidee als Fundament für Bildungsqualität

Als Grundlage eine tragfähige Bildungsidee

Nachdem in den vorausgehenden Kapiteln verschiedentlich auf Pestalozzi hingewiesen wurde, scheint es angezeigt, einen knappen Blick auf die zwei tragenden (und einander bedingenden) Ideenkonzepte Pestalozzi zu werfen: auf seine Lehre vom Menschen (An­thro­pologie) einerseits und auf seine Erziehungslehre andererseits. Letztlich gibt es nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Sofern diese geschöpft ist aus breiter Erfahrung und tiefem Verständnis für die menschliche Existenz, vermag sie der ganzen pädagogischen Arbeit Konsistenz zu verleihen und ihr dadurch letztlich auch den Erfolg – was das immer heissen mag – zu sichern. Ich verwende hierzu eine Textpassage, die aus meiner inzwischen vergriffenen Schrift „Mit Freude Schule halten“ stammt. Wer sich intensiver mit den beiden Themen befassen will, vertiefe sich in die entsprechenden Kapitel dieser Website unter: Texte – Pestalozzi – Lehrtexte Abhandlungen.

Pestalozzis Lehre vom Menschen

Pestalozzi hat jahrzehntelang nach einem Fundament ge­sucht, um das Mensch­sein verstehen zu können. In seinem philosophischen Haupt­werk ‘Mei­ne Nachforschun­gen über den Gang der Natur in der Ent­wick­lung des Men­schen­ge­schlechts’ (1797) legt er eine Sicht des Men­schen dar, die uns hilft, uns in all unsern Be­zü­gen und Span­nungen zu verstehen und un­serem Handeln eine kon­se­quente Rich­tung zu geben.Pestalozzi geht in seinen Überlegungen von der Tatsache aus, dass wir Men­schen im Widerspruch leben: im Wider­spruch mit uns selbst, insofern wir Be­dürfnisse, Pflich­ten und Ideale nicht immer in Übereinstimmung bringen kön­nen, im Wider­spruch auch mit Mitmenschen und Gesell­schaft. Diese Wider­sprü­che erklären sich nach Pestalozzis Überzeugung daraus, dass der Mensch auf drei verschie­dene Weisen (Pesta­loz­zi sagt: in drei ver­schiedenen ‘Zuständen’) exi­stiert:

  • Erstens sind wir natürliche Wesen, vergleichbar dem Tier, das in sich Triebe und Bedürfnisse spürt, das nach Lust strebt und Unlust vermeiden will, das aber auch egoistisch ist, da es sich selbst erhalten will und seinen eigenen Vorteil wünscht, und das – was zu wissen für uns Lehrer besonders wichtig ist – auch dem Gesetz der Trägheit unterliegt.
  • Zweitens sind wir Menschen gesellschaftliche Wesen, in­so­fern unser Handeln durch Rechte und Pflichten be­stimmt wird. Als gesellschaftliche Wesen erfahren wir die Ein­schrän­kung natürlicher Triebe und selbstbezoge­ner Wün­sche und par­tizipieren wir an Institutionen wie dem Staat und der Wirt­schaft.
  • Drittens können wir, wenn wir wollen, sittliche Wesen sein. Wir sind es immer dann, wenn wir der aus unse­rem Innern kommenden Aufforderung gehorchen, als Persönlichkeit zu wachsen und zu reifen, die Mit­menschlichkeit zu entfalten und das als das Gute Er­kannte zu tun. Sittlichkeit ist überall dort, wo echter Gei­stigkeit Raum gewährt wird: dem erken­nenden Lieben und dem liebenden Er­kennen, dies in Frei­heit und Selbstverantwortung.

Die Widersprüche sind grundsätzlich unvermeidlich, denn reine Sittlichkeit ist dem Menschen nicht möglich. Als natür­liche Wesen suchen wir unsere egoisti­schen Wün­sche durch­zusetzen, als bloss gesellschaftliche Wesen verfolgen wir die­selben Absich­ten mit rechtlichen Mitteln; erst als sitt­liche Wesen überwinden wir in uns den Egois­mus, um in Verant­wortung für das Ganze zu handeln, um dem Mitmen­schen in Offen­heit, Verständnis, Rück­sichtnahme und Liebe zu be­gegnen und uns der Wahrheit ohne Rück­sicht auf un­sere Wünsche hinzugeben.

Vom Wesen und den Möglichkeiten des Lehrberufs

  1. Auch unsere Berufsarbeit unterliegt dem unvermeidli­chen Widerspruch. Alsnatürliche Wesenmöchten wir, dass es uns bei der Arbeit wohl ist, dass sie sich mög­lichst be­quem erledigen lässt und uns Anerkennung und materiellen Ge­winn einträgt. Als ge­sellschaftliche Wesen stehen wir un­ter Vertrag, der uns ei­ner­seits Rechte zubilligt (u. a. das ein­fache Recht, in der Schulstube überhaupt wirken und damit auch unser Brot verdienen zu dür­fen), andererseits aber Pflichten auferlegt: die Unterrichtszeiten einzuhalten, den Lehrplan zu erfüllen, die Schulordnung durchzu­setzen, die Promoti­onsordnung und die Selektionsme­chanismen zu handhaben, uns fortzubilden und über­haupt jede gesetzliche Rege­lung zu beachten.

Solange wir unsere Berufsarbeit bloss unter diesen bei­den Aspekten leisten, kön­nen wir wohl kaum besonders glücklich werden, denn stets wird der unauf­heb­­bare Wider­spruch zwi­schen den natürlichen Bedürfnissen nach Behag­lich­keit und den gesell­schaft­li­chen Verpflichtungen auf uns lasten. Ei­gentliche Erfüllung er­möglicht uns unser Beruf erst unter sittlichem Aspekt: Wir lei­sten unsern Bei­trag zur Menschwer­dung der uns anvertrauten Kinder, indem wir unter Respek­tie­rung ihrer Persönlichkeit ihre Kräfte entfal­ten, ihre Sinne öffnen, sie in die bunte Welt hinein­führen und alles uns Mögliche beitragen, damit sie gute Men­schen werden kön­nen.

Freilich werden wir immer wieder erfahren, dass dieser sittli­che Anspruch mit un­sern eigenen natürlichen Wün­schen nach Behaglichkeit oder mit den gesell­schaftlich er­klär­ten Erfordernis­sen kollidiert. Pestalozzis Menschen­ver­ständnis zeigt uns einer­seits, dass dieser Widerspruch nicht ein für allemal beseitigt wer­den kann, andererseits aber auch, dass wir ihn immer dann überwinden können, wenn es uns in der ein­zel­nen, freien Tat gelingt, im Rahmen un­serer natürlichen Möglichkeiten und der gesell­schaft­li­chen Bedingungen jene erzieherischen Ak­ti­vitäten zu ent­falten, die wir aus ei­nem sittlichen Anspruch heraus als sinn­voll und fruchtbar erkennen.

  1. Die äusserst weit fortgeschrittene Arbeitsteilung im Wirt­schafts­prozess und der oft gnadenlose Konkurrenz­kampf der Marktwirtschaft bringen es mit sich, dass viele Men­schen ihre gesellschaftliche Funktion im Rahmen des Wirtschaftsprozesses nur noch sehr eingeschränkt mit ihren Vorstellungen einer erfül­lenden Sitt­lichkeit in Überein­stimmung bringen können. Es kann sich hier nicht darum han­deln, dieser Frage weiter nach­zugehen und Lösungsmodelle zu entwickeln. Aber im Rahmen unserer Thematik dürfen wir doch feststellen, dass die Struktur der Be­rufsarbeit des Lehrers eine entfrem­den­de Trennung zwischen gesellschaft­li­chem und sittlichem Anspruch nicht erfordert. Mit andern Worten:Die Ausübung des Lehrberufs kann für den einzel­nen Lehrer zu­gleich der Weg sein, sein eigenes Mensch­sein zu ver­wirklichen.Der erzieherische Erfolg steigt nämlich in dem Mas­se, als ein Lehrer seine Berufsarbeit mit all ihren Pro­blemen als seinen eige­nen Weg zur Reifung seiner Per­sön­lichkeit erkennt und benützt. Der Lehrberuf ermöglicht dem Berufenen wie kaum ein anderer die Selbstver­wirk­li­chung, frei­lich nicht ver­standen als egoistische Wunschbe­friedi­gung, sondern als Ent­wick­lung des eigenen Mensch­seins im Sinne des sittlichen Zu­stands. Diese funda­men­tale Er­kenntnis ist eigentlich schon Anlass genug, um mit Freu­de Schule zu hal­ten.

Pestalozzis Erziehungsidee

Pestalozzis Sichtweise gibt uns aber nicht nur, wie bereits er­wähnt, eine Hand­ha­be, um uns selbst in unserer Berufsar­beit zu verstehen, son­dern ist auch geeig­net, unserer Bil­dungs- und Er­ziehungsarbeit Richtung und Ziel zu weisen. Ob­wohl Pestalozzi als Re­alist durchaus anerkennt, dass dem Menschen weder ein Ab­schütteln seiner natür­li­chen Be­dingtheiten noch ein Ausstieg aus seiner gesell­schaftlichen Verflochtenheit möglich ist, zeigt er doch in grosser Klar­heit, dass wir die eigentliche Erfüllung unseres Menschseins erst durch die Realisierung des sittlichen Zustandes errei­chen. Es muss daher das Ziel aller Bildungs- und Erzie­hungs­be­mühungen sein, im jungen Menschen das sittliche Leben zu erwecken und ihn zu lehren, die Befriedigung seiner natürli­chen Bedürfnisse und die Parti­zipation am ge­sellschaftlichen Leben soweit wie möglich in Übereinstim­mung mit sittlichen Ansprü­chen zu bringen.

Pestalozzi ist überzeugt davon, dass ein solches Erzie­hungsver­ständ­nis der mensch­li­chen Natur entspricht. In je­dem Neugebo­renen liegen Kräfte und Anla­gen bereit, die ihn – werden sie naturgemäss entwickelt – grundsätzlich be­fähi­gen, sein Mensch­sein nicht nur als natürliches und ge­sell­schaftliches, sondern auch als sittliches Wesen zu ent­fal­ten. Die Entfaltung von Kräften und Anlagen erweist sich somit als das zentrale pädagogische Anliegen, dem nach Pestaloz­zis Überzeugung auch die Schule verpflich­tet sein muss. Un­sere Arbeit kann sich da­her niemals darin erschöp­fen, den Schülern blosses Wissen zu vermitteln und sie in die wichtig­sten gesellschaftlich vermittelten Kulturtechniken einzufüh­ren. Da, wo der Lehrplan und die Lehrmittel aufhö­ren und wo sich insgesamt die ge­sell­schaftlichen Möglich­keiten päd­agogischer Einflussnahme erschöpfen, beginnt erst un­sere ei­gentliche Aufgabe: Es geht darum, dass wir die gesellschaftlich de­finierten Stoffe und die gesellschaftlich ge­forderten Fertig­keiten als Mittel benüt­zen, um in den Schü­­lern die naturge­gebenen Kräfte und Anlagen auf eine solche Weise zu entfal­ten, dass in ihnen das sittliche Leben zum Tragen kom­men kann.   

Pestalozzis Begriff der ‘Kräfte und Anlagen’ ist weitge­hend identisch mit dem, was die moderne Psychologie als ‘psychische Funktionen’ bezeichnet. Es geht dabei um all das, was es dem Menschen von seinen subjektiven Voraus­setzun­gen her ermög­licht, ein sinnvolles Leben zu gestalten. Pesta­lozzi hat erkannt, dass sich die Kräfte und An­la­gen nach unveränderlichen Geset­zen entfalten, nach Gesetzen al­ler­dings, die sich von­ein­an­der teilweise erheblich unter­schei­den. So zeigt er, dass sich z.B. das Denken nach ganz andern Gesetzmässigkei­ten ent­wickelt als et­wa das Ver­trauen oder die Handfertigkeit. Er teilt darum alle menschli­chen Kräfte in drei Gruppen ein, in­nerhalb derer diesel­ben Entwick­lungsgesetze gelten. Im Einzelnen sind dies:

  • Kopf (intellektuelle, geistige Kräfte): Wahrnehmen, Vor­stel­len, Denken, Ge­dächtnis, Erkennen, Urtei­len, Spra­che
  • Herz (sittliche Kräfte): Lieben, Danken, Vertrauen, Glau­ben, Werten, Ent­schei­den, Wol­len, Fühlen, Mitfüh­len, Verantwor­ten, Ahnen u. a.
  • Hand (physische Kräfte): Körperkraft, Gewandtheit, Ge­schick­lich­keit, Hand- und Finger­fertigkeit, Ar­beiten, Handeln

Im Hinblick auf diese Unterscheidung erhebt nun Pesta­lozzi die zentrale Forderung, dass die Kräfte des Kopfs, des Herzens und der Hand in sich op­timal und unter sich in har­moni­scher Übereinstimmung ent­wickelt werden. Heutzutage würden wir von „ganzheitlicher Bildung“ sprechen. Dabei ist zu beachten, dass die geforderte Har­­monie der Kräfte gerade nicht durch Gleichstellung der drei Kräf­tegruppen er­reicht wird, sondern dadurch, dass sich die Kräfte des Kopfs und der Hand den gebildeten Herzenskräf­ten unterordnen. Nur da­durch, dass sich handwerkliches Tun und intelli­gen­tes Pla­nen sittlichen Werten und sittlichem Wollen unterord­net, gelangt der Mensch zu einer sittlichen Gestaltung seines Le­bens.

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