Das Problem des Übertritts ins Gymnasium
Es ist wohl unbestritten: Viele Schüler, Eltern und Lehrer leiden sehr merkbar unter den Belastungen, die mit dem Übertritt aus der Sekundarschule ins Gymnasium verbunden sind. Den Verantwortlichen (Lehrern, Behörden, Politikern) erwächst daraus der Auftrag, diese Belastungen entweder zu mildern bzw. zu beseitigen oder dann aufzuzeigen, inwiefern sie unvermeidlich sind und wie sie bewältigt werden können.
1. Die Erzeugung neuer Probleme durch institutionelles Handeln
Der Mensch zeichnet sich ganz allgemein dadurch aus, dass er seine Lebensverhältnisse (wenn auch immer aus seiner relativ beschränkten Sicht) permanent verbessern will. Insofern einerseits jeder Einzelne aus persönlicher Verantwortung einen eigenen Wirkungskreis gestaltet und insofern er andererseits teilnimmt an einem überindividuellen gesellschaftlichen Prozess (z.B. Staat, Wirtschaft), stehen dem Menschen zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidene Handlungskonzepte zu Gebote: das personale und das institutionelle Handeln. Diese Unterscheidung ist zum Verständnis belastender Situationen wichtig, denn es zeigt sich, dass wir zwar im personalen Bereich durch sachgemässes personales Handeln konkrete Probleme ein für allemal ohne Rest lösen können, wogegen dies im Bereiche des institutionellen Handelns unmöglich ist. Mit andern Worten: Jede denkbare institutionelle Handlung schafft an irgend einem Punkt des Systems ein neues Problem und führt zu neuen Belastungen. Wer dieses Grundgesetz (das ich hier nur anführe, aber nicht beweise) nicht erkannt hat, richtet im allgemeinen als institutionell handelnder (d.h. als politisch tätiger) Mensch mehr Schaden als Nutzen an. Oder noch anders ausgedrückt: Mit institutionellen Mitteln lassen sich Belastungen nur mildern oder punktuell beseitigen, aber niemals restlos und über alles betrachtet aufheben.
Ich habe diesen Gedanken an den Anfang meiner Erörterungen gestellt, weil es gerade im Rahmen schulpolitischer Diskussionen an diesem Realitätssinn gelegentlich zu mangeln scheint. Die Neigung, den Schattenwurf seiner eigenen Lösungsvorstellungen zu übersehen und die Vertreter anderer Vorstellungen moralisch abzuwerten, ist recht verbreitet. So werden viele die Behauptung, man könne Kindern grundsätzlich nicht jede Belastung ersparen, nicht als philosophische Aussage erkennen wollen, sondern dies als den Ausdruck eines unsensiblen Menschen betrachten.
2. Die Legitimation von Selektion
Grundsätzlich legitimiert sich eine institutionelle Handlung (z.B. die Kreation eines Schulsystems, die Erfindung und Handhabung eines Übertrittsverfahrens) durch den Nachweis, dass die gelösten Probleme die neu geschaffenen überwiegen.
Das Grundproblem, dem sich die Schule gegenübersah und noch gegenübersieht, wenn Selektion zur Diskussion gestellt wird, besteht in der unterschiedlichen Lernfähigkeit der Schüler. Ob dies, wie es einer traditionellen Ansicht entspricht, auf Vererbung beruht oder, wie neuere Theorien geltend machen, das Resultat von Milieu-Einflüssen ist oder, wie es wahrscheinlich wahr ist, beides zusammenwirkt, ist nicht von Belang, denn das Gymnasium (und zuvor schon die Sekundarschule) sieht sich dem nicht zu bestreitenden Faktum gegenüber, dass die Schüler unterschiedlich leistungsfähig sind. Daraus erwächst die klare Alternative: Entweder wird die Zielsetzung (grundsätzlich alle Schüler zur Hochschulreife zu führen) aufgegeben, oder es werden nicht alle Schüler aufgenommen. Ob es richtig ist, am gesetzten Ziel festzuhalten und als Folge davon einer grossen Zahl von Schülern eine weiterführende Bildung zu verweigern, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden (ich tue es), aber solange der politische Wille die Erhaltung der formulierten Zielsetzung fordert, resultiert mit Notwendigkeit die Selektion. Alles Weitere ist eine Frage des Wie.
3. Wer soll selektionieren: Zubringer- oder Abnehmerschule?
Beides hat Vor- und Nachteile, die es gegeneinander abzuwägen gilt.
Ich mache mich zuerst zum Anwalt für die Selektion durch die Abnehmerschule: Als Lehrer und Erzieher treten wir mit unseren Schülern in eine personale Beziehung, und darum soll all das, was wir mit Bezug auf die Schüler tun, das Gepräge des personalen Handelns haben. Sobald wir unsern Schülern als institutionell Handelnde entgegentreten, d.h. als Menschen, die einem übergeordneten System verpflichtet und darum nicht absolut frei sind, werden unsere Beziehungen zu ihnen widersprüchlich. Das geschieht natürlich oft, insbesondere im Zusammenhang mit dem Lehrplan, mit dem Schulzwang und mit dem Notensystem, aber in dem Masse, wie wir in der Lage sind, uns damit zu identifizieren, können wir diesen Widerspruch ausgleichen. Dieser Ausgleich gelingt aber im Bereiche der Selektion oft nicht mehr. Als Selektionierende stehen wir, nachdem wir uns über Jahre hinweg als Lehrer ganz für einen Schüler eingesetzt haben, ihm gegenüber plötzlich in einer andern Rolle: Wir vertreten nicht mehr seine persönlichen Interessen, sondern diejenigen der Gesellschaft, die legitimerweise das Funktionieren des Systems im Auge behält. Die Rollenteilung (Zubringerschule bereitet vor, Abnehmerschule entscheidet) entlastet daher die Lehrer der Zubringerschule: Sie sollen sich engagieren und ganz für den einzelnen Schüler da sein und ihm helfen, ein gesetztes Ziel so weit wie möglich zu erreichen, aber man nötigt sie dann nicht dazu, nun gewissermassen das Resultat ihres Bemühens selber beurteilen und dem Schüler, dem sie durch dick und dünn geholfen haben, allenfalls selbst die Grenze setzen zu müssen.
Und nun mache ich mich zum Anwalt für die Selektion durch die Zubringerschule: Natürlich werden Schüler mit guten Prüfungsergebnissen zu Recht ohne weiteres aufgenommen, denn niemand kann gescheiter tun, als er ist. Das Problem der Selektion durch die Abnehmerschulen liegt bei den mittelmässigen Schülern (bei den Grenzfällen, die es natürlich immer gibt) und insbesondere bei den Prüfungsversagern, die sehr gute Schüler sein können und darum ein Anrecht auf den Besuch des Gymnasiums und später der Hochschule haben. Die meisten Leser werden wohl aus eigener Erfahrung bestätigen können, dass Prüfungssituationen Angst zu erzeugen vermögen, und dann beginnt sich eben beim einen oder andern der alte Satz zu bewahrheiten: Angst macht dumm. Erfahrungsgemäss können Lehrer der Zubringerschule am sichersten sagen, welche Schüler für eine anspruchsvollere Stufe wirklich geeignet sind.
Es ist nicht nur angenehm, zweimal recht zu haben, denn jetzt kann ich nicht mehr gegen einen bösen Gegner kämpfen, sondern muss das Problem im eigenen Kopfe lösen.
Wenn ich mir nun vergegenwärtige, dass es im Rahmen einer personalen und von pädagogischem Geist geprägten Beziehung auch möglich sein sollte, einem Kind (bzw. seinen Eltern) auf eine für es annehmbare Weise verständlich zu machen, dass es (bzw. seine Eltern) sich allenfalls im Anspruch, ins Gymnasium zu kommen, versteigt und dass es auf einem andern Lebensweg glücklicher werden kann, und wenn ich mir weiter vergegenwärtige, dass ein Gymnasium keine Berufsausbildung mit ganz spezifischen Eignungsanforderungen anbietet, sondern Allgemeinbildung vermittelt, auf die eigentlich jeder ein Anrecht hätte, so gebe ich der Selektion durch die Zubringerschule den Vorzug. Aber ich muss sogleich einschränken: nur dann, wenn sie sich das Problem nicht so einfach macht, dass einfach starre Notendurchschnitte über das weitere Schicksal des Schülers entscheiden. Das Notensystem ist zwar gut für die Lehrer, weil Notenwerte praktisch unumstössliche Fixpunkte in unseren ausgeklügelten Beschwerdeverfahren darstellen, aber die Zukunft von Menschen einseitig oder ausschliesslich von erbrachten Leistungen und immerhin einigermassen frei gesetzten Notenwerten abhängig zu machen, erscheint mir doch reichlich verwegen.
4. Verbesserungsmöglichkeiten
Kürzlich habe ich im Kanton Zug in einer Kommission mitgewirkt, in der schliesslich Konsens darüber erzielt wurde, das bisherige Verfahren (von vorneherein festgesetzte Quoten für den Eintritt in die drei Züge Gymnasium, Sekundarschule und Realschule; Promillerang-System auf der Basis von Prüfungsergebnissen, Notenzeugnissen und Lehrerurteil; keine Probezeit) möge ersetzt werden durch ein neues, das die Selektion grundsätzlich vom Notensystem abkoppelt, die Entscheidung über die Zuweisung der Kinder in einen der drei Oberstufen-Typen dem Gespräch zwischen Lehrer, Eltern und Schüler anheimstellt und auch auf eine Probezeit verzichtet. Als Regulative sind Gespräche zwischen den Lehrern der Abnehmer- und der Primarschulen sowie die Aushändigung vom Standard-Aufgaben als Orientierungshilfe für die Primarlehrer vorgesehen. In Zweifelsfällen entscheidet die Erziehungsdirektion (was im kleinen Kanton Zug durchaus möglich ist). Das Rekursrecht bleibt gewahrt.
Ob dieses System von den Behörden gutgeheissen und schliesslich auch von der Lehrerschaft akzeptiert und sinngemäss angewendet wird, zeigt die Zukunft. Keinesfalls betrachte ich die Selektion durch die Zubringerschule als ein Allerheilmittel. Ich denke, dass dieses System – sofern richtig gehandhabt – weniger Fehlzuweisungen verursacht, aber mir ist auch bewusst, dass dies nur eintrifft, wenn sich die Lehrer und Eltern entsprechend engagieren und auch die damit verbundene Mehrarbeit auf sich nehmen. Grundsätzlich halte ich die Selektion durch die Zubringerschule dann für gut,
- wenn allen Beteiligten klar ist, dass nicht die in punktuellen Prüfungen erbrachten Leistungen, sondern die wirklichen Fähigkeiten und die Entwicklungsmöglichkeiten der Schüler ausschlaggebend sind,
- wenn die Lehrer die Ansprüche der weiterführenden Schulen genau kennen,
- wenn Eltern und Schüler über die Ansprüche und Zielsetzungen der verschiedenen weiterführenden Schulen bzw. Bildungswege rechtzeitig und umfassend aufgeklärt werden,
- wenn die Eltern und auch der Schüler selbst in den Entscheidungsprozess einbezogen werden (gemeinsames Gespräch),
- wenn regelmässige Gespräche zwischen den Lehrern der Zubringer- und Abnehmerschule stattfinden, um Erfahrungen auszutauschen,
- wenn den Lehrern der Zubringerschule Hilfen zur Beurteilung des Leistungsstandes gegeben werden,
- wenn sich die Lehrer der Zubringerschule der Gefahr bewusst sind, dem Druck aufsässiger Eltern (das gibt es eben) durch lasche Handhabung des Übertrittsverfahrens nachzugeben, und dementsprechend Mut entwickeln, ihre Überzeugung einzubringen.
Ich kann mir aber durchaus ein Selektionsverfahren vorstellen, das von der Abnehmerschule getragen wird. Das gegenwärtig durch die Gymnasien des Kantons St. Gallen praktizierte Verfahren könnte meines Erachtens allerdings verbessert werden. Aus der Sicht der Lehrerschaft bringt es natürlich manchen Vorteil, denn ausgewählt werden damit nicht bloss die guten Schüler, sondern gleichzeitig auch diejenigen, die unter den erschwerten Bedingungen des Prüfungsdrucks immer noch nicht versagen. Dass da manche Schüler unter die Räder kommen, die durchaus die Fähigkeit hätten, im Gymnasium und später an der Hochschule erfolgreich zu sein, zeigt sich naturgemäss im Nachhinein nicht mehr. Ein weiterer Nachteil dürfte darin bestehen, dass die Schüler sehr gezielt auf die Prüfungen eingefuchst werden, was nicht nur den Zubringerschulen einen pädagogisch fragwürdigen Prüfungsdrill einbrockt, sondern auch solchen Schülern einen Zugang zum Gymnasium eröffnet, die dazu eigentlich nicht besonders geeignet sind.
Eine wesentliche Verbesserung könnte m. E. dadurch erreicht werden, dass dem Urteil der Lehrerschaft der Zubringerschulen ein bedeutend grösseres Gewicht beigemessen wird. Zur Diskussion zu stellen wäre auch, ob man auf die Probezeit nicht besser verzichten würde. Die neu eingetretenen Schüler geraten oft unter einen Dauerdruck und erbringen dadurch schlechtere Leistungen, als wenn sie ihre Existenz an der Schule im Rahmen der normalen Promotionsordnung gesichert sähen.
5. Das Selektionsverfahren am Lehrerseminar St. Michael Zug
Ich bin gebeten worden, das Selektionsverfahren an jener Schule, an der ich unterrichte, kurz darzustellen, da das eine oder andere Element möglicherweise die Diskussion im Kanton St. Gallen anregen könnte.
Bei uns treten die Schüler in der Regel nach 9 Schuljahren (nach der 3. Klasse der Sekundarschule) ins Seminar ein. Wir sind eine private, und – was im Zusammenhang mit der Selektion noch wichtiger ist – eine Berufsschule. Wir halten uns daher klar für legitimiert, grundsätzlich selbst zu bestimmen, wen wir für lernfähig und geeignet genug halten, um Lehrer werden zu können. Wir nehmen uns auch die Freiheit heraus, Schüler, die uns charakterlich und in ihrem Verhalten sehr negativ auffallen, nicht zu berücksichtigen, weil wir wissen, dass der Erzieherberuf nicht bloss Ansprüche an den Intellekt stellt. Wir bilden uns freilich nicht ein, in unsern Entscheiden nicht irren zu können, bloss wissen wir nicht, wer es besser machen können sollte. Mit andern Worten: Wir akzeptieren die Unvollkommenheit. Aber es ist klar: Der Entscheid liegt bei der Abnehmer-, nicht bei der Zubringerschule. Diese wirkt insofern mit, als die Zeugnisse des Schülers lückenlos vorliegen und jeder Klassenlehrer um einen ausführlichen Bericht und eine Empfehlung auf einem vorstrukturierten Formular gebeten wird, die im Entscheidungsprozess klar mitberücksichtigt werden.
Die Kandidaten (im Seminar St. Michael gibt es nur Burschen) kommen während 3 Tagen intern ins Seminar. Wir prüfen sie in den folgenden 12 Bereichen: Deutsch, Französisch, Mathematik (je mündlich und schriftlich), Gespräch, Realien (von ihnen ausgewählte Themen), Musik, Zeichnen, Turnen, Werken. Dabei kommt es uns weniger darauf an, was der Kandidat an Wissen und Fertigkeiten, die möglicherweise einfach auf die Prüfung hin eingedrillt sind, mitbringt, sondern wie er sich in neuen Situationen anstellt. Wir möchten herausfinden, ob er lernfähig ist, ob er eine Beziehung zu einem neuen Lerngegenstand herstellen und selber überlegen kann – kurz: ob und wie weit er entwicklungsfähig ist. Wir betrachten ein Prüfungsverfahren, das bloss den aktuellen Stand festhält, ohne dass Hinweise auf die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten des Schülers berücksichtigt werden, für verfehlt.
Die Resultate werden nicht in Notenwerten festgehalten, sondern jeder Lehrer trägt sein Urteil in einer Übersicht in Form eines Pfeiles ein. Senkrecht nach oben heisst: Ich sehe ihn. Schräg nach oben heisst: Wohl eher ja. Schräg nach unten heisst: Wohl eher nein. Senkrecht nach unten heisst: Ich sehe ihn nicht.
An der Konferenz, die erfahrungsgemäss mehr als einen halben Tag dauert, nehmen alle prüfenden Lehrer sowie der Tutor (ein künftiger Fünftklässler, der die Kandidaten während der Prüfung im Internat und später die Erstklässler pädagogisch betreut) teil. Über Kandidaten, deren Pfeile alle nach oben (mit vereinzelten schrägen), und über solche, deren Pfeile alle nach unten (mit vereinzelten schrägen) zeigen, gibt es nicht viel zu diskutieren. Das betrifft in der Regel etwa ein Drittel der Prüflinge. Über die andern zwei Drittel wird ausführlich gesprochen. Dabei erläutert jeder der Prüfenden, wie er zu seinem Urteil gekommen ist, damit es den andern möglich wird, die Argumente zu gewichten. Als derjenige, der Deutsch schriftlich prüft, überprüfe ich, wenn die Urteile anderer Kollegen meinem eigenen (negativen) widersprechen, die Art und den Schweregrad der Fehler. Strukturfehler sind erfahrungsgemäss schwerer zu beheben als z.B. Orthographie- oder Stilfehler. Es gilt daher für mich auf der Basis meiner heute 12jährigen Erfahrung abzuschätzen, ob wir es uns zutrauen können, den Schüler in 5 Jahren so weit zu bringen, dass er fehlerfrei schreibt. Analoge Überlegungen machen meine Kollegen. Wir diskutieren in der Regel so lange, bis wir einen Konsens erreichen. Ob im Grenzfall eine Entscheidung richtig war, lässt sich später nur feststellen, wenn wir den Schüler aufgenommen haben. Gelegentlich leiden wir an unserer allzugrossen Nachsicht.
Wir können dieses Verfahren, zu dem wir stehen, weil wir kein besseres kennen, nur deshalb verwirklichen, weil wir als private Schule keine Rekurse zu befürchten haben. Stünden solche als Möglichkeit im Raum, wären wir wohl auch dem Zwang ausgesetzt, unser Urteil durch handfeste Zahlen „beweisen“ zu müssen. Dass man uns dann eine Zahl, die wir selber gesetzt haben, glauben würde, aber das Urteil, das dieser Zahlsetzung verausging, nicht, ist eine jener logischen Unsinnigkeiten, mit denen wir uns im 20. Jahrhundert offensichtlich abzufinden gelernt haben.