Arthur Brühlmeier

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Integrative Lehrerbildung

oder: Es war einmal ….

am Beispiel des Freien Katholischen Lehrerseminars St. Michael Zug (Schweiz), 1959 – 2007

Zum besseren Verständnis des folgenden Textes sei im voraus Folgendes bemerkt: In das hier dargestellte Lehrerseminar traten Burschen nach der Absolvierung von 9 Schuljahren (wovon die letzten 3 Jahre auf der Sekundarschulstufe oder im Progymnasium) im Alter von 16 Jahren ein und wurden in einem 5 Jahre dauernden Bildungsgang zu Lehrern ausgebildet. Im Alter von 21 Jahren wurden sie diplomiert, und dieses Lehrpatent bzw. Lehrdiplom berechtigte sie zur Führung der Klassen 1 bis 6 der Primarschule. Ohne den Kindergarten von 1 oder 2 Jahren anzurechnen, dauerte somit die gesamte Ausbildungszeit 14 Jahre. Demgegenüber erwerben die Schüler, die heute in der Schweiz Lehrer werden wollen, zuerst nach einer Schulzeit von 12 oder 13 Jahren (je nach Kanton) die Maturität und treten in die Pädagogische Hochschule ein, um in einem Bildungsgang von weiteren 3 Jahren die Lehrberechtigung für einzelne Fächer an der Primarschule zu erwerben. Die gesamte Ausbildungszeit beträgt (ohne Kindergartenjahre) somit 15 bzw. 16 Jahre.

Wenn ich als Lehrer über unsere Schule schreibe, so geschieht dies gewiss nicht ohne Voreingenommenheit: Was unseren Ideen entspricht und darum als Erfolg erlebt wird, drängt sich vor, und die vielen lästigen Mängel und Ungereimtheiten erscheinen eher als Ausdruck der allgemeinen menschlichen Schwäche denn als Folge unserer Absichten. Meine Sicht mag auch verklärt sein, weil ich gerne an unserer Schule wirke, und zwar vorwiegend aus zwei Gründen:

Vorerst: Wir können das, was uns pädagogisch erforderlich scheint, zumeist auch verwirklichen. Als private Schule verfügen wir über jenen Freiraum, der die Voraussetzung ist für eine kreative Gestaltung des Bildungs- und Erziehungsprozesses. Freilich stossen wir auch an unsere Grenzen, aber diese werden gesetzt durch unsere individuellen Beschränkungen und nicht durch unbewegliche Systeme. Der Kanton Zug, der unsere Schüler am Ende der Seminarausbildung nach bestandener Prüfung mit dem Lehrdiplom ausstattet, bezahlt einerseits die Kosten für jene Schüler (wir haben nur Burschen), deren Eltern im Kantonsgebiet wohnen, und subventioniert seit 1993 auch die Kosten der ausserkantonalen Seminaristen, respektiert aber auf der andern Seite unseren Privatschul-Status und bejaht unseren eigenständigen Weg.

Sodann: Wir Lehrer begegnen uns zumeist in Freundschaft, obwohl wir oft nicht gleicher Meinung sind und auch Spannungen und Konflikte nicht ausbleiben. Überhaupt geht bei uns das meiste über das Gespräch, und es gibt nur wenig Schriftliches. Ausser der Bildungsvereinbarung, die wir 1991 gemeinsam mit der Schülervertretung (siehe unten) geschaffen haben und die so etwas ist wie eine Schul-Verfassung, kenne ich kein Reglement, besitze ich keine Protokollsammlung und begegne ich nur selten schriftlichen Anweisungen des Direktors. Unsere Schule „funktioniert“ darum nicht im eigentlichen Sinne. Wir alle sind herausgefordert, sie täglich zu gestalten. Was die Kontinuität gewährleistet, sind nicht Paragraphen, sondern die Tradition, die Atmosphäre und der einigermassen konsequente Gestaltungswille der mitverantwortlichen Menschen. Nicht Vorschriften oder Mehrheitsbeschlüsse motivieren mich zum mitgestaltenden Tun, sondern meine pädagogische Sicht und das Erlebnis freundschaftlicher Verbundenheit mit meinen Kolleginnen und Kollegen.

Natürlich ist bei uns vieles so wie an jeder andern Mittelschule: Hinten sitzen Schüler, vorne unterrichtet ein Lehrer, und wenn die Glocke schrillt, kommt etwas anderes an die Reihe. Vielleicht werden Aufgaben erteilt, vielleicht ärgert sich der Lehrer, dass nicht alle Schüler ihre Aufträge in der gewünschten Sorgfalt erfüllt haben. Am Samstag freut man sich auf das freie Wochenende und am Semesterende auf die Ferien. Und wenn ein Seminarist über längere Zeit nicht genügende Leistungen erbringt oder seine Pflicht nicht tut, muss er mit seiner Entlassung rechnen.

Und trotzdem: Wir nutzen unsern Freiraum und gehen in manchem andere oder eigene Wege. Davon möchte ich berichten und dadurch etwas vom Geist und von der Atmosphäre unserer Schule sichtbar machen.

Das Schulleben

Eine Schule ist ein Organismus, der nicht beliebig und ungestraft ausgedehnt werden kann. Unser Seminar ist daher bewusst als kleine Schule konzipiert. Wir legen Wert auf Überschaubarkeit, wo grundsätzlich jeder jeden kennen und beim Namen nennen kann und wo sich als primäre, übergreifende Einheit ein die ganze Schule umfassendes Schulleben zu entfalten vermag.

Dieses Schulleben drückt sich vorerst einmal darin aus, dass sich die einzelnen Klassen nicht gegeneinander abkapseln. Für unsere neuen Erstklässler ist es meist ein eindrückliches Erlebnis, wenn sie spüren, wie sie von den älteren Schülern aktiv in die ganze Seminargemeinschaft aufgenommen werden. So werden sie etwa von oberen Klassen zu gemeinsamen Abendveranstaltungen oder Wanderungen eingeladen und erhalten Gelegenheit, sich auf originelle Art den Bisherigen vorzustellen.

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit kann immer wieder auf besonders intensive Weise erlebt werden im sog. „Grossen Kreis“. Zu dieser Versammlung treffen sich Lehrer und Schüler alle zwei bis drei Wochen. Hier können Klassen oder Gruppen irgendwelche Projektarbeiten darbieten, und jeder kann seine Anliegen zur Sprache bringen. Gelegentlich findet auch ein Konzert oder eine andere kulturelle Veranstaltung statt.

Selbstverständlich begünstigt ein Internat (rund zwei Drittel der Seminaristen sind intern) das Gedeihen eines übergreifenden Schullebens, denn die Schule ist dann nicht nur Stätte des Lernens, sondern auch Wohn- und Lebensraum. Unsere Schüler schlafen meist zu dritt oder viert in einem Zimmer und studieren zu zweit oder zu dritt in den Studierkojen. Es gehört zur „Seminarkultur“, dass sich die Schüler ihre Schlaf- und Arbeitsräume selbst möglichst wohnlich einrichten. Zweifellos wüssten die meisten Seminaristen ein Einzelzimmer zu schätzen. Die räumlichen Gegebenheiten (die Zimmer sind auch nur schlecht gegen Schall isoliert) erfordern indessen gegenseitige Rücksichtnahme und geben immer wieder Anlass zu Konflikten, deren Meisterung für die soziale Entwicklung junger Menschen von grosser Bedeutung ist.

Zum Schulleben gehört auch das gemeinsame Mahl. Wir verzichten auf Selbstbedienung in einer Mensa zum Zwecke der Kalorienzufuhr und essen gemeinsam im Speisesaal: Wir beginnen zur selben Zeit, verrichten ein Tischgebet, helfen einander beim Auf- und Abtragen, reden miteinander und warten, bis alle gespeist haben. Nach jedem Mahl besteht die Gelegenheit, Informationen weiterzugeben, Anliegen zu unterbreiten oder einem Mitschüler zum Geburtstag oder Ähnlichem zu gratulieren. Dass hier viele externe Schüler meist ausgeschlossen sind, ist ein wirkliches Problem. Die Informationen können zwar weitergegeben werden, aber das Gemeinschaftserlebnis lässt sich nicht vermitteln.

Michael ist nicht blosser Name, sondern geistige Wirklichkeit, die zu religiösem Leben beruft. Die Seminar-Gottesdienste sind darum nicht aus unserm Schulleben wegzudenken. Sie werden weitgehend von Schülern vorbereitet und gestaltet und lassen uns immer wieder spüren und erahnen, dass wir verbunden und verwurzelt sind in einer höheren Welt. Wenn jeweils ein Schüler einem Lehrer, der ihn eine Stunde zuvor im Unterricht belehrt hat, das eucharistische Brot reicht, wird erfahrbar, wo ein hierarchischer Bezug berechtigt sein mag und wo er seine Grenze findet. Das Erlebnis, in den wesentlichen Bereichen auf gleicher Stufe zu stehen, gibt dem Bemühen um eine lebendige Lehrer-Schüler-Beziehung das eigentliche Fundament.

Es ist uns wichtig, dass auch die einzelnen Klassen mehr sind als blosse Organisationseinheiten. Wir wirken dahin, dass sie im Rahmen des Schulganzen eigenständige und lebendige Gemeinschaften werden, in denen sich der einzelne getragen und angenommen fühlt und wo ihm in seinen Schwierigkeiten auch geholfen wird. Allwöchentlich finden ein oder zwei im Stundenplan vorgesehene „Klassenkreise“ statt. Einmal nimmt der Klassenlehrer daran teil, einmal sind die Schüler unter sich. In diesen Stunden können Probleme besprochen, Konflikte gelöst und Initiativen entwickelt werden. Die Klasse wird betreut durch den Klassenlehrer und geleitet durch den Klassenchef. Ein Klassenchef ist kein administrativer Lakai, sondern verfolgt gemeinsam mit dem Klassenlehrer und den übrigen Mitgliedern der „Klassenvertretung“den Verantwortlichen für religiöse Anlässe, für die Ordnung, für die Finanzen, für die kulturellen, sportlichen oder geselligen Anlässe und für die Information – pädagogische Ziele: Sie begleiten kritisch den gesamten Bildungsgang der Klasse, arbeiten Vorschläge für Spezialveranstaltungen jeglicher Art aus und bemühen sich darum, dass die Klasse lebendig bleibt (oder wird) und die Fähigkeit zum Zusammenleben weiter entwickelt.

Gemeinsame Verantwortung von Lehrern und Schülern fürs Ganze

Es ist sehr mühsam, gegen die Schüler eine Schule zu gestalten, und es ist sehr erfreulich und bereichernd, dies mit ihnen zu tun. Junge Menschen können in einer Schule seelisch und geistig nur gedeihen, wenn man sie ernst nimmt und ihnen die Möglichkeit einräumt, wirklichen Einfluss auf ihre Bildungsbedingungen zu nehmen. Und eine Schule bleibt nur solange lebendig, als sie Wert auf die Impulse legt, die von den Schülern her kommen.

Das bedeutet, dass man Abstand nimmt vom „Gewerkschaftsmodell“: hie die (arbeitgebenden und Leistungen fordernden) Lehrer – dort die (arbeitnehmenden und Leistungen verweigernden) Schüler. Zwischen Lehrern und Schülern dürfen keine echten Interessengegensätze bestehen, denn sie verfolgen dieselben Ziele. Bildendes Schulleben gedeiht dort, wo Lehrer und Schüler sich einem Auftrag verpflichtet fühlen, der alle in gleicher Weise bindet.

Wie gestaltet sich nun die Mitverantwortung von Schülern und Lehrern konkret?

Gegen den Schluss des Schuljahres und nachdem die einzelnen Kandidaten in einer „Wahlrede“ und in öffentlicher Befragung ihre Vorstellungen über ihre beabsichtigte Amtsführung im „Grossen Kreis“ klargestellt haben, wählen Schüler und Lehrer gemeinsam die neue „Schülervertretung“ (SV). Das ist ein aus früheren Zeiten stammender, unpassender Name für einen organisatorischen Rahmen, in welchem Schülermitverantwortung Gestalt annehmen kann. In die SV lassen sich nur solche Schüler wählen, die gewillt sind, in ganz besonderer Weise Zeit und Kraft einzusetzen, um unsere Schule mitzugestalten.

Die SV wird geleitet durch den Schülerchef. Dies ist ein Fünftklässler, der auch die „Grossen Kreise“ führt und als Hüter der Haus- und Lebensordnung dem Internat vorsteht. Der Schülerchef drückt unserer Schule mindestens so sehr seinen individuellen Stempel auf wie irgend ein Lehrer. Wir alle und natürlich in besonderer Weise der Direktor, der ebenfalls im Internat wohnt, sind daher stets dankbar, wenn eine starke, initiative, kreative und verantwortungsbewusste Persönlichkeit gewählt wird.

Zur SV gehört auch der Tutor. Dieser Fünftklässler ist der eigentliche Erzieher der Erstklässler. Er führt sie ins Leben des Seminars ein und unterstützt uns in den vier vordringlichsten pädagogischen Anliegen: dass die Erstklässler lernen, sich auf Neues hin zu öffnen, miteinander umzugehen, Eigenverantwortung zu entwickeln und konzentriert zu arbeiten. Er achtet auf die Einhaltung der Haus- und Studienordnung und steht seinen Schützlingen, wo immer es nötig ist, mit Rat und Tat bei. Von der Aufnahmeprüfung an nimmt der Tutor mit vollem Mitspracherecht an allen Konferenzen teil, die sich auf Probleme der 1. Klasse beziehen. Er begleitet die Erstklässler auch im Langlauf-Lager und pflegt gemeinsam mit dem Klassenlehrer den Kontakt mit den Eltern. Er lebt grundsätzlich im Internat und wird als einziges SV-Mitglied nicht gewählt, sondern vom Direktor nach Rücksprache mit uns Lehrern und der jeweiligen 4. Klasse ernannt.

Die weiteren Mitglieder der SV sind die Verantwortlichen für das religiöse Leben, für Seminar-Anlässe (Kultur und Sport), für Ordnung und Raumgestaltung und für Information sowie die Klassenchefs der 2. bis 5. Klasse. Zur Lösung der anstehenden Aufgaben arbeiten die Mitglieder der SV mehr oder weniger eng mit den entsprechenden Amtsinhabern der einzelnen Klassen, mit dem Direktor, mit einzelnen Lehrern, mit dem Hauspersonal, mit dem Verwalter oder mit irgendwelchen Schülern oder Schülergruppen zusammen.

Die SV befasst sich grundsätzlich mit allem, was unsere Schule betrifft. Sie ist verantwortlich für ein geordnetes Leben im Internat, pflegt den Kontakt zur Verwaltung und zur Küche, nimmt sich aber auch Problemen des Unterrichts und der Stundenplangestaltung an. Es gibt nichts, in das sie sich nicht „einmischen“ dürfte. Aber es geht dabei – das sei nochmals betont – nicht um ein Fordern aus einer oppositionellen Gesinnung heraus, sondern um die Suche nach Gemeinsamkeit, um Mitdenken, Mittragen, Mitarbeiten, Mitverantworten.

Auch wir Lehrer versammeln uns oft zu Zusammenkünften, obwohl vieles informell im Gang und im Lehrerzimmer besprochen wird. Neben den wöchentlichen Lehrerkonferenzen, wo wir uns gegenseitig informieren und vorwiegend organisatorische Probleme lösen, findet pro Semester für jede Klasse eine meist abendfüllende Klassenkonferenz statt, an welcher wir uns mit der Entwicklung jedes einzelnen Schülers auseinandersetzen.

Eine besondere Möglichkeit, unsere Mitverantwortung wahrzunehmen, bietet sich uns Lehrern, dem Verwalter, der Schulsekretärin und der Hausmutter an der jährlichen Januartagung. Während die Seminaristen im Schulpraktikum sind oder persönlich arbeiten, ziehen wir uns für drei Tage – teilweise unter Supervision eines Psychologen – in ein Bildungshaus in der Innerschweiz zurück. Wir besinnen uns auf unsere Aufgabe. Wir vergegenwärtigen uns, was erneuert werden muss und was verbessert werden kann. Wir versuchen immer auch wieder, uns persönlich zu begegnen, Schutt wegzuschaffen und Vertrauen zu entwickeln. Wir besprechen auch organisatorische Probleme und planen das kommende Schuljahr.

Pädagogische Leitgedanken

Bevor ich weitere Eigenheiten unserer Schule im organisatorischen Bereich darstelle, lege ich einige Gedanken nieder, die geeignet sein mögen, das Ganze von innen her zu verstehen. Bildungsarbeit darf sich nicht darin erschöpfen, den jungen Menschen auf gesellschaftliche Erfordernisse vorzubereiten. Der Lebenssinn des einzelnen Menschen reicht über seine gesellschaftliche Verflochtenheit und Verwendbarkeit hinaus. Daher muss jede Bildungsbemühung, soll sie menschlich sein, darauf abzielen, dem Heranwachsenden zu helfen, seine innere Berufung zu erkennen und wahrzunehmen. Der letzte Zweck von Erziehung und Bildung ist demgemäss stets die Menschlichkeit des jungen Menschen, und zwar in der nur ihm möglichen individuellen Ausprägung. Wenn daraus der gesellschaftlichen Entwicklung fruchtbare Impulse erwachsen, so ist dies eine Folge und niemals der Zweck erzieherischen Bemühens.

Was ist gemeint mit „Menschlichkeit“?

Ich gebrauche den Begriff im Sinne Pestalozzis. Er geht davon aus, dass in jedem Menschen „Kräfte und Anlagen“ bereitliegen, die allseitig und harmonisch zu entfalten sind. Der Mensch ist somit nicht gesehen als „leeres Gefäss“, das es mit Bildungsstoff „anzufüllen“ gilt, sondern als ein Organismus, der sich zu seiner optimalen Gestalt hin entwickeln muss. Die „Harmonie“ erreicht der Mensch in dem Masse, als die Kräfte des Kopfs, des Herzens und der Hand in lebendiger Übereinstimmung miteinander entfaltet werden. In dieser etwas abgegriffenen Formel scheint das Bild eines Menschen auf, der durch organische Verbindung von Denken, Fühlen, Werten, Wollen und Handeln zu seiner Identität findet. Diese Zielsetzung, die Pestalozzi als „Menschlichkeit“ bezeichnet, gilt in völlig gleicher Weise für alle Menschen, ganz unabhängig von ihren individuellen Begabungen und Verhältnissen.

Menschliche Kräfte entfalten sich nur durch deren Gebrauch. Die Denkkraft wächst durch das Denken, die Fähigkeit zu vertrauen durch Vertrauen, die Liebeskraft durch das Lieben, Tatkraft durch Tätigsein. Bilden bedeutet demnach: Verhältnisse schaffen, in denen die Menschen zum Gebrauch ihrer Kräfte angeregt werden.

Man kann es mit Nötigung, Druck, Zwang versuchen. Teilerfolge bleiben nicht aus, das beweisen unsere Schulen landauf, landab. Will man aber in die Tiefe, nachhaltig wirken, muss Freiheit gewagt werden, verbunden freilich mit Engagement. Das Engagement, ausgehend zumeist von den Lehrern und aufgenommen von den Schülern, begründet eine personale Beziehung. Im Schosse dieser Beziehung verbinden sich Freiheit und Führung, regen sich Kräfte zur Eigenaktivität. Leben erregt Leben.

Dadurch ist der Lehrer als ganzer Mensch gefordert. In dem Masse, wie er sich einlässt – einlässt ins Leben überhaupt und in seine Aufgabe – weckt er im Schüler die Bereitschaft, nicht bloss zu politisieren (sich wohlzuverhalten aus Berechnung), sondern sich ebenfalls einzulassen auf die Notwendigkeiten seiner Entwicklung. Das ist das Prinzip der Resonanz: Leben erregt Leben.

Der Seminarist darf diese Bildungsweise, soll sie in ihm wirksam werden, nicht bloss gelehrt bekommen. Der Bildungsprozess an einem Lehrerseminar muss vielmehr in sich modellhaft sein. Nur in dem Masse, wie dem künftigen Lehrer erlebbar gemacht werden kann, dass Bildung in lebendigen personalen Beziehungen und auf der Grundlage von Freiheit und Engagement fruchtbar wird, lässt sich gezielt auf eine Vermenschlichung der Volksschule hinwirken.

Der Mensch ist ein Wesen, das in besonderer Weise auf Gott bezogen und berufen ist, ihm durch sein Leben Antwort zu geben. Allgemein menschliche und religiöse Erziehung sind daher nicht zu trennen, sondern bilden eine Einheit. In der religiösen Verwurzelung erfahren wir den Sinn unserer individuellen Berufung und erhalten wir Kraft für eine Selbstverwirklichung in Demut. Ein als christliche Lebenspraxis verstandenes Ringen um die Überwindung von Hass, Aggression und Machtstreben durch Verständnis, Vertrauen, Offenheit und Liebe ist somit nicht bloss eine Frage der Moral oder der Psychologie, sondern ein Ausdruck einer erlebbaren Verbindung mit Christus und der göttlichen Welt. Der christliche Lebensweg eröffnet dem Menschen auch den Sinn für Ursprung und Bedeutung des Bösen, des Versagens, der Schwäche, der Angst und der Schuld und schafft dadurch einen geistigen Grund für die Annahme der Erlösungsgnade, für Selbstannahme in Selbsterkenntnis und für die Liebe auch zum Unvollkommenen.

Das Notenproblem

Noten sind in Verruf geraten – zu recht. Es wird sich kaum jemand finden lassen, der mit der Materie vertraut und zugleich noch überzeugt ist, Notenwerte bildeten objektive Tatbestände ab. Und wenn wir irgendeinen Notendurchschnitt deuten wollen, so finden wir kaum eine reale psychisch-geistige Entsprechung beim betroffenen Schüler.

Noten sind aber nicht nur unzulänglich, sondern auch schädlich. Sie zentrieren den Lernprozess zu einseitig auf sog. messbare Leistungen und lassen ihn zum blossen Mittel zum Zweck entarten. Lernen gehört indessen wesentlich zur menschlichen Existenz, weshalb der Lernprozess in sich selbst sinnhaft und erfüllend sein muss. Es kann auch leicht nachgewiesen werden, dass das Notendenken die Lern- und Leistungsmotivation übers Ganze gesehen mehr hemmt als fördert und dem Minimalismus Vorschub leistet. Schliesslich schürt der Kampf um gute Noten die Neigung zur Unehrlichkeit und stört oft die sozialen Beziehungen in einer Klasse ganz erheblich.

Also abschaffen! Gefordert ist das schnell, insbesondere, wenn man keine weiteren Zusammenhänge kennt. Man kann es nämlich drehen und wenden, wie man will: Solange mit dem Erreichen eines bestimmten Wissens- und Könnensstandes irgendwelche Berechtigungen – sei es zum Aufstieg in eine anspruchsvollere Schule, sei es zur Ausübung eines Berufs – verbunden sind, ist eine grenzsetzende und rekursfähige Bewertung des nachprüfbar gezeigten Wissens und Könnens unumgänglich. Lehnt man hierfür die rechtliche Anerkennung freier Ermessensentscheide der Prüfungsorgane ab, bleiben – Unzulänglichkeit und Schädlichkeit hin oder her – nur noch die Noten.

Trotzdem haben wir die gängige Notenpraxis im Frühjahr 1980 aufgegeben und beschreiten seither eigene Wege. Ich stelle unsere neue Lösung dar, indem ich die Notengebung in vier verschiedenen Situationen voneinander unterscheide:

  1. a) Aufnahmeprüfung:Wir verzichten hier auf das Errechnen von Notendurchschnitten. Die Kandidaten sind während drei Tagen im Seminar, die meisten intern, und werden von 10 Lehrern geprüft und vom Tutor begleitet und beobachtet. Jeder von uns versucht sich aufgrund der Analyse der gezeigten Leistungen und der Gesamtwahrnehmung des Kandidaten ein Bild zu machen, ob wir es uns zutrauen dürfen, ihn zum Lehrer auszubilden. In der Regel wägen wir im Gespräch über jeden einzelnen so lange ab, bis wir zu einem Konsens kommen. Wir sind sicher, dass dieses Verfahren zuverlässiger ist als das mechanische Errechnen von Durchschnitten, und sind darum auch bereit, unsere Entscheide zu verantworten. Wir sind aber ebenso sicher, dass wir nicht frei von Irrtum sind. Wir sind Menschen.
  2. b) Lemkontrollen:Ob in Lernkontrollen die Rückmeldung des Lehrers in Worten, in einem schriftlichen Kommentar oder in einer Zahl (Note), verstanden als Abkürzung eines qualitativen Urteils, erfolgt, ist so lange belanglos, als sich alle Beteiligten bewusst sind, dass die Bewertung subjektiv ist, und als niemand auf die Idee kommt, Beurteilungswerte zu irgendwelchen Durchschnitten zu verrechnen, die allenfalls über das Schicksal eines Schülers im Rahmen der Promotion oder der Diplomierung entscheiden sollen. Da wir keine Semesterzeugnisse mehr kennen, steht es jedem Lehrer frei, auf welche Weise er bei Lernkontrollen seine Beurteilung formulieren will. Persönlich verzichte ich zumeist auf Noten, kann es aber gut akzeptieren, dass andere Lehrer weiterhin Noten geben.
  3. c) Semesterzeugnisse:Die destruktive Wirkung der Noten ist eigentlich eineRückwirkung, nämlich vom nächsten Zeugnis her: Weil die Schüler die nachteiligen Auswirkungen schlechter Noten auf das nächste Zeugnis und die damit verbundenen Folgen fürchten, flüchten sich viele in Notenberechnerei und Betrug. Wir haben daher die Semesterzeugnisse ersetzt durch Lernberichte, welche die Schüler selber schreiben. Eine einzelne schlechte Leistung muss daher nicht durch Sonderleistungen kompensiert werden; es genügt festzustellen, dass der Lernerfolg im Rahmen der gesetzten Ziele liegt und dass sich der Schüler ernsthaft auf den Lerngegenstand eingelassen hat.

Zu unterscheiden sind die „grossen“ von den „kleinen“ Lernberichten. Die kleinen Lernberichte dienen der Kommunikation zwischen Schüler und Fachlehrer. Auf einem doppelseitigen Formular legt der Schüler sich selbst und dem Lehrer pro Quartal ein- oder zweimal Rechenschaft darüber ab, wo er in seinem Lernprozess steht. Damit soll der Schüler seine Fähigkeit zur Selbstbeurteilung entwickeln. Über diese muss er als Lehrer später in besonderem Masse verfügen, da ein beurteilender „Chef“ nur selten in Erscheinung tritt. Wir Lehrer beantworten die kleinen Lernberichte ebenfalls schriftlich, und es ist zuzugeben, dass uns das viel Zeit kostet. Ich meine, dass sich der Aufwand lohnt, da wir dadurch genötigt werden, uns nicht nur mit dem Stoff oder der Klasse, sondern mit jedem einzelnen Schüler zu befassen. Wir erhalten in den kleinen Lernberichten wertvolle Rückmeldungen, die zur Verbesserung des Unterrichts und der Lehrer-Schüler-Beziehung beitragen.

Die grossen Lernberichte ersetzen – wie bereits erwähnt – die traditionellen Semesterzeugnisse und bieten dem Seminaristen nach jedem halben Jahr Gelegenheit, sein gesamtes Lernverhalten intensiv zu überprüfen. In einem aufsatzartigen, 10 bis 20 Seiten umfassenden Text äussert er sich zu allgemeinen Fragen und zu jedem einzelnen Fach. Jeder Lehrer liest den allgemeinen Teil und das, was seine Fächer betrifft. Scheinen ihm Ergänzungen oder Berichtigungen nötig, schreibt er dies hin, andernfalls signiert er den Text bloss. Diese grossen Lernberichte bilden zuerst einmal die Grundlage für die Gespräche der bereits erwähnten Klassenkonferenzen. Gegebenenfalls schreibt der Klassenlehrer Bemerkungen oder Beschlüsse der Konferenz auf den Bericht. Anschliessend wird dieser den Schülern zu Handen ihrer Eltern zurückgegeben.

Natürlich müssen wir in den Klassenkonferenzen immer wieder entscheiden, ob der eine oder andere Schüler bloss provisorisch oder überhaupt nicht zu befördern ist. Wir tun auch dies nicht auf der Basis von Notendurchschnitten, sondern nach einer eingehenden Besprechung der gesamten Situation des Schülers und seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Als „Massnahmen“ kommen nicht nur die Versetzung ins Provisorium oder die Wegweisung in Frage; oft raten wir einem Schüler zu einer Therapie, gelegentlich auch zu einem Zwischenjahr in einem ausserschulischen Bereich, wenn wir glauben, dass ihm dadurch geholfen werden kann. Steht eine Wegweisung zur Diskussion, so kann der betroffene Schüler seine Sicht dem Direktor, dem Klassenlehrer oder dem Schülerberater zu Handen der Lehrerkonferenz unterbreiten oder aber, was immer wieder vorkommt, seine Sache selber vor der Lehrerkonferenz vertreten. Meist kann man sich einigen, gelegentlich nicht, und dann entscheidet die Lehrerkonferenz. Eine Rekursmöglichkeit besteht nicht, denn das würde uns zur Rückkehr zum Notensystem zwingen. Die Schüler und deren Eltern nehmen diese Regelung zu Beginn der Ausbildung zur Kenntnis.

Gegen das System der Lernberichte lässt sich einiges einwenden, vorab die Befürchtung, die Schüler könnten die eigene Situation besser darstellen, als sie wirklich ist. Dies ist indessen nur stichhaltig, wenn man davon ausgeht, dass die Lernberichte völlig objektiv sein müssten. In unserer Sicht haben sie aber einen vorwiegend pädagogischen Wert: Sie konfrontieren den Schüler immer wieder mit der Möglichkeit, sich zwischen Ehrlichkeit und Verschleierung, zwischen Öffnung und Abwehr zu entscheiden. Er kann aber die gewünschten Haltungen nicht ausbilden, wenn die negativen nicht möglich sind. Im übrigen haben wir Lehrer ja immer noch die Möglichkeit, unsere Sicht kundzutun.

  1. d) Diplomprüfungen:Unser Verhältnis zu den Schülern ist grundsätzlich zwiefältig. Einer­seits sind wir als ihre Erzieher gehalten, uns ganz auf ihre Seite zu stellen, andererseits müssen wir immer wieder – als Konsequenz unserer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und den künftigen Schülern unserer Seminaristen – überprüfen, ob sie aus unserer Sicht wirklich geeignet sind zur Ausübung des Lehrberufs. In jenen Fällen, in denen unsere Beurteilung mit dem Wunsch und der Selbsteinschätzung des Schülers kollidiert, nimmt uns dieser vorerst einmal als Gegner wahr und kann dies oft nur schwer in Einklang sehen mit unserer bisherigen fördernden Einstellung.

Dieses zwiefältige Verhältnis wird besonders deutlich bei den Diplomprüfungen. Hier ist uns auferlegt, in erster Linie die Interessen der Gesellschaft (der Eltern, Kinder, Behörden) wahrzunehmen und die persönliche Problematik eines Seminaristen hintanzustellen. Es gehorcht daher durchaus einer inneren Logik, wenn wir im Rahmen dieser Situation die erbrachten Leistungen gemeinsam mit dem Experten des Kantons mit Noten bewerten – dies auch, nachdem wir über 3, 4 oder 5 Jahre auf Benotungen verzichtet haben (gewisse Fächer werden bereits nach der 3. oder 4. Klasse abgeschlossen). Dabei behält das, was eingangs gegen die Noten gesagt wurde, seine volle Gültigkeit. Der Widerspruch bleibt, und man erwarte von uns nicht, ihn schlankweg lösen zu können, um so weniger, als er letztlich in der Unwägbarkeit geistigen Lebens und in der Unvollkommenheit und Beschränktheit des Menschen selbst begründet liegt.

Das Stundenplansystem

Die Aufteilung des Tages in 45  Minuten-Lernportionen lässt nur schwer ein Lernen in Musse aufkommen und zwingt den Schüler geradezu, „Prioritäten zu setzen“, d. h. sich in gewissen Fächern zurückzuhalten, um Kräfte zu sparen oder zu sammeln. Angesichts der 35 bis 40 Lektionen pro Woche kann man nicht erwarten, dass die Schüler mit derselben Intensität bei der Sache sind wie die Lehrer, die 25 Lektionen erteilen in einem Gebiet, das sie lieben und in dem sie sich zu Hause fühlen.

Die traditionelle „45  Minuten-Hackmaschine“ (Wagenschein) ist eine organisatorische Folge eines extremen Fachlehrersystems. Man muss sich darum, will man zu natürlichen Lernrhythmen kommen, zuerst über das Fachlehrersystem einige Gedanken machen: Schulisches Lernen hat einen Stoffaspekt und einen Beziehungsaspekt. In gewisser Weise verhalten sich die beiden zueinander komplementär: Legt man nämlich hohen Wert auf den Beziehungsaspekt, muss man dem Klassenlehrersystem (oder einem sehr gemässigten Fachlehrersystem) den Vorzug geben, denn die Pflege einer lebendigen zwischenmenschlichen Beziehung braucht Zeit. Legt man indessen hohen Wert auf den Stoffaspekt, so konfrontiert man die Schüler mit möglichst vielen Spezialisten, die in einem relativ schmalen Bereich über eine hohe Fachkompetenz verfügen. In beiden Fällen entsteht eine Überforderungssituation: Der Klassenlehrer, der viele oder gar alle Fächer erteilt, ist – je älter die Schüler werden, desto mehr – vom Stoff her überfordert, der Fachlehrer aber, der z. B. zwei Wochenstunden pro Klasse und damit meist über 200 Schüler unterrichtet, ist schlichtweg nicht in der Lage, alle seine Schüler als Individualitäten wahrzunehmen und auch ihre emotionale Problematik in den Unterricht einzubeziehen.

Das Dilemma ist nun aber mindestens teilweise lösbar. Vorerst sollte man sich vom Gedanken lösen, nur Spezialisten könnten die Schüler in einem Gebiet fördern. Junge Menschen können nämlich dadurch auch entmutigt und erdrückt werden, wenn nur hochkompetente Fachleute sie jahraus, jahrein belehren und fordern. Andererseits kann es für Schüler sehr motivierend sein, wenn sie gewisse Gebiete gemeinsam mit dem Lehrer erforschen und beackern. Man müsste also den Mut haben, auch in den Mittelschulen die Lehrkräfte nicht nur für jene Fachgebiete einzusetzen, in denen sie ihren Hochschulabschluss gemacht haben.

Eine etwas grosszügigere Zuteilung der Fächer an die Lehrer genügt allerdings nicht, um zu ausgeglicheneren Arbeitsrhythmen zu kommen. Wir haben verschiedene Stundenplansysteme ausprobiert; im Moment sind wir beim Phasenstundenplan angelangt: Wir teilen den Grossteil der Fächer einer Klasse in zwei Gruppen und das Schuljahr in zwei mal zwei gleich lange Phasen ein. Die einen Fächer werden nur in der Phase A, die andern nur in der Phase B, dafür jeweils mit doppelter Wochenstundenzahl erteilt. Der Stundenplaner erstellt somit pro Jahr zwei unterschiedliche Stundenpläne. Damit lassen sich grössere Stundenblöcke schaffen und Lektionen, die lediglich 45 Minuten dauern, in der Regel vermeiden. Die Schüler befassen sich dadurch pro Tag nur noch mit wenigen Fächern. Es hat sich allerdings gezeigt, dass wegen den ganz anders verlaufenden Rhythmen der Schulpraktika der Phasenstundenplan in der 4. und 5. Klasse nicht durchzuhalten ist.

Der Phasenstundenplan ermöglicht es, dass mit mehr Musse und Konzentration gearbeitet werden kann. Dass längere Unterbrüche entstehen, kann man als Vor- oder Nachteil sehen, je nachdem, wie man sich zum Vergessen stellt. Fasst man dieses als ein Absinken bewusster Inhalte ins Unbewusste auf, wo eine gewisse Verarbeitung im Sinne der Klärung, Umgewichtung und Selektion stattfindet, stellt es einen notwendigen Teil des Lernprozesses dar. Einen Nachteil sehe ich darin, dass sich Unterrichtsausfälle, wie immer auch bedingt, stets sehr stark auswirken.

Die 1. Klasse als Einführungsjahr

Viele Erstklässler haben sich in den 9 Jahren Volksschule dem Schulunterricht gegenüber eine defensive Haltung angewöhnt: Sie halten den Stoff für irrelevant und langweilig, arbeiten nur unter Notendruck und gerade so viel, wie verlangt wird, und empfinden die Lehrer grundsätzlich als Gegner, die es zu überlisten gilt. Die Maxime für die mündliche Beteiligung heisst: vorsichtig sein, sich keine Blösse geben, nur reden, wenn man sicher ist, gut anzukommen.

Das versuchen wir zu ändern. Die Schüler sollen Freude am Lernen bekommen, erleben, dass es sich lohnt, sich ganz in eine Sache einzulassen, sie sollen kreativ werden, ihre Begabun­gen entfalten und nicht stets auf die Leistungen der Mitschüler schielen, um mangelndes Engagement entschuldigen zu können, sie sollen eigenverantwortlich werden und aufhören, bloss gute Noten erzielen oder dem Lehrer gefallen zu wollen, kurz: sie sollen durch das Lernen sich selbst werden.

Der Weg ist nicht leicht. Das Wichtigste ist, dass sich die Schüler öffnen, dass sie also bereit sind, Neues ohne Abwehrreflex entgegenzunehmen, und sich angewöhnen, eine Sache zuerst kennenzulernen und erst dann zu beurteilen. Das ist zumeist verbunden mit dem Erfordernis, sich von eingewurzelten Vorurteilen zu trennen und seinen Standpunkt in Frage zu stellen. Bekanntlich lässt sich das alles nicht befehlen, sondern nur bewirken. Die Voraussetzung sind mitmenschliche Beziehungen, in denen man sich angenommen fühlen kann und wo man spürt, dass sich Vertrauen lohnt und nicht missbraucht wird. Hier gedeiht Mut auf Neues hin.

Ein Teil dieser Aufgabe – dem Schüler zu helfen, sich auf Neues hin zu öffnen – ist mir übertragen und zwar am sog. „Grünen Dienstag“. Er heisst so, weil meine Stunden im Stundenplan grün markiert sind und ich mit den Erstklässlern jede Woche einen ganzen Tag arbeite. Theoretisch sind mir die Stunden von Deutsch, Geschichte, Religion und Didaktik zugeteilt. Nun bilden diese Fächer in meinem Unterricht zwar das Schwergewicht, ich bringe aber auch andere Gebiete ein, die mir wichtig sind und die ich von einer andern Warte aus angehe als der wissenschaftlich gebildete Fachlehrer: Kunstbetrachtung, Musikhören, Meditation, Gespräche über soziale Beziehungen in der Klasse, Philosophie, Botanik, Pädagogik, Psychologie u. a.

Mein erstes Anliegen ist es, dass die Schüler lernen, auf ihre Gefühle zu achten, und Mut entwickeln, sie auch in der Gemeinschaft auszusprechen. Viele erfahren dabei nach ihren eigenen Aussagen (leider) erstmals, dass man auch einmal schwach sein darf, ohne gleich von den Mitschülern (oder vom Lehrer) verletzt, missbraucht oder gar zerrissen zu werden. Und weil sie erleben, dass ihre Gefühle ernst genommen werden, beginnen sie auch allmählich, die Gefühle ihrer Kameraden zu respektieren. In dieser Atmosphäre wächst Vertrauen, und in diesem Vertrauen beginnen die Schüler, sich zu öffnen. Sie hören auf, reflexartig alles Neue zu verneinen, und lassen sich ein in Gebiete, auf die die meisten bis anhin spuckten: Sie vertiefen sich intensiv in eine Fuge von Bach und in ein Gemälde von Miro.

In allem ist mir wichtig, dass sich Beobachten, Denken, Urteilen, Fühlen, Werten und Handeln miteinander verbinden. Durch dieses ganzheitliche Erleben gelingt es ein Stück weit (nicht bei allen in gleichem Masse), das Lernen aus Zwang oder bestenfalls aus Pflichtgefühl durch ein Lernen aus Einsicht und aus Freude zu ersetzen.

Dank des grosszügigen zeitlichen Rahmens ist ein kreativer Unterricht möglich: Gespräche werden nicht durch das Glockenzeichen abgebrochen, sondern beendet, wenn sie sich natürlich erschöpfen. Impulse der Schüler werden aufgegriffen und in gebührender Weise weiterverfolgt, so dass jeder spürt, dass er wichtig ist und ernst genommen wird. Themenwechsel werden spontan aus der Wahrnehmung der konkreten Situation heraus entschieden. Hektik wird weitgehend vermieden, ein Arbeiten in Musse wird selbstverständlich.

Die Lernfreude lässt sich leichter wecken, wenn dem Schüler möglichst weite Freiräume zugestanden werden. In meinem Unterricht erfährt er dies deutlich beim Üben des schriftlichen Ausdrucks. Im allgemeinen schreiben heute Oberstufen­ und Mittelschüler viel zu wenig. Richtig Deutsch schreiben ist anspruchsvoll und bedarf intensiver Übung. Die Erstklässler führen daher zwei Texthefte: Eines liegt bei mir zur Korrektur, im andern arbeitet der Schüler. Was, worüber und wieviel er schreibt, entscheidet vorerst nur er. Ich korrigiere, was er mir vorlegt, und schreibe meine (meist aufmunternden) Kommentare darunter, setze aber niemals Noten. Nach einigen Wochen oder Monaten wird es möglich, den Schüler individuell zu führen: Dem einen rate ich, stärker in sich hineinzuhören und seine Gefühlswelt einzubeziehen, den andern fordere ich auf, sich vermehrt mit gedanklichen Themen auseinanderzusetzen, und einen weiteren bitte ich, genauer zu beobachten und zu beschreiben. Wieder ein anderer bekommt den Rat, Geschichten aus der eigenen Phantasie heraus zu erfinden oder sich exakt an tatsächliche Begebenheiten zu halten. Damit wirke ich der Gefahr entgegen, dass die Schüler eine Masche entwickeln und sich routinemässig wiederholen. Schreibt jemand über längere Zeit sehr wenig oder bleiben im formalen Bereich die nötigen Fortschritte aus, so suche ich das Gespräch. Meist zeigt es sich, dass hinter den sprachlichen Schwierigkeiten tiefer liegende persönliche Konflikte verborgen sind. Werden diese ernst genommen und entsprechend angegangen, so lösen sich meistens auch die Probleme im Lernbereich.

Ich gestalte diesen Unterricht nun bereits während 17 Jahren. Jedes Jahr erstaunt es mich neu, wieviel Fleiss und Originalität freigesetzt werden kann. Schüler, die in den letzten Schuljahren keinen Buchstaben freiwillig schrieben und pro Jahr bloss die erforderten vier, fünf (gelegentlich auch mehr) Aufsätze abgaben, verfassen wöchentlich einen oder gar mehrere Texte, so dass sie oft selbst verblüfft sind über das, was sie können. Ihr Selbstvertrauen wächst und damit auch die Bereitschaft, den Massstab für die Leistungen in sich selbst zu suchen.

Ganz allgemein ist es wichtig, dass Schüler dieses Alters in bisher verschlossene oder unbekannt gebliebene Räume geführt werden und dass sie in all diesen Räumen stets wieder dem Menschen, diesem „hohen Wunder der Natur“ (Pestalozzi), begegnen. Die Erstklässler befassen sich daher im Rahmen meines Unterrichts je zu zweit mit der Biographie bedeutender Menschen und zwar in einer solchen Gründlichkeit, dass sie frei über deren Leben und Werk referieren und sich von der Klasse kreuz und quer darüber ausfragen lassen können. Ich bin überzeugt, dass sich eigene Möglichkeiten des Menschseins in der Begegnung mit bedeutenden Menschen entzünden. Überdies erfahren die Schüler in dieser Arbeitsweise das Wesen der Unterrichtsvorbereitung, denn nur dort, wo ein Lehrer hinlänglich aus dem Vollen schöpfen kann, wirkt er im eigentlichen Sinne befruchtend.

Aus dem „Grünen Dienstag“ heraus wächst auch die Arbeit am Herbarium, deren Fortgang der Biologielehrer betreut. Damit können viele Ziele gleichzeitig angegangen werden. Vorerst geht es einmal darum, dass die Schüler zur Pflanzenwelt als einem allgegenwärtigen Naturphänomen eine einigermassen intime Beziehung entwickeln. Ich betrachte alle Liebeserklärungen „an die Natur“ oder „an die Blumen“ für schönen Selbstbetrug, wenn man nicht eine gewisse Leidenschaftlichkeit im genauen Hinsehen und Kennenlernen entwickelt. Der Schüler soll erfahren, dass das Benennen eine menschliche Grundgebärde darstellt und gleichbedeutend ist mit dem wesensmässigen Erfassen eines Sachverhalts. Weiter erfährt der Schüler beim Bestimmen der Pflanzen exemplarisch eine Möglichkeit, wie der Mensch in einer chaotisch scheinenden Vielfalt durch Über-, Neben- und Unterordnung wesentlicher Merkmale eine Systematik erschafft und so die Phänomene seinem Denken angleicht. Darüber hinaus lernt der Schüler bei der Arbeit an seinem Herbarium, sich über längere Zeit einer Sache zu widmen und trotz innerer und äusserer Widerstände durchzuhalten.

Ganz neu für unsere Erstklässler ist das, was wir als Bewegungsimprovisation bezeichnen. Unter Anleitung eines Psychomotorik-Therapeuten lernen die Schüler, ihren Körper bewusst wahrzunehmen, richtig zu stehen, gehen, liegen, sitzen, sich harmonisch und gelöst zu bewegen und Gefühlen, Haltungen und inneren Bildern durch den Körper Ausdruck zu geben. Der wöchentliche Unterricht von zwei Stunden in Halbklassen wird ergänzt durch eine Konzentrationswoche.

Die Geographie wird als Heimatkundeunterricht gestaltet. Dabei sollen sich die Schüler nicht in erster Linie Wissen aneignen, das von andern Menschen zu Tage gefördert wurde, sondern durch eigenes Tun und Erleben zu Ergebnissen kommen. Im Zentrum des Unterrichts steht die Landschaftsbetrachtung. Einerseits lernen die Schüler hier, genau zu beobachten, auch dort hinzusehen, wo sich nichts bewegt, Fragen zu stellen, logische Schlüsse zu ziehen und ihre Beobachtungen in einem Feldbuch in Wort und Bild festzuhalten, andererseits erleben sie die Landschaft als etwas Gewordenes, als deutbare Gestalt, als ein Gebilde mit verdeckter Architektur, das mit dem Menschen in einem Wechselverhältnis steht.

Der Erwerb einer Fremdsprache greift tief in die Seele eines Menschen. Deshalb soll die Entscheidung der Schüler, ob sie neben Französisch Englisch oder Italienisch lernen wollen, nicht von blossen Zufälligkeiten abhängen. Die drei Fremdsprachlehrkräfte arbeiten darum mit den Schülern in den ersten beiden Schulwochen – gestaltet als Konzentrationswochen mit den Fremdsprachen als Schwerpunktthema – und während des ersten Quartals an einem gemeinsamen Projekt. Durch das Einüben in den Vortrag fremdsprachiger Gedichte und szenischer Spiele sollen die Schüler möglichst ganzheitlich in den neuen Sprachkorpus eintauchen und so ein Gespür für die neue Sprache entwickeln. Im Laufe des Semesters tragen die Erstklässler ihre Gedichte und Szenen im „Grossen Kreis“ vor und entscheiden sich dann, ob sie Englisch oder Italienisch belegen wollen.

Für die meisten Erstklässler eine neue Erfahrung ist das dreiwöchige Sozialpraktikum während der Sommerferien (eine Woche Schulzeit, zwei Wochen Ferien). Hier sollen die Schüler helfen, zupacken und die eigenen Wünsche zurückstellen lernen und Einblick erhalten in andere Lebensverhältnisse.

Am Übergang von der 1. in die 2. Klasse, unmittelbar nach den Sommerferien, gehen sie mit dem Klassenlehrer für zwei Wochen ins Wanderlager. Bepackt mit Verpflegung und Zelt steigen sie quer über die südlichen Walliser Täler von der Grande Dixence bis ins Obergoms oder ins Bedrettotal. Dies bedeutet für alle eine grosse körperliche und soziale Herausforderung und bietet Gelegenheit, die eigenen Grenzen zu erfahren, Selbstvertrauen zu entwickeln und an den Konsequenzen des eigenen Handelns zu reifen.

Vorbereitet wird das Wanderlager unter der Leitung des Turnlehrers während des Sommerquartals, unter anderem in einer Wochenendveranstaltung. Hier lernen die Schüler den Umgang mit Zelt und Kochtopf, gewöhnen sich an die Wanderschuhe und lernen ihre Kameraden in neuen Situationen kennen. Überdies wandern sie am Fest Christi Himmelfahrt gemäss einem alten Zuger Brauch (meist in der Nacht) von Zug nach Einsiedeln. Auch diese Wallfahrt führen wir einfach durch, ohne lange zu fragen, damit die Schüler von der zweiten Klasse an, wo diese Veranstaltung freiwillig ist, wissen, worüber sie entscheiden. Der Erziehung zur Freiheit liegt die unsentimentale Regel zu Grunde, die Schüler zuerst ohne viel Aufhebens in neue Erfahrungsräume hineinzuführen und sie dann in die eigenen Entscheidungen zu entlassen.

In diesem Sinne ist auch das obligatorische Abendstudium während der 1. Klasse zu verstehen. Hier lernen die Schüler an vier Abenden pro Woche von halb acht bis neun Uhr das regelmässige, ruhige, persönliche Arbeiten. Am Problem der Stille im Studiumsraum entzünden sich immer wieder soziale Konflikte, an deren Bewältigung die Seminaristen lernen.

In der 1. Klasse lernen die Schüler neben dem Unterricht im Hauptinstrument, das nach der 3. Klasse abgeschlossen werden kann, auch das Spielen der Gitarre als Schulinstrument. Der Unterricht findet in Kleingruppen statt.

Besondere Veranstaltungen

Bedingt durch unsere flexible Organisation und einen flexiblen, geduldigen Stundenplaner können wir teils neben dem stundenplanmässigen Unterricht, teils im Rahmen des Phasenstundenplans auch solche Bildungsveranstaltungen realisieren, die sich vom üblichen Fächerkanon her nicht ohne weiteres aufdrängen. Es würde zu weit führen, jede dieser Veranstaltungen von ihren pädagogischen Begründungen her detailliert darzustellen; die wesentlichsten seien darum summarisch erwähnt:

Jedes Jahr ziehen sich die einzelnen Klassen zu unterschiedlichen Zeiten für drei Tage in ein Bildungsheim zurück zu den sog. Besinnungstagen. Hier widmen sich die Schüler unter Anleitung eines Lehrers oder einer aussenstehenden Persönlichkeit allgemeinen Lebensfragen, Problemen des Zusammenlebens oder Fragen partnerschaftlicher Beziehung. Die Gespräche sind zumeist eingebettet in einen religiösen Rahmen. In der 5. Klasse ist die Teilnahme freiwillig.

In den Stundenplänen aller Klassen stehen pro Woche zwei obligatorische Lesestunden. Wir haben nämlich festgestellt, dass es viele Schüler (und Lehrer) nicht schaffen, neben ihren täglichen Anforderungen noch genügend Musse zu finden, um auch noch private Lesebedürfnisse zu befriedigen. Wir sind aber überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit Erzeugnissen der Literatur einen wichtigen Beitrag zur geistig-seelischen Entwicklung des Menschen darstellt, und möchten daher, dass sich der künftige Lehrer das regelmässige Lesen angewöhnt. Damit die Lesestunden nicht zum unverbindlichen „Plausch“ entarten, haben wir einen klaren Rahmen gesetzt, der einen weiten Freiraum zur eigenverantwortlichen Gestaltung gewährleistet: Gelesen wird in einem Buch, das nicht für den Unterricht ohnehin bearbeitet werden muss, und zwar zu den festgesetzten Stunden im selben Raum und unter Anwesenheit eines ebenfalls lesenden Lehrers. Wir Lehrer mischen uns grundsätzlich nicht in die Wahl der Lektüre ein.

Im Winter organisieren die einzelnen Klassen einwöchige Sportlager. In der 1. Klasse widmet man sich dem Langlauf, in der 2. Klasse dem alpinen Skisport, in der 3. Klasse den Skitouren, in der 4. Klasse der Mit-Leitung eines Skilagers, und die Fünftklässler tun das, was ihnen beliebt.

Jedes Jahr üben die Zweitklässler im Rahmen des Deutschunterrichts ein grösseres Theaterstück ein, das dann öffentlich aufgeführt wird. Die Stücke werden so gewählt und die Rollen – zumeist nach dem Zufall – so aufgeteilt, dass alle etwa zu gleichen Teilen engagiert sind.

In jüngerer Zeit werden die einzelnen Klassen auch vermehrt als Chöre im Rahmen von öffentlichen musikalischen Darbietungen eingesetzt, wobei dann die Zusammenarbeit mit den beiden Frauen-Seminarien – Cham und Menzingen – gepflegt wird.

Die Drittklässler gehen jeweils im Sommer für 3 Wochen (2 Wochen zu Lasten der ordentlichen Schulzeit, eine Woche zu Lasten der Sommerferien) in der Regel ins Welschland in einen Fremdsprachaufenthalt, um insbesondere ihre mündliche Sprachkompetenz zu verbessern. Demselben Ziel dient auch das Französisch-Theater, das so gestaltet wird, dass jeder Schüler aktiv mitwirken kann.

Im Herbst unternimmt dann ein Teil der Fünftklässler für drei Wochen (zur Hauptsache in den Ferien) eine grössere Wallfahrt auf dem alten Pilgerweg nach Santiago di Compostella. Teilnehmen soll nur, wer sich das Geld selbst verdient hat.

Jährlich finden 1 bis 3 Konzentrationswochen statt. Die Thematik steht entweder traditionsgemäss fest (in der 4. Klasse eine „Wirtschaftswoche“, in der 3. Klasse ein „Gordon-Kurs“, in der 5. Klasse eine „Heilpädagogikwoche“ in verschiedenen Heimen und nach den Sommerferien zwei „Staatskundewochen“) oder wird von der Klasse in Zusammenarbeit mit dem Klassenlehrer festgelegt. In der Woche vor den Sommerferien machen die Lehrer für klassenübergreifende Interessengruppen die verschiedensten Lernangebote, aus denen die Schüler auswählen können.

Wir sind der Überzeugung, dass ein Lehrer die Fähigkeit haben muss, ein breites Spektrum von Interessen entwickeln zu können. Diesem Ziel dienen die vier selbständigen Arbeiten, welchen sich die Viert- und Fünftklässler während je einem Semester widmen. Dabei behandeln sie je ein selbstgewähltes Thema aus dem sprachlichen, dem naturwissenschaftlich-mathematischen, dem anthropologisch-philosophischen und dem musisch-kreativen Bereich. Wöchentlich finden Besprechungen mit den Lehrern statt, welche die Schüler in ihrem selbständigen Arbeiten begleiten, und am Schluss des Semesters stellt jeder seine Arbeit den beiden versammelten Klassen vor.

In der Regel führt jede Klasse einmal pro Jahr einen Elterntag durch, um ihren Angehörigen Gelegenheit zu geben, die Schule, alle Klassenmitglieder und deren Eltern kennenzulernen.

Die berufsspezifische Ausbildung

Ich hoffe, klargemacht zu haben, dass wir Lehrerbildung grundsätzlich als Persönlichkeitsbildung verstehen. Als künftiger Lehrer kann man sich nicht einfach „Wissen und Fertigkeiten aneignen“ und dann glauben, man sei der Berufsaufgabe genügend gewachsen. Ob ein Lehrer segensreich wirkt, hängt wesentlich an anderem: an seiner eigenen Lebenskultur, an seiner Liebesfähigkeit, an seinen Idealen, an seiner Kraft, an seiner Demut und an seiner Fähigkeit, aus Berufung zu handeln.

Im Rahmen dieser Persönlichkeitsbildung ist unser Bildungsauftrag zwiefältig:

  • Einerseits bemühen wir uns, den Seminaristen in inhaltlicher (stofflicher) Hinsicht auf den Lehrerberuf vorzubereiten (sog. „allgemeinbildende“ bzw. „fachwissenschaftliche“ Komponente);
  • anderseits versuchen wir, im Seminaristen jene Erkenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen zu entwickeln, die ihn befähigen, die für seine Schüler geeigneten und notwendigen Inhalte auf der Basis einer tragfähigen pädagogischen Theorie zu erkennen und sie auf pädagogisch, psychologisch und methodisch korrekte Weise zu vermitteln (sog. „berufsspezifische“ Komponente).

Es liegt nun im Wesen des integrativen Weges der Lehrerbildung, dass die beiden erwähnten Komponenten miteinander verbunden werden. Dabei stehen uns zwei Möglichkeiten zu Gebote:

  1. Die fachdidaktischen Anliegen werden in den „allgemeinbildenden“ Unterricht einbezogen. Diese organische Verbindung der beiden Bildungsaufträge kommt bei uns in fast allen Fächern – wenn auch unterschiedlich – zum Tragen. Wenn z. B der Deutschlehrer der 3. Klasse die Seminaristen einen regelmässigen schriftlichen Kontakt mit Primarschülern pflegen lässt, um so entwicklungspsychologische Gesetzmässigkeiten und den Zusammenhang zwischen eigener Sprachkompetenz und der Fähigkeit, spracherzieherisch zu wirken, erlebbar zu machen, so findet eine ideale Verbindung statt zwischen einem Bildungsinteresse, das direkt auf die Person des Seminaristen bezogen ist und mit seinen gegenwärtigen Bildungsnotwendigkeiten übereinstimmt, und einem Bildungsbedürfnis, das sich allein von einer künftig gedachten Berufsaufgabe her ableiten lässt.
  2. Wesentliche „berufsspezifische“ Bildungsanliegen werden im eigenständigen Psychologie-, Pädagogik- und Didaktikunterricht angegangen. Die Verbindung des berufsspezifischen Teils mit dem übrigen Unterricht ist demzufolge nicht organischer, sondern lediglich organisatorischer Natur, da beide Bildungsanliegen zwar zeitlich miteinander, in inhaltlicher Hinsicht indessen voneinander getrennt gepflegt werden.

Obwohl bei beiden Lösungen immer wieder praktische Kontakte mit Primarschülern ermöglicht werden, benötigen die Seminaristen doch ein breiter ausgebautes Übungsfeld. Sie erhalten daher in der „Schulpraxis“ Gelegenheit, den Schulalltag beobachtend und mitgestaltend kennenzulernen und das handwerkliche Rüstzeug zu üben:

Diese Einübung ins Schulehalten beginnt bereits in der 1. Klasse, indem die Seminaristen 4 Schwimmlektionen mit 1 bis 2 Unterstufenkindern erteilen. In der 2. Klasse können sie ihre Lehrfertigkeiten erweitern in 4 Schreiblektionen mit 7 bis 8 Kindern der Mittelstufe I und 4 Werkstunden mit einer Kleingruppe auf derselben Stufe. In der 3. Klasse erteilen sie schliesslich 10 Turnstunden, ebenfalls auf der Mittelstufe I.

Unser Modell der schulpraktischen Ausbildung wurde verwirklicht in bewusster Anlehnung an das Meister-Lehrlings-Verhältnis und gestattet, die gängige Kultivierung der mustergültigen Einzel-Lektion zu überwinden. Der Schulalltag ist ja durchaus nicht die Summe einzelner Lektionen, sondern ist gekennzeichnet durch Kontinuität in der Kommunikation und in den erzieherischen Absichten, durch einen ausgreifenden stofflichen Aufbau sowie durch eine Vernetzung aller nur denkbaren Komponenten. Der Seminarist soll durch aktive Teilhabe an diesem Prozess so nah wie nur möglich in die Praxis eingeführt werden.

Diese Anliegen können am konsequentesten in den Schul-Praktika gepflegt werden. Bereits in der 1. Klasse gehen unsere Seminaristen für drei Tage ins sog. „Schnupperpraktikum“. Diese Massnahme wirkt sich motivierend auf das gesamte Lernen aus und ist auch ein Beitrag, noch unsichere Berufsentscheide klären zu helfen. In der 2. Klasse dauert das Praktikum zwei Wochen und in der 4. und 5. Klasse auf jeder der drei erwähnten Primarschul-Stufen je drei Wochen. Die Viert- und Fünftklässler absolvieren ihre Praktika jeweils in jenen Klassen und bei jenen Lehrern, die sie bereits von der vorausgehenden Schulpraxis-Phase her kennen. In diesen arbeiten sie einen ganzen Tag pro Woche – zuerst zu zweit, dann allein – in der Schulstube eines Primarlehrers, wobei jeder Seminarist im Verlaufe der zwei Jahre von der Mittelstufe I (3./4. Klasse) über die Unterstufe (1./2. Klasse) zur Mittelstufe II (5./6. Klasse) wechselt.

Der Seminarist kommt im Verlauf seiner berufsspezifischen Ausbildung mit ziemlich vielen Lehrern und Praxisleitern in Kontakt, so dass er kaum so etwas wie eine „einheitliche Doktrin“ – sofern dies überhaupt wünschbar wäre – erlebt. Um die Widersprüche in einem erträglichen Masse zu halten und sie im Rahmen des Möglichen zu verarbeiten, werden die Fächer Pädagogik und Psychologie vom selben Lehrer erteilt und werden die Praxisleiter immer wieder zum Gespräch ins Seminar eingeladen.

Die Schülerberatung

Im allgemeinen werden die Funktionen des Lehrers und des psychologischen Beraters für nur schwer vereinbar gehalten. Trotzdem wurde ich bei meiner Anstellung mit drei Aufgaben betraut: Gestaltung des „Grünen Dienstags“, Pädagogik-/Psychologie-Unterricht und Schülerberatung. Mehrjährige Erfahrung hat gezeigt, dass der Entschluss eines Schülers, zur Bewältigung eines Problems irgendwelcher Natur das Gespräch mit dem Berater zu suchen, meistens im Rahmen des Unterrichts heranreift und gefasst wird. Ich nehme an, dass sich Schülerberatung und Unterrichten u.a. darum recht gut vereinen lassen, weil ich keine Noten machen muss. Das Themenspektrum ist praktisch unbeschränkt. In Fällen, wo ernsthafte neurotische Störungen sichtbar werden, rate ich dem Schüler zu einer Therapie bei einem aussenstehenden Therapeuten.

Ich behandle dieses Thema – gemessen an seiner Bedeutung – ungebührlich kurz, da ich nicht Gefahr laufen will, irgendwelche Grenzen der Intimität zu überschreiten. Meine Beratungstätigkeit hat indessen meine Überzeugung verstärkt, dass das persönliche Gespräch für viele junge Menschen eine grosse, vielleicht notwendige Hilfe ist in ihrer seelisch-geistigen Entwicklung.

Wer bezahlt?

Die Eltern unserer ausserkantonalen Schüler wenden pro Jahr für Internat und Schulgeld rund siebzehntausend Franken auf, wobei dort, wo es gerechtfertigt ist, Stipendien oder zinslose Darlehen gewährt werden. Die Selbstkosten pro Schüler betragen rund das Doppelte. Wir können uns darum finanziell über Wasser halten, weil erstens der Kanton Zug die Kosten für die Zuger Schüler übernimmt und jene der ausserkantonalen Schüler subventioniert, weil zweitens die „Stiftung Lehrerseminar St. Michael“ mit Hilfe von Spendengeldern einen Teil des Defizits trägt und weil drittens jährlich in den Diözesen Basel und St. Gallen sowie in Stadt und Kanton Zürich ein Kirchenopfer zu unsern Gunsten aufgenommen wird. Weitere Spenden erhalten wir von der „Elterngemeinschaft ehemaliger Seminaristen“, von den Ehemaligen und den Seminarlehrern.

Ausblick

Seit Jahrzehnten findet unser Seminar in pädagogischen Kreisen Beachtung, auch über die Landesgrenzen hinaus. Das überrascht nicht, denn die Verlegung von Entscheidungskompetenzen an die Basis, das Wirken in überschaubaren Verhältnissen, das ganzheitliche Bilden und Erziehen, die Nutzung von Synergie-Effekten (z.B. bei der Integration von Allgemein- und Berufsbildung) und das Zusammenarbeiten im Rahmen enger personaler Beziehungen sind zukunftsträchtige Postulate, die in unserem Seminar systematisch verwirklicht wurden. Um so unverständlicher ist es, dass diese Schule nun dem „Fortschritt“ geopfert werden soll: Nach den Vorstellungen der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und auch nach dem Willen der Innerschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (IEDK) sollen sämtliche Seminare geschlossen werden, um die Lehrerbildung grundsätzlich auf der Basis einer Matura an Universitäten oder Pädagogische Hochschulen verlegen zu können. Sollte dieser Plan der totalen Gleichschaltung tatsächlich realisiert werden, würden damit auch alle Lehrerbildungsanstalten verschwinden, die ihre Arbeit bewusst in einem christlichen Geiste leisten. Unsere Hoffnung ist es, dass die massgebenden Kreise noch rechtzeitig zur Einsicht kommen und ihre Pläne modifizieren. Die geplante Gleichschaltung und Zusammenballung entspricht einem Denken, dessen verheerende Auswirkungen sich ausreichend erwiesen haben, und ist daher alles andere als fortschrittlich. Wir werden jedenfalls alles daransetzen, um die Existenz unseres Seminars in die Zukunft hinein zu sichern.

1981 bis 1996

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