Arthur Brühlmeier

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Pestalozzis Lehre vom Menschen

(Zitiert wird aus der Kritischen Ausgabe: PSW = sämtliche Werke, PSB = sämtliche Briefe)

Im Jahre 1782 schrieb Pestalozzi in einem Briefe an einen Pfarrer: „Mein einziges Buch, das ich seit Jahren studiere, ist der Mensch; auf ihn und auf Erfahrung über ihn gründe ich alle meine Philosophie.“ (PSB 3, 154) Es ist tatsächlich ein hervorstechendes Merkmal Pestalozzis, dass er als Politiker seine Gesellschaftstheorie und die darauf beruhenden politischen Grundsätze und als Pädagoge seine Erziehungstheorie konsequent aus jenem Bild ableitete, das er vom Menschen in sich trug.

Aber dieses Menschenbild ist keineswegs etwas, das bei ihm als fixes Gebilde ein für allemal feststand. Lebenslang beschäftigte er sich mit der Frage: „Der Mensch in seinem Wesen, was ist er?“ (PSW 1, 265), und sein Ringen um ein tragfähiges Fundament für sein Denken und Handeln fand erst in seinem 50. Lebensjahr einen Abschluss.

Um Pestalozzis endgültige Antwort auf die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen zu verstehen, vergegenwärtigen wir uns am besten seine eigene geistige Entwicklung.

Wie bereits in Pestalozzis Biographie dargelegt, wurde er in seiner Jugend unter dem Einfluss seines Lehrers Bodmer zu einem begeisterten Anhänger Rousseaus. Rousseau war ebenfalls Schweizer, lebte aber seit jungen Jahren meistens in Frankreich. In seinen Schriften beklagte er die Vergesellschaftung des Menschen als ein Übel und pries demgegenüber das Leben des glücklichen guten Wilden: Dieser verbrachte seine Tage nach Rousseaus Vorstellung ohne gesellschaftliche Verpflichtungen, ohne Auseinandersetzungen mit Kultur und Wissenschaft und ohne drückende Berufsarbeit und lag statt dessen träumend an der Sonne. Dieser natürliche Mensch war nach Rousseaus Meinung gut, stark, gesund und glücklich, und erst der Gang in die Gesellschaft hat ihn verdorben, hat ihn ränkevoll und tückisch, eitel und ehrsüchtig, besitzgierig und machthungrig gemacht. „Zurück zur Natur!“ und „Befreiung von allen gesellschaftlichen Fesseln!“ waren Rufe, die man aus Rousseaus Gedankenwelt glaubte heraushören zu können. Ob das in seinem Sinne war, muss bezweifelt werden. 1762 erschien sein grosses Erziehungsbuch ‘Emil’, worin er die Grundzüge einer natürlichen Erziehung des Menschen darlegte. Dieses Werk zeigt, dass Rousseau das Heil nicht in einer völlig illusionären Rückkehr zum Leben des Wilden sah, sondern in einer Erziehung, welche die Natur des Menschen ernst nimmt und ihn somit nicht durch willkürliche gesellschaftliche Konventionen abrichtet, sondern ihn durch die notwendigen Wirkungen der ihn umgebenden Natur in jene Verhaltensweisen hineinnötigt, die ihn gesund und stark erhalten und glücklich machen. Rousseau anerkannte ebenfalls die Erziehung in der Gesellschaft und zur Gesellschaft, aber er glaubte, dass diese gesellschaftliche Erziehung erst mit der Pubertät (etwa im 15. Altersjahr des Kindes) einsetzen dürfe. Im übrigen war er der Meinung, dass sich Natur und Gesellschaft letztlich harmonisch verbinden liessen, indem der einzelne Mensch seine Vereinzelung aufgibt und sich ins Kollektiv und dessen allgemeinen Willen hineinverfügt. Der Mensch verwirklichte somit in Rousseaus Theorie seine Sittlichkeit in seinem gesellschaftlichen Dasein.

Ganz im Sinne Rousseaus entsagte Pestalozzi weiteren wissenschaftlichen Studien und klopfte sich den Staub der Stadt von den Schuhen, um auf einem Landgut zum Segen seiner Umgebung als Bauer praktisch und wohltätig wirken zu können. Und sein einziger Sohn, zu Ehren Rousseaus auf den Namen Jean Jacques getauft, sollte nach den Grundsätzen, wie sie Rousseau in seinem Erziehungsroman ‘Emil’ niedergelegt hatte, zum tätigen und glücklichen Landmann herangebildet werden. Pestalozzi hatte seine künftige Frau kaum als Freundin gewonnen, als er ihr riet, Rousseaus ‘Emil’ zu lesen, und ihr beteuerte: „Meine Söhne sollen, ungeachtet der sorgfältigsten Bearbeitung ihres Verstandes, das Feld bauen, und von mir soll kein müssiggehender Stadtmann herstammen.“ (PSB 1, 28)

Im Gegensatz zu Rousseau hat Pestalozzi aber praktisch gewirkt, und er wollte darum Rousseaus Grundsätze vorerst in der Erziehung seines eigenen Sohnes anwenden. Die Erfahrung lehrte ihn aber bald, dass die natürliche und gesellschaftliche Erziehung, welche Rousseau in ein zeitliches Nacheinander getrennt hatte, schon von der Geburt des Menschen her miteinander verbunden werden müssen. Wir erfahren von dieser ersten Distanznahme zu Rousseau im ‘Tagebuch über die Erziehung meines Sohnes, 1774’, von dem sich in der vorliegenden Ausgabe ein Auszug (Freiheit und Gehorsam) findet. Eine besonders interessante Bemerkung finden wir dort unter den ‘Gründen für den Gehorsam’: „Die Leidenschaften sind nicht ausgerottet durch die Freiheit; ihre Entwicklung ist nur zurückgehalten.“ (PSW 1, 126) Damit verwirft Pestalozzi die grundlegende Anschauung, die in Rousseaus Denken immer wieder durchbricht (obwohl auch ihm bewusst ist, dass im Menschen zwei Prinzipien einander entgegenwirken), dass nämlich der Mensch ‘von Natur aus gut’ sei. Pestalozzi vertritt vielmehr den Standpunkt, dass die Leidenschaften – und das heisst bei ihm durchaus auch: die bösen Neigungen – dem Menschen von Natur aus eben auch gegeben sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass er die gegenteilige Ansicht akzeptiert, die in einigen Richtungen des Christentums (insbesondere durch den Reformator Johannes Calvin) vertreten wurde, wonach nämlich der Mensch von Natur aus völlig verdorben sei. Die Lösung, die er bei der Gegenüberstellung von Freiheit und Gehorsam findet, ist bezeichnend für sein ganzes Denken: „Die Wahrheit ist nicht einseitig.“ (PSW, 127)

So sieht denn Pestalozzi den Menschen ganz allgemein nicht ‘einseitig’, sondern vielmehr ‘zweiseitig’. Die Natur des Menschen ist nichts in sich vollkommen Gleichförmiges, sondern vielmehr geprägt durch Spannung und Widerspruch. Sie hat durchaus zwei Seiten; Pestalozzi nennt diese beiden Seiten die ‘tierische’ und die ‘höhere’ Natur des Menschen.

Die tierische Natur ist all das, was der Selbsterhaltung des einzelnen und der Arterhaltung der Menschheit dient. In dieser Hinsicht hat der Mensch vieles gemein mit den Tieren, weshalb Pestalozzi diese Natur oft auch als ‘tierische’ oder ‘sinnliche’ Natur bezeichnet. Im einzelnen geht es dabei um die Gebundenheit an den physischen Körper, um Bedürfnisse und deren Befriedigung, um die Gebundenheit an die Sinne, welche das Erleben des Menschen auf einen bestimmten Standpunkt zentrieren und ihm das Empfinden von Lust und Unlust ermöglichen, dann auch um Gefühle wie Zuneigung und Abneigung, um die naturgegebene Trägheit, um Sexualität, Geburt und physischen Tod.

Die höhere Natur ermöglicht das, was den Menschen über das Tier hinaushebt: Die Wahrheit erkennen, die Liebe üben, an Gott glauben, auf das eigene Gewissen hören, das Recht verwirklichen, den Sinn für das Schöne entwickeln, höhere Werte (das Gute, das Wahre, die Gerechtigkeit usw.) erkennen und verwirklichen, schöpferisch tätig sein, in Freiheit handeln, Verantwortung tragen, den eigenen Egoismus überwinden, gemeinschaftliches Leben gestalten, die Vernunft walten lassen, nach Selbstvervollkommnung streben. Pestalozzi ist davon überzeugt, dass sich in diesen Möglichkeiten des Menschen ein ‘göttlicher Funke’ manifestiert und dass sie den Menschen zum göttlichen Abbild machen. Er bezeichnet darum diese höhere Natur oft auch als ‘innere’, ‘ewige’, ‘geistige’, ‘heilige’ oder ‘göttliche’ Natur.

Nun sind zwar diese beiden Seiten der menschlichen Natur dem Wesen nach voneinander verschieden, aber der Erscheinung nach sind sie miteinander verbunden, ja all das Höhere ist im Tierischen grundgelegt und wächst aus ihm heraus, und es ist dann schliesslich die Aufgabe der Erziehung, dieses Tierischen so weit wie möglich auf die höhere Stufe emporzubilden.

Pestalozzi hat nun im Verlaufe seines Lebens den beiden Seiten der menschlichen Natur durchaus nicht immer dieselbe Bedeutung beigemessen. Die Entwicklung seiner Auffassung vom Menschen lässt sich vergröbernd in drei Schritten darstellen, und der jeweilige Standpunkt findet auch jeweils seinen Niederschlag in drei entsprechenden Schriften, nämlich in der ‘Abendstunde eines Einsiedlers’ (1780), in der ‘Leutnants-Philosophie’ (1787; sie wird so genannt, weil der Lehrer, der sie im 4. Teil von ‘Lienhard und Gertrud’ vorträgt, der Armee ehemals als Leutnant diente) und in den ‘Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’ (1797). Ich möchte darum kurz auf diese drei Schriften eintreten:

Das zentrale Thema der ‘Abendstunde’ ist das Wesen des Menschen. Obwohl dort Pestalozzi das Wort ‘Natur’ einige Dutzend mal verwendet, unterscheidet er dabei doch nie ausdrücklich zwischen höherer und tierischer Natur. Das zeigt zuerst einmal, dass er sich gedanklich noch näher an Rousseau bewegt und den Gegensatz dieser beiden Seiten der menschlichen Natur noch nicht in jener Klarheit erkannte, wie wir dies in seinen späteren Schriften feststellen. Bei näherer Betrachtung fällt aber auf, dass Pestalozzi in dieser Schrift, wenn er von der Natur des Menschen spricht, vorwiegend dessen höhere Natur im Auge hat. Sein Vertrauen auf den ‘inneren Sinn’, der dem Menschen das Erkennen der Wahrheit und Pflicht ermöglicht, ist noch nicht erschüttert. Der Grundton der ‘Abendstunde’ ist trotz aller Empörung über die Unterdrückung des Rechts durch die Tyrannen optimistisch. Die Erziehungsmittel, welche Pestalozzi ins Auge fasst, sind eher weich und schmiegsam: wachsen lassen, behüten, pflegen, emporbilden, nicht hemmen, allem seine Zeit lassen. Dieselbe optimistische Grundhaltung, die einerseits noch in der geistigen Verbundenheit mit Rousseau, anderseits aber in Pestalozzis tiefem religiösem Glauben wurzelt, finden wir auch in andern Schriften, die er in jenen Jahren geschrieben hat.

Lesen wir dann aber die sieben Jahre später geschriebene ‘Leutnants-Philosophie’, so stellen wir gegenüber jenem rückhaltlosen Glauben an den Menschen einen klaren Gegensatz fest. Der Text findet sich nicht in der vorliegenden Ausgabe, weshalb hier die wesentlichsten Stellen wiedergegeben seien:

„Der Mensch ist von Natur, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstossen, krumm, verschlagen, heimtückisch, misstrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam. – Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen, wild aufwächst, werden muss; er raubt wie er isst, und mordet wie er schläft. Das Recht seiner Natur ist sein Bedürfnis, der Grund seines Rechtes ist sein Gelüst, die Grenze seiner Ansprüche ist seine Trägheit und die Unmöglichkeit, weiter zu gelangen.

In diesem Grad ist es wahr, dass der Mensch, so wie er von Natur ist und wie er, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst und seiner Natur nach notwendig werden muss, der Gesellschaft nicht nur nichts nütz, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich ist.

Deshalb muss sie, wenn er für sie einigen Wert haben oder ihr auch nur erträglich sein soll, aus ihm etwas ganz anderes machen, als er von Natur ist und als er, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, werden könnte. Und der ganze bürgerliche Wert des Menschen und alle seine der Gesellschaft nutzbaren und brauchbaren Kräfte ruhen auf Einrichtungen, Sitten, Erziehungsarten und Gesetzen, die ihn in seinem Innersten verändern und umstimmen, um ihn ins Gleis einer Ordnung hineinzubringen, die wider die ersten Triebe seiner Natur streitet, und ihn für Verhältnisse brauchbar zu machen, für welche ihn die Natur nicht bestimmt und nicht brauchbar gemacht, sondern vielmehr selber die grössten Hindernisse dagegen in ihn hineingelegt hat: Deshalb ist der Mensch allenthalben in dem Grad, als ihm wahre bürgerliche Bildung mangelt, Naturmensch; und soweit ihm der Genuss von Einrichtungen, Anstalten, Erziehungsarten, Sitten, Gesetzen, welche notwendig sind, aus dem Menschen das zu machen, was er in der Gesellschaft sein soll, mangelt, so weit bleibt er, trotz aller inwendig leeren Formen der äusserlichen bürgerlichen Einrichtungen, in seinem Inneren das schwache und gefährliche Geschöpf, das er im Wald ist; er bleibt, trotz seines ganzen äusserlichen Bürgerlichkeitsmodells, ein unbefriedigter Naturmensch, mit allen Fehlern, Schwächen und Gefährlichkeiten dieses Zustandes. …

Indessen ist es nichts weniger als leicht, aus dem Menschen etwas ganz anderes zu machen, als er von Natur ist, und es fordert die ganze Weisheit eines die menschliche Natur tiefkennenden Gesetzgebers oder, wenn ihr lieber wollt (denn beides ist wahr), die Frommheit einer Engeltugend, die sich Anbetung erworben, den Menschen dahin zu bringen, dass er beim Werk seines bürgerlichen Lebens und bei Verrichtung seiner Standesamts- und Berufspflichten eine das Innere seiner Natur befriedigende Laufbahn finde und an einer Kette nicht verwildere, welche die ersten Grundtriebe seiner Natur mit unerbittlicher Härte beschränkt und mit eiserner Gewalt etwas anderes aus ihm zu machen beginnt, als das ist, wozu ihn alle Triebe seiner Natur mit übereinstimmender Gewalt unwillkürlich in ihm liegender Reize hinlocken.“ (PSW 3, 331 f.)

Diese Sätze zeigen vorerst einmal, dass von einem anthropologischen Optimismus, wie ihn die Aufklärung vertrat und der den Menschen von Natur aus als gut behauptete, nichts mehr übrig geblieben ist.

Es scheint, dass sich Pestalozzi damit der These der christlichen Reformatoren von der ursprünglichen Verdorbenheit des Menschen angeschlossen hat. Doch Pestalozzis Aussagen über den Menschen liegen auf einer andern Ebene als die Aussagen der Reformatoren. Diese orientierten sich an der Bibel, wonach die ersten Menschen Gott ungehorsam geworden seien; dadurch sei die gesamte Menschheit in den Stand vollkommener Schuldigkeit und Verworfenheit gefallen und der Mensch könne somit auf keine Weise aus eigener Kraft vor Gott bestehen. Demgegenüber sieht Pestalozzi bei seiner Beschreibung des ursprünglichen Menschen völlig ab von einem Urteil Gottes über den Menschen und fasst ihn in seiner naturgegebenen Ichbezogenheit und deren Widerspruch zur sozialen Existenz ins Auge. Es geht also Pestalozzi nicht um den Stand des Menschen vor Gott, sondern um dessen natürliches Wesen.

Es ist aber auch nicht die Gesellschaft oder der Prozess der Vergesellschaftung, die den Menschen schlecht machen – wie dies Rousseau vertrat, sondern im Gegenteil: Es braucht die Weisheit gesellschaftlicher Einwirkungen, um den Menschen seiner angeborenen Ichbezogenheit zu entreissen und ihn gesellschaftsfähig zu machen.

Die zitierten Sätze der ‘Leutnants-Philosophie’ zeigen ferner, dass Pestalozzi, wenn er in jener Lebensphase von der Natur des Menschen spricht, nurmehr bloss dessen tierische Natur im Auge hat und alles Vertrauen auf die segensreiche Wirksamkeit der dem Menschen ebenfalls von Natur gegebenen höheren Möglichkeiten verloren hat.

Wie konnte es zu dieser grundlegenden Änderung des Standpunkts kommen? Ein Stück weit mögen Pestalozzis düstere Lebenserfahrungen dazu beigetragen haben, den Menschen allmählich negativer zu sehen, aber dies allein erklärt diesen Standpunktwechsel nicht.

Wie später gezeigt werden soll, hatte Pestalozzi in der ‘Abendstunde’ das Zusammenleben der einzelnen Menschen im Staat als eine Gemeinschaftsform beschrieben, welche als ein Abbild des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen zu verstehen ist: So wie Gott der Vater aller Menschenkinder ist, ist der Fürst der Vater des Volks. Wenn sich alle – das Volk und die Väter des Volks – ihrer Kindschaft gegenüber Gott bewusst sind, wird das irdische Dasein der Menschen gesegnet durch die Verbundenheit zwischen Vater und Kind.

Nun musste Pestalozzi erkennen, dass man zwar einen solchen auf die Religiosität der einzelnen Menschen gegründeten Idealstaat wünschen kann, dass aber das wirklich vorfindbare gesellschaftliche Sein diesem Idealbild keineswegs entsprach. Dass es nicht auf der höheren Natur des Menschen beruhen kann, leuchtet auch sehr bald ein: Zwar ist die höhere Natur jedem Menschen als Anlage gegeben, doch kommt sie eben – auch nach Pestalozzis Überzeugung – nicht zum Tragen ohne erzieherische Pflege durch sittliche Erzieher. Mit andern Worten: Die Herausbildung des Höheren aus dem Tierischen ist sehr unsicher. Weil aber die Vergesellschaftung des Menschen offensichtlich als ein Prozess zu verstehen ist, der sich mit Notwendigkeit ereignete, konnte Pestalozzi das gesellschaftliche Sein nicht längerhin als etwas darstellen, das sich von der höheren Natur des Menschen her ableiten lässt. Er wandte sich deshalb in seinen philosophischen Studien sehr intensiv der Frage zu, wie die gesellschaftliche Existenz des Menschen aus dessen tierischen Natur abgeleitet werden kann und wie es zu begreifen ist, dass sich der Mensch vergesellschaftet, obwohl ganz offensichtlich die Ansprüche des gesellschaftlichen Lebens seinen Naturtrieben klar widersprechen. Seine philosophischen Studien drehten sich somit um den Zusammenhang zwischen Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand des Menschen.

Je mehr er sich nun in dieses Abhängigkeitsverhältnis vertiefte, desto stärker verlor er den Blick auf die höhere Natur des Menschen, so dass er schliesslich – wie die ‘Leutnants-Philosophie’ zeigt – nur noch die tierische Natur des Menschen als real anerkannte und ganz selbstverständlich die tierische Natur des Menschen ins Auge fasste, wenn er allgemein von der Natur des Menschen sprach.

Der harten, pessimistischen Ansicht über das Wesen des Menschen entsprachen denn auch die harten pädagogischen Mittel, die Pestalozzi im selben Buche empfahl. So behauptete er etwa, die Liebe sei zum Auferziehen der Menschen nur zu brauchen „hinter und neben der Furcht“, und wenn man aus den Menschen etwas Brauchbares machen wolle, so müsse man „ihre Bosheit bemeistern, ihre Falschheit verfolgen, und ihnen auf ihren krummen Wegen den Angstschweiss austreiben.“ (PSW 3, 173) Dies steht im klaren Gegensatz zu dem, was Pestalozzi später in seinen pädagogischen Schriften vertreten hat, und er hat diese Denkweise später selber als einseitig und irrtümlich widerrufen.

Es ist nun zu fragen, worin sich die gesellschaftliche Existenz in ihrem Wesen vom Naturzustand des Menschen unterscheidet und durch welche Vorgänge der Mensch in den gesellschaftlichen Zustand eintritt. Pestalozzi lehnte die damals verbreitete und auch von Rousseau vertretene Theorie ab, dass sich die Gesellschaft durch einen Vertragsabschluss formiert habe. Er sah vielmehr den entscheidenden Schritt des Menschen aus dem Naturzustand in den gesellschaftlichen darin, dass er seine selbstgenügsame Existenz, die nur auf den momentanen Augenblick bezogen ist, aufgibt und auf die Zukunft hin lebt. Das kann er aber nur, wenn er erwirbt und besitzt. Zwar tut er das auch im Naturzustand, aber er befriedigt dadurch nur gerade seine augenblicklichen Bedürfnisse. Der Naturmensch verfügt somit bloss über Natureigentum: die Keule in seiner Hand, das Fell auf seinem Leib, das Stück Fleisch über dem Feuer und die Frau im Arm. Dadurch aber, dass der Mensch nun an den nächsten Tag denkt, muss er sich Eigentum erwerben, das seine augenblicklichen Bedürfnisse übersteigt. Sobald nun ‘positives Eigentum’, welches das Natureigentum übertrifft, in die Existenz des Menschen tritt, hat dieser seinen Zustand gewechselt: Er ist in den gesellschaftlichen Zustand hinübergegangen.

‘Gesellschaftliche Existenz’ ist somit nicht gleichbedeutend mit ‘sozialem Dasein’, denn der Mensch lebt auch im Naturzustand mit andern Menschen zusammen und bildet natürliche Gemeinschaften. Die gesellschaftliche Existenz entsteht erst durch das Vorhandensein von positivem Eigentum, weil sich dieses nur aufrecht erhalten lässt durch gegenseitige Absprachen. Durch diese Absprachen sichern die Individuen einander zu, dass sie das vom Einzelnen Beanspruchte als dessen Besitz anerkennen. Daraus erwachsen nun dem Menschen Rechte und Pflichten, und diese erfordern ihrerseits die Setzung eines ‘positiven’ Rechts .

Durch diesen Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand gibt nun der Mensch nach Pestalozzi auch seine ursprüngliche Harmonie mit sich selbst – das heisst: die Übereinstimmung seiner selbst mit der reinen Ich-Bezogenheit seines Selbsterhaltungstriebs – auf und zwar darum, weil er Pflichten erfüllen muss. Eine Pflicht erfüllen heisst nämlich: seine Naturfreiheit ein Stück weit einschränken. Damit gerät der Mensch in Widerspruch mit seinen Ich-Ansprüchen. Da aber die Pflichterfüllung im Rahmen gesellschaftlicher Übereinkünfte die Selbsterhaltung real wirkungsvoller sichert, verwandelt sich der natürliche Selbsterhaltungstrieb, insofern er sich der Pflichterfüllung entziehen möchte, in persönliche Selbstsucht. Der gesellschaftliche Zustand ist damit notwendigerweise widersprüchlich, weil einerseits der Einzelne wesentlich auf die freie Durchsetzung seiner Ich-Ansprüche verzichten muss, anderseits aber der ursprüngliche selbstsüchtige Trieb nicht beseitigt ist. Aus diesem Grund muss man nach der ‘Philosophie des Leutnants’ „aus dem Menschen etwas ganz anderes machen, als er von Natur aus ist“, man muss ihn „umstimmen und in seinem Innersten verändern“. Von Natur aus ist der Mensch selbstsüchtig, und diese Selbstsucht muss ausgelöscht oder zum mindesten weitgehend eingedämmt werden, wenn der Mensch für die Gesellschaft brauchbar werden soll.

Vom Standpunkt des alten Pestalozzi aus ist diese Sichtweise einseitig, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil er hier, wenn er von der Natur des Menschen spricht, ganz selbstverständlich die tierische Natur im Auge hat, und zweitens, weil er auch diese tierische Natur einseitig negativ wertet und als Grundtrieb lediglich die Selbstsucht anerkennt. Später hat er dann diesem negativen Grundtrieb einen positiven – das Wohlwollen – beigefügt, doch mehr davon im Zusammenhang mit den ‘Nachforschungen’.

Nun stellen sich zwei weitere Fragen: erstens, wer diese Veränderung des Menschen vornehmen soll, und zweitens, mit welchen Mitteln sie zu erreichen ist. Hätte Pestalozzi sein Vertrauen auf die reale Wirksamkeit der höheren Natur zu jener Zeit – so zwischen 1785 und 1793 – nicht verloren, so hätte er den Einzelnen in diesem Kampf gegen die natürliche Selbstsucht auf seinen ‘inneren Sinn’, auf sein Gewissen verwiesen, wie er dies ja in der ‘Abendstunde’ getan hat. Nun aber, wo er die menschliche Natur fast nur noch unter dem Blickwinkel des Tierischen zu sehen vermag und wo er auch die tierische Natur einseitig negativ einschätzt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die von ihm als notwendig erkannte Veränderung des Menschen der Gesellschaft zu übertragen. Sie kann dies, weil in ihr das Gute in den Sitten und den Gesetzen gleichsam objektiv geworden ist. Da aber anderseits die Gesellschaft ihre Existenz dem positiven Eigentum zu verdanken hat, so vereinigt sich dieses objektiv Gute in der „gesellschaftlichen Weisheit in der Erwerbung, Äufnung und Erhaltung des Eigentums.“ (PSW 4, 499) Darum erhält nach Pestalozzis Überzeugung der junge Mensch nur insoweit einen realen Anteil an diesem objektiv Guten und wird er nur insoweit richtig gebildet, als sich seine Erziehung mit der weisen Erwerbung und dem weisen Gebrauch des Eigentums verbindet. Pestalozzi bezeichnet daher die Erziehungsart, wie sie der Leutnant vorschlägt, als eine ‘Finanzsache’. Im Vordergrund steht „die gute Bildung des Volkes zur Industrie“. (PSW 3, 441)

Was ist darunter zu verstehen? ‘Bildung zur Industrie’ ist mehr als das, was man gängig unter Berufsausbildung versteht. Es ist die ganze Erziehung des Menschen und meint die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit den nächsten Verhältnissen unter dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Bedeutsamkeit und im Hinblick auf die spätere Erwerbs- und Besitzertätigkeit. Zwar hat Pestalozzi die Bildung in den nächsten Verhältnissen während seines ganzen Lebens mit Nachdruck gefordert, aber jetzt steht der wirtschaftliche Aspekt dieser nächsten Verhältnisse im Vordergrund. Alles andere hat sich dem unterzuordnen. Pestalozzi behauptet gar, „die weise Bildung des Volks zur Industrie“ sei „der einzig mögliche Weg, etwas Reales zur Veredlung der Menschheit im Grossen beizutragen“ (PSW 3, 447). Er ist so sehr von der Richtigkeit seines ökonomischen Weges eingenommen, dass er „die Weisheit in Erwerbung und Anwendung des Geldes“ als „das Fundament des Menschen“ betrachtet und überzeugt ist, „aller Einfluss des Staates, der nicht auf dieses Fundament gebaut“ sei, richte „zum wirklichen Wohl der menschlichen Gesellschaft nichts Solides und Allgemeines“ aus. (PSW 3, 447)

In den frühen neunziger Jahren strebte die grosse Lebenskrise Pestalozzis ihrem Höhepunkt zu. Er hat in den Jahren zwischen 1780 und 1798 unsäglich gelitten. In der Rückschau schreibt er 1799 über diese Zeit in einem Briefe an eine Freundin seiner Frau: „Wie ein Mensch, der Tage lang im Moder und Kot bis an den Hals versunken seinen Tod nahe sieht und die Vollendung seiner dringendsten Reise vereitelt sieht, also lebte ich Jahre, viele Jahre in der Verzweiflung und im Rasen meines unbeschreiblichen Elends. Ich hätte der ganzen Welt, die um mich her stand und mich also sah, nur ins Gesicht speien mögen.“ (PSB 4, 20) Am meisten litt er unter dem Zwiespalt zwischen seinem leidenschaftlichen Drang, sozial tätig sein zu können, und der Unmöglichkeit, solche Pläne zu verwirklichen, weil man ihn dazu für unfähig hielt. Dies trieb ihn in eine Grundstimmung allgemeiner Menschenverachtung hinein, was ihm, dessen Herz sich im Tiefsten nach Mitmenschlichkeit sehnte, neue Leiden bereitete. Daneben litt er ganz einfach unter seiner eigenen Armut. Seine religiösen Gefühle, welche ihn in seinen jüngeren Tagen – und dann auch später wieder – tief erfüllten, waren weitgehend erkaltet, und der Glaube an die Menschen und an ihre Verbesserungsfähigkeit war einem tiefgehenden Pessimismus gewichen. Und schliesslich litt er ganz besonders darunter, dass er seinen eigenen philosophischen Standpunkt, wie er in der ‘Leutnants-Philosophie’ seinen klarsten Ausdruck fand, selbst als unzulänglich, als beschränkten Gesichtspunkt empfinden musste. Aus Notizen, die er sich im Zusammenhang mit gelesenen Büchern machte, wissen wir, dass er auch zur Zeit der Abfassung der ‘Leutnants-Philosophie’ seine Überzeugung von einer selbständigen Kraft im Menschen, das heisst also: von seiner höheren Natur, nie ganz verloren hatte. Aber es gelang ihm damals nicht, diese Gedanken in die ‘Leutnants-Philosophie’ organisch einzubauen. Schliesslich nötigte ihm aber doch dieser innere Widerstreit einander scheinbar widersprechender Sichtweisen des Menschen eine erneute grundlegende Besinnung auf das Wesen des Menschen ab. In jahrelanger, mühseliger Arbeit schrieb er an seinem anthropologischen Fundamentalwerk ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’, das 1797 erschien.

Die ‘Nachforschungen’ sind in der vorliegenden Ausgabe seiner Schriften vollständig wiedergegeben. In Anbetracht meines längeren Kommentars, welchen ich dieser Schrift vorangestellt habe, möchte ich mich hier so kurz wie möglich fassen, wobei gewisse Wiederholungen trotzdem nicht vermieden werden können.

Pestalozzi geht in seiner Schrift von den tiefsitzenden Widersprüchen des Menschen aus, die er in sich selbst fühlt, die er aber auch bei allen andern Menschen und im gesellschaftlichen Leben selbst immer wieder feststellen muss, und er fragt sich, woher sie kommen, was sie für die Existenz des Menschen bedeuten und wie sie allenfalls zu überwinden sein könnten. Er gibt nun auf diese brennenden Fragen dadurch eine grundlegende Antwort, dass er die beiden früheren und einander widersprechenden Sichtweisen des Menschen miteinander zu einer Synthese verbindet. Hatte er in der ‘Abendstunde’ die menschliche Existenz allzu optimistisch beurteilt und sie hauptsächlich von der höheren Natur des Menschen her gesehen und hatte er demgegenüber in der ‘Leutnants-Philosophie’ die menschliche Natur einseitig negativ bewertet und fast nur noch die tierische Seite als wirklich anerkannt, so kommen jetzt in den ‘Nachforschungen’ beide Seiten zu ihrem vollen Recht. Die tierische Natur ist sowohl Ausgangspunkt für die Entwicklung ins Positive wie ins Negative. Entgegen der ‘Leutnants-Philosophie’ anerkennt Pestalozzi jetzt nicht nur den einen negativen Grundtrieb der Selbstsucht, sondern auch einen zweiten, positiven, der den Menschen vom Ich weg und hin zum Du führt: das Wohlwollen. Dieses Wohlwollen ist zwar im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens sehr zwiespältig und kann gegebenenfalls sogar schwächend und zerstörend wirken, aber auf der andern Seite ist es die natürliche Basis für die Sittlichkeit des Menschen; aus dem Wohlwollen enthüllt sich allmählich die höhere Natur des Menschen. Diese aber bleibt dem Wesen nach selbständig.

Pestalozzi vermag nun die innere Dynamik der wesenhaft widersprüchlichen menschlichen Existenz dadurch zu erhellen, dass er sie als eine Entwicklung vom Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Zustand hin erkennt. Wir versuchen dieser Entwicklung kurz zu folgen:

Innerhalb des Naturzustandes unterscheidet Pestalozzi zwischen dem reinen, unverdorbenen und dem verdorbenen Naturzustand. Im unverdorbenen Naturzustand stehen die Bedürfnisse des Menschen und seine Kräfte zu deren Befriedigung in einem immerwährenden Gleichgewicht. Der Mensch will nicht mehr als das, was er kann, und er kann nicht weniger als das, was er braucht. Er gibt sich ohne besondere Kraftanstrengung dem reinen Sinnengenuss hin und geniesst Sicherheit, ohne sich darum besonders kümmern zu müssen. Sein ganzes Tun und Lassen ist ganz auf den Augenblick ausgerichtet, seiner Selbstsucht stellen sich keine Hindernisse in den Weg, sie dient lediglich seiner Selbsterhaltung, was ihm aber von niemandem erschwert oder strittig gemacht wird. Selbstsucht und Wohlwollen sind also harmonisch ausgeglichen. Des Menschen Tun liegt jenseits von Schuld, denn er gehorcht dem natürlichen, noch nicht verdorbenen Instinkt. Sein natürlicher Freiheitsdrang wird von niemandem gehemmt und ist deshalb nicht gewalttätig.

Wir erkennen in dieser Vorstellung des Menschen im unverdorbenen Naturzustand unschwer Rousseaus Bild vom natürlichen, guten Wilden. Während aber Rousseau in seinem ‘Emil’ tatsächlich den Versuch unternimmt, dem Kinde diese Natürlichkeit bis zum Beginn der Pubertät zu erhalten, so erkennt Pestalozzi das Illusionäre einer solchen Annahme. Will man Pestalozzis Gedanken der Entwicklung des Menschen vom Naturzustand zum sittlichen Zustand als etwas Zeitliches verstehen (was nicht die einzige Möglichkeit ist: sie lässt sich auch als logische Figur wechselseitiger Wirkungen verschiedener Prinzipien deuten), so geht dieser reine Naturzustand mit dem ersten Schrei bei der Geburt verloren; dieser Schrei beweist ja sinnenfällig das Missverhältnis zwischen dem Bedürfnis des Säuglings und seinen wirklichen Kräften. Nach Pestalozzi kennen wir daher den reinen Naturzustand gar nicht; er lässt sich nur denken und erahnen. Aber gerade dadurch, dass er sich denken lässt, wird er im menschlichen Leben wirksam, da sich der Mensch dadurch die verlorene und wieder anzustrebende Harmonie vorzustellen vermag. Freilich weiss Pestalozzi, dass diese rein natürliche, auf Instinkt beruhende Harmonie unwiederbringlich und notwendigerweise verloren ist. Ein Zurück gibt es nicht. Die verlorene Harmonie muss mit andern Mitteln wiederhergestellt werden: durch Sittlichkeit aus innerer Freiheit, wie wir später sehen werden.

Was wir somit real erleben und am Menschen kennen, ist der verdorbene Naturzustand. Pestalozzi versteht darunter den Menschen, insofern er physischen Bedürfnissen unterliegt und seiner Sinneslust unterworfen ist, somit den Menschen als Trieb- und Instinktwesen, als ‘Tier’. Im verdorbenen Naturzustand ist die Harmonie zwischen den Wünschen und Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung erforderlichen Kräften zerbrochen. Der Mensch erlebt seine Unzulänglichkeit, seine Hilfsbedürftigkeit, seine Schwäche. Sein Leben ist gekennzeichnet durch Anstrengung, Sorgen, Kampf. Soweit ihm niemand in die Quere kommt, ist er immer noch natürlich wohlwollend, denn dies entspricht seiner Trägheit und dem Umstand, dass er sich im allgemeinen in der Eintracht wohler fühlt als im Streit. Da jedoch die täglichen Sorgen die Selbstsucht anstacheln, streben doch alle mehr oder weniger nach Macht, woraus der Kampf aller gegen alle resultiert. Der Einzelne scheut sich nicht, seine egoistischen Macht- und Besitzansprüche auf Kosten der andern durchzusetzen. Er beansprucht ‘Naturfreiheit’, das heisst: zu tun und zu lassen, was ihm beliebt, und greift wenn nötig zur Gewalt.

Wie der unverdorbene vom verdorbenen Naturzustand, so ist auch der verdorbene Naturzustand nur gedanklich vom nächst höheren, vom gesellschaftlichen Zustand, zu trennen, denn der egoistische Kampf um Macht und Besitz setzt doch schon das Vorhandensein von Eigentum voraus. ‘Gesellschaftlich’ sind lediglich die Eigentumsbegriffe und die Eigentumsregelung, ‘tierisch’ jedoch ist die selbstsüchtige, rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten der andern. Weil tierische Selbstsucht und Eigentum in der Alltagserfahrung fast nicht zu trennen sind, hat denn auch Pestalozzi den gesellschaftlichen Zustand als ‘veränderten Naturzustand’ definiert und das eigentliche Regulativ des gesellschaftlichen Zustands nicht mehr so sehr im Eigentum, als vielmehr im gesetzten (positiven) Recht gesehen. Freilich ist das erste positive Recht ebenfalls auf das Eigentum bezogen, denn der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung ist die Erleichterung und Sicherstellung der Bedürfnisbefriedigung durch kollektive Mittel wie Erwerb, Besitz, Arbeitsteilung. Und das Recht hat die primäre Aufgabe, diese gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung zu regeln. Es auferlegt deshalb dem Einzelnen Pflichten und beschneidet seine Naturfreiheit. Dadurch gerät der Mensch, wie schon früher dargelegt, in Widerspruch mit sich selbst, denn seine Selbstsucht ist im gesellschaftlichen Zustand nicht ausgelöscht. Es ist seine Selbstsucht, die ihn zur Vergesellschaftung antreibt, und es ist dieselbe Selbstsucht, welche ihn immer wieder veranlasst, die Konsequenzen dieses Schritts abschütteln zu wollen. Das hat zur Folge, dass er den Zweck, um dessentwillen er in den gesellschaftlichen Zustand eingetreten ist, in eben diesem Zustand niemals wird erreichen können. Der Mensch vergesellschaftet sich in der Hoffnung, dadurch die verlorene Harmonie zwischen Bedürfnis und Kraft wiederzugewinnen, und genau diese ersehnte Harmonie wird er im gesellschaftlichen Zustand niemals erreichen. Im Gegenteil: Der gesellschaftliche Prozess weckt auf der einen Seite immer neue Bedürfnisse und stellt deren mögliche Befriedigung in Aussicht, macht aber auf der andern Seite den Einzelnen durch die immer komplizierteren Abhängigkeiten und die immer weitergehende Arbeitsteilung immer schwächer. Der gesellschaftliche Zustand ist daher stets labil; er ist davon abhängig, inwieweit er durch gerechte Gesetze geregelt ist und inwieweit sich die Einzelnen an diese Gesetze halten. Anerkennt der Mensch – sei er nun Gesetzgeber, Regierender oder einfacher Staatsbürger – das gesellschaftliche Recht, so festigt er damit den gesellschaftlichen Zustand und schafft Bedingungen dafür, dass sich der Einzelne zur Sittlichkeit erheben kann. Missachtet er aber die Gesetze und das gesellschaftliche Recht, dann droht er ständig wieder in den Tierzustand abzusinken, er wird entweder Tyrann oder Sklave oder Barbar.

Wenn auch dieser gesellschaftliche Zustand den Menschen nie befriedigen kann, so stellt er doch eine notwendige Zwischenstufe für den Gang des Menschen vom Naturzustand zum sittlichen Zustand dar. Was nämlich den gesellschaftlichen Menschen vor dem Naturmenschen auszeichnet, ist vorerst einmal seine Fähigkeit, die instinktiven Regungen im Zügel zu halten, sei dies auch nur auf gesellschaftlichen Druck hin. Diese Gewöhnung an den äusseren Gehorsam gegenüber den Gesetzen ist eine Vorstufe für den inneren Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen. Was den gesellschaftlichen Menschen weiterhin auszeichnet gegenüber dem Naturmenschen, ist seine Denkkraft. Sie ermöglicht es ihm, die Sinnlosigkeit des unheilvollen Schwankens zwischen tierischer Verdorbenheit und gesellschaftlichem Ungehorsam zu erkennen. Nach Pestalozzi muss der Mensch den Unwert des bloss gesellschaftlichen Vereinigtseins so lange tief fühlen, bis er erkennt, dass er die verlorene Harmonie nur wieder herzustellen vermag, wenn er die Möglichkeit der sittlichen Freiheit ergreift und das Gute aus eigenem Antrieb will.

Damit erhebt sich der Mensch in den sittlichen Zustand. Dieser beruht auf einer selbständigen Kraft im Menschen, auf dem ‘göttlichen Funken’. Diese in ihrem Wesen von den tierischen und gesellschaftlichen Bedingungen unabhängige Kraft ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zu vervollkommnen. „Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen und dieselbe nur in diesem Gesichtspunkt zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig, ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner anderen Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will.“ (PSW 12, 105)

Diese selbständige Kraft ist indessen ganz individuell, und darum ist auch die Sittlichkeit individuell, denn kein Mensch kann für mich fühlen: Ich bin; und keiner kann für mich fühlen: Ich bin sittlich. Man darf also die Sittlichkeit nicht verwechseln mit dem objektiv Guten, das sich in guten gesellschaftlichen Einrichtungen, in gerechten Gesetzen und in angewöhnten guten Gepflogenheiten verfestigt haben mag. Sittlichkeit ist stets Handeln, ist stets Tat, und zwar aus freiem Gewissensentscheid heraus gewollte Tat des Einzelmenschen, und sie ist stets daran zu erkennen, dass der Handelnde aus freien Stücken seine eigene Selbstsucht überwindet. Nur durch dieses sittliche Wollen gelingt es dem Menschen, die verlorene Harmonie mit sich selbst wieder herzustellen und die Widersprüche in sich selbst zu überwinden. War der Mensch im Naturzustand ein Werk der Natur und im gesellschaftlichen Zustand ein Werk der Gesellschaft, so ist er jetzt – im sittlichen Zustand – durch die freie, sittliche Tat ein ‘Werk seiner selbst’. Er ist nicht mehr bloss ‘Tier’, er ist nicht mehr bloss Gesellschaftswesen, er ist jetzt im vollen Sinne Mensch. Und ‘Mensch’ zu werden ist die vornehme, aber unabdingbare Aufgabe und Bestimmung jedes einzelnen Individuums.

Wie wir somit sehen, ist die Sittlichkeit ganz an die Entscheidung des Einzelmenschen gebunden. Niemand kann einen Menschen sittlich machen als er sich selbst; die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse können dies bloss erschweren, erleichtern oder ihm nahelegen. So schreibt Pestalozzi unter anderem: „Rein sittlich sind für mich nur diejenigen Beweggründe zur Pflicht, die meiner Individualität ganz eigen sind. Jeder Beweggrund zur Pflicht, den ich mit anderen teile, ist es nicht, er hat im Gegenteil insoweit für mich immer Reize zur Unsittlichkeit, das ist: zur Unaufmerksamkeit auf den Trug meiner tierischen Natur und das Unrecht meiner gesellschaftlichen Verhärtung in seinem Wesen. Je grösser die Zahl derer ist, mit denen ich meine Pflicht teile, je stärker und vielfältiger sind die Reize zur Unsittlichkeit, die mit dieser Pflicht verbunden sind. Hinwieder je weiter die Gegenstände, von denen sich meine Pflicht herschreibt, von meiner Individualität entfernt stehen, desto stärker wirken die Reize zur Unsittlichkeit, die damit verbunden sind, auf meine Natur. Alles was ich als Glied eines Korps, einer Gemeinde –– noch mehr, was ich als Glied einer Innung, einer Faktion zu fordern habe, das entmenschlicht mich immer mehr oder weniger. Je grösser das Korps, die Gemeinde –– die Innung oder Faktion, von der sich mein Recht und meine Pflicht herschreibt, je grösser ist auch die Gefahr meiner Entmenschlichung, das ist, meiner gesellschaftlichen Verhärtung gegen alle Ansprüche der Sittlichkeit auf diese Pflicht und auf dieses Recht.“ (PSW 12, 114)

Es könnte nichts falscher sein, als Pestalozzi deswegen eines asozialen Individualismus zu bezichtigen. Das Grundanliegen der Sittlichkeit – die Selbstvervollkommnung durch die Überwindung des eigenen Egoismus – ist seinem Wesen nach schon sozialer Natur. Sittlichkeit ist für Pestalozzi nie anders denkbar und möglich als in der persönlichen Hingabe des Einzelnen an das Du und an die Gemeinschaft in der tätigen Liebe. Aber wahre Sittlichkeit ist das soziale Handeln nicht, solange es bloss aus einer sinnlichen Neigung oder aus einer gesellschaftlichen Verpflichtung entstammt, sondern erst dann, wenn es auf einem freien, subjektiven Entschluss beruht, der immer auch die Auslöschung der Selbstsucht bedeutet.

Wenn Pestalozzi den sittlichen Zustand wesensmässig unabhängig vom tierischen und gesellschaftlichen erklärt, so bedeutet dies keinesfalls, dass keine Bezüge bestünden zwischen natürlicher, gesellschaftlicher und sittlicher Existenz des Menschen. Ganz im Gegenteil: Die drei Zustände bedeuten drei wesensmässig verschiedene Existenzmöglichkeiten des Menschen, die im konkreten Dasein des Individuums jedoch nicht voneinander zu trennen sind. Ein natürliches und gesellschaftliches Wesen ist der Mensch jederzeit, und zwar mit Notwendigkeit. Ein sittliches Wesen ist er immer dann, wenn er es will. Aber er kommt kaum dazu, es wollen zu können, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen schlecht sind. Der gesellschaftliche Zustand ist somit etwas wie ein Erziehungszustand. Im Gehorsam gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen lernt der Mensch allmählich seine Selbstsucht überwinden. Die guten Gesetze und Gewohnheiten eines Volkes erleichtern ihm überdies das Ergreifen der eigenen, inneren Freiheit. Anderseits aber wirkt sich die Sittlichkeit der Individuen wohltuend auf den gesellschaftlichen Zustand aus, indem sich sittliche Menschen notwendigerweise für gerechte Gesetze und Verhältnisse und für die Reinerhaltung des gesellschaftlichen Lebens einsetzen. Damit zeigt sich ein grundlegender Unterschied im Denken Pestalozzis gegenüber Rousseau: Während nämlich Rousseau glaubt, die Sittlichkeit des Menschen verwirkliche sich in und durch dessen gesellschaftliche Existenz, erkennt Pestalozzi, dass die Sittlichkeit grundsätzlich kein gesellschaftliches Phänomen sein kann, sondern einzig dem Individuum zukommt und möglich ist. Eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse ist daher von Pestalozzis Auffassung her immer nur durch die Versittlichung der Individuen möglich. Aus diesem Grunde ist die sittliche Erziehung letztlich der entscheidende Punkt, worauf Pestalozzis ganzes Denken abzielt. Er sagt wörtlich: „Der Anfang und das Ende meiner Politik ist Erziehung.“ (PSW 24A, 12)

Wenn auch Pestalozzi den Menschen unmissverständlich auffordert, sittlich zu handeln, so ist er doch kein Utopist. Er gesteht unumwunden, dass es dem Menschen unmöglich ist, rein sittlich zu handeln, da er stets im Gesellschaftlichen verstrickt und auch als natürliches Wesen mit Trieben und Bedürfnissen ausgestattet ist, deren Befriedigung gegenüber der sittlichen Tat oft Vorrang haben muss, wenn er nicht physisch zugrunde gehen will. Damit spricht Pestalozzi ein klares Ja zur ursprünglichen Konflikthaftigkeit und Spannung des Menschen. Aber ob aller Gewissheit, dass dem Menschen der innere Frieden und die Harmonie mit sich selbst und der Welt in diesem Leben niemals als dauerhafter Besitz, sondern immer bloss als neues Geschehnis, zuteil werden kann, resigniert Pestalozzi nicht, sondern spricht ein tapferes Trotzdem. Die Natur entlässt den Menschen unvollkommen, und der Mensch muss seine Menschwerdung selbst vollenden. „Die Natur hat ihr Werk ganz getan, also tue auch du das deine!“ (PSW 12, 125) Immer dann, wenn es dem Menschen gelingt, ‘Werk seiner selbst’ zu werden, immer dann hat er die Harmonie in sich selbst durch die Überwindung seiner Selbstsucht wieder hergestellt. Dann ist er wahrhaft frei, dann ist er Mensch.

Blicken wir nun vom Standpunkt der ‘Nachforschungen’ zurück auf die ‘Abendstunde’ und die ‘Leutnants-Philosophie’, so stellen wir fest, dass Pestalozzi zur Zeit der Abfassung der erstgenannten Schrift insbesondere den Zusammenhang zwischen Naturzustand und sittlichem Zustand des Menschen im Auge hatte und das Ideal eines gesellschaftlichen Lebens, das getragen wird durch die Sittlichkeit der Regierenden und des Volks, vor seinem inneren Auge sah. Im Anblick dieses Ideals beachtete er gewiss zu wenig deutlich die Tatsache, dass die gesellschaftliche Vereinigung grundsätzlich auf einem Akt der Selbstsucht beruht und dass daher jede gesellschaftliche Vereinigung durch den Egoismus gezeichnet ist. In den folgenden Jahren wandte er sich vermehrt dem Zusammenhang zwischen Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand zu, er deckte damit auch rückhaltlos die selbstsüchtigen Züge des gesellschaftlich vereinigten Menschen auf, aber das Vertrauen auf die guten inneren Kräfte jedes einzelnen Menschen war beinahe verschwunden. In den Nachforschungen gelingt es ihm, diese beiden Sichtweisen zu einer Synthese zu vereinigen. Optimismus und Pessimismus in Bezug auf den Menschen münden ein in einen fruchtbaren Realismus

Die in den ‘Nachforschungen’ entwickelte Sichtweise des Menschen liegt allen späteren Schriften Pestalozzis unausgesprochen zu Grunde. Sein politisches und pädagogisches Bemühen dreht sich immer um die Frage: Wie gelingt es, aufbauend auf der Natur des Menschen und unter Einbezug der gesellschaftlichen Verhältnisse die natürlichen Triebe auf eine solche Art befriedigen zu können, dass sie die höheren Möglichkeiten des Menschen nicht überwuchern, sondern vielmehr zur Grundlage werden können für die Entwicklung der Anlagen der höheren Natur und deren Weiterentwicklung zur Sittlichkeit? Die Antwort auf diese Frage verweist den Menschen grundsätzlich auf politisches und erzieherisches Handeln. Politik ohne erzogene Menschen führt in blossen gesellschaftlichen Kampf und in Unterdrückung durch perfekte gesellschaftliche Mittel. Erziehung ohne Politik übersieht und vernachlässigt die Bedingungen, welche eine auf Sittlichkeit hinstrebende Erziehung entweder ermöglichen und erleichtern, oder aber erschweren und verhindern können. Die unmittelbaren Resultate der Politik und der Erziehung sind indessen nicht gleichwertig: Der gut funktionierende Staat ist niemals letzter Zweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck; der sittliche Mensch hingegen ist die Erfüllung des menschlichen Daseins.

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