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Der sprachliche Vortrag des Lehrers

Voraussetzungen, Formen, Gestaltungsprozesse, Zielsetzungen und Wirkungen des sprachlichen Vortrags

Skabiose

 

Vorbemerkung: Angeregt zur Abfassung des vorliegenden Textes wurde ich durch Hans Aeblis didaktisches Buch ‘Zwölf Grundformen des Lehrens’ (Klett-Verlag, Stuttgart, 1983). Ich habe vor allem in den ersten beiden Kapiteln seine Gedanken einbezogen, mich dann aber immer mehr entfernt und das eingebracht, was mir wichtig ist.

 

1  Problemstellung

Eine grundlegende Aufgabe des Lehrers besteht darin, seine Schüler mit neuen Sachverhalten (Wissensinhalten, Betrachtungsweisen, Vorstellungen) vertraut zu machen. Er kann dies auf verschiedenen Wegen erreichen:

Der sprachliche Vortrag – der Lehrer spricht und die Schüler hören zu – ist weitherum in Verruf geraten. Schon Wilhelm Busch witzelte: "Wenn zwanzig (oder so ähnlich) schlafen und einer spricht, so nennt man dieses Unterricht." Trotzdem ist das Sprechen eines Menschen, der etwas von einer Sache versteht, zu Menschen, die nichts oder wenig darüber wissen, die natürlichste und ursprünglichste Form des Belehrens. Sie wurde gebraucht, lange bevor jedermann zur Schule ging. Und wenn wir Lehrer auch über andere Vermittlungsformen von Lernstoff verfügen müssen, so gehört doch die Fähigkeit, richtig vortragen zu können, nach wie vor zum grundlegenden Berufsrüstzeug des Lehrers.

Im folgenden geht es um die vier Vortrags-Formen: Erzählen, Schildern, Referieren und Vorlesen. (In logischer Hinsicht liegt das Vorlesen nicht auf derselben Ebene wie die übrigen drei Formen, weil der vorzutragende Text ja seinerseits eine Erzählung, eine Schilderung oder ein Referat sein kann. Das Vorlesen ist aber mit einer ganzen Reihe von erwägenswerten didaktischen Problemen verbunden, weshalb es in einem gesonderten Kapitel behandelt werden soll.) Allen vier Formen ist eines gemeinsam: Der Lehrer spricht, und die Schüler hören zu. Es geht somit um einseitige sprachliche Kommunikation.

Dabei haben wir uns mit zwei Grundfragen auseinanderzusetzen:

  1. Was muss beim Lehrer vorhanden sein, das ihn befähigt, vortragen zu können?

  2. Was muss beim Schüler vorhanden sein, das es ihm ermöglicht, zuhörend zu verstehen?

2  Der sprechende Lehrer

Ein Lehrer kann nur deshalb zu seinen Schülern sprechen, weil er über zwei Voraussetzungen verfügt, nämlich über

  1. eine ausgebildete allgemeine Sprachfertigkeit

  2. konkrete Bedeutungsgehalte

2.1  Die allgemeine Sprachfertigkeit

Obwohl diese bei jedem Menschen mehr oder weniger stark entwickelt ist und darum als selbstverständliche Voraussetzung angesehen werden kann, müssen wir als Lehrer doch in den Grundzügen wissen, was in unserem Geist (in unserem Bewusstsein) vorgeht, wenn wir sprechen:

Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass Sprechen und Denken aufs engste miteinander verknüpft sind. Sprechen ist so etwas wie lautes Denken, und Denken ist zumeist inneres Sprechen. Darum beruhen Sprechen und Denken auf denselben Elementen, nämlich auf den Begriffen (2.1.1.) und den Denkoperationen (2.1.2.). Das Sprechen geht insofern über das Denken hinaus, als es verschiedene Mittel des Ausdrucks (2.1.3.) in Anspruch nimmt.

 

2.1.1  Begriffe

2.1.1.1  Was sind Begriffe?

Die Antwort fällt darum schwer, weil die Begriffe in ihrem Wesen völlig unanschaulich, d.h. abstrakt sind. Stelle ich mir beispielsweise einen bestimmten Stuhl vor, so ist diese Vorstellung konkret, bildhaft. Es handelt sich folglich um eine Sinnesvorstellung, denn in meinem Bewusstsein sind die Sinne (Sehen, Hören, Tasten etc.) in Tätigkeit. Diese Sinnesvorstellung ist aber keinesfalls identisch mit dem Begriff ‘Stuhl’. Dieser ist ganz unabhängig von der Vorstellung eines bestimmten Stuhles, sondern umfasst sämtliche Merkmale, die zum Wesen eines Stuhles gehören. Ein Begriff ist daher nichts Vorgestelltes, sondern etwas Gewusstes, Gedachtes. Begriffe sind nicht Sinnes-, sondern Verstandesvorstellungen. Sie werden zumeist mit einem ‘Namen’ (einem Wort, einem Morphem) ‘etikettiert’ (obwohl dies grundsätzlich nicht nötig wäre), wodurch die Verbindung von Denken und Sprache zustande kommt. Die Begriffe bilden somit die Bedeutungsgehalte der Wörter. (Der Gebrauch von leeren Worthülsen ist zwar verbreitet. Pestalozzi nannte dieses Sprechen ohne tragende Begriffe ‘Maulbrauchen’ oder ‘Zungendreschen’.)

 

2.1.1.2  Was leisten die Begriffe?

Grundsätzlich ermöglichen uns die Begriffe, die an sich ungeordnete Vielgestaltigkeit der Welt in Einzelphänomene aufzulösen, diese gedanklich und sprachlich zu fassen (zu begreifen), zu ordnen und miteinander in Beziehung zu setzen. Wir können die gesamte Welt überhaupt nur als eine verstandesmässig erfassbare Dingwelt wahrnehmen, weil wir Begriffe haben. Tiere verfügen nicht oder höchstens ansatzweise über abstrakte Begriffe und können darum die Welt nicht wie der Mensch gedanklich durchdringen und sich dadurch verfügbar machen. Säugetiere haben zwar physiologisch gleich gebaute Augen wie wir Menschen, können aber das visuell Wahrgenommene nicht in gleicher Weise erfassen (deuten, verstehend begreifen) wie wir. Ihr Sehen ist mehr ein ‘Glotzen’ als ein Anschauen.

Begriffe liegen in unserem Bewusstsein nicht unverbunden nebeneinander, sondern in einem Geflecht (einer Struktur) von Über-, Neben- und Unterordnungen. Darum lassen sich mit ihrer Hilfe Sachverhalte klassifizieren. Wer einen richtigen Begriff vom ‘Stuhl’ hat, kann angesichts beliebig vieler Möbelstücke in jedem Falle entscheiden, ob sie zur Klasse der Stühle gehören oder nicht, auch wenn ihm die seltsamsten Stühle vorgesetzt werden, die er noch nie gesehen hat.

Mittels der Begriffe lassen sich auch Gedanken und Vorstellungen in Raum und Zeit tradieren:

2.1.1.3  Wie entstehen neue Begriffe?

Diese Frage bedeutet zweierlei:

  1. Wie kommen überhaupt neue Begriffe in die Sprache?

  2. Wie entstehen neue Begriffe im Bewusstsein eines sich entwickelnden Menschen?

Wie kommen überhaupt neue Begriffe in die Sprache?

Begriffe können auf zwei verschiedene Wege in die Sprache kommen.

Wie entstehen neue Begriffe im Bewusstsein eines sich entwickelnden Menschen?

Mit der Frage, wie die Begriffe im Bewusstsein des Menschen entstehen, befassen sich die Erkenntnistheorie (ein Zweig der Philosophie) und die Erkenntnispsychologie. Es sei gleich festgestellt, dass sich über die Frage, wie neue Begriffe entstehen, die Philosophen und Psychologen seit Jahrhunderten streiten. Ohne uns in diese komplizierte Auseinandersetzung einzulassen, können wir zumindest davon ausgehen, dass sich nicht alle Begriffe auf dieselbe Weise bilden.

2.1.1.4  Die Grundursache der Missverständnisse: Nicht deckungsgleiche Begriffe

Wie bereits dargelegt, können wir Menschen einander nur etwas von unserem Denken und von unseren Vorstellungen mitteilen, weil die Kommunikationspartner über Begriffe verfügen. Vollkommen könnte man darum nur einen Mensch verstehen, der in einer Sache genau dieselben Begriffe hat. Das ist allerdings sehr selten der Fall; meistens verstehen die miteinander kommunizierenden Menschen bereits im denotativen Bereich unter einer Sache nicht genau dasselbe, und im konnotativen Bereich ist völlige Deckungsgleichheit der Begriffe geradezu ausgeschlossen. Es liegt darum schon im Wesen der sprachlichen Kommunikation, dass man einander nie restlos versteht.

Als Regel kann gelten: Je grösser der Deckungsgrad der Begriffe ist, desto grösser ist die Verständnismöglichkeit zwischen zwei Individuen – und umgekehrt.

Als Lehrer haben wir oft regulierend in hitzige Diskussionen einzugreifen, um einerseits grösseres Unheil abzuwenden, andererseits bei den Schülern eine gewisse Kommunikationskultur zu entwickeln. Wenn wir wissen, dass viele Meinungsverschiedenheiten darauf beruhen, dass die Konfliktpartner nicht über dieselben Begriffe verfügen, so gewöhnen wir es uns an, dies zu thematisieren. Das heisst: Wir sorgen dafür, dass die tragenden Begriffe, die in der betreffenden Diskussion wegleitend sind, zuerst erhellt, d.h. einigermassen klar definiert werden. Man wird dann erleben, dass sich manches Missverständnis klärt.

 

2.1.2  Denkoperationen

Nun ist Denken und Sprechen ein Handeln, d.h. ein aktiver Umgang mit den Begriffen. Wir verknüpfen sie miteinander, bilden Beziehungen, Gegensätze, Analogien (Entsprechungen), Vergleiche, Abhängigkeiten oder Verwandtschaften. Dieses innere Handeln sind die Denkoperationen. Freilich vollziehen wir sie zumeist unbewusst. Auf der sprachlichen Seite entspricht den Denkoperationen das Formulieren. Je leichter die Denkoperationen vollzogen werden können, desto gewandter können wir sprechen. Darum ist es berechtigt, die sprachliche Gewandtheit als einen Gradmesser (neben anderen) für die Intelligenz eines Menschen zu betrachten.

 

2.1.3  Mittel des Ausdrucks

Als Sprecher kann ich dem Hörer die Bedeutungsgehalte (Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Wertungen) grundsätzlich auf zwei Arten übermitteln:

2.1.3.1  Verbale Mittel

Die verbalen Mittel liegen (abgesehen vom Vorlesen oder Auswendig-Vortragen) im Sprecher nicht in einer endgültigen Form bereit, sondern er muss den sprachlichen Ausdruck unmittelbar aus dem Erlebnis seiner inneren Vorstellung und seines Denkens heraus erzeugen. Mit andern Worten: Er muss die seinen erlebten Vorstellungen und gedachten Begriffen entsprechenden Wörter finden und sie gemäss seinen innern Bewegungs- und Beziehungserlebnissen (Denkoperationen) zu sinnvollen und verständlichen Sätzen zusammenfügen. Er muss auch in der Lage sein, seinen Gefühls- und Werterlebnissen den angemessenen sprachlichen Ausdruck zu geben. Dieses ‘freie Sprechen’ ist eine eigentlich kreative Leistung, die durch ständiges Üben verbessert werden kann.

Das Verschlüsseln von Vorstellungen und Gedanken in sprachliche Mittel nennt man Kodieren. Der Hörer muss dann das Gehörte dekodieren.

Zu den sprachlichen Mitteln zählt aber nicht nur die Wortwahl und die Satzbildung, sondern auch die Artikulation, die Betonung und die Stimmführung. Monotones Sprechen langweilt den Hörer in der Regel und lässt ihn das Interesse verlieren. Farbiges Sprechen ist Ausdruck innerer Beteiligung und wirklichen Interesses und ist charakterisiert durch deutliche Artikulation, durch Wechsel der Tonhöhe, der Lautstärke und des Sprechtempos und durch einen gefälligen Rhythmus.

2.1.3.2  Nonverbale Mittel

Unter non-verbalen Mitteln der Kommunikation verstehen wir die Mimik (Gesichtsausdruck), die Körperhaltung und die Gestik (Körperbewegung). Daher erhöht die Möglichkeit des Sichtkontakts zwischen Hörer und Sprecher den Grad des Verstehens. Dementsprechend achtet der Lehrer darauf, dass ihn beim Sprechen alle Schüler sehen können.

Die Lautstärke, die Satzmelodie, das Sprechtempo, der Sprechrhythmus und die non-verbalen Ausdrucksformen kommen in der Regel unwillkürlich aufgrund der mit dem Inhalt verbundenen Gefühle und Wertungen zustande und sind dementsprechend wichtige Mittel zu deren Übermittlung. Setzt ein Sprecher diese Mittel bewusst ein, so wirkt seine Sprache meist gemacht und geziert. Als Lehrer sollten wir uns daher vor allem um verständliche Formulierungen, um deutliche Artikulation und insgesamt um ein solches Sprechen bemühen, das unserem Innenleben entspricht.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Der sprachkompetente Lehrer verfügt über ein breites Repertoire von geklärten und unter sich in sinnhafter Beziehung stehenden Begriffen, über die entwickelte Fähigkeit, mit Hilfe der Denkoperationen gewandt mit den Begriffen umgehen und damit sinnvolle Gedanken, Vorstellungen und sprachliche Strukturen bilden zu können, sowie über die Fähigkeit der verbalen und non-verbalen Vermittlung.

 

2.2  Die konkreten Bedeutungsgehalte

Als Lehrer müssen wir natürlich nicht nur an sich sprechen können, sondern über ganz bestimmte Dinge. Diese bilden die Gehalte unseres geistigen Lebens. Wir haben sie erworben entweder

Beim Erwerb dieser Inhalte spielten die Begriffe und die Denkoperationen eine entscheidende Rolle. So könnten wir beispielsweise durch Hören und Lesen ohne deutliche Begriffe überhaupt keine Informationen aufnehmen, denn wer redet oder schreibt, zählt beim Hörer bzw. Leser auf das Vorhandensein klarer Begriffe. Es lässt sich somit sagen: Die Begriffe sind (allgemeine, abstrakte) Instrumente, die wir beim Aufbau konkreter Vorstellungen und Gedanken benützen.

Die konkreten Bedeutungsgehalte, die wir den Schülern vermitteln, leben in uns als

  1. bildhafte Vorstellungen

  2. Gedanken

  3. Gefühle

  4. Wertungen

2.2.1  Bildhafte Vorstellungen

Die Phantasie ermöglicht uns, Erlebtes, innerlich Erschaffenes, Gehörtes und Gelesenes bildhaft in unserem Geiste erstehen oder wiedererstehen zu lassen. Das Vorstellen ist ein inneres Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, Bewegen usf.

Im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Erzählen und Schildern ist die Einteilung der inneren Bilder in Handlungsabläufe und statische Situationen bedeutsam. Die statischen Situationen bilden gleichsam die Szenerie, in welcher sich Handlungen abspielen. Statische Situationen sind von relativer Dauer, Handlungen sind Veränderungen im Verlaufe der Zeit.

 

2.2.2  Gedanken

Um das Wesen der Gedankenwelt zu verstehen, vergleichen wir sie am besten mit den bildhaften Vorstellungen (inneren Bildern): Die bildhaften Vorstellungen sind immer konkret, beziehen sich somit auf ein bestimmtes Ereignis oder einen bestimmten Sachverhalt. So sehe ich mich beispielsweise am Badestrand eine Sandburg bauen oder sehe vor mir den Eiffelturm. Die Gedanken sind demgegenüber verhältnismässig abstrakt und daher stärker von den Begriffen abhängig als die Vorstellungen. (Kein Gedanke ist so konkret wie eine Vorstellung, aber im Bereiche der Gedankenwelt sind die Grenzen fliessend zwischen relativ konkreten und sehr abstrakten Gedanken. Relativ konkret ist z. B. der Gedanke "Ich werde heute um vier Uhr mit dem Taxi auf den Bahnhof fahren", wenn ich ihn etwa mit dem Gedanken "Gegensätze ziehen sich an" vergleiche. Aber beim erstgenannten Gedanken muss ich mir – trotz seiner relativen Konkretheit – nichts Konkretes bildhaft vorstellen, weder die Uhr, noch das Taxi, noch die Strasse oder den Bahnhof.) Genau genommen, brauche ich im Bereiche der Vorstellungen die Begriffe erst, wenn ich die innerlich gesehenen Bilder gedanklich fassen und sprachlich ausdrücken will; im Bereiche des reinen Denkens hingegen bin ich schon von Beginn an von den Begriffen abhängig.

Stelle ich als Lehrer eine Vorstellung sprachlich dar, so erzähle oder schildere ich; formuliere ich indessen Gedanken, so referiere ich.

 

2.2.3  Gefühle

Die bildhaften Vorstellungen stellen gemeinsam mit den Gedanken das sachliche Grundmaterial eines geistigen Gehalts dar. Innere Erlebnisse, seien sie abstrakter (gedanklicher, begrifflicher) oder konkreter (bildhafter, anschaulicher) Art, sind in der Regel mit Gefühlen verbunden. Diese sind zumeist keine selbständigen Inhalte des geistigen Lebens, sondern stellen Tönungen der Vorstellungen oder Begriffe dar. Daher teilt der Lehrer beim Sprechen oder Vorlesen dem Schüler nicht nur die sachlichen Bedeutungsgehalte (Vorstellungen, Gedanken) mit, sondern vermittelt ihm auch jene Gefühle, welche die betreffenden Vorstellungen und Gedanken in ihm wachrufen. Dadurch fühlt sich der Schüler ‘angesprochen’, ins Erleben des vortragenden Lehrers hineingenommen.

 

2.2.4  Wertungen

In der Regel sind uns Erlebnisse, Vorstellungen und Gedanken nicht gleichgültig, sondern wir fühlen uns zu ihnen hingezogen oder von ihnen abgestossen (wobei auch Mischungen vorkommen). Dieses Angezogen- bzw. Abgestossensein beruht bei differenzierten Menschen nicht nur auf oberflächlichen Bedürfnissen des momentanen Wohlbefindens, sondern auf dem Erleben, dass in den uns begegnenden Sachverhalten irgendwelche abstrakt fassbaren Ideen (‘Werte’) aufscheinen, aus denen sich ein Anspruch an unser Urteilen und Handeln ableitet. Solche Werte sind etwa: das Gute, das Wahre, das Schöne, das Heilige. Beim Vortragen vermitteln wir dem Hörer somit nicht nur objektive Sachverhalte und die sie begleitenden Gefühle, sondern auch unsere wertende Einstellung dazu. Dieser Umstand macht den Sprecher in einem besonderen Masse für sein Sprechen verantwortlich, denn die Hörer, insbesondere die Kinder, sind zumeist geneigt, diese Wertungen unbewusst zu übernehmen.

 

3  Der hörende Schüler

Im Hörer geschieht Ähnliches wie im Erzähler, aber in umgekehrter Richtung. Am Anfang steht die auditive (d.h. Gehörs-) Wahrnehmung: Wort, Satz, Satzmelodie, Rhythmus. Aber auch die visuellen Signale (Mimik, Gestik, Haltung) werden wahrgenommen. Die Leistung des Hörers besteht nun darin, dass er diese gehörten und gesehenen Signale entschlüsselt und ihnen die entsprechenden eigenen Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, Gefühle und Wertungen zuordnet. Der Sprecher kann daher dem Hörer eigentlich nichts ‘geben’, sondern dieser muss das vom Sprecher Gemeinte in sich selbst aufbauen. Zuhören ist darum ein höchst aktiver Prozess. (Darum trifft auch die Kritik an den hier zur Diskussion stehenden Lehrformen daneben, die den vortragenden Lehrern vorwirft, sie drängten durch ihr Sprechen die Schüler in die Passivität. Zu kritisieren ist vielmehr, dass man die Schüler durch zu langes Sprechen in eine einseitige [d.h. stets gleichförmige] Aktivität drängt und dass andere, ebenso notwendige Formen der Aktivität dadurch vernachlässigt werden.)

 

3.1  Zwei Arten von Verstehen

Den angemessenen Aufbau eigener Vorstellungen, Gedanken, Gefühle und Wertungen aufgrund des gehörten oder gelesenen Wortes bezeichnen wir als Verstehen. Es ist aber zu beachten, dass das Verstehen einer Vorstellung nicht genau dasselbe ist wie das Verstehen eines Gedankens.

 

3.1.1  Verstehen einer konkreten Vorstellung

Ideal wäre natürlich, wenn der Schüler aufgrund der gehörten Wörter und Sätze in sich selbst genau dieselben Bedeutungsgehalte erzeugen würde, die im Lehrer geistig lebendig sind. Im Bereiche der konkreten (bildhaften) Vorstellungen tritt dies mit Sicherheit niemals ein. Lehrer und Schüler verfügen zwar über einen recht grossen Bestand gemeinsamer Begriffe. Jeder weiss, wovon die Rede ist, wenn die Wörter ‘Buch’, ‘Stein’, ‘Brücke’, ‘scharf’, ‘tot’, ‘klettern’, ‘spielen’ ausgesprochen werden. Aber sobald es nicht nur um ein abstraktes Wissen, sondern um ein konkretes, bildhaftes Vorstellen geht, muss ja der Schüler aufgrund jedes erfassten Begriffs (der eben unanschaulich, abstrakt ist) ein bestimmtes, konkretes Bild erzeugen. Dieses innere Bild ist aber in hohem Masse abhängig von den ganz persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des jeweiligen Schülers. Wenn ich als Lehrer beispielsweise von einer Waldhütte erzähle, stellt sich jedes Kind gemäss seinen eigenen Erfahrungen mit Hütten im Walde einen solchen Bau vor. Könnten wir diese inneren Bilder fotografisch festhalten, wären wir wohl überrascht über die Vielfalt der verschiedenen Bilder, die alle aufgrund derselben Schilderung entstanden sind.

Immerhin: Solange der Schüler, wenn von einer Waldhütte die Rede ist, sich wirklich eine solche vorstellt und nicht irgend ein anderes Haus, können wir mit Recht behaupten, der Schüler habe die betreffenden Worte des Lehrers verstanden. ‘Verstehen’ im Bereiche der konkreten Vorstellungen heisst somit nicht, die Vorstellung des Sprechers bis ins letzte Detail nachmalen, sondern im Rahmen der Begriffe sachlich richtig ein eigenes Bild erzeugen.

 

3.1.2  Verstehen eines Gedankens

Anders liegen die Dinge, wenn ein Lehrer seinen Schülern einen Gedankengang vermittelt. Hier ist es zwar hilfreich, aber keineswegs unbedingt erforderlich, dass sich der hörende Schüler den dargelegten Gedankengang bildhaft konkretisiert. So lässt sich beispielsweise der Gedanke, dass Angebot, Nachfrage und Preis einander bedingen, aufnehmen und verstehen, ohne dass man sich in seiner Phantasie die feilschenden Händler und Käufer vorstellt. Und verstanden hat der Schüler den Gedanken des Lehrers erst dann, wenn er ihn absolut identisch in sich selbst erzeugt hat. Dies ist grundsätzlich ohne weiteres möglich, weil eben die Gedanken an sich nicht von konkreten Vorstellungen, sondern von abstrakten Begriffen leben. Hier wird deutlich, dass es für Menschen, die des logischen Denkens gewohnt sind, einfacher ist, am Denken als am konkreten Erleben eines andern Anteil zu nehmen.

Es muss aber betont werden, dass es wesentlich einfacher und daher richtig ist, wenn ein Lehrer einen bestimmten Gedankengang seinen Schülern nicht abstrakt (rein begrifflich) vermittelt, sondern ihn durch konkrete Einzelfälle möglichst bildhaft verständlich macht. Je jünger die Schüler sind, desto strenger muss sich der Lehrer an diese Regel halten. Im Bereiche des Unterrichts ist das Abstrakte zu konkretisieren.

 

3.2  Wann versteht mich der Schüler nicht?

Als Lehrer muss es mir völlig klar sein, in welchen Fällen mich der Schüler nicht zu verstehen mag:

  1. Verständnis bleibt vorerst einmal aus, wenn der Schüler meine akustischen und visuellen Signale aus äusseren Gründen (Lärm, unklare Artikulation) nicht deutlich genug wahrnehmen kann. Dies dürfte häufiger der Fall sein, als man annehmen mag. Es ist darum richtig, wenn Lehrer laut, deutlich und nicht in den Lärm hinein sprechen.

  2. Verständnis kommt aber auch nicht zustande, wenn der Schüler zwar hinhört (rein akustisch verstanden), aber die Arbeit des Dekodierens nicht zu leisten gewillt ist. Es ist recht häufig, dass Schüler den Lehrer scheinbar interessiert anblicken, aber mit ihren Gedanken und Vorstellungen an einem ganz andern Ort sind.

  3. Es ist aber auch möglich, dass Schüler genau hinhören und auch verstehen möchten, aber das Verständnis trotzdem ausbleibt, weil der Lehrer Begriffe und Satzstrukturen (als Ausdruck seiner eigenen Denkoperationen) verwendet, über die der Schüler nicht verfügt oder die er nicht nachvollziehen kann.

Als Lehrer müssen wir wissen, auf welche Weise wir uns vergewissern können, ob und in welcher Weise die Schüler unsere Rede verstanden haben. Abzulehnen ist die direkte Frage: "Habt ihr es verstanden?" Erstens geben viele Kinder (auch Erwachsene) nicht gerne offen zu, dass sie etwas nicht verstanden haben, und zweitens können die Schüler in vielen Fällen selbst gar nicht beurteilen, ob sie eine Sache richtig verstanden haben. Besser ist es darum, die Schüler einen Gedankengang oder eine Vorstellung in eigenen Worten im Sinne der vertiefenden Repetition formulieren zu lassen.

 

4  Erzählung und Schilderung

Wollen wir dem Schüler konkrete (bildhafte) Vorstellungen (und nicht abstrakte Gedanken) vermitteln, so erzählen oder schildern wir.

 

4.1  Das Wesen der Erzählung

Der Kern der Erzählung ist die Episode, also ein Geschehnis, das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort abgespielt hat. Dabei wird dargestellt, wie bestimmte Wesen (meist Menschen) gehandelt haben oder durch Handlungen betroffen wurden. Die Erzählung ist daher stets charakterisiert durch Bewegung oder Veränderung. Da sich Bewegung meist in den Verben sprachlich abbildet, muss der Erzähler über einen reichen Schatz treffender Verben verfügen, wenn er erreichen will, dass der Hörer in sich selbst eine ähnliche Vorstellung des Bewegungsablaufs (des Geschehens) erzeugen kann, wie sie in ihm selbst lebt.

Eine Episode darf aber nicht verwechselt werden mit einem beliebigen, zufälligen Ausschnitt aus einem ungegliederten Handlungsablauf. Wenn ich einfach rapportiere, was bei mir zu Hause gestern zwischen zehn und elf geschehen ist, so ist dies in der Regel kaum eine erzählenswerte Episode. Eine Episode ist vielmehr gekennzeichnet durch eine gewisse Geschlossenheit: Das Ereignis bahnt sich an, spitzt sich zu und kommt zu einem gewissen Abschluss, der einen inneren Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen hat. Gestern habe ich mich beispielsweise wieder einmal aufs Fahrrad gesetzt, um ein wenig zu trainieren, und fuhr an einem Bauernhof vorbei. Da rannte ein gewaltiger Hund auf mich zu, und ich trat, um von ihm nicht gebissen zu werden, kräftig in die Pedalen. Glücklicherweise ging es bergab, so dass ich nochmals mit dem Leben davon kam. Was ich da eben erzählt habe, ist ein Beispiel einer Episode. Das Geschehnis bahnt sich an durch meinen Entschluss, Velo zu fahren; es spitzt sich zu durch den Umstand, dass ich an einem Bauernhaus vorbeifuhr und von einem nicht angeketteten Hund angegriffen wurde; es kommt dadurch zu einem gewissen Abschluss, dass ich der Bestie entkam; und der Umstand, dass ich kräftig in die Pedalen trat und dass es glücklicherweise bergab ging, ist nur darum erzählenswert, weil er eben in einem inneren Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen steht.

Einem geübten und talentierten Erzähler kommt es natürlich nicht nur darauf an, diese Episode zu erzählen, sondern er möchte damit eine gewisse Spannung erzeugen. Sie kommt dadurch zustande, dass der Hörer aufgrund einer angebahnten Handlungsabfolge gewisse Konsequenzen erwartet oder befürchtet und gleichzeitig damit rechnet, dass diese Erwartungen bzw. Befürchtungen wahrscheinlich unberechtigt sind, weil das Geschehnis auf eine überraschende Weise ausgeht. Im obigen Beispiel erwartet (oder befürchtet) man, dass mich der Hund beisst, man hofft (hoffentlich) gleichzeitig, es möge mir gelingen, der Gefahr zu entkommen, und ist dann erleichtert und gleichzeitig ein wenig überrascht, wenn man erfährt, dass es bergab ging.

Es ist zuzugeben, dass die oben erwähnte Episode nicht sonderlich spannend erzählt wurde. Der gewiefte Erzähler steigert die Spannung, indem er den Ausgang der Episode etwas hinausschiebt und die Katze nicht gleich aus dem Sack lässt. Er übertreibt aber auch nicht, denn allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen, und die Zuhörer wenden sich verärgert ab.

Gutes Erzählen erheischt eine gründliche Vorbereitung. Diese besteht darin, dass man zuerst in sich möglichst farbige, präzise Vorstellungen aufbaut und diese vor dem inneren Auge wie einen Film in der richtigen Reihenfolge ablaufen lässt und dann auch das gewandte Formulieren übt. Ein Seminarist sollte in keinem Falle vor eine Schulklasse zum Erzählen einer Geschichte antreten, ohne diese zuvor laut (am besten einem Kameraden) – allenfalls mehrmals – erzählt zu haben.

 

4.2  Das Wesen der Schilderung

Selbstverständlich leben in der Vorstellung des Vortragenden nicht nur bewegte Handlungsabläufe, sondern auch statische Szenen. So sieht er innerlich etwa eine bestimmte Landschaft, einen Raum, eine Häusergruppe usf. Wenn er dies dem Zuhörer gegenüber anschaulich beschreibt, handelt es sich um eine Schilderung. Anders als in der Erzählung, die wesentlich vom treffend gewählten Verb lebt, besteht das tragende Gerüst der Schilderung aus den Substantiven (Nomen) und Adjektiven (was natürlich nicht heisst, dass die Verben keine Bedeutung hätten). Wer anschaulich schildern will, muss insbesondere über einen grossen Schatz treffender Substantive und Adjektive verfügen.

 

4.3  Erzählung und Schilderung als Einheit

In der Praxis lassen sich selbstverständlich Erzählung und Schilderung nicht voneinander trennen. Jeder gute Erzähler berichtet nicht nur von Handlungen, sondern beschreibt zugleich auch die Szenerie, worin sich die Handlung ereignet, sowie das Gleichbleibende der handelnden Wesen (z. B. ihre Kleidung, Haarfarbe, Frisur, Gesichtszüge etc.). Der Schweizer Schriftsteller Franz Fassbind geht z. B. so weit, dass er, bevor er die Handlung einer Geschichte niederschreibt, die Ausstattungen sämtlicher Räume, in welchen sich die Gestalten der Erzählung bewegen werden, bis ins kleinste Detail hinein in Planskizzen und Stichwortverzeichnissen festlegt, ohne bereits zu entscheiden, ob dann auch jede Einzelheit in der Erzählung berücksichtigt werden kann. Am Schluss bildet dann die Darstellung der Handlung (Erzählung) und der Szenerie (Schilderung) eine untrennbare Einheit.

 

4.4  Wann ist Erzählen am Platz ?

In den folgenden Ausführungen ist mit ‘Erzählen’ immer auch ‘Schildern’ gemeint, da die beiden Vortragstypen ja nicht voneinander zu trennen sind.

Zuerst negativ: Erzählen ist überall dort fehl am Platz, wo der Schüler entweder durch eigenes Überlegen (z. B. in der Mathematik) oder durch eigenes Beobachten (z. B. in der Naturkunde) zu einer Erkenntnis, einer Vorstellung oder einem Begriff kommen kann. In allen übrigen Fällen muss sich der Lehrer entscheiden, ob er den Schülern zur Vermittlung eines neuen Sachverhalts einen Text zum Lesen vorlegen will oder ob er besser selbst erzählt. Allenfalls kann auch ein erarbeitendes Klassengespräch zum Ziele führen. (Eine Zwischenform zwischen Erzählen und Abgabe eines Textes ist das Vorlesen. Darüber später.)

 

4.4.1  Religionsunterricht

Es entspricht sicher einer guten Absicht, wenn man heute versucht, die Kinder schon früh zu begrifflichem Denken im Bereiche des Religiösen zu führen. Dies geschieht etwa dadurch, dass der Lehrer mit den Schülern – vielleicht im Anschluss an eine Erzählung – über das Verhalten von Menschen in bestimmten Lebenssituationen spricht und dann die Begriffe auf einem sog. Arbeitsblatt oder in einer zeichnerischen Darstellung festhält. Der Schüler kann dann diesen ‘schriftlichen Ertrag’ in einem Ordner aufbewahren. Wie weit dieses Verfahren wirklich bildend ist, lässt sich natürlich nur im konkreten Fall – durch aufmerksames Beobachten einer Unterrichtsstunde – beurteilen. Die Gefahr dieses Verfahrens, die viele Lehrer kaum bemerken, besteht darin, dass sich der Unterricht zu sehr an den ‘Kopf’ des Kindes wendet. Vielleicht können dann die Schüler tatsächlich klar über den behandelten Sachverhalt reden, was der günstigere Fall ist, vielleicht aber vergessen sie das Behandelte wie irgendwelchen Schulstoff.

Wollen wir aber, dass die gewonnenen Erkenntnisse im Leben des Kindes wirksam werden, so müssen wir so unterrichten, dass sein ‘Herz’ angesprochen wird. Dies geschieht aber weniger dadurch, dass diskutiert wird – so wertvoll Diskussionen, unter andern Gesichtspunkten betrachtet, auch sind –, als vielmehr dadurch, dass Bilder in die Seele des Kindes gelegt werden. Das Vergessen ist in diesem Falle, wie bereits dargelegt, nicht zu bedauern, da die Bilder ja in der Seele erhalten bleiben. Unser eigentliches Ziel ist es ja nicht, dass die Schüler jetzt über ein bestimmtes religiöses Wissen verfügen (so hilfreich dies auch sein mag), sondern dass sie im ganzen künftigen Leben aus ihrer Verbundenheit mit dem Göttlichen handeln. Wie wir aus der Tiefenpsychologie wissen, entspringen unsere Handlungsmotive (Beweggründe) weniger dem abstrakten Denken (obwohl diese Motive mit zunehmendem Alter an Bedeutung gewinnen), sondern vor allem den unbewussten Bildern. Wir können daher annehmen, dass ein Mensch z. B. in schwieriger Lebenslage positiv entscheidet, wenn in ihm – wenn vielleicht auch unbewusst – die Geschichte vom verlorenen Sohn bildhaft lebendig ist. Der Gedanke der unumgänglichen Rückkehr zum Vater und das Vertrauen auf seine liebende Bereitschaft zur Aufnahme und zum Verzeihen leben nicht abstrakt-begrifflich, sondern bildhaft-anschaulich in seiner Seele. Diese Bilder entstehen aber, man kann es nicht genug betonen, am besten durch die eindrückliche, engagierte Lehrererzählung. Ein Lehrer, der um diese Zusammenhänge weiss, legt durch seine von Ergriffensein getragene Erzählung fruchtbare Keime geistigen Lebens in die Seelen seiner Schüler. Je jünger diese sind, desto mehr sollte daher die Lehrererzählung im Religionsunterricht eine zentrale Stellung einnehmen, auch wenn selbstverständlich noch andere Lehr- und Lernformen zum Zuge kommen sollen.

Erzählen lassen sich im Religionsunterricht vorab die Geschichten des alten und neuen Testaments. Selbstverständlich wird sich der Lehrer nicht sklavisch an die stilistisch knappe Ausdrucksweise des Originals halten; vielmehr wird er gemäss der kindlichen Auffassungsgabe, aber auch mit der nötigen Ehrfurcht, Einfühlung und Zurückhaltung den originalen Bibeltext durch anschauliche Details ausmalen, etwa in der Weise, wie es ja auch die Maler des christlichen Abendlands getan haben. Über die Bibelgeschichten hinaus lassen sich auch Legenden, insbesondere Heiligenlegenden, aber auch Geschichten aus dem Leben gottbezogener Menschen oder aus dem Alltag erzählen. Hier ist der Phantasie des Lehrers kaum eine Grenze gesetzt.

 

4.4.2  Leseunterricht

Vorerst mag es scheinen, das Erzählen habe im Leseunterricht nichts zu suchen, da die Schüler den Text ja selber lesen können. Nun geht es aber beim Lesen durchaus nicht in erster Linie um die Schulung der Lesefertigkeit, sondern vorab um das Verständnis des konkreten Textes. Dabei ist zu beachten, dass ‘Verständnis’ zumeist mehr umfasst als das rein begriffliche (kognitive) Erfassen, sondern sich nur dann einstellt, wenn im Schüler das durch den Text möglich gemachte oder vom Schriftsteller beabsichtigte gemüthafte (ganzheitliche) Erleben zustande kommt. Der Lehrer sieht sich somit der Frage gegenüber, was er vorzukehren habe, um dem Schüler dieses Verständnis zu ermöglichen.

Schon viel hängt davon ab, auf welche Weise der Lehrer den Inhalt eines Textes vermittelt. Dabei stehen ihm vier Wege offen:

Heute wird weitherum das Verfahren des Erlesens verwendet: Der Lehrer lässt die Schüler relativ kurze Abschnitte lesen und lässt das Gelesene im Klassengespräch klären. Da diese Methode sehr stark das Denken der Schüler beansprucht, ist sie insbesondere für eher sachliche und gedankliche Texte geeignet. Geschichten hingegen, die in sich klar geschlossen sind (wie aus einem Guss), die deutlich vom Spannungsbogen leben und den Leser im gemüthaften Erleben ergreifen wollen, werden durch das immer wieder einsetzende analysierende Gespräch ziemlich misshandelt, und das Kind wird aus dem gemüthaften Erleben und aus seinen Bildern immer wieder herausgerissen und in ermüdende Kopfarbeit hineingeführt. Sicher ist Kopfarbeit wichtig, aber das gemüthafte Erleben gehört an den Anfang.

Will ich, dass die Schüler die von mir gewählte Geschichte ganzheitlich aufnehmen, muss ich entweder vorlesen oder erzählen. Das Erzählen hat indessen gegenüber dem Vorlesen einen sehr bedeutenden Vorteil: Ich kann nämlich als Lehrer alle notwendigen Klärungen schwieriger Sachverhalte, Ausdrücke oder Satzkonstruktionen zwanglos in meine Erzählung hineinnehmen. Wenn dann hernach die Schüler den originalen Text lesen, ist ihnen aufgrund der geschaffenen inneren Bilder das meiste schon klar.

Beispiel: In einer Sage über die heilige Verena findet sich die folgende Stelle:

In einer einsamen Juraschlucht bei Solothurn fand sie Zuflucht. Da wollte sie Gott in aller Stille dienen. Niemand kümmerte sich um die Einsiedlerin aus fremdem Land. Aber da brach eine Hungersnot aus, und alles Volk litt bittern Mangel. Allein die fromme Jungfrau blieb verschont. Ihr Mehl ging nie zur Neige.

Dies ist an sich gute und für Erwachsene verständliche Sprache, aber Viertklässler verstehen dies grösstenteils nur der Spur nach, weil die Ausdrucksweise doch recht abstrakt ist (‘fand sie Zuflucht’ / ‘Gott in aller Stille dienen’ / ‘niemand kümmerte sich’ / ‘alles Volk litt bittern Mangel’ / ‘blieb verschont’ / ‘ging nie zur Neige’).

Wird ein solcher Text ‘erlesen’, beschäftigen sich die Schüler hauptsächlich mit der konkreten Ausdrucksweise des Schriftstellers, womit man sie vom eigentlichen Gehalt der Geschichte, die ja auch in einfacherer Sprache erzählt werden könnte, ablenkt. Das folgende Verfahren scheint mir daher fruchtbarer: Der Lehrer legt den Schülern den Text erst dann zum Lesen vor, wenn er den Inhalt in einer lebendigen und auf ihr Verständnisvermögen abgestimmten Erzählung vermittelt hat. Dann können sie den Buchtext auch ohne weiteres verstehen, weil die erforderlichen innern Bilder schon bereit liegen und der Lehrer alle schwierigen Ausdrücke und Sachverhalte durch seine Erzählung bereits erklärt hat.

Die Lehrererzählung könnte demnach etwa so lauten:

Verena kam nach langer Wanderung in die Gegend von Solothurn. Diese Stadt liegt etwa eine Fusstagereise südwestlich von Aarau an der Aare. Im Norden der Stadt erhebt sich ein hoher Juraberg: der Weissenstein. Dort fand Verena im Walde eine tiefe Schlucht. Hier wollte sie bleiben, denn in dieser Einsamkeit war sie sicher vor ihren Verfolgern. Wo sie schlief – unter einem vorspringenden Felsen oder in einer einfachen Hütte –, wissen wir heute nicht mehr. Sie lebte hier allein und betete, so lang der Tag war. Gewiss half sie auch den Leuten in der Umgebung arbeiten und verdiente sich so das Wenige, das sie zum Leben brauchte. Die Leute liessen sie in Ruhe. Niemand fragte, wer sie sei, woher sie komme.

Nach einiger Zeit brach in jener Gegend eine Hungersnot aus. Vielleicht hatte es sommers zu wenig geregnet, oder die Ernte war durch Hagelschlag vernichtet worden – wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass die Menschen grossen Hunger litten. Einzig die heilige Verena wurde davor verschont. Wieviel Mehl sie auch aus ihrem Topfe nahm, er wurde nie leer. Gott wirkte ein Wunder.

Man wird einwenden, diese Fassung sei stilistisch schlechter. Das trifft natürlich zu, schon deshalb, weil sie länger ist. Aber sie ist kindgemässer. Überdies: Geschriebene Sprache ist eben anders als gesprochene Sprache.

 

4.4.3  Realien (Sach-, Welt-, Lebens-, Heimat-, Naturkunde, Geschichte, Geographie)

Auch in diesen Fächern hat die Lehrererzählung ihren Platz. Hier wird sie allerdings stark relativiert durch die direkte Anschauung des Lerngegenstands (vorwiegend in der Heimat- und Naturkunde) und durch die Veranschaulichung durch Bilder, Modelle, Präparate, Zeichnungen, Graphiken, Filme (vorwiegend in der Geographie und Geschichte). Allgemein gilt: Wenn es auf eine eindeutige, präzise Sach-Vorstellung ankommt, ist die Lehrererzählung entweder nicht oder aber nur in Verbindung mit der Anschauung oder der Veranschaulichung am Platz. So ist es z. B. nicht sinnvoll, vom Känguruh zu erzählen, ohne davon mindestens ein Bild zu zeigen. Der Lehrer mag das Tier noch so exakt sprachlich beschreiben, so ist es doch recht unwahrscheinlich, dass sich die Schüler ein Känguruh wirklich so vorstellen, wie es leibt und lebt. Im Bereiche der Geographie und Naturkunde kommt man heute leicht zu geeignetem Anschauungsmaterial.

Eine zentrale Stellung nimmt die Lehrererzählung in der Geschichte ein. 'Geschichte' kommt von 'Geschehen', somit von bewegten Ereignissen; es liegt daher besonders nahe, vergangene Geschehnisse möglichst lebendig und anschaulich zu erzählen. Das Problem besteht nun darin, dass der Lehrer – abgesehen von der neuern Geschichte – nicht aus eigenem Erleben erzählen kann. Er muss daher in der Vorbereitung durch aufmerksame Lektüre geeigneter Werke in sich eine möglichst lebendige Vorstellung der Ereignisse aufbauen, um aus diesen innern Bildern heraus frei erzählen zu können. Die Erfahrung zeigt, dass Volksschüler oft noch wenig Sinn und Verständnis für die Geschichte haben, und zwar darum, weil ihre Zeit- und Epochenbegriffe noch zu wenig entwickelt sind und sie darum die zur Kenntnis genommenen Einzelfakten nicht ohne weiteres in einen grössern Zusammenhang einordnen können. Je mehr wir uns durch unsern Unterricht bloss an den Verstand der Schüler richten und ihr gemüthaftes Erleben vernachlässigen, desto geringer ist das Interesse der Schüler an der Geschichte. Man kann daher die Schüler kaum besser für die Geschichte begeistern als durch lebendiges, farbiges Erzählen. In der Primarschule besteht ‘Geschichte’ weitgehend aus ‘Geschichten’.

Aber auch in der Geographie ist die Erzählung wichtig. Ein Geographie-Unterricht, der sich im Kartenlesen und –interpretieren, im Merken von topographischen, wirtschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten erschöpft, bleibt blutleer. Dieses rein den Verstand ansprechende Wissen wird meist rasch wieder vergessen und ist wenig bildend. Im übrigen kann man heute praktisch das gesamte Faktenwissen über ein Land innert Sekunden auf den Bildschirm des Computers zaubern, weshalb es einem Schüler kaum mehr einleuchtet, weshalb er sich solche Dinge merken soll. Ein guter Geographie-Unterricht zielt vielmehr darauf ab, im Kinde das Staunen über die Lebensweise anderer Menschen, die Liebe zu andern Landschaften, das Verständnis für andere Lebensart und wohl auch ein gewisses Fernweh zu erwecken. Dies wird nicht durch trockene Verstandesübungen erreicht, sondern insbesondere durch die gute Lehrererzählung. Erfahrungsgemäss erteilen jene Lehrer den besten Geographieunterricht, die von ihren eigenen Reiseerlebnissen erzählen können. Hier zeigt sich dann allerdings, ob der Lehrer das Reisen gelernt hat und darum das Typische eines andern Landes zu erfassen und vom Untypischen und rein Zufälligen zu unterscheiden vermag. Wenn ich z. B. ins Burgund reise und dort eine an sich interessante Begegnung mit einem Deutschen in irgend einem Restaurant habe, so mag dies wohl Anlass zu einer hörenswerten Erzählung sein, aber mit der Geographie Frankreichs hat dies nichts zu tun. Wenn ich demgegenüber erzähle, wie ich bei einem Weinbauern Wein degoustierte und dabei mit ihm über die Probleme des Weinbaus ins Gespräch kam, so vermittelt diese Erzählung etwas Wesentliches der Burgunder Landschaft. Überhaupt ist es wohl die wichtigste Fähigkeit des Lehrers, dass er bei allen Problemen, seien sie stofflicher, methodischer oder pädagogischer Art, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden kann. Die Erzählungen des Lehrers haben um so höhern bildenden Wert, je mehr sie das Wesen einer Sache sichtbar zu machen vermögen.

Nun gilt es trotz des unbestreitbaren Werts der Erzählung persönlicher Erlebnisse deren Gefahr zu erkennen: Was der Lehrer selbst erlebt hat, ist doch immer nur eine – meist auch zufällige – Auswahl aus der Fülle interessanter und wesentlicher Phänomene einer Landschaft. Bringt dies ein Lehrer zu einseitig in den Unterricht, werden andere, ebenfalls wichtige oder gar wichtigere Aspekte vernachlässigt. Man muss sich daher in der Geographie so vorbereiten, dass man auch von Landstrichen und deren Bewohnern erzählen kann, die man nicht aus eigener Anschauung kennt.

Auch in jenen Fächern, in denen die gedankliche Auseinandersetzung (z. B. Mathematik) oder die Übung (musische Fächer) im Zentrum steht, kommt der Lehrererzählung ein wichtiger Platz zu. Will der Lehrer z. B. im Turnen auf eine besondere Gefahr hinweisen, kann er erzählen, wie vor Jahren ein Schüler verletzt wurde, der die Vorsichtsmassregel missachtete. Oder er kann, um die Schüler anzuspornen, von einem Sportler erzählen, der in einer ganz bestimmten Weise eine Fertigkeit trainierte. In der Musik kann er allenfalls von einem eigenen Musik-Erlebnis erzählen, das ihn nachhaltig beeindruckte. Auch wäre es geradezu unverzeihlich, mit den Schülern das Lied ‘Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün ...’ zu singen, ohne ihnen etwas vom Komponisten Mozart zu erzählen. Im Zeichnen ist es beispielsweise möglich, eine Erzählung als Ausgangsthema zu nehmen. Die Schüler zeichnen dann aus ihren innern Bildern heraus, die in ihnen während der Erzählung entstanden.

 

4.5  Die Nacherzählung

Die Lehrererzählung ist im weitern oft auch die Grundlage für eine mündliche oder schriftliche Nacherzählung durch die Schüler. Die Nacherzählung wird heute in vielen Schulen kaum mehr gepflegt. Man wirft dieser Lehrform vor, sie verhindere die Kreativität der Schüler. Wenn wir indessen bedenken, dass sich die Frage ja nicht darum dreht, ob nur nacherzählt, sondern ob überhaupt nacherzählt werden soll, sollten wir uns dem genannten Vorwurf nicht vorschnell beugen. Wie wir gesehen haben, ist das zuhörende Kind innerlich sehr aktiv (und kreativ), wenn es aufgrund des gehörten Wortes innere Bilder aufbaut. Wenn es nun versucht, aus diesen innern Bildern heraus wieder die ihm und der Sache gemässe sprachliche Gestalt zu finden, so ist dies eine sehr bildende Aktivität, die nichts Anrüchiges an sich hat. Selbst wenn Schüler Satzteile oder allenfalls ganze Sätze aus der gehörten Erzählung wiedergeben, so ist auch dies nicht verwerflich. Die Sprache wird nämlich grundsätzlich durch Nachahmung gelernt, und das sprachliche Nachahmen in ganz bestimmten Zusammenhängen verhindert in keiner Weise die eigenständige Verwendung sprachlicher Mittel in neuen Zusammenhängen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Schüler durch regelmässiges Nacherzählen gehörter und gelesener Texte einen grossen Sprachschatz aneignen und eine grosse Sicherheit im Bilden von Sätzen erwerben. Ich liess schon von der 1. Klasse an grundsätzlich jede Lesebuch-Geschichte nacherzählen, und die Schüler haben dieses Nacherzählen auch als Hausaufgabe gründlich geübt. Dabei habe ich festgestellt, dass sich die Schüler zu Beginn noch fast sklavisch an den vorgegebenen Text hielten, aber sich dann mit zunehmendem Alter immer mehr von der konkreten Ausdrucksweise der Vorlage entfernten und völlig frei formulieren lernten. Hier zeigt sich ganz deutlich eine allgemeine Gesetzmässigkeit: Die Freiheit ist ein Ziel der Erziehung und soll nicht zu früh erzwungen werden. Der Weg geht von der Nachahmung und Anlehnung hin zur Eigenständigkeit und Freiheit.

 

4.6  Der gute Erzähler

4.6.1  Gute Vorbereitung

Das gute Erzählen fängt bei der Vorbereitung an. Als Lehrer können wir entweder eigene Erlebnisse oder angelesene Geschichten erzählen. Es gibt darum auch zwei Arten der Vorbereitung:

Die Vorbereitung für das Erzählen eigener Erlebnisse geschieht natürlich meist unwillkürlich: nämlich dadurch, dass wir im Leben etwas unternehmen und offene Augen haben. Wir sehen also auch von dieser Seite her, wie wichtig das private Leben des Lehrers für seinen Beruf ist. Immerhin: So ganz dem Zufall überlassen sind natürlich die Erlebnisse nicht, die wir unsern Schülern weitergeben können. Der engagierte Lehrer findet immer wieder Lösungen, um private Interessen mit beruflichen Notwendigkeiten zu verbinden. Wenn ich als Lehrer z. B. weiss, dass ich nach dem Sommerferien den Kanton Wallis zu behandeln gedenke, so werde ich in den Ferien eben das Wallis erwandern. Dass dieses Prinzip Grenzen hat, ist ja klar, aber dass hier gute Möglichkeiten liegen, sollte auch nicht unbeachtet bleiben. Ebenso klar ist, dass ich dann das Wallis mit andern Augen erwandere, wenn ich weiss, dass ich meine Beobachtungen und Erlebnisse im Geographie-Unterricht brauche, als wenn ich einfach zur Lust und Freude die Landschaft und die frische Luft geniesse. Ein Lehrer, der erfahren hat, dass er seine Schüler durch das Erzählen eigener Beobachtungen und Erlebnisse für ein geographisches Thema zu begeistern vermag, wird sich mit der Zeit angewöhnen, alles, was ihm zustösst, immer auch unter dem Gesichtspunkt aufzunehmen, ob er allenfalls etwas davon in die Schule einbringen kann. So wird er z. B. auf seinen Reisen Prospekte oder für den Unterricht brauchbares Bildmaterial, Gesteine, Erzeugnisse der Wirtschaft usf. mitnehmen, er wird sich auch Notizen machen, er wird zeichnen und fotografieren und auch versuchen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die ihn wirklich bereichern können. Man mag das als ‘Deformation professionelle’ bezeichnen, trotzdem scheint es mir berechtigt, verständlich und auch wünschbar, wenn ein Lehrer bei vielem, was er als Privatmensch unternimmt, auch seine Schüler im Auge behält. Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Für den engagierten Lehrer ist eigentlich seine Art zu leben und zu erleben stets ein Stück ‘Unterrichtsvorbereitung’. Diese Grundhaltung wird allerdings ein Lehrer kaum ausbilden können, der seinen Beruf bloss als Job betrachtet, den er allenfalls ein, zwei Jahre ausübt, um sich dann ‘anspruchsvolleren’ Aufgaben zuzuwenden.

Wesentlich spezifischer sind die Vorbereitungen, wenn der Lehrer eine bestimmte Geschichte aus der Literatur weitergeben will. Allerdings wirkt sich auch hier sein privates Lese-Verhalten aus, denn ein belesener Lehrer verfügt über viel mehr Auswahlmöglichkeiten als ein unbelesener. Vorausgesetzt nun, dass der Lehrer weiss, welche Geschichte er erzählen will, besteht seine Vorbereitung darin, sich so lange mit dem Text zu beschäftigen, bis in ihm klare innere Bilder entstanden sind, die zudem nicht ungeordnet nebeneinander stehen, sondern wie ein innerer Filmablauf in der richtigen Reihenfolge bewegt sind.

Mit der Zeit fällt dem Lehrer das Vorbereiten natürlich leichter, da er die erforderlichen Fertigkeiten ja fast täglich übt. Aber in der ersten Zeit ist es unerlässlich, dass er zu Hause die Geschichte mindestens einmal – am besten laut – frei erzählt, so dass er entdeckt, an welchen Stellen allenfalls Probleme auftauchen. Es sollte nicht vorkommen, dass ein Lehrer beim Geschichten-Erzählen plötzlich nicht mehr weiterweiss.

Bei komplizierteren Aufgaben (z. B. im Geschichts- oder Geographieunterricht) empfiehlt es sich, einige wenige Stichworte festzuhalten, auf die man sich beim Erzählen stützen kann. Auf keinen Fall sollte der Text wörtlich auswendig gelernt werden. Der Kontakt mit den Hörern ist wesentlich besser, wenn man wahrnehmbar um den richtigen sprachlichen Ausdruck ringt (wobei man sich das bekannte ‘Äh’ möglichst rasch abgewöhnen sollte), als wenn ein angelernter Text wie geschmiert abgeleiert wird.

 

4.6.2  Richtiger Einsatz der Ausdrucksmittel

Wie wir gesehen haben (siehe 2.1.3.), stehen dem Lehrer als Ausdrucksmittel nicht nur Wörter und Sätze, sondern auch Satzmelodie, Rhythmus, Tempo, Pausen, Haltung, Gestik und Mimik zur Verfügung. Die Kunst des Erzählens ist insofern der Schauspielkunst verwandt, und gute Theaterspieler sind meist auch gute Erzähler (und Vorleser). Einige der genannten Mittel lassen sich üben (z. B. die Betonung, das Tempo, das Setzen der Pausen), aber insbesondere die non-verbalen Mittel sollten nicht allzu bewusst eingesetzt werden, sondern sich vielmehr wie von selbst ergeben aufgrund des eigenen Verständnisses und Ergriffenseins, sonst wirkt die Erzählung (bzw. der Erzähler) geziert und gestelzt. Wesentlich ist, dass man wagt, beim Erzählen ‘aus sich herauszugehen’.

Eine typische Anfängerkrankheit ist das zu schnelle Sprechen. Bedächtiges, eindringliches und rechten Orts mit angemessenen Pausen unterbrochenes Sprechen kommt im allgemeinen besser an als hastiges Vortragen. Der gute Erzähler hat immer auch seine Zuhörer im Auge und vermag zu spüren, ob das Tempo, die Betonung und die Lautstärke richtig sind. Überhaupt ist es entscheidend, dass man den Kontakt zum Hörer findet und aufrecht erhalten kann. In der Schule bedeutet dies vorerst, dafür zu sorgen, dass die Kinder wirklich aufnahmefähig sind. Am besten lässt man vor dem Erzählen alle Schülerpulte abräumen, um möglichst viele störende Ablenkungsmöglichkeiten auszuschalten. Dann achte man auf eine gelöste und zugleich konzentrierte Körperhaltung und insbesondere auf völlige Stille. Die Schüler sollten daran gewöhnt werden, dass der Lehrer grundsätzlich nicht in den Lärm, sondern nur in die Stille hinein erzählt.

 

4.6.3  Anpassung ans Fassungsvermögen der Zuhörer

Der gute Erzähler passt sich stets dem Fassungsvermögen der Zuhörer an. Für uns Lehrer bedeutet dies die Notwendigkeit, unsere Sprache stets zu kontrollieren. Wir sprechen daher mit Sechstklässlern wesentlich anders als mit Erstklässlern. Je jünger die Schüler sind, desto kürzer müssen unsere Sätze und desto konkreter muss unsere Ausdrucksweise sein. Fremdwörter, abgesehen von den ganz geläufigen, vermeiden wir bei jüngern Schülern grundsätzlich. Wir kontrollieren also unser Vokabular und unsere Satzbildung und geben uns laufend Rechenschaft darüber, ob die Schüler die von uns gewählten Ausdrücke auch verstehen können. Im Zweifelsfalle umschreiben wir eine Sache nochmals mit andern Worten, um so allen Schülern das Verständnis zu ermöglichen.

 

4.6.4  Statisches in Bewegtes verwandeln

Der Mensch – insbesondere aber das Kind – schenkt allem Bewegten besondere Aufmerksamkeit. Die Erzählung von Handlungsabläufen ist daher dem Kinde gemässer als die Schilderung von statischen Szenen, und darum lassen sich auch die Schüler durch Erzählungen leichter fesseln als durch Schilderungen. Wenn ich daher als Lehrer die Wahl habe, eine Sache erzählend oder schildernd zu vermitteln, so entscheide ich mich für die Erzählung. Ja, es ist eine eigentliche Kunst des Lehrers, Sachverhalte, die vorerst in seiner Vorstellung rein statisch als Zustand oder Szenerie gegeben sind, in Bewegung zu versetzen und die von ihm gewünschte Vorstellung im Schüler von einer bewegten Handlung her aufzubauen. So werde ich z. B. – insbesondere jüngeren Schülern – nicht lehrhaft-trocken das Aussehen des Wasserfroschs und den Vorgang seiner Fortpflanzung beschreiben, sondern etwa erzählen, wie ich im Mai an den Gartenweiher kam und durch ein eigenartiges Quarren aufmerksam wurde; wie ich dann nach längerem Suchen zwei grüne Frösche ganz nah beisammen den Kopf aus dem Wasser strecken sah; wie ich bei genauerem Hinsehen entdeckte, dass das eher blaugrün gefärbte, kleinere Tier den etwas gelblichgrünen, grösseren Frosch von hinten her mit den beiden Vorderbeinen umklammerte; wie beim hintern Tier plötzlich auf beiden Seiten des Kopfs je eine weisse, leicht durchsichtige Blase sichtbar wurde, die sich schnell vergrösserte und offensichtlich mit Luft aufgeblasen wurde und wie dabei ein schnarrender Laut erklang; wie ich dann später im Teich einen Laichklumpen entdeckte usf. (Noch besser ist es allerdings, sich paarende Wasserfrösche auf geeignete Weise im Schulzimmer zu halten.) Oder: Ich werde im Geschichtsunterricht nicht abstrakt vom Zoll- und Münzwesen in der alten Eidgenossenschaft berichten, sondern erzählen, was einem Kaufmann widerfuhr, als er mit seiner Ware z. B. von Basel nach Luzern zog.

 

5  Referieren

Je älter die Schüler sind, desto eher ist es angezeigt, ihnen relativ abstrakte Gedankengänge zu vermitteln. Die Sprache erhält dadurch in zweierlei Hinsicht ein anderes Gepräge: Erstens häufen sich abstrakte Begriffe (z. B. Treue, Verantwortung, Gesellschaft, Zumutung, Zusammenhang, Auseinandersetzung, spontan, erwägen, verursachen usf.), und zweitens werden die Satzstrukturen komplizierter. Das Referat ist für Primarschüler im allgemeinen wenig geeignet, und wenn es sich schon aufdrängt, sollte es kurz, einfach und klar gegliedert sein. Von grösster Wichtigkeit ist, dass der Lehrer seine Sprache kontrolliert, d.h. dass er sich fortwährend Rechenschaft gibt, ob die Schüler die einzelnen Ausdrücke, die er verwendet, auch tatsächlich verstehen können. Überdies müssen die abstrakten Gedankengänge stets verknüpft werden mit sprechenden Beispielen. Das einzelne Beispiel ist konkret (Handlung oder Schilderung) und belegt das, was im abstrakten Gedankengang allgemeingültig formuliert wird. Wenn ich beispielsweise den Schülern den Gedanken nahe bringen möchte, dass sich christlicher Glaube im praktischen Leben zu bewähren habe, erzähle ich ihnen womöglich vom Wirken der Mutter Therese oder Albert Schweitzers.

 

Exkurs: Induktives und deduktives Vorgehen

In diesem Zusammenhang stellt sich eine für den Lehrer bedeutsame Frage: Soll ich zuerst die allgemeine Regel, den allgemeinen, abstrakten Gedanken vermitteln und erst nachher die Beispiele bringen, oder soll ich umgekehrt verfahren? Wenn wir bedenken, dass sich die abstrakte geistige Welt im Verlaufe der individuellen Entwicklung ganz allmählich vom Anschaulichen, Konkreten her aufbaut, so liegt natürlich die Antwort auf der Hand:

Je jünger die Schüler sind, desto strenger hat man sich an die Regel zu halten:

Zuerst das Konkrete (den Einzelfall, das Beispiel)

und erst dann das Abstrakte (das Allgemeine, die Regel, der Begriff)

Diesen Weg – vom Einzelfall hin zur allgemeinen Erkenntnis – nennt man induktive Methode (Verallgemeinern). Das umgekehrte Verfahren – das Finden von einzelnen Anwendungsbeispielen für allgemeine Aussagen und Erkenntnisse – ist die deduktive Methode (Konkretisieren). Die Vorrangstellung der induktiven Methode wird ausgedrückt im einprägsamen Satz:

Erst die Sache, dann der Name!

Beispiel: Ich möchte, dass die Schüler das Scharbockskraut kennenlernen. Falsch wäre es, wenn ich ihnen die Pflanze zeigte, ihnen sagte: Seht, das ist das Scharbockskraut! und dann über dieses Kraut zu erzählen begänne. Der erfahrene Lehrer geht z. B. so vor: "Was ich hier in der Hand habe, ist eine Giftpflanze. Aber viele Giftpflanzen sind zugleich Heilkräuter, sofern man sie in nur sehr geringen Mengen zu sich nimmt. In früheren Zeiten haben die Seefahrer diese Pflanze in getrocknetem Zustande mitgenommen und daraus Tee gemacht. Wenn die Seeleute viele Wochen und Monate auf hoher See verbrachten, ernährten sie sich sehr einseitig, weshalb sie krank wurden. Bei einer gefürchteten Mangelkrankheit fielen den Seemännern die Zähne aus. Diese Krankheit heisst ‘Skorbut’, und als Mittel gegen den Skorbut tranken die Männer Tee vom ‘Skorbut-Kraut’. Das ist die Pflanze, die ihr hier vor euch habt. Im Laufe der Zeit sprachen die Leute diesen Pflanzennamen immer ungenauer aus, und zuletzt wurde aus dem ‘Skorbutkraut’ das ‘Scharbockskraut’. Das ist heute noch ihr Name."

 

6  Vorlesen

6.1  Der Unterschied zwischen freiem Sprechen und Vorlesen

Als Lehrer stehen wir oft vor der Entscheidung, entweder eine Geschichte, eine Schilderung oder einen Sachtext (Referat) vorzulesen oder deren Inhalt frei zu formulieren. In den meisten Fällen ist das freie Sprechen dem Vorlesen vorzuziehen, da dadurch besser auf die konkreten Zuhörer eingegangen werden kann. Dazu kommt, dass sich geschriebene und gesprochene Sprache voneinander merklich unterscheiden. Der Schreiber geht meist – und berechtigterweise – darauf aus, so kompakt wie möglich zu formulieren und alles überflüssige Beiwerk wegzulassen, da ja der Leser Unverstandenes nochmals lesen und in Ruhe überdenken kann. Beim freien Sprechen spüren wir aus den Reaktionen der Hörer, ob sie uns folgen können, und wenn wir Anzeichen von Unverständnis feststellen, holen wir automatisch weiter aus und leisten uns Wiederholungen (oft mit andern Worten), die wir uns beim Schreiben nicht gestatten dürften. Wenn nun aber die geschriebene Sprache dichter ist als die gesprochene, so bedeutet dies, dass wir den Hörer durch das Vorlesen sehr oft überfordern. Dies ist bei gedanklichen Referaten besonders häufig.

 

6.2  Welche Texte lesen wir vor?

Trotz dieser Vorbehalte hat auch das Vorlesen in der Schule seinen Platz, und zwar überall dort, wo nicht ein bestimmter Inhalt, der an sich in verschiedenen Formen Gestalt annehmen könnte, sondern ein Text in einer ganz bestimmten Form den Stoff bildet. Dies ist der Fall bei Gedichten, aber auch bei Prosatexten (z. B. Naturschilderungen), die in einer dichterischen Sprache geschrieben sind und sehr stark vom Wortlaut leben, den der Schriftsteller gewählt hat. In all diesen Fällen ist es natürlich auch möglich dass die Schüler den Text selbst lesen, doch ist es zumeist besser, wenn der Lehrer solche (anspruchsvollen) Texte zuerst vorliest. Da er den Text ja kennt und das Vorlesen geübt hat, kommen die Schüler als Hörer zu einem viel intensiveren innern Erlebnis, als wenn ein Mitschüler den Text prima vista (ab Blatt) laut – und das heisst meist: stockend, mit falschen Betonungen und Fehlern durchsetzt – vorliest. Da wir ja eben gerade jene Texte vorlesen, bei denen es auf den vorgegebenen Wortlaut ankommt – somit die besonders anspruchsvollen –, ist es nur logisch, dass der vorbereitete Lehrer diese Aufgabe übernimmt.

Der spracherzieherisch wirkende Lehrer wird indessen nicht nur Gedichte oder sprachlich anspruchsvolle Texte, sondern von Zeit zu Zeit auch ein ganzes Buch vorlesen. Dies ist eines der besten Mittel, um die Schüler zum freiwilligen Lesen guter Literatur zu ermuntern. Dabei empfiehlt es sich, möglichst täglich eine gewisse Zeit einzusetzen, damit sich die Unternehmung nicht allzusehr in die Länge zieht. Auch dieses Vorlesen muss vorbereitet sein, sonst mag es uns gehen wie jenem Lehrer, der nicht vorbereitet war, als ihn der Inspektor heimsuchte. So griff er kurzerhand nach einem Buch im Büchergestell und begann vorzulesen. Aber die Sache wurde peinlich: Es handelte sich um eine mehr als schlüpfrige Liebesgeschichte, die zuerst harmlos begann, aber in Verhältnissen endete, die besser nicht vor Kinderohren ausgebreitet worden wären. Natürlich nützte es dem Lehrer nichts mehr, darüber zu rätseln, wie dieses Geschichtenbuch ins Büchergestell gekommen war. Jedenfalls begann er sich zu räuspern und brach die peinliche Sache mit einem billigen Vorwand ab. (Wo ich die Geschichte gelesen habe, weiss ich leider nicht mehr, vielleicht bei Gotthelf.)

 

6.3  Wie lesen wir vor?

Vorlesen ist mehr als das lautreine Aussprechen geschriebener Worte. Vorlesen heisst vielmehr kunstvoll gestalten. Nicht umsonst werden z. B. im Radio Dichtwerke von ausgebildeten und geübten Schauspielern gelesen. Als Fachleute verstehen sie es, durch wirksames Einsetzen aller sprachlichen Mittel den Text lautlich so zu gestalten, dass er den Hörer auch gefühlsmässig erreicht. Der Vorleser kann das aber nur, weil er sich selbst im voraus gedanklich und gefühlsmässig in den Text hineingelebt und den Vortrag laut geübt (d.h. sich gründlich vorbereitet) hat. Dadurch leistet er etwas durchaus Eigenes. Er gibt nicht einfach einen Text weiter, sondern nimmt ihn auf, verarbeitet und deutet ihn und gibt ihm dadurch ein eigenes Gepräge. Mit andern Worten: Er interpretiert den Text. Seine Arbeit unterscheidet sich in nichts von derjenigen eines Sängers oder Instrumentalisten. Auch diese müssen zuerst einen (Noten-)Text entziffern, ihn dann verstehen, darauf die technischen Probleme durch Üben lösen und ihn schliesslich aus ihrem innern Erleben heraus gestalten. Keinem Musiker käme es in den Sinn, einen Notentext dem Publikum unvorbereitet ab Blatt vorzuspielen. Genausowenig sollen wir Lehrer einen geschriebenen Text unvorbereitet vortragen; und noch viel weniger sollen wir Schüler, die durch eine solche Aufgabe völlig überfordert sind, ihren Mitschülern einen anspruchsvollen Text prima vista vorlesen lassen. Natürlich ist es sinnvoll, dass auch die Schüler laut vorlesen, aber erst nachdem sie den Text gedanklich verarbeitet und das gestaltete Vortragen – meist gemeinsam mit dem Lehrer – geübt haben.

 

7  Begriffsbildung durch sprachlichen Vortrag

In den vorstehenden Überlegungen bin ich davon ausgegangen, dass die sprachliche Kommunikation (Reden und Verstehen) dadurch möglich ist, dass der Redende und der Hörende über einigermassen identische Begriffe verfügen. Wie ich aber bereits im Kapitel 2.1.1.4. dargelegt habe, ist dies zumeist nicht der Fall. Wir Menschen erwerben täglich neue Begriffe, wir differenzieren diejenigen, über die wir bereits verfügen, weiter aus und verbinden sie mit andern Begriffen. Daraus folgt, dass unsere Schüler – übers Ganze betrachtet – mit Sicherheit über weniger, über weniger differenzierte und über weniger geordnete Begriffe verfügen als wir Lehrer. Es ist denn auch geradezu unsere Aufgabe als Lehrer, den Schülern beim Aufbau eines tragfähigen Begriffs-Gerüstes beizustehen. Am Schluss jeder unterrichtlichen Tätigkeit, die auf die intellektuelle Bildung des Schülers abzielt, stehen klare Begriffe. (Das ist ja auch hier der Fall: Ich will, dass die Seminaristen klare Begriffe haben über alles, was mit einseitiger Kommunikation zusammenhängt.)

Aus diesen Zusammenhängen geht wiederum hervor, wie fruchtbar das Sprechen des Lehrers zu seinen Schülern ist, vorausgesetzt, dass ihm die Aufgabe der Begriffsbildung in genügender Weise bewusst ist und er die Fähigkeit beherrscht, durch sein Sprechen ganz bewusst an der Begriffsbildung seiner Schüler zu arbeiten. Der gute Lehrer erzählt darum seinen Schülern z. B. eine Geschichte nicht nur aus einem Grund: dass sie sich am Inhalt freuen und sich allenfalls moralisch belehren lassen. Er hat dabei immer auch seine allgemeine Aufgabe im Auge, für den Aufbau klarer Begriffe im geistigen Leben der Schüler besorgt zu sein. Ein solcher Lehrer erzählt z. B. ein Grimm-Märchen völlig anders als jemand, der diese pädagogischen und psychologischen Zusammenhänge nicht kennt (z. B. ein mittelmässiger Märchenerzähler auf einer Schall-Platte). Der gute Lehrer gibt sich beim Erzählen laufend Rechenschaft darüber, welche Begriffe er beim Schüler voraussetzen kann, und wittert auch jede Möglichkeit, durch seine Erzählung zwanglos – ohne dass es der Schüler bewusst wahrnimmt – neue Begriffe aufzubauen und unklare Begriffe zu verdeutlichen. Freilich braucht es dabei ein gesundes Augenmass, damit er nicht zu sehr abschweift und sich nicht in einem für die Geschichte unwichtigen Detail verliert.

Da ist beispielsweise im Märchen ‘Sechse kommen durch die ganze Welt’ von ‘Windmühlen’ die Rede. Darunter kann sich in der Regel ein Kind hierzulande kaum etwas vorstellen. Wenn also der Held des Märchens einen Sonderling am Weg fragt, weshalb er so kräftig aus dem Nasenloch blase, und zur Antwort erhält: "Zwei Meilen von hier stehen sieben Windmühlen, seht, die blase ich an, dass sie laufen", so kommt der erzählende Lehrer wohl nicht darum herum, etwas auszuholen. Etwa so: "Zwei Meilen von hier – für eine Meile braucht man tausend Schritte – also zwei Meilen von hier stehen sieben Mühlen. Das wisst ihr ja wohl, dass in einer Mühle zwischen grossen Steinen das Korn zu Mehl gemahlen wird, und meistens werden diese Steine von grossen Wasserrädern gedreht. Aber dort drüben stehen andere Mühlen. Ihre Mühlsteine werden von grossen Windrädern angetrieben. Sie stehen still, wenn der Wind nicht bläst. Darum muss ich immer gewaltig blasen und die Windmühlen antreiben." – Es gibt im Tag wohl Dutzende solcher Momente, wo der Lehrer – für die Schüler kaum merklich – durch bewusstes Sprechen an der Begriffsbildung der Schüler arbeitet.

 

8  Seelisch-geistige Ernährung des Kindes durch sprachlichen Vortrag

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, dass das Kind bei der Lehrererzählung in einer besonderen Weise aktiv ist: Es muss die gehörten Wörter mit den entsprechenden Begriffen, die aufgenommenen Satzstrukturen mit den entsprechenden Handlungsabläufen und Beziehungsgefügen verbinden und sich aufgrund dieser abstrakten Gebilde mit Hilfe seines ihm verfügbaren Vorstellungsrepertoires konkrete innere Bilder aufbauen. Durch die gute Erzählung wird somit der Vorstellungsschatz, das Innenleben des Kindes bereichert. Bedenken wir, dass zu dieser kognitiven (erkenntnismässigen) Leistung das Aktivieren von Gefühlen und Stimmungen dazukommt, so erkennen wir, dass das hörende Kind – vorausgesetzt, dass ihm die Erzählung angemessen ist und der Lehrer anschaulich erzählt – im eigentlichen Sinne im inneren Bilde lebt. Man kann auch sagen: Es erlebt. Oder noch anders: Sein Gemüt wird angesprochen.

Dieses gemüthafte Erleben ist für die gesunde geistig-seelische Entwicklung des Kindes von allergrösster Bedeutung. Bedenken wir ferner, dass das Kind durch die gute Erzählung auch in die Wertungen des Geschichtenschreibers und Erzählers hineingenommen wird, auf diese Weise also Massstäbe für das moralische und ästhetische Urteil entwikkelt, so kommen wir zur Erkenntnis, dass die gute Lehrererzählung für das Kind im eigentlichen Sinne geistig-seelische Nahrung ist. Nicht nur der Körper braucht täglich Nahrung, auch Geist und Seele müssen ernährt werden.

Die Ansicht ist verbreitet, die zentrale Aufgabe der Schule sei es, den jungen Menschen auf das zukünftige Leben (das Erwachsenenleben) vorzubereiten. Dieser Aufgabe werden wir tatsächlich gerecht dadurch, dass wir den Schülern beim Aufbau eines geordneten Begriffsgefüges helfen und sie lesen und schreiben lehren. Aber das ist nur eine Seite. Es ist nämlich ebensosehr unsere Pflicht, den Kindern das zu geben, was sie im gegenwärtigen Augenblick für ihre gesunde Entfaltung brauchen. Und das sind nicht zuletzt farbige, durch starke Gefühle getragene innere Bilder, in denen das Kind leben kann. Der erziehende Lehrer erzählt daher nicht nur Geschichten aus sprachpädagogischen Gründen, sondern weil er weiss, dass die kindliche Seele diese inneren Bilder braucht. Das Vermitteln solch innerer Bilder ist in einer Zeit der äusseren Bilderflut (Comics, Fernsehen, Illustrierte, Poster) besonders dringlich. (Vgl. hiezu auch meine Schrift: Die seelisch-geistige Ernährung des Kindes, SFK-Schriftenreihe Nr. 17.)

 

9  Das Vergessen – ein geistiger Defekt?

Jeder Lehrer weiss – und viele klagen darüber: Das meiste, was wir den Schülern vermitteln, vergessen sie wieder. Da kann man leicht den Eindruck bekommen, die ganze Mühe sei umsonst gewesen. Wir sollten uns aber abgewöhnen, das natürliche Vergessen als Gehirndefekt zu betrachten, der besser nicht da wäre. Gott hat den Menschen nun einmal als vergessliches Wesen geschaffen, und so muss dies ja wohl seinen Sinn haben. Sicher findet durch das Vergessen ein Selektions-(Auslese-)Prozess statt: Unwichtiges, durch neue und differenzierte Betrachtungsweisen Überholtes wird ausgeschieden. Könnten wir alles, was wir je äusserlich und innerlich erlebt haben, beliebig in unser Bewusstsein rufen, so würde dies für uns wohl eine unerträgliche Belastung bedeuten. Das Vergessen ermöglicht uns, an vieles unbefangener heranzutreten.

Immerhin: Wenn wir auch vieles vergessen, so hinterlässt das ‘Vergessene’ doch meistens tiefere Spuren, als wir vorerst annehmen. Was sind das für Spuren? Da müssen wir zuerst unterscheiden zwischen abstrakt-begrifflichen und konkret-bildhaften Bewusstseinsinhalten.

  1. Vergessen wir abstrakte Gedankengänge (z. B. chemische oder physikalische Gesetzmässigkeiten, mathematische Entwicklungen, historische Zusammenhänge etc.), so können wir doch die Denkfähigkeit (Pestalozzi: Denkkraft) nicht vergessen, die sich beim richtigen Denken ausgebildet hat. Darum ist es wichtig, dass die Schüler abstrakte Gedankengänge nicht einfach unverstanden und mechanisch auswendig lernen, sondern sie durch eigenes Denken geistig tatsächlich erfassen. Geschieht dies, bildet sich die Denkfähigkeit, auch wenn der ganz bestimmte Gedankengang wieder vergessen wird.

  2. Etwas anders sieht das ‘Vergessen’ von Erlebnissen aus, die auf äusserer und innerer Sinnestätigkeit beruhen und allenfalls auch stark mit Gefühlen und Wertungen verknüpft sind. Die Tiefenpsychologie hat nachweisen können, dass solche Inhalte eigentlich gar nicht verloren gehen; sie sind lediglich verdrängt in den Bereich des Unbewussten. So ist es beispielsweise möglich, dass sich ein fünfzigjähriger Mensch Lebenssituationen aus der frühen Kindheit, die er längst vergessen zu haben glaubte, plötzlich wieder in ihrer vollen Farbigkeit vergegenwärtigen kann. Sie sind also nicht durch das ‘Vergessen’ vernichtet worden, sondern blieben in der Seele erhalten. Solche bildhaften, erlebnismässigen Gehalte des Unbewussten sind aber keineswegs einfach ‘abgelagert’ oder ‘aufs Eis gelegt’, sondern sie wirken im und aus dem Unbewussten, auch wenn wir dies selbst nicht bewusst wahrnehmen. Darum vermögen Erlebnisse in der Kindheit den Menschen oft zu Handlungen zu bewegen, deren tiefere Beweggründe er meist nicht kennt. Wir haben somit auch im Hinblick auf die hier entwickelten Gesetzmässigkeiten allen Grund, durch lebendiges Erzählen starke Bilder in die Seelen der Kinder zu legen. Diese Zusammenhänge machen aber auch einmal mehr deutlich, welch grosse Verantwortung der Lehrer für sein Tun trägt.

 

10  Mundart oder Hochsprache?

10.1  Die heutige Situation

Wir Schweizer Lehrer müssen uns der Frage stellen, ob wir in der Schule in der Hochsprache (Standard-Sprache) oder in Mundart (Dialekt) reden (erzählen, schildern, referieren) sollen. Noch vor wenigen Jahrzehnten bestand darüber kaum eine Meinungsverschiedenheit: Die Lehrer erkannten es als ihre unbestrittene Aufgabe, die Schüler zum mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Hochsprache zu befähigen. Es erwies sich als hilfreich, damit so früh wie möglich zu beginnen. Deshalb galt lediglich in der 1., teilweise noch in der 2. Klasse die Mundart als Unterrichtssprache, und in den höhern Klassen wurde nur im Turnen, allenfalls noch im Singen und Zeichnen der Dialekt als Unterrichtssprache verwendet.

Heute sehen die Verhältnisse anders aus: Viele Lehrer verwenden die Hochsprache nur noch in den eigentlichen Deutschstunden (oft sogar nicht einmal mehr dort) und verwenden sie teilweise sogar mit ausgesprochenem Widerwillen. Das hängt mit der allgemeinen Höherbewertung all dessen zusammen, was ‘aus dem breiten Volk’ kommt. Gelegentlich wird die Ablehnung der Hochsprache auch ideologisch begründet: Man sagt, die Hochsprache sei die Sprache des ‘Bildungs-Bürgertums’ und entspreche nicht den Kommunikationsbedürfnissen der arbeitenden Schicht. Oder es wird ins Feld geführt, die ‘Pflege der Mundart’ sei eine wesentliche Aufgabe der Schule. Persönlich stehe ich diesen Begründungen skeptisch gegenüber, ganz einfach darum, weil das Mundart-Reden für Lehrer und Schüler wesentlich bequemer ist. Lasse ich nämlich die Schüler in Mundart munter drauflosschwatzen, habe ich kaum je Ursache, sie zu korrigieren, da unsere Alltagssprache letztlich fast alles zulässt. Verlange ich indessen die Verwendung der Hochsprache, muss ich als Lehrer stets auf Sprachrichtigkeit und korrekte Artikulation achten und darum auch immer wieder berichtigen.

 

10.2  Drei Gründe für die Verwendung der Hochsprache

  1. Es gibt in der Schweiz überhaupt keine einheitliche Mundart, sondern viele verschiedene Dialekte, die – bedingt durch die starke Binnenwanderung – zunehmend vermischt werden, wodurch ‘Zwischendialekte’ entstehen. Dies bietet weiter keine Probleme, solange diese vielen Sprachen bloss gesprochen und nicht geschrieben werden. Unsere Mundarten sind nämlich nie Schriftsprachen gewesen. Jeder Mundartdichter kennt die grossen Probleme, die sich ihm stellen, wenn er unsere Sprech-Sprache in eine Schrift-Sprache umwandeln soll. Die Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass das uns geläufige Lautsystem gar nicht isoliert besteht, sondern seine Verbindlichkeit und seinen Ausdruckswert erst aus der Verbindung mit der Schriftsprache erhält. Das Wesen einer Schriftsprache besteht darin, dass ihre grammatikalischen und orthographischen Regeln einen gewissen Grad von Allgemeinheit und Verbindlichkeit aufweisen. Das Schreiben-Lernen hängt somit aufs engste mit dem gleichzeitigen Erwerb der Schriftsprache zusammen. Und unsere schweizerischen Mundarten sind nun einmal keine Schriftsprachen.

  2. Es ist kein Zufall, dass sich die uns geläufige deutsche Schriftsprache nicht etwa allmählich entwickelte, sondern geschaffen wurde von Martin Luther im Zuge seiner ersten deutschen Bibelübersetzung. Es war nämlich kurz zuvor der Buchdruck erfunden worden, der eine gewisse Vereinheitlichung der deutschen Sprachen und Dialekte zu einer die Volksgemeinschaften verbindenden Schriftsprache dringend erforderte. Das Entstehen unserer Hochsprache ist aufs engste mit der Erfindung des Buchdrucks und damit mit der Verbreitung deutscher Schriften verbunden. Erst durch diese Erfindung erwies sich das Lesen und Schreiben als eine allgemein erforderliche Kulturtechnik. Vor 1500 konnten zur Hauptsache nur die Gelehrten lesen und schreiben, und ihre Standard-Sprache war das Latein, eine Sprache also, die hinsichtlich Grammatik und Orthographie klar geregelt war. Erst durch die Schaffung der deutschen Hochsprache im Zusammenhang mit der sprunghaften Verbreitung von Druckschriften entstand die deutsche Lesekultur, wodurch für die Völker Deutschlands, Österreichs und der Schweiz eine geregelte schriftliche Kommunikation möglich wurde. Durch das Erlernen der Hochsprache setzt sich das Kind somit instand, an der deutschen Lesekultur der Gegenwart und Vergangenheit teilzunehmen.

  3. Für anderssprachige Menschen ist Deutsch eine Fremdsprache, die sie erlernen, um sich im deutschen Sprachgebiet verständigen zu können. Aber was nützen z. B. einem welschen Kind seine Deutschkenntnisse, wenn in der Deutschschweiz die Fähigkeit verloren geht, einheitlich und für Fremdsprachige verständlich Deutsch zu sprechen. Die ‘Mundart-Welle’ in den letzten rund 15 Jahren hat den Graben zwischen der Westschweiz und der Deutsch-Schweiz sichtbar vertieft. Wir Deutschschweizer, die Französisch gelernt haben, können das Westschweizer Radio oder Fernsehen verstehen, aber die Welschen, die Deutsch gelernt haben, können z. B. mit dem, was das deutschschweizer Radio und Fernsehen heute bietet, weitgehend nichts anfangen (ob das ein wirklicher Verlust ist, bleibe dahingestellt). Der Erwerb und damit auch der öffentliche Gebrauch der deutschen Hochsprache ist somit ein wesentlicher Beitrag zur Verständigung der Völker innerhalb und ausserhalb unserer Landesgrenzen.

10.3  Probleme

Die Herausbildung der einheitlichen deutschen Schriftsprache erforderte natürlich auch ihren Preis. Zwar veränderten sich die Regeln unserer Hochsprache im Verlaufe der Zeit innerhalb gewisser Grenzen, aber sie nahmen doch immer verbindlicheren Charakter an. So kam es, dass damit die sprachliche Entwicklung (die man übrigens, je nach Standpunkt, positiv oder negativ werten kann), wie wir sie sonst in reinen Sprech-Kulturen feststellen können, verlangsamt, ja fast gestoppt und damit jede Beliebigkeit verunmöglicht wurde. Es ist daher verständlich, wenn es immer wieder Menschen gibt, die die immer verbindlicher werdenden Sprach-Vorschriften als Einengung empfinden. So versuchen denn immer wieder Schriftsteller (heute auch Werbetexter), aus dem normierten Sprach-Code auszubrechen, entweder indem sie sich der Mundart zuwenden oder indem sie bewusst gegen die Regeln der Grammatik, der Synthax und Orthographie verstossen. Solange dies ein Randphänomen bleibt, ist es zweifellos eine kulturelle Bereicherung. Greift aber dieses Auflösen verbindlicher Regelungen der Schrift-Sprache allgemein um sich, so versetzen wir uns zurück in einen Zustand vor Luther.

Verständlicherweise sind vor allem junge Menschen von diesem Vorgang fasziniert. Sie lieben es, in einer Mundart zu schreiben, deren Orthographie sie aus dem Augenblick heraus frei erfinden, was sie dann als kreatives Tätigsein erleben. Auch hier: Solange diese Kommunikationsformen als Ausdruck besonderer Individualität im engen Kreise persönlicher Bekanntschaft gepflegt werden und zwar ohne Verlust der Fähigkeit, am geregelten Kommunikationsprozess via Schriftsprache teilzunehmen, ist dagegen nichts einzuwenden. Problematisch wird die Sache, wenn durch die Ablehnung des allgemein verbindlichen Codes der Schrift-Sprache die Fähigkeit verloren geht, in unserem Kulturgebiet mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit schriftlich zu kommunizieren.

 

10.4  Die Aufgabe der Schule

Im Gegensatz zur Mundart, die das Kind als Muttersprache in seinen natürlichen Gemeinschaften ohne besondere Anstrengung erwirbt, muss die Schriftsprache mühsam erlernt werden. Dabei erweist sich das Lesen-Lernen – vordergründig betrachtet – als die einfachere Aufgabe, die die meisten noch zustande bringen. Jedenfalls nehmen viele ihre eigene mangelnde Lesefähigkeit kaum wahr, da sie den Lesestoff eben so auswählen können, dass sie sicher nicht überfordert sind. Überdies achten heute die Verfasser von Texten, die sich an die breiten Massen richten, sorgsam darauf, dass eine einfache, plakative Sprache geschrieben wird, die bewusst auf komplexe Satzgefüge verzichtet und sich so weit als möglich auf einfache Hauptsätze beschränkt. ‘Blick’ ist hier ein Musterbeispiel. Man wird also annehmen können, dass die Fähigkeit, den ‘Blick’ lesen zu können, auch dann nicht verschwindet, wenn in unsern Schulen die Pflege der Hochsprache weiterhin an Bedeutung verliert. Dadurch wird aber gerade das Problem deutlich, das bereits erörtert wurde: Je mehr wir die (anstrengende) Pflege der Schriftsprache in der Schule vernachlässigen, desto mehr koppeln wir unsere Schüler von dem ab, was die deutsche Schrift-Kultur in den letzten 500 Jahren hervorgebracht hat. Die Zeit ist wohl nicht mehr fern, wo es nur noch einer verschwindend kleinen Minderheit möglich sein wird, die Texte der deutschen Klassiker von der Satzbildung und Wortwahl her überhaupt noch zu verstehen. Diese für einen kulturbewussten Menschen höchst bedauerliche Entwicklung wird noch verstärkt durch die neuen akustischen und visuellen Medien (Radio, Fernsehen), die dem Konsumenten das Lesen grundsätzlich ersparen. Man darf sich daher angesichts des riesigen Buchangebots nicht täuschen lassen: Der Kreis von wirklichen Lesern ist klein und wird vermutlich noch abnehmen. Die Schule hat die Aufgabe, dieser Entwicklung entgegenzuwirken.

Erscheint die Aufgabe, die heranwachsenden Menschen Hochdeutsch lesen zu lehren, noch verhältnismässig einfach, so erweist sich demgegenüber das Schrei-ben-Lehren als wesentlich schwieriger. Es ist kein Zufall, dass viele Erwachsene über vieles mühelos reden können, aber sehr bald an Grenzen stossen, wenn sie sich vor der Aufgabe sehen, etwas klar, verständlich und sprachlich richtig niederzuschreiben. Das Schreiben in Hochsprache setzt eben ein wesentlich höher entwickeltes Sprachbewusstsein voraus als das Sprechen:

Dies kann nur jemand leisten, der im Gebrauch der Schriftsprache von jung auf geübt ist. Da die Schweizer Kinder dies aber nicht im Elternhaus üben, muss diese Aufgabe um so entschlossener von der Schule wahrgenommen werden. Das bedeutet praktisch: Wir verwenden die Standard-Sprache so oft wie möglich, denn die erforderte sprachliche Fertigkeit entsteht nur in derem steten Gebrauch. Sprechen wir Lehrer zu den Schülern (Erzählen, Schildern, Referieren), so wählen wir wenn immer möglich die Hochsprache, da sie zu einem guten Teil durch das Hören und Nachahmen erworben wird.

 

10.5  Pflege der Mundart?

Die vorliegenden Ausführungen zielten darauf ab, die Notwendigkeit des regelmässigen Gebrauchs der Hochsprache aufzuzeigen. Damit ist aber nicht bestritten, dass es darüber hinaus auch die Verpflichtung gibt, den richtigen Gebrauch der Mundart zu pflegen. Wer sich indessen dieser Aufgabe bewusst stellt, sieht sich einer ganzen Reihe von Problemen gegenüber:

  1. Im Bereiche der Mundart gibt es keine der Duden-Redaktion entsprechende Instanz, deren Festlegungen allgemein als verbindlich akzeptiert werden.

  2. Es ist grundsätzlich zu fragen, ob es überhaupt objektive Sprachnormen gibt oder ob im Gegenteil nicht all das als Mundart anerkannt werden muss, was gerade im Schwange ist. Wir erleben ja dauernd, wie junge Menschen neue Ausdrücke erfinden, die sich dann allmählich einbürgern und teilweise von den Erwachsenen übernommen werden (bzw. von der ‘Erfindergeneration’ noch gebraucht werden, wenn sie schon zu den Erwachsenen gehört).

  3. Es beginnen sich Ausdrucksweisen in der Mundart einzubürgern, die ursprünglich zur Schriftsprache gehörten und die ein Sprachliebhaber, der die angestammte Mundart bewahren will, bewusst meidet.

  4. Unsere Alltagssprache wird immer mehr mit Fremdwörtern und Fachausdrücken durchsetzt und mit fremdsprachigen Elementen (insbesondere englischen Ausdrücken) angereichert.

  5. Die starke Binnenwanderung hat zu einer solchen Vermischung der Mundarten geführt, dass kaum mehr jemand weiss (und jüngere Menschen schon gar nicht mehr), was nun ‘richtig’ wäre.

  6. Viele Lehrer wirken nicht mehr in ihrem angestammten Dialekt-Gebiet, sprechen somit grundsätzlich eine andere Mundart als ihre einheimischen Schüler.

Angesichts dieser Fakten ist die Behauptung der Lehrer, die der Hochsprache aus dem Wege gehen, sie leisteten dadurch einen Beitrag zur ‘Pflege der Mundart’, wohl nicht viel mehr als ein schöner Selbstbetrug. Was uns bleibt, wenn die Mundart gesprochen wird, ist somit lediglich die Möglichkeit einer allgemeinen Spracherziehung. Sie greift weiter als die deklarierte ‘Pflege der Mundart’ und umfasst im wesentlichen die folgenden Anliegen:

Diese sprachpädagogischen Anliegen gelten indessen auch für den Gebrauch der Hochsprache und haben – wie bereits dargelegt – nichts mit ‘Pflege der Mundart’ zu tun.

 

10.6  Warum wählen wir die Mundart?

Es bleibt somit die Frage, welche Gründe einen Lehrer veranlassen können, die Mundart als Unterrichtssprache zu wählen. Ich sehe die folgenden:

Alle diese Gründe haben nichts mit ‘Pflege der Mundart’ zu tun, sondern die Mundart wird ganz einfach aus psychologischen Gründen gewählt und tritt hier nicht spezifisch als Dialekt, sondern als Muttersprache in Erscheinung. Es ist ja klar, dass der Gebrauch der angestammten Mundart vieles erleichtert, aber eines darf man nicht vergessen: Wenn wir den Weg des geringeren Widerstands beschreiten, begünstigen wir eine Entwicklung, die – auf lange Sicht gesehen – zu einem schmerzlichen Verlust an Kultur und an Kommunikationsmöglichkeiten führen müsste. Es lohnt sich daher, die Pflege der Hochsprache als eine Aufgabe, die eben nur die Schule lösen kann, zu akzeptieren und die vielen Mühseligkeiten, die damit verbunden sind, zu tragen.

 

Adresse des Verfassers:

Dr. Arthur Brühlmeier

CH - 5452 Oberrohrdorf (Kanton Aargau, Schweiz)

arthur@bruehlmeier.info

www.bruehlmeier.info