Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds

1 Biographische Skizze

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg (Mähren) geboren, in dem sein Vater als Geschäftsmann ansässig war. Die Familie siedelte 1860 nach Wien über, wo Freud bis zur Besetzung Österreichs durch Hitler im Jahre 1938 lebte und wirkte. Er besuchte hier das Gymnasium, studierte Medizin und arbeitete von 1876 – 1882 als Assistent im physiologischen Laboratorium von Prof. Ernst Brücke, wo er sich vor allem mit dem Nervensystem niederer Fischarten beschäftigte.

Hierauf amtete er als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus, setzte aber seine Forschungen – insbesondere über das Zentralnervensystem des Menschen – fort. Freud galt in Wien bald als führender Neurologe (Nervenarzt). 1885 fuhr er nach Paris, um sich bei Professor Charcot, dem ersten Manne auf dem Gebiete der Neurologie, weiterzubilden.Bei ihm lernte Freud die Hypnose kennen, die damals von den meisten Psychiatern als Schwindel betrachtet wurde, und in diesem Zusammenhang auch die Hysterie, welche man in Paris mittels der Hypnose mit einigem Erfolg behandelte.

1886 kehrte Freud nach Wien zurück und entwickelte als Inhaber einer eigenen Arztpraxis in einer anstrengenden Forscherarbeit die Psychoanalyse. Über Jahrzehnte hinweg verdiente er sich den Unterhalt für seine achtköpfige Familie mit Psychoanalysen und schrieb abends jeweils an seinen theoretischen Abhandlungen.

In Wien scharte Freud einen Kreis interessierter Ärzte um sich und gründete mit ihnen (zu Beginn auch mit Adler) und in Zusammenarbeit mit Bleuler und C.G. Jung in Zürich die psychoanalytische Bewegung. Er musste lange um deren wissenschaftliche Anerkennung kämpfen und entwickelte dabei auch ausgeprägte autoritäre, teilweise sogar fanatische Züge. Seine Schriften indessen zeichnen sich aus durch distanzierte wissenschaftliche Sachlichkeit und eine klassische Sprache.

Nach der Besetzung Österreichs durch Hitler emigrierte er nach London, wo er 1939 starb.

2 Einige nötige Vorbemerkungen

Freud hat seine Theorien im Laufe der Jahrzehnte allmählich entwickelt, einzelne Teile wieder verworfen, umgebaut und erweitert, weshalb man sich, wenn man die Psychoanalyse in ihren Grundzügen darstellen will, entscheiden muss, ob man die Entwicklung der Theorie chronologisch darlegen oder aus dem Überblick des Ganzen das Grundlegende aufzeigen soll. Im Zusammenhang der Lehrerbildung scheint mir der zweite Weg angezeigt, ganz abgesehen davon, dass ich das erste keinesfalls kompetent genug leisten könnte. Hinzu kommt, dass nicht bloss Freud, sondern eine ganze Reihe anderer Forscher ihre Beiträge zur Ausgestaltung der Psychoanalyse geleistet und diese seit Freuds Tod auch weiterentwickelt haben. Das führte dazu, dass nicht bloss innerhalb der Psychoanalyse auch gegensätzliche Ansichten vertreten werden, sondern dass sich schon früh und immer wieder tiefenpsychologische Richtungen vom Stamm der Psychoanalyse abspalteten. Klassische Beispiele hierfür sind Alfred Adler (Individualpsychologie), Carl Gustav Jung (Analytische Psychologie), L. Szondi (Schicksalsanalyse) Ludwig Binswanger und Medard Boss (Daseinsanalyse), Arthur Janov (Primärtherapie) sowie alle (teilweise marxistisch ausgerichteten) Richtungen der Neo-Psychoanalyse wie z. B. Erich Fromm und Harald Schultz-Hencke.

Die psychoanalytische Theorie ist ausserordentlich komplex und oft auch für einen Fachmann schwer verstehbar. Selbst ein C.G. Jung hat Freud nach Jahren der Zusammenarbeit in einem Brief angefleht, er möge ihm doch erklären, was er eigentlich mit ‘Libido’ meine. Eine abrisshafte Darstellung der Psychoanalyse ist darum in jedem Falle stark vereinfachend. Darüber hinaus setzt jeder Autor grundsätzlich andere Akzente; es handelt sich hier folglich ummeinVerständnis undmeineSicht der Psychoanalyse. Um ganz sicher zu gehen, keine Irrtümer zu verbreiten, habe ich meinen Text dem Psychoanalytiker Walter Franzetti zur Durchsicht vorgelegt und seine Änderungsvorschläge berücksichtigt. So denke ich, meine Arbeit könnte trotz dieser Vorbehalte geeignet sein, den Anfänger mit dem Freudschen Denken ansatzweise vertraut zu machen.

Meine Methode ist einfach: Ich gehe von den zentralen Freudschen Begriffen aus und versuche sie zu erläutern. Ich verwende dabei die in der Psychoanalyse geläufigen Abkürzungen für

das Unbewusste – Ubw unbewusst – ubw

das Vorbewusste – Vbw vorbewusst vbw

das Bewusstsein – Bw bewusst – bw

3 Der Begriff ‘Psychoanalyse’

Der Begriff ‘Psychoanalyse’ wird in drei Bedeutungen verwendet:

  • als tiefenpsychologische Forschungsmethode („Freud gewann seine psychologischen Erkenntnisse durch Psychoanalyse.“)
  • als Insgesamt der Freudschen Lehre („Die Psychoanalyse misst der Sexualität eine fundamentale Bedeutung zu.“)
  • als Heilmethode (Therapie-Form) („Ohne eine Psychoanalyse wirst Du wahrscheinlich nicht mit deinen neurotischen Störungen fertig werden.“)

4 Zwei grundlegende Hypothesen

Unter einer Hypothese verstehen wir eine grundlegende Annahme, welche als unbewiesen zu gelten hat, auf welcher aber weitere theoretische Aussagen aufgebaut sein können.

a) Grundlegend für die Psychoanalyse ist die Annahme der ganzen Tiefenpsychologie,dass es ‘das Unbewusste’ gibt, einen Bereich also, über den das Individuum praktisch kaum orientiert ist, der aber dessen Handlungen weitgehend beeinflusst oder bestimmt (determiniert).

Die Annahme eines Ubw mit so weitreichenden Wirkungen versetzt dem Glauben des Rationalismus, dass der Mensch grundsätzlich vernünftig zu handeln weiss und mittels vernünftigem Handeln auch eine vernünftige Welt aufbauen kann, einen argen Stoss. Es ist darum nicht zu verwundern, wenn Freud damals mit dieser Annahme bei vielen Wissenschaftern und Theoretikern auf Ablehnung stiess.

b) Die zweite grundlegende Hypothese besagt, dasspsychisches Geschehen grundsätzlich kausal determiniertist, dass also das Psychische genauso wie das Organische und Mineralische dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen ist. Das heisst, dass man, würde man sämtliche Ursachen, die am Werke sind, kennen, jedes weitere Verhalten und psychische Geschehen mit Sicherheit voraussagen könnte.

Freud ist im materialistischen Geist des 19. Jahrhunderts erzogen worden und diesem Denken weitgehend bis ans Lebensende treu geblieben. Er teilt insofern den typisch materialistischenReduktionismus, der darin besteht, dass das Geistige auf das Psychische, das Psychische auf das Organische und das Organische auf das Mineralische zurückgeführt wird.(Anmerkung)Leben,Psychisches und Geistiges sind demnach letztlich insgesamt Ausflüsse der Materie und können unmöglich unabhängig von dieser bestehen. Im Rahmen dieses Denkens ist z. B. die Vorstellung eines individuellen Weiterlebens einer prinzipiell vom Körper lösbaren Seele nach dem physischen Tode undenkbar. Auch widerspricht diesem Denken grundsätzlich die Vorstellung, der Mensch könnefreihandeln. Wie ich von Medard Boss, der das gesamte Freudsche Werk entsprechend durchgesehen hat, vernommen habe, kommt das Wort ‘Freiheit’ bei Freud insgesamt siebenmal vor, aber stets nur ohne eigentliche Problematisierung dieser Thematik, sondern nur so en passant. Mit andern Worten: Für Freud war die Unmöglichkeit wirklich freien Handelns so selbstverständlich, dass er nicht einmal auf die Idee kam, sich darüber theoretisch zu äussern.

5 Zugänge zum Unbewussten

Es liegt im Wesen des Ubw, dass es als solches – direkt – nicht beobachtbar ist. Man ist vielmehr auf dessen Äusserungen angewiesen, deren Deutungen dann Rückschlüsse auf das angenommene Ubw ermöglichen.

5.1 Hypnose

Freud hat die grundlegende Entdeckung gemacht, dass ein Mensch durch Hypnose nicht bloss in seinen Willenshandlungen beeinflussbar ist, sondern dass er im hypnotischen Trance-Zustand auch in der Lage ist, sich an frühere Erlebnisse zu erinnern, von denen er im Wachzustand nichts mehr weiss.

Dabei hat es sich sogar gezeigt, dass die neurotischen Symptome (z. B. hysterische Anfälle) eine Zeitlang verschwanden, wenn der Klient zuvor gewisse belastende Erlebnisse unter Einwirkung der Hypnose wiedererinnern und erzählen konnte. Daraus ist dann ein Pfeiler der Psychoanalyse (verstanden als Heilmethode) entstanden: die Unschädlichmachung belastender und ins Ubw verdrängter frühkindlicher Erlebnisse durch deren Bewusstmachung.

Wie Freud allerdings feststellen musste, stellten sich die neurotischen Symptome nach einer gewissen Zeit wieder ein, weshalb er den grundlegenden Konflikt nicht als gelöst betrachten konnte. Er gab darum die Anwendung der Hypnose schon früh wieder auf. Heute wird die Hypnose in einem Randbereich der Psychoanalyse teilweise wieder praktiziert. Verfechter der Hypnose werfen Freud vor, er habe die Technik der Hypnose wohl zu wenig beherrscht und sie allzu vorschnell verworfen.

5.2 Deutung von Fehlleistungen

Wenn jemand ‘Traum’ schreiben möchte, aber ‘Frau’ schreibt, sich also verschreibt, so ist dies nach Freuds Überzeugung kein belangloser Zufall, sondern eine Botschaft aus dem Ubw, die Rückschlüsse auf entsprechende Gegebenheiten im Ubw (Ängste, Triebansprüche, verdrängte Wünsche, Schuldgefühle, Aggressionen, Minderwertigkeitsgefühle usf.) zulässt.

Selbstverständlich sind Fehlleistungen nicht bloss im Bereiche des Schreibens, sondern bei allen gewohnheitsmässigen Handlungen möglich. So kann man sich verhören, versprechen, verlaufen, verfahren, verwählen, vergreifen, verschlafen, oder man kann etwas vergessen, verlegen oder (z. B. einen Zug oder einen Termin) verpassen. Oft zeigt sich sogar, dass das Verunfallen einem ubw Motiv entspricht und als Fehlleistung betrachtet werden kann.

Diese Freudsche Auffassung ist heute zum Gemeingut geworden. Wenn darum jemandem eine etwas peinliche Fehlleistung unterläuft – (wenn z. B. ein Kongressvorsitzender seine Eröffnungsrede mit dem Satz schliesst: „Hiermit erkläre ich den Kongress für geschlossen“) –, lässt sich zumeist der stereotype Satz „Freud lässt grüssen“ von irgendwoher hören.

Der psychoanalytisch gebildete Mensch hat es sich angewöhnt,eigenenFehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Entdeckungen über Gegebenheiten des Ubw machen lassen. Die etwas vorwitzigen Feststellungen gegenüber seinen Mitmenschen, denen eine Fehlleistung passiert, lässt er dagegen zumeist bleiben.

5.3 Freie Assoziation

Es gehört zur grundlegenden Vereinbarung zwischen dem Psychoanalytiker und dem Analysanden, dass dieser alles, was ihm irgendwie ins Bewusstsein kommt, ausspricht, mag es noch so peinlich, unmoralisch, unsinnig und kindisch erscheinen. Tut er dies, so wird er die Erfahrung machen, dass sich sofort weitere Vorstellungen oder Gedanken einstellen, die mit dem ersten in einem vielleicht vorerst nicht erkennbaren Zusammenhang stehen. Im Ubw sind folglich diese Vorstellungen miteinander verknüpft (assoziiert). Durch das freie Assoziieren werden demgemäss die Verknüpfungen von Inhalten im Ubw sichtbar, und es kann dann in der Analyse dem Analytiker gemeinsam mit dem Analysanden gelingen, tieferliegende Motive (Handlungs-Gründe) in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang zu verstehen.

5.4 Deutung von Symptomen und Verhaltensweisen

Wenn sich jemand zwangsweise täglich Dutzende von Malen die Hände seift, so spricht dieses neurotische Symptom eine recht deutliche Sprache: Der betreffende Mensch fühlt sich schuldig und möchte seine belastenden Schuldgefühle auf eine – allerdings unnütze – Weise beseitigen. In ähnlicher Weise lassen sich viele neurotische Symptome deuten, sei dies z. B. das zwanghafte Zählen von Gegenständen, das krampfhafte Ringen nach Atem bei jedem zweiten oder dritten Atemzug, das lästige Erröten beim Angesprochenwerden, das zwanghafte Kontrollieren, ob irgend eine als wichtig geltende Handlung tatsächlich erfolgt sei, usf.

Ausgehend von der Annahme, dass jede Verhaltensweise mindestens teilweise aus dem Ubw determiniert ist, ist natürlich jedes Verhalten mindestens ein Stück weit als Botschaft aus dem Ubw zu betrachten und lässt sich demzufolge als Gegenstand der Deutung benutzen.

5.5 Traumdeutung

Freud bezeichnet die Traumdeutung als die ‘via regia’ (den königlichen Weg) zum Ubw. Ihr sei ein gesondertes Kapitel (12.) gewidmet.

5.6 Projektive Tests

So weit ich sehe, hat Jung mit dem ‘Assoziationsexperiment’ erstmals ein projektives Testverfahren entwickelt und angewendet. Irrtum vorbehalten, hat sich Freud selbst nicht mit Tests befasst.

Alle projektiven Tests beruhen auf der Annahme, dass Gegebenheiten des Ubw in die Wahrnehmung einfliessen. Die Reize, welche der Test vorgibt, sind bewusst offen und diffus gehalten, um der Projektion – d.h. der durch das Ubw gesteuerten Wahrnehmung – einen möglichst grossen Spielraum zu lassen. Siehe hierzu meinen Text über die Psychologie der Wahrnehmung (Kapitel ‘Subjektive Wahrnehmungsbedingungen’).

Zu Jungs Assoziationsexperiment:Der Psychologe liest dem Probanden zweimal eine Reihe von je 50 genormten Reizwörtern vor, die erfahrungsgemäss bei vielen Menschen mit psychischer Energie aufgeladen sind, und fordert ihn auf, bei jedem Wort so schnell wie möglich zu sagen, welches andere Wort ihm dazu einfällt. Anhand der sog. ‘Störungsmerkmale’ werden jene Wörter festgestellt, welche beim Probanden emotional besonders belastet sind. Als Störungsmerkmale gelten z. B. stark beschleunigte oder verzögerte Reaktionen, Wortwiederholungen, besondere Kommentare, körperliche Reaktionen u. a.

Die Jungianer haben sich bei diesem Test schon früh das psychogalvanische Experiment zunutze gemacht. Man hat nämlich festgestellt, dass bei jeder emotionalen Erregung die Schweissdrüsen aktiv werden, wodurch der Hautwiderstand sinkt und ein grösserer Strom (z. B. von Finger zu Finger) fliessen kann. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Ampèremeter parallel zu den oben genannten Störungsmerkmalen ausschlägt.

6 Das topologische Modell

Ursprünglich fragte Freud,wosich psychisches Geschehen abspielt, und definiertedrei Schauplätze

das Bewusstsein

das Vorbewusste

das Unbewusste

 

Über das Bw möchte ich hier nichts sagen: Jeder weiss aus eigenem Erleben, was damit gemeint ist, aber eine Charakterisierung dieses so geheimnisvollen Phänomens, dass eine Wesenheit um ihre eigene Existenz weiss und auch weiss, dass sie es weiss, erfordert sehr weitreichende philosophische Erwägungen, die hier unterbleiben sollen.

Unter dem Vbw versteht Freud den Bereich von Inhalten, die zwar im Augenblick nicht bw, abergrundsätzlich bewusstseinsfähigsind, also das Gedächtnis, die Erinnerung, den Sprachschatz und erworbene Fertigkeiten.

Das Ubw ist jener Bereich, in welchem sichursprünglich Gegebenes, das nicht zum Bw gekommen ist oder kommen kann, aber auchalles Verdrängtebefindet.

7 Das Struktur-Modell

Freud hat im Verlaufe seiner Entwicklung seine Theorie insofern umgebaut, als er nach denInstanzenfragte, welche für psychisches Geschehen verantwortlich sind, also:Werbewirkt etwas? Er betrachtete das Seelenleben als einen aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat. Die Lehre vompsychischen Apparatist eine der grundlegendsten Anschauungen der Psychoanalyse. Freud unterscheidet drei Instanzen:

a) das Es

Es hat zwei Aspekte. Es ist vorerstdas Insgesamt von allem natürlich Gegebenenwie Konstitution, Vererbung, Geschlechtszugehörigkeit, Triebe und archaische Bilder (bei Jung: Archetypen). Sodann ist esdas Auffangbecken von allem Verdrängten, das weiterhin aus dem Es heraus wirkt und psychisches Geschehen beeinflusst.

Das Es ist einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik, ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Mass, ohne Rücksicht sogar auf die Selbsterhaltung, einzig dem Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung verpflichtet.

Freud stellt sich vor, dass der Mensch bei der Geburt ganz Es ist und dass sich die beiden Ich-Instanzen erst im Laufe der Entwicklung herausbilden.

b) das Ich

Freud versteht darunter die ‘Rindenschicht’ des Es, also jene psychischen Bereiche, diezwischen dem Es und der Aussenwelt(der Realität, der Gesellschaft) stehen. Es sind dies die Sinneswahrnehmung, die Motorik, alle bewussten Denk- und Willensvollzüge. Im Gegensatz zum Es, das dem Lustprinzip verpflichtet ist, hat das Ich einevermittelnde Funktion und untersteht dem Realitätsprinzip. Ihm kommt auch die Aufgabe der Selbsterhaltung zu. Das Ich ist ferner Träger (Reservoir) der psychischen Energie, der Libido, und entscheidet, welche Objekte mit Libido besetzt werden (siehe Trieblehre, nächstes Kapitel).

c) das Über-Ich

Es handelt sich bei ihm um die kontrollierende, mahnende und strafende Instanz, also um das, was man gängig (aber doch zu wenig genau) als ‘Gewissen’ bezeichnet. Freud sieht im Über-Ich die Verinnerlichung von Normen und Werten der Gesellschaft, vorwiegend vermittelt durch die elterliche Erziehung.

Auf der Basis dieser Auffassung formuliert Freud seine Vorstellung derpsychischen Gesundheit:

‘Psychisch korrekt’ sind solche Handlungen, in welchem das Ich die Regungen aus dem Es, die Ansprüche des Über-Ich und die Erfordernisse der Realität in Einklang zu bringen vermag.

 

8 Die psychischen Qualitäten

Nachdem Freud die ursprüngliche topologische durch die Struktur-Hypothese ersetzt hatte, stellte sich ihm das Problem, welcher Stellenwert die ursprünglichen Begriffe Ubw, Vbw und Bw in der neuen Betrachtungsweise einnehmen sollen. Er löste das Problem, indem er nun nicht mehr nach demWo, sondern nach demWieeines psychischen Geschehens fragte und damit ubw, vbw und bw als psychische Qualitäten fassen konnte.

Damit stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die drei neuen Begriffe Es, Ich und Über-Ich zu den ursprünglichen Ubw, Vbw und Bw stehen. Naheliegend wäre eine gewisse Parallelisierung, denn tatsächlich sind die Inhalte des Es weitgehend ubw und jene des Ich vorwiegend bw. Bei genauerem Überlegen zeigt es sich jedoch, dass das Es durchaus nicht unter allen Umständen ubw sein muss, denn eine Triebregung stammt (abgesehen von den sog. Ich-Trieben, z. B. Selbsterhaltungstrieb) einerseits aus dem Es, kann dem betreffenden Individuum aber andererseits sehr wohl bewusst sein, ohne dass deshalb ihre Natur als Es-Abkömmling verloren ginge. Auch das Ich darf nicht mit dem Bw gleichgesetzt werden, denn wie wir später sehen werden, ist das Ich die verdrängende Instanz, aber eine Verdrängung ist grundsätzlich ein ubw Vorgang, was eben belegt, dass es ubw Anteile des Ich geben muss. Schliesslich lässt sich auch das Über-Ich nicht im Sinne des Entweder-Oder auf das Ubw oder Bw festlegen, denn Norm- und Wertvorstellungen, die das Handeln beeinflussen, können genauso gut bw oder ubw sein.

Wenn wir uns darüber hinaus vergegenwärtigen, dass alles, das bw werden kann, eben im Vbw aufgehoben ist, so ergibt sich daraus die Erkenntnis, dassalle drei Instanzen(Es, Ich, Über-Ich) alle drei psychischen Qualitäten(ubw, vbw, bw) annehmen können.

9 Trieblehre

Die Triebe sind jener Bereich, in welchem sich gewissermassen das Organische und das Psychische begegnen. Tatsächlich lassen sich z. B. der Nahrungs-, Geschlechts- oder Aggressionstrieb durch Beeinflussung des Organismus anstacheln oder dämpfen. Für Freud war es darum selbstverständlich, das Triebleben als die Basis des Psychischen zu betrachten. Diese Anschauung stand denn auch in Übereinstimmung mit der Auffassung, dass die Motive des Handelns im Es verwurzelt und darum zumeist auch ubw sind.

Es entsprach Freuds reduktionistischem Denken, dass er der Überzeugung war, sämtliche Triebe liessen sich auf einen einzigen oder allenfalls zwei zurückführen. Der frühe Freud glaubte, einerseits imSexualtrieb,andererseits in denIch-Trieben(Selbsterhaltungstendenzen) diese grundlegenden Triebe zu erkennen, in jenem Bestreben also, dem Organismus einerseits grösstmögliche Lust zu verschaffen und ihn andererseits zu erhalten. Mit der Einführung des Narzissmus (zu Deutsch am ehesten: Selbstverliebtheit) hat er dann auch den Ich-Trieben einen libidinösen Charakter (Libido: siehe unten) zuerkannt.

Freud hat sich zu Beginn unseres Jahrhunderts, einer Zeit der ausgeprägtesten Prüderie, mit dieser ‘Sexualisierung des gesamten Seelenlebens’ harter Kritik ausgesetzt. So zog er sich beispielsweise die Gegnerschaft August Forels zu. Forel (auf unserer Tausendernote abgebildet) war lange Zeit Leiter der psychiatrischen Klinik ‘Burghölzli’ in Zürich und hatte ein in vielen Auflagen erschienenes Standardwerk über das Sexualleben geschrieben. Die Reduktion sämtlicher Triebe auf den Sexualtrieb wollte er aber nicht akzeptieren.

Möglicherweise haben es sich die Kritiker Freuds etwas zu einfach gemacht, indem sie zu wenig zur Kenntnis nahmen, dass Freud das Sexuelle an sich weiter fasste, als es ausserhalb der Psychoanalyse geschieht. So vertrat er die Auffassung, dass z. B. bereits das Saugen des Säuglings an der Mutterbrust eine sexuelle Handlung darstellt. Tatsächlich kann der unvoreingenommene Betrachter unschwer feststellen, dass der Akt des Saugens beim Säugling ein wirklich lustvoller Vorgang ist und dass sich das kleine Kind auch sonst durch das Lutschen der Finger oder irgendwelcher Gegenstände Lust verschafft.

Freud hat seine Theorie später dadurch ergänzt, dass er dem Lusttrieb den sog.Todestrieb(Destruktionstrieb, Aggressionstrieb) zur Seite stellte. Er sah nunmehr das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole des ‘Eros’ und des ‘Thanatos’. Im Eros sah er das aufbauende, im Thanatos das abbauende Prinzip. So sah er z. B. beim Essen in der Einverleibung der Nahrung den Lusttrieb, im Zerkauen der Nahrung den Aggressionstrieb am Werk. Auch den Sexualakt betrachtete er als eine Verbindung beider Triebe. Das völlige Fehlen des Aggressionstriebs äusserte sich dann als Impotenz, das Fehlen des Eros hingegen als Sadismus bzw. – im Grenzfall – im Lustmord.

Viele Vertreter der Psychoanalyse – z. B. Fromm – sind ihm in der Annahme des Todestriebes nicht gefolgt. Insbesondere marxistische Psychoanalytiker sehen in der Annahme eines Aggressionstriebes einen Widerspruch zu ihrer Gesellschaftstheorie, wonach die menschliche Aggression nichts Naturgegebenes ist, sondern als eine Reaktion auf frustrierende Umweltbedingungen (z. B. kapitalistische Gesellschaftsordnung) verstanden werden soll.

Freud geht grundsätzlich davon aus, dass ‘die Psyche’ nicht etwa eine Wesenheit, sondern einVorgang(ein Geschehen, ein Prozess), alsoetwas Dynamischesist. Das dynamische Geschehen der Psyche wird nun gemäss seiner Vorstellung in Gang gehalten durch die psychische Energie, die er alsLibidobezeichnet. Die Libido steht grundsätzlich dem Ich zur Verfügung und fliesst ihm „von den Organen her“ zu. Wir erkennen in dieser Vorstellung einmal mehr Freuds Bemühen, das Psychische auf das Organische zurückzuführen.

Die Libido kann grundsätzlichfrei oder gebundensein. Irgendwelche Sachverhalte werden für den Menschen dadurch bedeutsam, dass sich mit deren Vorstellung Libido verbindet. Freud spricht davon, dass die ‘Objekte’ mit Libido‘besetzt’werden. Ganz am Anfang richtet sich indessen alle Libido auf das eigene Ich, was dann den Zustand des‘primären Narzissmus’ausmacht. (Narziss war ein griechischer Hirte, der sich beim Anblick seines Spiegelbildes im Wasser in sich selbst verliebte.) Es entspricht indessen der gesunden Entwicklung, dass sich die Libido auf ‘Objekte’ richtet und sich mit ihnen verbindet.

Das erste ‘Objekt’, das das kleine Kind mit Libido besetzt, ist die Mutterbrust. Man darf sich natürlich nicht vorstellen, dass das Kind gewissermassen Libido an die physische Mutterbrust klebt, sondern in seinem Erleben wird die Mutterbrust zum ersten bedeutsamen Tatbestand. Im Verlaufe der Entwicklung besetzt das Kind immer mehr Objekte mit Libido. Man kann sagen, dass ein Objekt mit um so mehr Libido besetzt ist, je stärker es mit gefühlvollem Erleben verbunden ist.

Wird die Libido in unzulässiger (übertriebener) Weise an das eigene Ich fixiert, so spricht Freud vom‘sekundären Narzissmus’. Dies ist eine sehr ernste psychische Störung: der betreffende Mensch bleibt völlig auf sich selbst bezogen und ist eigentlich asozial und liebesunfähig.

Rein formal unterscheidet Freud bei jedem Triebvier Kriterien: Quelle, Objekt, Ziel und Drang.Im Bereiche der Ernährung ist dieQuelledas objektive Nahrungsbedürfnis, dasObjektdie Nahrung, derDrangdie Stärke des Hungergefühls und dasZieldie Stillung des Hungers. Analoges gilt für die andern Triebe.

10 Die Abwehrmechanismen

Aufgrund breitester Beobachtung ist es eine grundlegende Überzeugung der Psychoanalyse, dass der Mensch nicht ohne weiteres bereit oder fähig ist, die Inhalte des Es bw werden zu lassen und sie auch als Teil des eigenen Seelenlebens zu akzeptieren. Der Mensch hat vielmehr ganz allgemein Mechanismen (Automatismen, automatisch und unbewusst ablaufende Seelenvorgänge) entwickelt, die darauf abzielen, all jene Impulse aus dem Es, die ihm aus irgendwelchen Gründen (weil sie z. B. mit den Forderungen des Über-Ichs oder den Ansprüchen der Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen sind) als nicht akzeptabel erscheinen oder erscheinen könnten, gewissermassen schon im Keime zu ersticken und sie auf diese Weise gar nicht ins Bw kommen zu lassen.

10.1 Verdrängung

Der grundlegende Abwehrmechanismus ist dieVerdrängung. Für ihn gilt – genauso wie für alle weiteren Abwehrmechanismen, bei denen Verdrängung immer mitenthalten ist –, dass er

1.ubwpassiert,

2. derAngst-Abwehrdient und

3. eineSelbsttäuschungdarstellt.

Bei einer Verdrängung handelt es sich um dieunbewusste Unterdrückungeines Triebbedürfnisses (z. B. Sexualtrieb, Aggressionstrieb) oder eines irgendwie belastenden Impulses aus dem Es (z. B. Minderwertigkeits-, Schuld-, Scham- oder Angstgefühle). Eine Verdrängung steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht und ermöglicht vielmehr das Ausweichen vor einer bewussten Entscheidung.

Ein Beispiel: Ein junger Mann, der kurz vor der Heirat steht, befreundet sich mit einem andern Burschen, der in ihm homoerotische Impulse auslöst. In der Regel wird ein solcher Impuls schon im Ansatz wieder zurückgewiesen, kommt also dem betroffenen Menschen gar nicht zum Bw. Würde er nämlich den homoerotischen Impuls in voller Stärke bw erleben, so löste er in dieser Situation grosse Ängste aus. Der Mann in unserem Beispiel geht folglich ruhig seines Weges und heiratet, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln. So sehr man es ihm gönnen mag, kann man sich doch der Erkenntnis nicht entziehen, dass seine von keinerlei Zweifeln begleiteten Handlungen auf einer Selbsttäuschung beruhen.

Auf dem Hintergrund der Freudschen Instanzen-Lehre (Es, Ich, Über-Ich) drängt sich die Frage auf, ‘wer’ denn eigentlich verdrängt. Verdrängende Instanz ist nach Freud (und logischerweise) das Ich (allenfalls unter den Einwirkungen des Über-Ich); da aber die Verdrängung ubw geschieht, ist es der ubw Anteil des Ichs, der verdrängend wirkt.

Freud selbst ist durchaus bereit, ein gewisses Ausmass an Verdrängungen als vertretbar und psychisch nicht alarmierend zu betrachten, da sie eigentlich unvermeidlich sind. Es handelt sich bei ihnen um einen Ausdruck jenerneurotischen Züge,die jeder menschlichen Person in irgend einer Weise anhaften. Zum Problem werden Verdrängungen, wenn sie ein grosses Ausmass angenommen haben, zentrale psychische Bereiche betreffen und sich hartnäckig jeder Bewusstmachung entziehen. In diesem Fall sind sie Ausdruck eineretablierten Neurose.

Es gibt indessen Psychoanalytiker im Gefolge von Freud, die jede Form von Verdrängung als Krankheitsanzeichen und auch als weiterhin krankmachend betrachten und sie deshalb mit allen zu Gebote stehenden Mitteln auflösen möchten. Am konsequentesten ist hier Arthur Janov mit der sog. Primär- oder ‘Urschrei’–Therapie.

10.2 Regression

Stellt sich dem Menschen in seinen Handlungen oder Lebensbestrebungen irgendein Hindernis entgegen, so gibt es – rein theoretisch – stets zwei Möglichkeiten: Entweder überwindet er das Hindernis, oder er scheitert. Die Psychoanalyse konnte den Nachweis erbringen, dass der Mensch im zweiten Fall in der Regel nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, sondern als Antwort auf sein Frustrationserlebnisregrediert,d.h. eine Verhaltensweise äussert, die einer entwicklungsmässig (genetisch) früheren Stufe entspricht. Diese Regression ist insofern ein Abwehrmechanismus, als sie offenbar dazu dient, die mit dem Scheitern verbundenen Minderwertigkeits-, Schuld- und Angstgefühle nicht ins Bewusstsein kommen zu lassen. Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen belastenden Inhalten wird gewissermassen überkleistert durch eine kindische Ersatzhandlung.

Ein Beispiel: Ein Traxführer, der zur Erstellung einer Waldstrasse die Stöcke der gefällten Bäume ausbuddeln musste und einem gewaltigen Kerl auch nach mehrmaligem Anlauf nicht Meister wurde, ergriff in seiner Wut und Verzweiflung einen der aufgestapelten Spälten, schlug mit ihm von allen Seiten auf seinen Trax und beschimpfte ihn als ‘verdammte Saucheib’, ‘Dreckseckel’ etc. Kühlen Kopfs betrachtet, entbehrt diese Handlungsweise jeder Vernunft. Tiefenpsychologisch betrachtet, ist sie verständlich: Kleine Kinder nehmen bekanntlich auch unbelebte Gegenstände als belebt und beseelt wahr und sind darum – ohne dass dies in diesem frühen Alter als Regression bezeichnet werden dürfte – ohne weiteres bereit, z. B. den Tisch als ‘böse’ zu beschimpfen und ihn zu schlagen, wenn sie ihren Kopf daran gestossen haben. Wir nennen diese Erlebensweise ‘animistisch’ (alles ist beseelt) oder anthropomorph (alles hat menschliche Züge). Unser Traxführer ist infolge der starken Frustration auf diese genetisch (entwicklungsmässig) frühere Stufe zurückgefallen und konnte so – ohne dass er sich dessen bw war, denn alles geschieht ubw – einer rationalen Auseinandersetzung mit seinen Minderwertigkeits- und Angstgefühlen aus dem Wege gehen, ein Unternehmen, das psychisch offensichtlich wesentlich aufwendiger ist als die spontane Regression.

Auch der Griff zur Zigarette, zur Flasche oder zu einer andern Droge, der häufig in belastenden Situationen erfolgt, kann als Regression verstanden werden: als ein Zurücksinken ins erste Lebensjahr (orale Phase, siehe Kapitel 11.2), wo sich das Kind durch Saugen, Lutschen oder Einlullenlassen Lust verschafft.

Neben diesen Regressionen, die als Abwehrmechanismus und insofern als neurotisch zu betrachten sind, gibt es eine Anzahl von regressiven Handlungen und Lebensvollzügen, die der Aufrechterhaltung des psychischen Gleichgewichts dienen. Solche ‘legitimen’ Regressionen sind z. B. der Schlaf, das sexuelle Erleben, das Spiel, das belanglose Blödeln oder das Mitschreien im Eisstadion. Der tiefenpsychologisch ausgerichtete Anthropologe neigt dazu, das psychische Geschehen als ein Wechselspiel zu betrachten, in welchem sich Licht und Schatten, Zielgerichtetheit und Laisser-faire, Rationales und Irrationales, Pflichterfüllung und Lustgewinn die Waage halten sollen. Dementsprechend sind ihm alle möglichen Formen derRegression(die konkrete Wahl ist eine Stilfrage) der nötige Ausgleich zumprogressiven Verhalten:zur zielgerichteten, rationalen und den gegebenen Ordnungen unterworfenen Lebensaktivität.

10.3 Rationalisierung

Bei der Rationalisierung handelt es sich um ein verstandesmässiges Rechtfertigen eines Verhaltens, indem die wahren, aber nicht eingestandenen und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggründe) ersetzt werden durch solche, die dem betreffenden Menschen für sich selbst und die andern als annehmbar erscheinen.

Fragt man etwa jemanden, der sich sozial sehr engagiert, weshalb er das tut, so wird man von ihm wahrscheinlich hören, er ziehe aus seiner christlichen Grundhaltung die Konsequenz. Das ist durchaus möglich, im einen oder andern Fall hingegen könnten auch andere Motive ausschlaggebend oder doch zumindest mitbeteiligt sein, so etwa das Bedürfnis, ubw Schuldgefühle zu kompensieren, oder der Drang, im Zentrum zu stehen, gerühmt zu werden oder von denjenigen, denen man hilft, geliebt zu sein.

Auch bei diesem Mechanismus ist es offensichtlich, dass Inhalte des Es, die – würden sie bw erlebt – Angst machen würden, automatisch aus dem Bw verdrängt, also abgewehrt werden. Es zeigt sich hier einmal mehr, dass die Abwehrmechanismen der Angstabwehr dienen.

Die Rationalisierung ist vermutlich die verbreitetste Form der Selbsttäuschung. Indem uns die Psychoanalyse darauf aufmerksam macht und uns auch auffordert, Rationalisierungen aufzulösen und uns den wahren Motiven zu stellen, erweist sich diese psychologische Anthropologie als eine Lehre mit einem hohen ethischen Anspruch. Die Auflösung von Rationalisierungen ist letztlich identisch mit dem Satz, der einst über dem Tempeleingang in Delphi stand: Erkenne dich selbst!

10.4 Projektion

Bei der Projektion werden unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle, Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’ in der Aussenwelt übertragen. Biblisch gesprochen: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken im eigenen Auge siehst du nicht.“ Als Objekte kommen grundsätzlicheinzelne Personen, Personengruppen, Gegenstände oder Situationenin Frage.

Beispiele fürPersonen :Ein Mensch, der z. B. von seinem Vater misshandelt und unterdrückt wurde, neigt dazu, in jeder Situation, wo Autorität oder die Forderung nach Unterordnung im Spiel ist, das tyrannische Wirken des Vaters zu sehen und sich dann in eine kämpferische Haltung zu begeben. Es ist dann, als würde er stets jede Gelegenheit wahrnehmen, um – ersatzweise – gegen seinen Vater anzukämpfen. Wir Lehrer sind nicht selten ‘Projektionsschirme’ für unsere Schüler, und manche auf Anhieb unverständlich erscheinende Reaktion wird so verständlich. Aber auch wir Lehrer neigen selbstverständlich zu Projektionen und können z. B. aus unserer verdrängten Angst vor den Schülern heraus ein harmloses Getuschel als ein Komplott gegen uns fehlinterpretieren.

Projektionen aufPersonengruppensind die psychische Basis jeder Art von Rassenvorurteilen, Fremden- und Gruppenhass. Wer solchen Projektionen ausgeliefert ist, wird z. B. sofort aggressiv gestimmt, sobald er beispielsweise einen Menschen mit einer etwas anderen als der eigenen Hautfarbe sieht.

Selbstverständlich kann jeder beliebigeGegenstandbei bestimmten Menschen Projektionen auslösen, sei dies nun der Hut einer Uniform, ein Autokennzeichen, ein Wirtshausschild, ein Kreuzzeichen, ein Kleidungsstück oder was auch immer.Situationen, die Projektionen auslösen können, sind z. B. ein laufender Motor, eine üppige Schaufensterauslage, ein Sonnenuntergang, ein grosser Platz, ein Verkehrschaos und vieles mehr. In jedem Fall sieht der Projizierende im Gegenstand oder in der Situation mehr und anderes, als das, was diese ‘an sich’ bedeuten, und reagiert darauf oft besonders emotional. Es ist darum ohne weiteres klar, dass jede Form von Projektion die zwischenmenschliche Kommunikation, die ja darauf beruht, dass wir identische Begriffe haben, erschwert und stört. Man kann darum so gut wie sicher sein, dass in jedem Streit und bei jeder heftigen Auseinandersetzung Projektionen im Spiele sind. Eine psychologisch richtige ‘Schlichtung’ darf darum niemals auf einen faulen Kompromiss hinauslaufen („du hast ein bisschen recht und du auch“), sondern muss bei jedem Teilnehmer die Bereitschaft erzeugen, sich seinen eigenen Projektionen zu stellen.

In jedem Fall der Projektion wird wiederum deutlich, dass eine Selbsttäuschung vorliegt, denn man sieht das andere oder den anderen nicht so, wie es oder er ist, sondern so, wie man es oder ihn ubw haben möchte. Das ist auch in jenen Fällen so, wo Projektionen als durchaus angenehm erlebt werden, z. B. im Zustand vollkommener Verliebtheit. In der Regel sieht der Verliebte die Angebetete als mehr oder weniger fehlerfrei, womit deutlich wird, dass er ein Wunschbild (z. B. die positive Seite seiner Muttererfahrung) in die Geliebte projiziert. Der alte Spruch „Liebe macht blind“ ist demgemäss zu korrigieren in „Verliebtheit macht blind“, denn im Gegensatz zur Verliebtheit macht die wahre Liebe sehend, was Saint-Exupérys kleinen Prinzen den bekannten Satz aussprechen liess: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“.

10.5 Introjektion

Dies ist der umgekehrte Vorgang der Projektion: Es werden fremde Anschauungen, Motive, Verhaltensweisen ins eigene Ich aufgenommen. Dabei geht es nicht um die legitimen Formen des Lernens (wenn z. B. ein Lehrling die Arbeitstechnik des Lehrmeisters nachzumachen versucht, um so den Beruf zu erlernen), sondern um Imitationen, die dem eigenen Ich eigentlich fremd sind und der Abwehr von (beispielsweise) Minderwertigkeitsgefühlen dienen sollen. So sehe ich einen bestimmten Musiker vor mir, der in Kleidung, Haartracht und ‘Tu-dich-um’ ganz offensichtlich in die Rolle eines andern geschlüpft ist, der wirklich etwas kann und darum auch Erfolg hat. Oder man kann heute nicht selten die Erfahrung machen, dass Menschen, die im Grunde ihres Herzens eigentlich eher konservativ sind, ganz unvermittelt und im Gegensatz zu ihren übrigen Überzeugungen und ihrem wirklichen Leben progressive Ansichten zum besten geben, offensichtlich aus dem ubw Wunsch heraus, von gewissen Kreisen besser angenommen zu werden.

10.6 Identifikation

Wird nicht bloss ein einzelner Zug eines andern Menschen oder eine einzelne isolierte Idee introjiziert, sondern das ganze Wesen eines Menschen bzw. ein ganzes Ideensystem, so liegt eine Identifikation vor. So kennen wir etwa die totale Identifikation pubertierender Menschen mit irgendwelchen Idolen, die so weit gehen kann (wie vor nicht allzulanger Zeit in Japan geschehen), dass sich ein Jugendlicher als Super-man aus einem Hochhaus stürzt, um mit ausgebreitetem Kleide ins Gewühl der Strasse hinabzuschweben (er starb).

Ganz allgemein ist der ‘Fan’ ein Mensch, der sich mit irgend etwas oder irgend jemandem hochgradig identifiziert hat. So hängt z. B. die Seelenlage von Fussball-Fans vollkommen vom Erfolg bzw. Misserfolg ‘ihres’ Clubs ab: Sie sind euphorisch, wenn der Club gewinnt, depressiv, wenn er verliert. In beiden Fällen können sich die aufgestauten Gefühle in Aggressionen entladen: Im ersten Fall entwickeln sich die Gefühle der Überlegenheit zu Übermut, Arroganz und Angriffslust, im zweiten Fall entsteht aus der erlittenen Schmach und der damit verbundenen Frustration ein Klima der Rache und der ungerichteten Wut.

Differenziertere Menschen neigen eher dazu, sich mit Ideensystemen zu identifizieren, sei dies ein politisches oder ein religiöses. Die Identifikation ist daran zu erkennen, dass mit vorgegebenen Formeln und Gedankengängen argumentiert und insbesondere keinerlei Zweifel zugelassen wird. Der durch die Identifikation begründete Fanatismus entwickelt in extremen Fällen – analog zum Fan-Club – ein Klima der Gewalttätigkeit. Die Geschichte zeigt eindrücklich, dass viele politische und religiöse ‘Revolutionäre’, die stets von der Heiligkeit ‘ihrer Sache’ restlos überzeugt waren, nicht vor Gewalttätigkeit und Brutalität zurückschreckten.

In all diesen Formen der Identifikation tritt das Moment der Selbsterhöhung deutlich zu Tage. Die Basis sind die unbewussten, im und aus dem Es wirkenden Minderwertigkeitsgefühle, die naturgemäss ängstigen und darum abgewehrt werden wollen. Diese Zusammenhänge hat Adler – freilich mit teilweise andern Begriffen – ins Zentrum seiner Betrachtungsweise gestellt. Die alltägliche Beobachtung zeigt sehr deutlich, dass insbesondere solche Jugendliche zu überstarken Identifikationen – und damit zum Selbstverlust – neigen, deren soziales Milieu nicht das Selbstwertgefühl stärkte, sondern die Minderwertigkeitsgefühle förderte. Für Erzieher sind darum überstarke Identifikationen, wie sie sich insbesondere von der Pubertät an zeigen, stets ein Gradmesser für die Ich-Schwäche eines jungen Menschen, und sie unternehmen demgemäss alles, um dessen Selbstwertgefühl zu stärken.

Dass alle Abwehrmechanismen – und somit auch die Identifikation – der Angstabwehr dienen, ersehen wir aus den zahlreichen Fällen, in denen sich Menschen, die extrem unterdrückt wurden, mit ihren Unterdrückern identifizierten und so eben vor ihnen keine Angst mehr haben mussten. Dies ist nicht nur sehr oft passiert in deutschen Konzentrationslagern, wo Gefangene zu Gehilfen aufrückten und sich als besonders eifrige Quäler hervortaten, sondern auch bei Patricia Hurst, der amerikanischen Verlegerstochter, die von einer radikalen Gruppe entführt wurde und später mit ihnen an Banküberfällen teilnahm. Analoges ist passiert, als vor Jahren eine Gruppe Südmolluker in Holland einen Eisenbahnzug kaperte und ihn mitten im Winter 10 Tage lang ohne Strom blockierte, oder auch in Stockholm, als eine westliche Botschaft von einer Gruppe linksextremer Terroristen überfallen wurde und sich eine Geisel nachher der RAF anschloss.

Wie Freud gezeigt hat, ist die Identifikation des Knaben mit dem Vater und des Mädchens mit der Mutter im Zuge der Lösung des Ödipuskomplexes (siehe Kapitel 11.4.) ein entwicklungspsychologisch gesetzmässiger Vorgang, der dazu führt, dass die Kinder die Norm- und Wertvorstellungen der Eltern übernehmen und so auch in die Gesellschaft hineinwachsen. Wie sehr sich etwa Buben im Kindergartenalter oder auf der Unterstufe mit dem Vater identifizieren, kann man gelegentlich hören, wenn jeder den stärkeren, tüchtigeren, gescheiteren oder reicheren haben will.

10.7 Konversion

Als Konversion bezeichnet die Psychoanalyse den Umschlag einer unerledigten Affektregung (Angst, Aggression, Wut, Ärger, Schuldgefühl, Triebwunsch etc.) ins Körperliche (Somatische). Beispiele sind etwa Erröten, Ohnmachtsanfälle, Herzklopfen, Migräne, Magenleiden, Zittern usf. Deren Charakter als Abwehrmechanismus erweist sich aus der Tatsache, dass wiederum ins Es verdrängte (d.h. ubw) und von dort aus wirkende Affekte in ihrem Zustand der Unbewusstheit belassen werden, weil es offenbar psychisch zu aufwendig wäre, sich ihnen zu stellen, und darum deren Manifestation im Körper in Kauf genommen wird.

10.8 Reaktionsbildung

Freud hat entdeckt, dass belastende Affekte u.a. auch dadurch abgewehrt werden können, dass im bw Verhalten und Erleben eine gegensätzliche Verhaltensweise entwickelt wird. So ist der Fall nicht allzu selten, wo sich eine ledige Tochter ihrer alleinstehenden Mutter vollkommen aufopfert und ihr alles nur erdenkliche Liebe und Gute erweist, und zwar in einem solchen Ausmass, dass der unvoreingenommene Beobachter dies als völlig unangemessen und übertrieben empfinden muss. Bei näherem Zusehen (in der Analyse) könnte sich dann zeigen, dass im Es der Tochter ein tiefer Hass gegen die Mutter wühlt, da sie ihr mit ihren Ansprüchen an Dankbarkeit die Entwicklung eines eigenständigen Lebensweges verunmöglichte. Der Hass und die damit verbundenen aggressiven Strebungen würden indessen bei der Tochter, wären sie ihr bw, eine derart grosse Angst und derart nagende Schuldgefühle erzeugen, dass sie (bzw. ihr unbewusst fungierendes Ich) es vorzieht, diese belastenden Gefühle durch die Reaktionsbildung abzuwehren.

Auch die übertriebene Reinlichkeit kann eine Reaktionsbildung sein, indem letztlich die täglich viele Stunden beanspruchende Beseitigung von Schmutz und Unrat eine Möglichkeit darstellt, seine wirklich vorhandene Schmutzlust zu befriedigen. Analog dazu ist es auch möglich, dass ein religiöser oder politischer ‘Sittenhüter’, der überall gegen sexuelle Unsittlichkeit ankämpft, in diesem Tun eine Möglichkeit sieht, seine überstarken, aber verdrängten sexuellen Bedürfnisse ersatzweise zu befriedigen. Und dass Mitglieder der Feuerwehr gelegentlich dem Anblick brennender Häuser nicht unabgeneigt sind, wissen wir nicht erst, seit sich in letzter Zeit mehrerenorts Feuerwehrmänner als Brandstifter betätigten.

Es muss aber deutlich davor gewarnt werden, nun jede Form von Elternliebe, von Engagement für reine Sitten, von Sinn für Reinlichkeit und von Brandbekämpfung (um bei meinen Beispielen zu bleiben) als Reaktionsbildung zu betrachten. Ein solcher Abwehrmechanismus liegt stets nur dann vor, wenn die Intensität der betreffenden Handlungsmotive sehr übersteigert und dementsprechend nicht der Realität angemessen sind. So habe ich einmal einen Menschen kennengelernt, dessen Hobby – um nicht zu sagen Sucht – es war, jede Verkehrssignalisation auf ihre rechtlich korrekte Ausführung hin zu überprüfen, und der im Zuge dieses Hobbys Hunderte von Briefen an die Behörden schickte und sie damit in vielen Fällen tatsächlich veranlassen konnte, irgendwelche Signaltafeln um ein paar Meter zu versetzen oder sie entfernen zu lassen, weil deren Anbringung nicht korrekt im Amtsblatt ausgeschrieben war. Im Umkreis von 20 km kannte er den Standort der hintersten und letzten Verkehrssignalisation auswendig. Ich vermute sehr, dass ein Mensch, dessen ganzes Sinnen und Trachten darauf abzielt, dass die Behörden den Strassenverkehr buchstabengetreu nach den gesetzlichen Vorschriften regeln, damit die eigene überstarke Tendenz abwehrt, sich so ungeregelt wie nur möglich verhalten zu können.

10.9 Kompensation

Wie wir bereits von der Adler’schen Individualpsychologie her wissen, neigt der Mensch dazu, sich dem bw Erleben psychischer Mängel dadurch zu entziehen, dass er solche Verhaltensweisen äussert, von denen er annimmt, dass sie ihm besondere Geltung, Überlegenheit oder Macht über andere verschaffen. Als Regel kann gelten: Je grösser die Minderwertigkeitsgefühle, desto stärker die Kompensation.

Es gibt grundsätzlich keine Verhaltensweise, die nicht zur Kompensation gebraucht werden kann. So kann ein Musiker auf dem Podium musizieren, um andere mit seiner Kunst zu erfreuen oder um sich im Zentrum des Interesses zu sonnen. In den meisten Fällen sind indessen Kompensationen von den ‘echten’ Motiven nicht zu trennen, und es ist anzunehmen, dass in fast allen Verhaltensweisen ein mehr oder weniger grosser Anteil an Kompensationsbedürfnis mitschwingt.

Eine Selbsttäuschung stellt die Kompensation insofern dar, als man deren Funktion, Minderwertigkeitsgefühle abzuwehren, nicht erkennt und man offensichtlich auch nicht bereit ist, seine eigenen Grenzen unbefangen zu sehen und anzuerkennen.

10.10 Autoaggression

Eine Autoaggression liegt vor, wenn jemand eine nicht eingestandene und nicht akzeptierbare Aggression gegen einen andern in eine Aggression gegenüber der eigenen Person verwandelt. Dies mag etwa vorliegen, wenn sich eine Sekretärin nach einer Auseinandersetzung mit dem Chef selbst die Haare rauft oder ohrfeigt, obwohl sie sich lieber auf den Chef stürzen würde. Da indessen eine solche Handlung – so angemessen sie ihrem Es erscheinen mag – ihre Existenzgrundlage gefährden könnte, wird die ursprüngliche Aggression in eine Autoaggression verwandelt.

Es ist anzunehmen, dass der Masochismus, zeige er sich sexuell oder in selbstquälerischem Engagement für die andern, nicht bloss eine Möglichkeit ist, um verdrängte Schuldgefühle zu kompensieren, sondern auch um verdrängte Aggressionen auszuleben. So steckt wohl in jeder sexuell masochistischen Handlung verdrängter Sadismus.

In der christlichen Mystik hat die Autoaggression – in der Form der Kasteiung und der Selbstgeisselung – eine aus tiefenpsychologischer Sicht eher zwiespältige Tradition. Ins gleiche Kapitel gehört die Geissler-Bewegung des ausgehenden Mittelalters, wo ganze Züge ‘frommer’ Menschen das Land durchquerten, dabei offen ihre Sündhaftigkeit bekannten und sich selbst und ihre Bussgenossinnen und –genossen blutig peitschten. Dass damit ‘Schuld getilgt’ werden sollte, war offen deklariert, aber von tiefenpsychologischem Standpunkt aus ist es etwas anderes, Schuldgefühle abzuwehren oder sich Schuld einzugestehen und sein Leben dementsprechend einzurichten. Ich denke, es sei ein gut christlicher Gedanke, seine Schuld nicht durch fragwürdige Praktiken loswerden zu wollen, sondern sie vertrauend in die Hand Gottes zu legen. Angesichts der Tatsache, dass die sich kasteienden Menschen oft genug gerade jene waren, die jeder sexuellen Praxis bewusst abschworen, kann man sich aus psychoanalytischer Sicht nicht dem Verdacht entziehen, die Selbstkasteiungen dienten der masochistischen Ersatzbefriedigung.

10.11 Substitution

Eine Substitution liegt vor, wenn ein ursprüngliches Triebobjekt durch ein Ersatzobjekt ersetzt wird. Insofern ist die Autoaggression eine spezielle Form der Substitution, denn bei ihr wird ja ein Mitmensch als Objekt einer aggressiven Triebregung durch die eigene Person ersetzt.

Eine verbreitete Form der Substitution ist der Fetischismus: Der Umgang mit – möglichst gebrauchter – Unterwäsche von Personen des andern Geschlechts. Aber auch Ess- oder Trunk-Sucht, die sich gelegentlich einstellen, wenn die sexuellen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben müssen, können als Substitution betrachtet werden. Eine Substitution liegt auch vor, wenn ein vom unerfreulichen Umgang mit der Ehefrau her frustrierter Lehrer seine aufgestauten Aggressionen an seinen Schülern ausagiert. Die oft anzutreffende Sucht alleinstehender Frauen, ganze Scharen von Katzen zu verhätscheln, dürfte ins gleiche Kapitel gehören.

10.12 Realitätsleugnung

Eine solche liegt vor, wenn bestimmte bedeutsame Tatbestände vom Ich ignoriert (nicht wahrgenommen) werden, weil die bw Auseinandersetzung mit ihnen als zu belastend erlebt wird. So kommt es beispielsweise immer wieder vor, dass eine Frau die Seitensprünge ihres Mannes nicht wahrnimmt, obwohl sonst jedermann davon weiss und ausreichende Anzeichen dafür vorliegen. Realitätsleugnung liegt auch vor, wenn jemand die Anzeichen einer lebensbedrohenden Krankheit übersieht und den Arzt erst aufsucht, wenn es wirklich zu spät ist.

Realitätsleugnungen sind in grossem Ausmasse überall dort festzustellen, wo ein Weltbild oder vorgefasste Meinungen ins Wanken kommen könnten. So wollten gewisse Kreise die Bedrohung des Westens und der Schweiz durch die Warschau-Pakt-Mächte niemals wahrhaben, obwohl – wie sich jetzt zeigte (was aber auch wieder nicht zur Kenntnis genommen werden will) – noch 1989 konkrete Angriffspläne gegen den Westen im allgemeinen und die Schweiz im besonderen ausgearbeitet wurden. Die Vorstellung, angegriffen und unterdrückt zu werden, war offenbar zu belastend, weshalb es einfacher war, sie auszugrenzen und von der erwiesenen Realität keine Kenntnis zu nehmen. Von andern wird man sofort abgekanzelt, sobald man auf die Konspiration gewisser Clubs bezüglich Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Kultur hinweist. Wieder andere wollen nichts mehr hören, sobald von der Bedrohung der Menschheit durch den Raubbau in den Regenwäldern, durch die Übernutzung der Meere, durch die Vergiftung der Böden mittels Kunstdünger oder durch unsichere Kernkraftwerke die Rede ist. Bei andern könnte es im Hause spuken, bis nichts mehr niet- und nagelfest ist, bevor sie bereit wären zu akzeptieren, dass jene Phänomene, von denen die Bücher der Parapsychologie voll sind, wirklich existieren. Kassandra war schon den Griechen vor Troja lästig. Noch immer hat man jene, die wirkliche Gefahren voraussahen und warnten, mit dem Satz „Du malst den Teufel an die Wand“ heimgeschickt. Niemand lässt sich gerne in seinen vorgefassten Meinungen durch Realitäten, die seinen Bildern widersprechen, behelligen.

10.13 Sublimation

Bei der Sublimation handelt es sich um die Fähigkeit, für den Verzicht auf verpönte (abgelehnte) Triebe bzw. Wünsche eine ausgleichende Entschädigung hervorbringen zu können. So kann z. B. eine zölibatär lebende Pianistin ihre Libido gewissermassen verwandeln und sie ganz in den Dienst ihrer musikalischen Gestaltung stellen. Oder jemand kann durch irgendwelche Frustrationen sehr aggressiv gestimmt sein, und statt dass er seine Wut an irgend jemandem ausagiert, stürzt er sich in die Arbeit und stellt dann nach ein paar Stunden fest, dass er in kurzer Zeit etwas geschaffen hat, wozu er sich zuvor kaum in der Lage fühlte. Mit andern Worten: Bei der Sublimation wird die psychosexuelle Energie (Libido) neutralisiert und für differenziertere soziale oder kulturelle Leistungen verwendet.

Der Sublimation haftet eigentlich – im Gegensatz zu allen andern Abwehrmechanismen – kein negativer Anstrich an; insofern gehört sie eigentlich auch nicht zu den übrigen Abwehrmechanismen, auch wenn sie wie die andern ubw geschieht. Jedenfalls von einer Selbsttäuschung kann im Ernst nicht gesprochen werden, denn wenn sich die Libido, die ursprünglich z. B. einer sexuellen Befriedigung dienstbar sein könnte, tatsächlich ‘verwandelt’, so zeigt dies eben, dass es zum Wesen des Menschen gehört, auf der Basis der psychischen Energie sozial und kulturell differenziertere Leistungen hervorbringen zu können.

Mit Blick auf die Möglichkeit der Sublimation lässt sich somit die oft gehörte Behauptung, sexuelle Enthaltsamkeit sei grundsätzlich schädlich und mache einen Menschen ‘verklemmt’, nicht durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse rechtfertigen. Das von katholischen Priestern praktizierte Zölibat findet in der Möglichkeit der Sublimation ihre tiefenpsychologische Legitimation. (Eine andere Frage, die hier nicht diskutiert werden soll, ist freilich das Obligatorium zum Zölibat.)

11 Die psychosexuelle Entwicklung

11.1 Übersicht

Nachdem Freud den Sexualtrieb als die Basis des Seelenlebens postuliert (=angenommen, behauptet) und die psychische Energie als Libido gefasst hatte, war es eigentlich nur logisch, die Entwicklung des Menschen vom Säugling bis ins Erwachsenenalter vorwiegend im Hinblick auf die Entwicklung des Sexualtriebs und des sexuellen Erlebens zu betrachten. Natürlich werden dadurch die übrigen Ergebnisse der Entwicklungspsychologie, die von zahllosen Psychologen erarbeitet wurden, nicht gegenstandslos. Freud hat diese vielmehr durch seine Sicht der psychosexuellen Entwicklung um einen Aspekt angereichert. Viele Psychologen (z. B. René Spitz, Erich Erikson u.a.) haben ihre systematischen Beobachtungen bzw. Experimente auf die Basis der Freudschen Theorie gestellt.

Die grundlegende Aussage Freuds besteht in der Behauptung, die Sexualität erwache nicht erst – wie früher allgemein angenommen – mit der Pubertät, sondern der Mensch sei bereits vom ersten Lebenstag an des sexuellen Erlebens fähig und auch darum bemüht, es sich zu verschaffen. Diese Aussage wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts – im sog. viktorianischen Zeitalter, das sich durch besondere Prüderie auszeichnete – als skandalös betrachtet, so dass an einem Kongress deutscher Ärzte (so um 1910 herum) der Vorsitzende – nachdem jemand den Vorschlag gemacht hatte, man möge sich in einem Kongress mit der Freudschen Lehre befassen – empört in die Versammlung schrie: „Meine Herren, das ist keine Sache für die Medizin, das ist eine Sache für die Polizei!“

Freud glaubte, drei frühkindliche Phasen der Sexualentwicklung feststellen zu können, gefolgt von der sog. Latenzzeit und der darauffolgenden Pubertät bzw. Adoleszenz, die ins Erwachsenenalter überleitet:

1. Lebensjahr: Orale Phase

2./3. Lebensjahr: anale (anal-sadistische) Phase

4./7. Lebensjahr: phallische Phase

7./11. Lebensjahr: Latenzzeit

12./16. Lebensjahr: Pubertät

17./21. Lebensjahr: Adoleszenz

Die Altersangaben sind mit grosser Vorsicht zu behandeln, denn sie variieren je nach Milieu, Geschlecht und individuellen Voraussetzungen und sind darüber hinaus dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Auch sind insbesondere die drei frühkindlichen Phasen weniger als ein ‘Hintereinander’ als ein ‘Hinzukommen’ zu betrachten, indem nämlich die vorausgehenden typischen Verhaltensweisen nicht etwa völlig verschwinden, sondern durch neue überlagert werden.

Gegner Freuds werfen ihm vor, einer Spekulation zum Opfer gefallen zu sein, indem er eben in der Entwicklung des Kindes das feststelle, was er im voraus angenommen habe. Wahrnehmungspsychologisch liesse sich ein solcher Einwand insofern begründen, als allgemein festgestellt werden kann, dass man angesichts eines komplexen Phänomens (und das ist der Mensch in hohem Masse) immer Belege für das findet, was man zu finden hofft.

11.2 Die orale Phase

Freud bezeichnet Körperregionen, deren Reizung als besonders lustvoll erlebt wird, als ‘erogene Zonen’. Unter dem Eindruck, dass ein Neugeborenes beim Saugen ganz offensichtlich ein besonders grosses Wohlbehagen erlebt und es gewissermassen ganz in seinem Saugen aufgeht, beschrieb Freud das Lusterlebnis beim Saugen als sexuelles Erleben. Demgemäss ist die erste erogene Zone während des 1. Lebensjahres der Mund, weshalb Freud diese Zeit als ‘orale Phase’ (os = der Mund; oral = mündlich) bezeichnete. Im weiteren Sinne betrachtete er die ganze Haut als erogene Zone, d.h. – negativ ausgedrückt – das Lusterleben hat sich noch nicht auf die Reizung der Genitalorgane konzentriert.

Freud erkannte, dass das Aufnehmen, das Einverleiben von irgend etwas als eine grundlegende Lebensgebärde (Modalität) verstanden werden kann, die zeitlebens von zentraler Bedeutung ist. Er war der Überzeugung, dass die bestimmte Art, wie das Kind das Einverleiben während des 1. Lebensjahres erlebt, das gesamte Verhältnis des betreffenden Menschen zur Modalität des Einverleibens und Aufnehmens prägt. Erlebt z. B. ein Säugling, dass er immer zuerst sehr lange und intensiv schreien muss, bis er seinen plagenden Hunger stillen und saugen kann, so entsteht dadurch eine gestörte Beziehung zu allem, was im Leben irgendwie mit Aufnehmen – z. B. auch mit Lernen – zu tun hat. Solche Menschen werden oft durch das Grundgefühl gepeinigt, immer zu kurz zu kommen, was sich in allen möglichen Formen von Gier äussern kann. Diese Haltung kann auch die Grundlage für viele Formen von Süchtigkeit sein: Im Rauchen und Trinken ist die orale Gebärde ganz offensichtlich, aber auch jeder andere Rauschzustand (z. B. durch andere Drogen) kann verstanden werden als Versuch, sich einlullen zu lassen, d.h. in jenen frühkindlichen Zustand der Geborgenheit und des Noch-keine-Verantwortung-tragen-Müssens zurücksinken zu können. Oral gestörte Menschen haben oft entweder etwas lästig Aufsaugendes an sich (sie klammern sich beispielsweise in ungesunder Weise an alle Mitmenschen und haben wenig Sinn für ein gewisses Distanzbedürfnis der andern), oder dann verweigern sie reflexartig alles Neue, das sie stets als Bedrohung empfinden, und sagen in einer krankhaften Selbstbewahrungstendenz chronisch nein.

Die Psychoanalyse – nicht zuletzt im Gefolge von Erikson und Spitz – betont immer wieder die grosse Bedeutung des 1. Lebensjahres für die gesunde Lebensentwicklung und zeigt auf, dass ein Mensch, der sich in der oralen Phase von den Eltern, insbesondere von der Mutter, angenommen und emotional geborgen fühlt und der die Grunderfahrung macht, dass seine Bedürfnisse mit aller Selbstverständlichkeit befriedigt werden, das sog.Urvertrauenausbildet. Dieses Urvertrauen begründet für das ganze Leben eine Grundgestimmtheit, die dazu ermutigt, sich den Anforderungen des Lebens gegenüber positiv einzustellen und sein Wirken als sinnvoll zu erleben. Fühlt sich hingegen das Kind abgelehnt, muss es auf eine geregelte Pflege und Ernährung durch die Mutter verzichten, wird es gar vernachlässigt oder geschlagen (was leider vorkommt) und erfährt es zu wenig oder keinen natürlichen Körperkontakt mit den Eltern, so entwickelt sich das sog.Urmisstrauen,eine Grundgestimmtheit des Pessimismus, die zu chronischer Verweigerung, zu Versagertum und zur Selbstablehnung führt.

Das 1. Lebensjahr ist auch jene Zeit, in welcher der primäre Narzissmus – der Zustand der völligen Auf-sich-selbst-Gerichtetheit der Libido – überwunden wird zu Gunsten von Objekt-Bildungen. Als erstes Objekt, welches der Säugling mit Libido besetzt, gilt Freud die Mutterbrust. Im Erleben, dass sie nicht immer verfügbar ist, entwickelt sich im Kind das Gefühl einer Scheidung zwischen ihm selbst und der Welt. Gleichzeitig entsteht aber auch eine tiefsitzende ambivalente (doppelwertige) Beziehung zur Mutter, denn einerseits erfährt das Kind die Mutter als nährend (die Bedürfnisse befriedigend), andererseits als versagend (die Bedürfnisbefriedigung verweigernd). Eine ähnlich ambivalente Beziehung bildet sich später auch zum Vater, weshalb die Elternbeziehung grundsätzlich als ambivalent und somit als problembehaftet zu betrachten ist.

Der amerikanische Psychoanalytiker René Spitz hat sich in besonderer Weise mit dem 1. Lebensjahr beschäftigt. So stellte er fest, dass das ‘Fremden’ im Alter von ca 8 Monaten (Spitz: ‘Acht-Monate-Angst’) darauf beruht, dass das Kind jetzt in der Lage ist, verschiedene Gesichter voneinander zu unterscheiden, wogegen es früher offensichtlich alle Antlitze als der Mutter gehörend interpretierte.

Im Zuge seiner Forschungen hat sich Spitz besonders mit dem Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Mutter und den Auswirkungen beim Kinde befasst. Er hat 6 verschiedene krankhafte Einstellungen der Mutter zum Muttersein oder zum Kinde festgestellt, welche beim Kind zu psychischen Schädigungen führen:

1. Die unverhüllte Ablehnung

2. Die ängstlich übertriebene Besorgnis

3. Eine in Ängstlichkeit verwandelte ubw Feindseligkeit

4. Ständiges Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit

5. Zyklische Stimmungsschwankungen der Mutter (Launenhaftigkeit)

6. Kompensierte Feindseligkeit (z. B. durch Verwöhnen kompensiert)

Spitz stellte jeweils ganz spezifische Schädigungen fest. So führt gemäss seinen Beobachtungen die ängstlich übertriebene Besorgnis zur sog. ‘Dreimonate-Kolik’ oder das Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit zum bekannten Schaukeln (‘Gagele’).

Berühmt geworden sind die Spitz’schen Untersuchungen von Kindern einerseits in einem Findelhaus, wo diese durch häufig wechselnde Wärterinnen betreut wurden und in einer sehr reizarmen Umwelt (weiss und steril) lebten, und andererseits in einem Frauengefängnis, in welchem sich die Mütter ganz ihren Kindern widmen und sie selber stillen und pflegen konnten. Er stellte sehr deutliche Entwicklungsunterschiede fest: Die Kinder im Frauengefängnis gediehen wunderbar, waren selten krank, entwickelten eine überdurchschnittliche Intelligenz und waren – wie man so sagt – ‘purlimunter’. Bei den Kindern im Findelhaus hingegen musste er leider nicht nur häufige Erkrankungen, sondern ziemlich viele Todesfälle feststellen, und mehr oder weniger alle Kinder fielen auf durch verschiedene Störungen und Anzeichen gehemmter Entwicklung. Viele zeigten deutliche Symptome von Debilität (erster Grad des Schwachsinns).

Spitz stellte sodann fest, dass Kinder, die von klein auf in Spitälern aufwachsen und einer reizarmen, sterilen Umwelt sowie einer gewissen Massenabfertigung beim Schöppeln und Trockenlegen ausgesetzt sind, dieselben Symptome zeigen wie die untersuchten Kinder im Findelhaus. Spitz bezeichnete daher das beschriebene Krankheitsbild als ‘Hospitalismus’. Besonders gefährdet sind insbesondere Kinder, die zwischen dem 6. Lebensmonat und 3 Jahren hospitalisiert sind. Sie zeichnen sich oft aus durch:

  • Kontaktarmut, Apathie
  • verzögertes Gehen- und Sprechenlernen
  • soziale Anpassungsschwierigkeiten
  • intellektuelle Entwicklungsrückstände
  • gesteigerte Krankheitsanfälligkeit
  • erhöhte Sterblichkeit
  • Passivität, Interesselosigkeit
  • stereotype Bewegungen

Als Spätfolgen treten die bekannten Auswirkungen einer gestörten oralen Phase auf: Süchte, Zurückschrecken vor Lebensaufgaben, Gierigkeit, mangelnde Initiative.

11.3 Die anale Phase

Freud ist der Ansicht, dass das Kind ab dem 2. Lebensjahr den Darmausgang (Anus) als wichtigste erogene Zone erlebt. Es kann seit einiger Zeit sitzen, und die Eltern setzen es, um nicht ohne Not braune Windeln waschen zu müssen, von Zeit zu Zeit aufs Töpfchen. Das Kind ist nun zunehmend in der Lage, die Darmentleerung willentlich zu steuern, d.h. die Sache entweder zurückzuhalten oder loszulassen. Offensichtlich ermöglicht ihm dies eine neue Weise des Lustgewinns. Als Vater von 5 Kindern weiss ich auch, dass Kinder dieses Alters ihren Kot mit ungebändigter Lust als Modelliermasse benutzen, damit auch Bett und Wände bemalen und ihn ohne weiteres in den Mund stopfen. Man sei also gewarnt: Wenn es so seltsam still ist im Kinderzimmer und man weiss, dass das Kleine nicht gerade schläft, mache man sich auf gewisse Überraschungen gefasst.

Analog zur oralen Modalität erkennt Freud in diesem konkreten körperlichen Vorgang gewissermassen das Grundmodell einer allgemeinen Lebensgebärde: derModalität des Besitzens und Hergebens. Tatsächlich stellt sich dem Menschen als einem Wesen, das aufnimmt und einverleibt, logischerweise auch die Aufgabe, zu entscheiden, was und wieviel behalten und was ausgeschieden (losgelassen) werden soll. Das betrifft materielle Güter genauso wie psychische Verhaftungen und geistige ‘Besitztümer’. Nach Ansicht der Psychoanalyse wird das Verhältnis zu diesen Lebensaufgaben in der frühen Kindheit emotional grundgelegt, und zwar eben im körperlichen Erleben eines Vorgangs, der gewissermassen das Grundmodell ist für alles andere, wo auch Behalten oder Hergeben-Müssen bzw. Hergeben-Wollen zur Diskussion steht.

In diesem Zusammenhang weist die Psychoanalyse auf eine gewisse Wesensverwandtschaft zwischen Fäkalien und materiellem Besitz hin. So sagt man etwa von einem Geizhals, er ‘hocke auf seinem Geld’, arme Menschen wünschen sich einen ‘Geldscheisser’, im Märchen vom Tischlein-Deck-dich scheisst der Goldesel auf den Befehl ‘Briklebrit’ tatsächlich Goldstücke, und wenn jemand um Geld betrogen wurde, ist er ‘beschissen’ worden.

Freud weist darauf hin, dass das Kind mit seiner nun entstehenden Fähigkeit der Kontrolle über die Defäkation zumErlebnis der Machtüber die Eltern kommt. Insofern es seine Macht geniesst, keimen erste Gefühle des Sadismus auf, weshalb Freud diese Phase auch als ‘anal-sadistische’ Phase bezeichnet. Man könnte somit sagen: Psychische Themen, welche in der analen Phase gefühlshaft grundgelegt werden, sind das Verhältnis zum Besitz, zur Macht, zum Behalten und Hergeben und damit auch zur Ordnung.

Störungen in der analen Phase führen logischerweise zu gestörten Beziehungen zu den oben erwähnten Themen. Es bilden sich entweder Geiz oder Verschwendungssucht, chaotisches Gebaren oder übertriebene Ordnungsliebe, Eigensinn und zwanghaftes Verhalten heraus.

Kluge Eltern lassen der Schmutzlust der Kleinen in der analen Phase den ihr gebührenden Raum, indem sie ihnen Fingerfarben geben und sie im Garten mit nassem Sand und nasser Erde so richtig ‘dräckele’ lassen. Unkluge Eltern versuchen mit lieblosem Druck, ihre Kinder so früh wie möglich ‘sauber’ zu bekommen, um damit ihren eigenen Ehrgeiz zu befriedigen. – Selbstverständlich sind diese beiden Knaben nicht mehr in der analen Phase, doch zeigt das Bild (wie übrigens auch die eine oder andere Sexualpraktik), dass die psychosexuelle Entwicklung weniger als ein Hintereinander denn als ein Hinzukommen neuer Phänomene zu verstehen ist.

Alle sog. Zwangsneurosen haben ihren Ursprung in dieser Phase. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang spricht die Psychoanalyse von einem ‘analen Charakter’ und meint damit einen Typ, der überkontrolliert ist, zu fixen Ideen neigt, sich nirgends anpassen kann, stets recht haben muss und gewiss nicht ‘Fünfe gerade sein lassen’ kann.11.4 Die phallische Phase

Nach Freud verlagert sich in dieser Phase die erogene Zone auf die Genitalien. Dass er diesen Lebensabschnitt generell nach dem männlichen Glied (Phallus) benennt, haben ihm Frauen immer wieder übel genommen. Seine Verteidigung, dass sich in der embryonalen Entwicklung die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane lange nicht unterscheiden und sich später das, was beim Knaben zum Phallus wird, beim Mädchen zur Klitoris entwickelt, irritiert dann viele (nicht nur Frauen) noch mehr, denn daraus leitet sich – betrachtet man die Sache rein quantitativ – die Ansicht ab, die Frau sei, sexuell betrachtet, ein unvollkommener Mann.

Die Sache wird dann noch problematischer, wenn Freud feststellt, dass die Kinder dieses Alters ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit entdecken (sie spielen in diesem Alter oft ‘Dökterlis’ und befriedigen so ihre Neugierde bzw. ihre Lust, sich andern zu zeigen: Voyeurismus und Exhibitionismus) und dann das Mädchen sieht, dass ihm etwas fehlt, was der Vater oder der Knabe hat. Freud vertritt nämlich die Ansicht, dass im Mädchen, selbstverständlich ubw, eine Verärgerung darüber entsteht, dass ihm etwas fehlt, und er nennt dieses Gefühl den‘Penisneid’.

Der Knabe indessen hat zu solchem Neid keinen Anlass, sondern beginnt – was man tatsächlich sehr oft beobachten kann – in diesem Alter mit seinem Glied zu imponieren (Imponiergehabe). Freud erfuhr in seinen zahlreichen Analysen, die er mit männlichen Klienten durchführte, dass damals offensichtlich den meisten Knaben von ihren sittenstrengen Erzieherinnen und Erziehern gedroht wurde, man würde ihnen das Glied abschneiden, wenn sie weiterhin damit spielten. Er glaubt dann, dass ein Knabe, belastet mit dieser Drohung, tatsächlich annimmt, dass z. B. seine Schwester oder seine Mutter früher noch einen Phallus hatten, ihn aber eben durch Kastration einbüssten. Dem Penisneid des Mädchens entspricht seitens des Knaben somit die – ebenfalls ubw –‘Kastrationsangst’.

So wie in der oralen Phase das Saugen zum Urmodell wird für alles, was im ganzen Leben irgendwie mit Einverleiben zu tun hat, und so wie auch in der analen Phase das Behalten oder Hergeben der Exkremente die emotionale Gestimmtheit betreffend Besitzen und Loslassen (Hergeben, Ausgeben) präformiert, ebenso wird die Art und Weise, wie das Kind in der phallischen Phase die Bedeutung des eigenen Geschlechts erlebt, ganz allgemein zum Urmodell desDominanzverhaltens. Eine allgemeine Haltung des Kampfs gegen oder der Unterwerfung unter das andere Geschlecht ist zumeist auf Störungen in der phallischen Phase zurückzuführen.

Im Zuge der Verlagerung des sexuellen Interesses auf die Genitalien und der Entdeckung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen spielt sich in der phallischen Phase nach Freud ein zentrales ubw psychisches Geschehen ab, das er denÖdipuskomplexnennt. Diese Benennung bezieht sich auf jene griechische Sage, wonach es das tragische Geschick von König Ödipus war, seine eigene Mutter zu ehelichen, ein – wenn auch unwillentlich begangenes – Verbrechen, das der unglückliche König dadurch zu sühnen hoffte, dass er sich selbst die Augen ausstach.

Der Ödipuskomplex spielt in der Freudschen Psychoanalyse eigentlichdiezentrale Rolle. Freuds Gedankengänge sind äusserst kompliziert; ich muss hier – wie dies meist geschieht – stark vereinfachen. Grundsätzlich geht es um die Beziehung zwischen Kind und Eltern, primär um die Beziehung zwischen dem Kind und dem gegengeschlechtlichen Elternteil. Ich beschreibe hier diesen ubw Vorgang, wie er sich beim Knaben ereignet (beim Mädchen geschieht dies ungefähr spiegelbildlich):

Der Knabe entwickelt während der phallischen Phase den ubw Triebwunsch, sich mit der Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Damit beginnt er, den Vater als seinen Rivalen zu betrachten, und er phantasiert (immer ubw), dieser könnte sich durch Kastration rächen. Mit andern Worten: Die Kastrationsangst wird aktiviert. Im Zuge dieser Rivalität entwickelt der Knabe gegenüber dem Vater auch Todeswünsche, was – neben der bereits beschriebenen Angst – tiefsitzende Schuldgefühle entstehen lässt. Es gilt nun beides, die Ängste und die Schuldgefühle, abzuwehren, und dies geschieht mit dem früher beschriebenen Abwehrmechanismus der Identifikation. Indem sich der Knabe mit dem Vater identifiziert, setzt er sich gewissermassen an seine Stelle und muss ihn damit einerseits nicht mehr fürchten und hat andererseits Anteil an dessen Vorrechten gegenüber der Mutter.

Die geglückte Identifikation des Knaben mit dem Vater bezeichnet Freud als ‘Lösung des Ödipuskomplexes’ . Sie hat sehr bedeutsame Folgen, denn im Zuge dieser Identifikation übernimmt der Knabe die Norm- und Wertvorstellungen des Vaters und – so Freud – damit auch der Gesellschaft. Diese introjizierten Norm- und Wertvorstellungen stellen dann das dar, was Freud als‘Über-Ich’bezeichnet.

Beim Mädchen handelt es sich darum, dass es lernt, die Penislosigkeit zu akzeptieren. Gelingt ihm das, so kann es sich – analog zum Knaben – leicht mit der Mutter identifizieren und so auch seine eigene ‘Geschlechtsrolle’ annehmen. Kann es die Penislosigkeit nicht akzeptieren, so führt dies nach psychoanalytischer Erkenntnis zum ‘Männlichkeitskomplex’, dem krankhaften Bestreben, so zu sein wie der Mann.

Gestörte eheliche Beziehungen, dieAbwesenheit eines ElternteilsoderFehlreaktionen eines Elternteils gegenüber dem Kindkönnen die Ursache dafür sein, dass die Identifikation nicht schlank gelingt, und es ist Freuds Überzeugung, dass ein schlecht oder nicht gelöster Ödipuskomplex die Hauptursache für verschiedenste neurotische Störungen darstellt. Die Bearbeitung des Ödipuskomplexes steht daher in einer klassischen Freudschen Analyse zumeist im Mittelpunkt.

Ein nicht oder schlecht gelöster Ödipuskomplex wirkt sich erfahrungsgemäss negativ aus in der späteren Partnerbeziehung. Männer suchen dann häufig – je nachdem, wie sie die Mutter in jener Zeit erfahren haben – entweder eine viel ältere Partnerin oder entwickeln grundsätzlich Angst vor einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Frauen neigen zum Kampf gegen den Mann und alles Männliche oder Väterliche (man spricht dann etwa von einer ‘kastrierenden Frau’) oder verbinden sich ebenfalls mit einem viel älteren Partner. In meiner eigenen Beratertätigkeit ist mir eine ganz bestimmte Konstellation immer wieder begegnet: Wenn die elterliche Beziehung gestört ist, neigt der Vater dazu, den Werbungen der Tochter (die auch während der Schulzeit und in der Pubertät andauern) auf eine ungesunde Weise entgegenzukommen, indem er sich einerseits einen erotischen Ersatz für das sucht, was er bei der eigenen Gattin nicht erhält, andererseits aber immer wieder – will er mit Moral und Gesetz nicht in Konflikt kommen – schroffe Grenzen setzt. Das führt dazu, dass die Tochter nicht nur den Vater sehr ambivalent erfährt, sondern auch von der Mutter instinktiv als Rivalin empfunden wird und darum von ihr meist abgelehnt wird, was das problematische und geheime Bündnis mit dem Vater erneut verstärkt. In ihren späteren Partnerschaften pflegt dann eine solche Tochter ihre Vaterbeziehung in den Partner zu projizieren. Das bedeutet vorerst einmal, dass sie in ihm den Vater sucht, aber im Sexualleben sehr bald mit Schuldgefühlen (in der Vater-Projektion erscheint ihr die sexuelle Beziehung zum Partner ubw als Inzest) und entsprechender Verweigerung reagiert. Ferner hat sie ja den Vater als eine Person erlebt, die wechselnd anzieht und zurückstösst, und nun wird sie vom Zwang tyrannisiert, dieses Anziehen und Zurückstossen beim Partner zu wiederholen und damit Macht auf ihn auszuüben. Schliesslich läuft dies alles darauf hinaus, als ob sich die solcherart psychisch leidende Tochter an den Männern, die sich mit ihr partnerschaftlich einlassen, für die vom Vater erlittenen Frustrationen gewissermassen rächen möchte. Dass dies alles ubw geschieht, versteht sich von selbst.

11.5 Die Latenzzeit

Nach psychoanalytischer Auffassung tritt etwa im Alter von 6/7 Jahren (nach meinen Beobachtungen erst etwas später, etwa in der 2./3. Klasse) bis hin zur Pubertät das sexuelle Interesse des Kindes zurück. Die Sexualität schläft gewissermassen; sie verharrt in der Latenz. Das zeigt sich u.a. darin, dass sich z. B. in der Schule die Kinder fast selbstverständlich geschlechtsspezifisch gruppieren, ja sich betont vom andern Geschlecht distanzieren. Aus der Sicht der Knaben sind dann die Mädchen blöd, und aus der Sicht der Mädchen stinken die Knaben (oder Ähnliches).

Hier ist vielleicht eine Bemerkung am Platze, die für die gesamte Freudsche Theorie der kindlichen Sexualentwicklung gelten kann: In allem stellt sich nämlich die Frage, wie sehr die von der Psychoanalyse beobachteten Phänomene allgemein als zur Natur des Menschen gehörend zu betrachten sind oder aber aufgefasst werden können als Verhaltensweisen in einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation. Angesichts der Tatsache, dass heute, wo jedes Kind schon via Fernsehen (wenn es lange genug aufbleibt) mit allen möglichen Formen sexueller Praxis vertraut werden kann, viele Kinder auf der Unter- und Mittelstufe fast ständig über Sexualität reden und mehr oder weniger geschmackvolle Witze machen, darf man wohl Freuds Theorie von der Latenzzeit zumindest etwas relativieren.

11.6 Genitale Phase: Pubertät, Adoleszenz, Erwachsenensexualität

Die Pubertät ist im wesentlichen jener Abschnitt in der Entwicklung des jungen Menschen, in dem sich die kindliche Existenzweise in jene des Erwachsenen umbildet. Ein bedeutsamer Aspekt dieser Umstrukturierung der Persönlichkeit ist das Erreichen derGeschlechtsreife. Beim Mädchen tritt sie ein mit der ersten Menstruation, beim Knaben mit der ersten Pollution (Samenerguss). Freud nennt diesen Stand der Entwicklung ‘genitale’ Phase (selbst in der Fachliteratur trifft man gelegentlich auf eine Verwechslung mit der ‘phallischen’ Phase).

Die Geschlechtsreife führt in der Regel auch zu einer veränderten Einstellung gegenüber dem andern Geschlecht. Was sich zuvor oft deutlich abstiess, stösst sich oft bloss noch zum Schein ab (Pubertierende suchen Streit mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen, um mit ihnen balgen zu können) oder zieht sich an.

Die psychischen Veränderungen, welche die Pubertät mit sich bringt, sind ausserordentlich tiefgehend und vielfältig und betreffen die ganze Persönlichkeit. Ich beschränke mich hier auf die erwähnten psychosexuellen Aspekte.

12 Die Traumdeutung

12.1 Freuds Buch

Obwohl die erste Auflage von Freuds wichtigstem Buch ‘Die Traumdeutung’ bei ihrem Erscheinen kaum besondere Beachtung fand, war sich Freud offensichtlich der epochemachenden Bedeutung seines Buches bewusst. Es erschien im Oktober 1899, aber Freud datierte es voraus auf 1900 und setzte unter den Titel das rebellische Motto „Flectere si nequeo superos, Acheronta moveba“ („Und können wir uns die Götter nicht geneigt machen, so lasst uns die Unterweltlichen bewegen.“ – ein Zitat aus der Antike). Neben den ‘Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie’ (1905), die er ebenfalls jeweils dem neuesten Stand seiner Theorieentwicklung anpasste, ist ‘Die Traumdeutung’ jenes Buch, dem er am meisten Sorgfalt angedeihen liess und das er selbst in acht jeweils veränderten und dem neuesten Entwicklungsstand angepassten Auflagen erscheinen liess. (In der Fischer-Ausgabe fasst das Buch 700 Seiten.)

Im ganzen Buch ist auf Schritt und Tritt Freuds Bemühen erkennbar, den Traum als einen Prozess zu begreifen, der nach strengen Regeln aufgebaut ist und der deshalb, sobald man die Regeln kennt, mehr oder weniger eindeutig ‘lesbar’ ist. Im folgenden sei der Versuch gemacht, einige der wichtigsten Regeln und damit die Freudsche Auffassung der Funktionsweise des Traumes darzustellen.

12.2 Zweck und Wesen des Traumes

Nach Freud kommt dem Traum zuerst einmal eine rein physiologische Bedeutung zu: Er ist ‘der Hüter des Schlafs’. So ermöglicht der Traum, irgendwelche Umwelt- oder organischen Reize umzudeuten und in den Schlaf einzubauen. Verbreitet ist denn auch die Erfahrung, dass der Wecker schellt und man dann von einem Pressluftbohrer oder Ähnlichem träumt – und selig weiterschläft. Ähnliches kann passieren, wenn die gefüllte Blase zur Entleerung drängt und man dann träumt, man besuche ein Pissoir …

In psychologischer Hinsicht ist nach Freud der Traum ganz allgemein „die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches.“ Insofern der Wunsch verdrängt ist, handelt es sich folglich beim Traum um eine Manifestation des Es. Freud geht davon aus, dass im Schlaf das Ich hochgradig geschwächt ist, d.h. dass die Libido von der Motorik und der Sinneswahrnehmung weitgehend zurückgezogen ist. Das Es nützt gewissermassen die Gunst der Stunde und dringt mit seinen Inhalten ins Traumbewusstsein und – via Rückerinnerung an den Traum – ins Bw ein. Da aber das Ich während des Schlafs bloss geschwächt, aber nicht völlig ausser Funktion ist, stellt es sich gegen eine unverhüllte Offenbarung des Verdrängten aus dem Es und zwingt den geheimnisvollen Regisseur des Traums, den unbewussten, verdrängten Wunsch zu verschleiern und ihn in solche Bilder zu kleiden, die dem Bw aus der Sicht des verdrängenden Ichs als akzeptabel erscheinen.

So gesehen, ist jener Traum, an den wir uns beim Erwachen erinnern, nie genau das, was eigentlich das Es zum Ausdruck bringen wollte, sondern stellt stets einenKompromissdar zwischen dem Es-Impuls und der Gegenwehr des Ich. Das Ich amtet demzufolge beim Zustandekommen eines konkreten Traumbildes alsZensor.

Freuds Ansicht,jederTraum sei eine unbewusste Wunscherfüllung, ist immer wieder angezweifelt worden. Auf Anhieb scheinen all jene Träume, welche der Träumer als sehr belastend empfindet, den Kritikern recht zu geben. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich aber einwenden, dass ja nicht der manifeste, sondern eben der latente Traum die Wunscherfüllung darstellt und dass die Zensur durch das Ich in einzelnen Fällen offenbar derart gross ist, dass der verdrängte Es-Wunsch eine geradezu gegensätzliche Gestalt annehmen muss, um sich manifestieren zu können. Darüber hinaus entspricht es durchaus der psychoanalytischen Auffassung, dass im Es die skurrilsten Wünsche, die der Selbsterhaltung vollkommen entgegenstehen, vorhanden sein können. Wer kennt nicht z. B. die Angst, man könnte sich selbst plötzlich in die Tiefe stürzen wollen, wenn er von einer sehr hohen Brücke hinunterschaut. Diese Angst ist nur verständlich, weil im Es offensichtlich solche Wünsche lauern. Auch autoaggressive Wünsche mit dem Zwecke der Abwehr von Schuldgefühlen können zu sehr belastenden Traumbildern führen.

Mit diesen Entgegnungen ist aber der Zweifel an Freuds Position nicht aus der Welt geschafft, denn es könnte ja immerhin sein, dass zwar ein grosser Teil, aber eben doch nicht alle Träume Wunscherfüllungen darstellen. Am ehesten lässt sich noch Jungs Ansatz, der Traum habe stets eine kompensatorische Funktion, gleiche also das aus, was im bw Leben nicht ausgelebt werden könne, mit der Freudschen Behauptung in Einklang bringen, denn das Bedürfnis, ungelebte Seiten der Persönlichkeit im Traum ersatzweise zu leben, kann sehr wohl generell als Wunscherfüllung deklariert werden.

Anderer Ansicht ist da beispielsweise Medard Boss, der im Traum eine vollwertige Weise des Seins sieht und es darum als verfehlt betrachtet, gewissermassenhinterden Traum sehen zu wollen. Für ihn ist der Traum die Sache selbst, und es gilt, das Wesen einer sich im Traum manifestierenden Seinsweise zu erkennen, um auf diese Weise ein Stück der Existenz des Träumers zu erhellen.

Ich selbst habe, wenn ich dies hier anmerken darf, mit jeder Hypothese Mühe, die irgend etwas absolut setzt und damit jede andere Möglichkeit schon im Ansatz theoretisch abweist. Ich lehne grundsätzlich jede Erklärungs-Hypothese ab, die einem möglichen Phänomen den Erweis seiner Existenz von vornherein verwehrt. Es entspricht denn auch meiner Erfahrung mit der Traumdeutung, dass sich mancher Traum einleuchtender deuten lässt, wenn man ihn nicht partout als Wunscherfüllung verstehen will.

12.3 Latenter und manifester Traum, Traumdeutung und Traumarbeit

Jenen Traumgedanken, der im Es vorhanden ist und sich im Träumen darstellen möchte, nennt Freud denlatentenTraum. Jenen Trauminhalt, der durch die Einwirkung der Ich-Zensur entstellt wurde, bezeichnet Freud alsmanifestenTraum. Wenn also jemand einen Traum erinnert oder erzählt, so handelt es sich dabei stets um den manifesten Traum. Der latente Traum kann erst sekundär via Traumdeutung entdeckt werden.

DieTraumdeutungist folglich die Umkehrung jenes Prozesses, der die Umwandlung des latenten in den manifesten Traum bewerkstelligte. Freud nennt diesen Verwandlungs-Prozess, der den Traumgedanken in die visuellen und akustischen Bilder umsetzt,Traumarbeit.Es ist folglich ganz einfach: Die Traumarbeit macht aus dem latenten Traum den manifesten, und die Traumdeutung geht diesen Weg wieder zurück und entdeckt im manifesten Traum den ursprünglichen latenten Traum.

Um die weiteren Begriffe leichter erklären zu können, stelle ich an den Anfang ein Beispiel eines möglichen manifesten Traums:

Ein Lehrer träumt, er fahre mit einem rostigen VW zur Schule, überfahre unterwegs ein Huhn, werde dann von den Schülern nicht wie gewohnt freundlich begrüsst, sondern tätlich angegriffen, gehe dann seine Mappe suchen, die er im Auto vergessen habe, dieses habe sich aber unterdessen in einen dreibeinigen Ofen verwandelt, aus dem schwarzer Rauch aufsteige, und wie er ins Schulzimmer zurückkehren wolle, sei dieses plötzlich eine Kirche, in welcher die Frau des Schulabwarts die Messe lese.

In diesemmanifesten Traumfindet sich eine Fülle vonElementen:Lehrer, Autofahren, VW, Rost, Schule, Huhn, Huhn überfahren usf. ‘Den Traum deuten’ heisst nun, einen Traumgedanken zu finden, in welchem alle diese Elemente eine Entsprechung haben, für die sie als Stellvertreter gelten können. Sollte sich z. B. herausstellen, dass mit dem rostigen VW die leichte körperliche Invalidität des Lehrers ausgedrückt ist, dass das überfahrene Huhn seine eigene Frau bedeutet, mit der er in unglücklicher Ehe lebt, und dass es sich bei seinen Schülern um seine eigenen Kinder handelt, die ihn kürzlich aufgefordert haben, mit seiner Gemahlin ins reine zu kommen usf., so liegen hier Beispiele vonElementen aus dem latenten Traumvor.

Die grundlegendste Form der Traumarbeit ist folglich dieEinkleidung eines Gedankens bzw. der einzelnen Elemente eines Traumgedankens in Bilder, die in irgend einem erkennbaren Zusammenhang mit den latenten Traumelementen stehen. Der Zusammenhang kann imWesen der Sache selbstliegen. Wenn jemand von ‘in die Schule gehen’ träumt, kann damit ganz allgemein die Lebensschule gemeint sein. Solche Deutungen sind im allgemeinen einfach, und auch der Aussenstehende kann sich an der Deutungsarbeit beteiligen. Sehr oft aber ist der Zusammenhang zwischen dem latenten und dem manifesten Traumelement in der konkreten Lebensgeschichte des Träumers begründet. So kann sich z. B. herausstellen, dass der Träumer in obigem Beispiel die Frau des Schulhausabwarts am gestrigen Sonntag in der Kirche sah und dass ihm seine Frau ‘die Leviten las’, und es ist klar, dass man erst dann einen wirklichen Zugang zum Traum findet, wenn man vom Träumer diese Erlebnisse mitgeteilt bekommt. Das ist der Grund weshalb Freud nichts hielt von reinen Fremddeutungen und seine Analysanden zu jedem einzelnen Element des manifesten Traumes frei assoziieren liess. (Dieser Methode der freien Assoziation wurde dann z. B. von Jung entgegengehalten, dass dadurch eigentlich nicht der Traum gedeutet werde, sondern dass – via freie Assoziation – in aller Regelmässigkeit bloss die neurotischen Züge des Träumers sichtbar werden; diese würden sich nämlich beim freien Assoziieren stets zeigen, ganz gleich, von welchen Bildern, Begriffen oder Gegenständen man ausgehe.)

Im Rahmen dieses Verwandelns von latenten Traumelementen in manifeste Traumbilder unterscheidet Freudfünf spezielle Formen der Traumarbeit:

1. Freud hat festgestellt, dass in der Regel nicht – wie in meinem konstruierten Beispiel – schön ein Element aus dem manifesten Traum einem andern Element im latenten Traum entspricht, sondern dass sich mehrere Elemente des latenten Traumes in einem einzigen Element des manifesten Traumes vertreten lassen können. Und auch das Umgekehrte ist möglich: dass nämlich ein einziges Element des latenten Traumes in mehreren Elementen des manifesten Traumes vorkommt. Freud nennt diesen Vorgang der TraumarbeitVerdichtung.Es könnte also sein, dass ‘des Lehrers Gemahlin’ (Element des latenten Traums) sowohl im Huhn als auch im Ofen und in der Frau des Schulhausabwarts ihre Entsprechung im manifesten Traum findet und dass andererseits im manifesten Traumelement ‘rostiger VW’ die körperlichen Beschwerden, die unerquickliche Situation am Arbeitsplatz und das angeschlagene Image beim Volk (Volkswagen) gleichzeitig ausgedrückt sind.

2. Eine zweite Form der Traumarbeit ist dieVerschiebung.Es handelt sich dabei um eine Gewichtsverlagerung hinsichtlich der Bedeutsamkeit eines Elements. So kann auf Anhieb in unserem Beispiel z. B. der rauchende Ofen als sehr wichtig erscheinen, aber bei einer genauen Analyse zeigt sich, dass z. B. das Detail, dass er genau drei Beine hat, sehr wichtig ist.

3. Eine weitere Form der Traumarbeit ist dieVerkehrung ins Gegenteil. So kann jemand träumen, dass er seine Sekretärin schlägt, und die Analyse zeigt dann, dass er sich ubw genau das Gegenteil wünscht (was immer das bedeuten mag).

4. Des weiteren scheint sich der Traumregisseur einen Spass daraus zu machen, demWortlauteiner Sache eine besondere Bedeutung beizumessen. So kann jemand von einemMantel träumen, und gemeint ist derMann, oder jemand träumt vom KlassenkameradenPeter Bischof, und gemeint ist derBischof Petrus, nämlich der Papst und damit die Beziehung zur Kirche und zur Religion. Und wenn jemand träumt, er reisegen Italien, so dürfte dies tatsächlich mit den Genitalien im Zusammenhang stehen. Ich selbst habe die Erfahrung (an mir und andern) gemacht, dass uns der ‘Traumregisseur’ (wer und was das immer sei) viele solche Deutungen anbietet, sobald ‘er gemerkt’ hat, dass wir bei der Deutung darauf achten.

5. Schliesslich vertritt Freud die Ansicht, dass bestimmten Gegenständen feststehendeSymbolezugeordnet werden können. So schreibt Freud (Fischer-/Ex Libris-Ausgabe der ‘Traumdeutung’ S. 348), nachdem er auf die Vieldeutigkeit von Traumelementen hingewiesen und sich gegen eine starre Anwendung der Traumsymbole verwahrt hat: „Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist die Eltern des Träumers dar, Prinz oder Prinzessin ist er selbst. Dieselbe hohe Autorität wie dem Kaiser wird aber auch grossen Männern zugestanden, darum erscheint in manchen Träumen z. B. Goethe (heute wohl eher Freud; AB) als Vatersymbol. Alle in die Länge reichenden Objekte, Stöcke Baumstämme, Schirme (des der Erektion vergleichbaren Aufspannens wegen!), alle länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das männliche Glied vertreten. Ein häufiges, nicht recht verständliches Symbol desselben ist die Nagelfeile (des Reibens und Schabens wegen?). – Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefässen. Zimmer im Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schilderung ihrer verschiedenen Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gerade nicht irre. Das Interesse, ob das Zimmer ‘offen’ oder ‘verschlossen’ ist, wird in diesem Zusammenhange leicht verständlich. Welcher Schlüssel das Zimmer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu werden; die Symbolik von Schloss und Schlüssel hat Uhland im Lied vom ‘Grafen Eberstein’ zur anmutigsten Zote gedient. – Der Traum, durch eine Flucht von Zimmern zu gehen, ist ein Bordell- oder Haremstraum. Er wird aber, wie H. Sachs an schönen Beispielen gezeigt hat, zur Darstellung der Ehe (Gegensatz) verwendet. – Eine interessante Beziehung zur infantilen Sexualforschung ergibt sich, wenn der Träumer von zwei Zimmern träumt, die früher eines waren, oder ein ihm bekanntes Zimmer einer Wohnung im Traume in zwei geteilt sieht oder das Umgekehrte. In der Kindheit hat man das weibliche Genitale (den Popo) für einen einzigen Raum gehalten (die infantile Kloakentheorie) und erst später erfahren, dass diese Körperregion zwei gesonderte Höhlungen und Öffnungen umfasst. – Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts wie abwärts, sind symbolische Darstellungen des Geschlechtsaktes. – Glatte Wände, über die man klettert, Fassaden von Häusern, an denen man sich – häufig unter starker Angst – herablässt, entsprechen aufrechten menschlichen Körpern, wiederholen im Traum wahrscheinlich die Erinnerung an das Emporklettern des kleinen Kindes an Eltern und Pflegepersonen. Die ‘glatten’ Mauern sind Männer; an den ‘Vorsprüngen’ der Häuser hält man sich nicht selten in der Traumangst fest. – Tische, gedeckte Tische und Bretter sind gleichfalls Frauen, wohl des Gegensatzes wegen, der hier die Körperwölbungen aufhebt. ‘Holz’ scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen ein Vertreter des weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name der InselMadeirabedeutet im Portugiesischen: Holz. Da ‘Tisch und Bett’ die Ehe ausmachen, wird im Traum häufig der erstere für das letztere gesetzt und, soweit es angeht, der sexuelle Vorstellungskomplex auf den Esskomplex transponiert. – Von Kleidungsstücken ist der Hut einer Frau sehr häufig mit Sicherheit als Genitale, und zwar des Mannes, zu deuten. Ebenso der Mantel, wobei es dahingestellt bleibt, welcher Anteil an dieser Symbolverwendung dem Wortlaut zukommt. In Träumen der Männer findet man häufig die Krawatte als Symbol des Penis, wohl nicht nur darum, weil sie lange herabhängt und für den Mann charakteristisch ist, sondern auch, weil man sie nach seinem Wohlgefallen auswählen kann, eine Freiheit, die beim Eigentlichen dieses Symbols von der Natur verwehrt ist. Personen, die dieses Symbol im Traume verwenden, treiben im Leben oft grossen Luxus mit Krawatten und besitzen förmliche Sammlungen von ihnen. – Alle komplizierten Maschinerien und Apparate der Träume sind mit grosser Wahrscheinlichkeit Genitalien – in der Regel männliche –, in deren Beschreibung sich die Traumsymbolik so unermüdlich wie die Witzarbeit erweist. Ganz unverkennbar ist es auch, dass alle Waffen und Werkzeuge zu Symbolen des männlichen Gliedes verwendet werden: Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw. – Ebenso sind viele Landschaften der Träume, besonders solche mit Brücken oder mit bewaldeten Bergen, unschwer als Genitalbeschreibungen zu erkennen. Marcinowski hat eine Reihe von Beispielen gesammelt, in denen die Träumer ihre Träume durch Zeichnungen erläuterten, welche die darin vorkommenden Landschaften und Räumlichkeiten darstellen sollten. Diese Zeichnungen machen den Unterschied von manifester und latenter Bedeutung im Traume sehr anschaulich. Während sie, arglos betrachtet, Pläne, Landschaften und dergleichen zu bringen scheinen, enthüllen sie sich einer eindringlicheren Untersuchung als Darstellung des menschlichen Körpers, der Genitalien usw. und ermöglichen erst nach dieser Auffassung das Verständnis des Traumes. Auch darf man bei unverständlichen Wortneubildungen an Zusammensetzung aus Bestandteilen mit sexueller Bedeutung denken. – Auch Kinder bedeuten im Traume oft nichts anderes als Genitalien, wie ja Männer und Frauen gewohnt sind, ihr Genitale liebkosend als ihr ‘Kleines’ zu bezeichnen. Den ‘kleinen Bruder’ hat Stekel richtig als Penis erkannt. Mit einem kleinen Kinde spielen, den Kleinen schlagen usw. sind häufig Traumdarstellungen der Onanie. – Zur symbolischen Darstellung der Kastration dient der Traumarbeit: die Kahlheit, das Haarschneiden, der Zahnausfall und das Köpfen. Als Verwahrung gegen die Kastration ist es aufzufassen, wenn eines der gebräuchlichen Penissymbole im Traume in Doppel- oder Mehrzahl vorkommt. Auch das Auftreten der Eidechse im Traume – eines Tieres, dem der abgerissene Schwanz nachwächst (Anmerkung)– hat dieselbe Bedeutung. – Von den Tieren, die in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwendet werden, spielen mehrere auch im Traum diese Rolle: der Fisch, die Schnecke, die Katze, die Maus (der Genitalbehaarung wegen), vor allem aber das bedeutsamste Symbol des männlichen Gliedes, die Schlange. Kleine Tiere, Ungeziefer sind die Vertreter von kleinen Kindern, z. B. der unerwünschten Geschwister; mit Ungeziefer behaftet sein ist oft gleichzusetzen der Gravidität (= Schwangerschaft; AB). – Als ganz rezentes (= neu auftretendes; AB) Traumsymbol des männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen, welches sowohl durch seine Beziehung zum Fliegen wie gelegentlich durch seine Form solche Verwendung rechtfertigt.“ Usf.

Die Einführung feststehender Symbole mit zumeist sexuellen Bedeutung ist insofern ein interessantes Detail der Freudschen Theoriebildung, als ja Freud sich zuerst gegen die früher oft verwendeten Traumdeutungsbücher wendete, in welchen Verzeichnisse von Traumbildern mit der entsprechenden Bedeutung zu finden waren. Freud selber hat somit wieder einen Schritt rückwärts getan und sich wieder ein Stück weit von seiner Position entfernt, wonach der Traum nur aufgrund der Kenntnis der Lebensgeschichte (anhand freier Assoziationen) des Träumers zu deuten ist. Um Freud gegenüber nicht ungerecht zu sein, muss darum darauf hingewiesen werden, dass er selber nachdrücklich davor warnt, „die Bedeutung der Symbole für die Traumdeutung zu überschätzen, etwa die Arbeit der Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken und die Technik der Verwertung von Einfällen des Träumers aufzugeben. Die beiden Techniken der Traumdeutung müssen einander ergänzen; praktisch wie theoretisch verbleibt aber der Vorrang dem zuerst beschriebenen Verfahren (freie Assoziation; AB), das den Äusserungen des Träumers die entscheidende Bedeutung beilegt, während die von uns vorgenommene Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt.“ (S. 354)

Angesichts der Komplexheit der Traumarbeit steht jeder Traumdeuter in jedem einzelnen Falle vor einer sehr anspruchsvollen Arbeit. So muss er eigentlich bei jedem einzelnen Element des manifesten Traumes entscheiden, ob es

  • direktodergegenteiligzu deuten ist,
  • eineraktuellen Problematikoder einemzurückliegenden Problementspricht,
  • einfeststehendes Symbolist oderbeliebigdurch freie Assoziation gedeutet werden kann
  • oder alsSacheoder vomWortlauther gedeutet werden muss.

Die Vielfalt dieser Deutungsmöglichkeit eröffnet natürlich jeder Beliebigkeit Tür und Tor. So kann man z. B., will man einfach irgend eine Deutungs-Hypothese bestätigt wissen, ein nicht passendes Element ins Gegenteil umkehren. Es braucht darum ein Kriterium, ob man als Deuter auf der richtigen Spur ist. Dieses Kriterium ist ein gewissesEvidenz-Erlebnis des Träumers:Er spürt intuitiv, dass die Deutung stimmt und tatsächlich eine für ihn bedeutsame Problematik erhellt. Allerdings kommt es auch vor, dass z. B. der Analytiker mit einer Deutung recht hat, aber der Analysand die als belastend empfundene Wahrheit nicht annehmen kann. (Der mit der Adler’schen Individualpsychologie vertraute Analytiker achtet in diesen Fällen auch auf den sog. Erkennungsreflex.)

12.4 Traumquellen

Es ist nun zu fragen, woher der Traum einerseits die latenten Inhalte, andererseits die manifesten Bilder bezieht. Freud ist nun davon überzeugt, dass in allen latenten Träumen irgendwelcheKindheitserinnerungenzumindest mitbeteiligt sind. In dieser Auffassung kommt seine allgemeine Ansicht zum Ausdruck, dass die – insbesondere frühe – Kindheit für das ganze Leben von hervorragender Bedeutung ist und dass auch allen neurotischen Störungen irgendwelche belastenden Erlebnisse in der Kindheit zu Grunde liegen.

Bei der Wahl der konkreten Bilder sind nach Freud vorerst einmal aktuellesomatische (körperliche) Quellenmassgebend, wobei er 3 verschiedene Arten unterscheidet, nämlich

  • von äusseren Objekten ausgehende Sinnesreize (z. B. Gerüche, Lärm)
  • subjektiv begründete Erregungszustände der Sinnesorgane (z. B. Ohrensausen)
  • aus dem Körperinnern stammende Leibreize (z. B. Verdauungsbeschwerden, Drang)

Wichtiger für die konkrete Gestaltung der manifesten Bilderwelt sind für Freud irgendwelche Erlebnisse aus dem Vortag, sog.Tagesreste. Freud setzt diese Aussage insofern absolut, als er annimmt, dass nicht etwa um einige Tage zurückliegende Erfahrungen ausschlaggebend sind, sondern immer solche des Vortages. Wenn indessen trotzdem etwas von der letzten Woche her im Traume auftaucht, so geht Freud davon aus, dass man am Vortag zumindest daran gedacht hat (eine Behauptung, die sich natürlich grundsätzlich nicht widerlegen lässt). Auch nimmt er als Grundregel an, dass allen verschiedenen manifesten Träumen einer einzigen Nacht stets derselbe latente Traum zu Grunde liegt.

12.5 Eine persönliche Anmerkung

Freud ist der Ansicht, dass alle Träume grundsätzlich egoistisch motiviert sind, d.h. im Lustprinzip wurzeln und nur insoweit dem Realitätsprinzip verpflichtet sind, als die Zensur des Ichs negativ (d.h. abwehrend und verschleiernd) wirkt. Meine Erfahrung mit der Deutung eigener und fremder Träume hat mir demgegenüber die Theorie bestätigt, dass Träume nicht bloss Ausdruck verdrängter Es-Impulse (Wünsche) sind, sondern durchaus auch die Funktion einer inneren Lebensführung haben können. Träume können demgemäss einem Menschen – ohne dass damit Wünsche zum Ausdruck gebracht werden müssen – seine jetzige Lebenssituation widerspiegeln, ihn auf Gefahren aufmerksam machen und ihm aufzeigen, welche Entwicklungsschritte ihm angemessen sind. Freud lehnt einen solchen finalen Aspekt des Traums ab, aber dieser Aspekt steht in Übereinstimmung mit der Jung’schen Theorie, wonach es die Lebensaufgabe jedes Menschen ist, alle widerstrebenden Seiten seines Wesens miteinander zu versöhnen und so zu einer psychischen Ganzheit zu kommen. Jung nennt diesen ProzessIndividuation,und die Traumdeutung kann eine wertvolle Hilfe sein, um dieses Ziel zu erreichen.

13 Neurosen

13.1 Wesen und Einteilung der Neurosen

Der Begriff ‘Neurose’ leitet sich von ‘Neuron’ (Nervenzelle) ab. Im letzten Jahrhundert glaubte man alle psychischen Erkrankungen auf ein nicht richtig funktionierendes Nervensystem zurückführen zu können und benannte dementsprechend auch die Spitäler für Geisteskranke ‘Nervenheilanstalten’.

Bei einer Neurose handelt es sich grundsätzlich um einerworbenes psychisches Leiden, das freilich sehr oft nicht als solches erkannt oder als Krankheit empfunden wird. Zum Verständnis des neurotischen Verhaltens kann man gut alle Abwehrmechanismen heranziehen. Insofern sie nämlich aufVerdrängungberuhen, derAngstabwehrdienen undSelbsttäuschungendarstellen, haftet ihnen (wohl mit Ausnahme der Sublimation) insgesamt etwas Krankhaftes an. So liesse sich theoretisch ‘psychische Gesundheit’ als ‘Abwesenheit von jedwelchem Abwehrmechanismus’ definieren und wäre identisch mit absoluter Offenheit, Wahrhaftigkeit und Angstfreiheit. So gesehen, lässt sich jedes Verhalten, das vom gesunden abweicht, als ‘neurotisch’ bezeichnen, und es ist dann auch offensichtlich, dass alle Menschen mehr oder weniger stark irgendwelcheneurotischen Zügean sich haben. Von christlichem Standpunkt aus liesse sich sagen: Die jedem Menschen anhaftenden und insofern grundsätzlich unvermeidlichen neurotischen Züge sind der psychologische Ausdruck dessen, was der Christ unter ‘Gefallenheit des Menschen’ versteht.

Haben die neurotischen Züge eines Menschen ein ‘normales’ (d.h. für ihn und die Umwelt noch erträgliches) Mass überschritten, so dass sich das krankhafte Verhalten des betreffenden Menschenverfestigtund in gewissen Situationenzwanghaft wiederholt, so spricht man von eineretablierten Neurose.Es muss aber klar bleiben, dass der Übergang von ‘mit neurotischen Zügen behaftet’ zur ‘etablierten Neurose’ weitgehend quantitativer Natur und insofern fliessend ist. Ob sich ein Mensch mit seiner Neurose in einer Analyse systematisch auseinandersetzen will, ist darum immer auch eine Frage der erhofften und angestrebten Lebensqualität.

Freud sieht in der Neurose dasResultat einer unvollständigen Verdrängung von Es-Impulsen durch das Ich,wobei der verdrängte Impuls trotz der Verdrängung(verschleiert, gewissermassen durch die Hintertüre) in das Bw und in das Verhalten einbricht.Um diesen Einbruch des Es-Impulses ins Verhalten erneut abzuwehren, bildet der psychische Organismus dasneurotische Symptomaus. Dieses dient einerseits der Ersatzbefriedigung des verdrängten Impulses, andererseits (und gleichzeitig) dem Versuch, diesen (als lästig empfundenen) Impuls endgültig zu beseitigen.

Dieses Theorem lässt sich am Beispiel jenes Menschen verdeutlichen, der in der Folge einer verbrecherischen Tat mit seinen tiefsitzenden, aber verdrängten Schuldgefühlen nicht zu Rande kommt und einen sog. Waschzwang ausbildet. Offensichtlich kann es dem Ich grundsätzlich nicht gelingen, einen derart starken Es-Impuls (das Schuldgefühl) vollständig zu verdrängen. Der verdrängte Impuls tritt deshalb verschleiert, nämlich als allgegenwärtiges Gefühl, schmutzige Hände zu haben, wieder ins Bewusstsein ein. Um dieses lästige Gefühl abzuwehren, bildet der betreffende Mensch nun als neurotisches Symptom den Waschzwang aus. Indem er sich nun täglich an die hundert mal die Hände beinahe blutig seift, möchte er einerseits die Schuld ausgleichen (Ersatzbefriedigung) und andererseits die Schuldgefühle endgültig beseitigen.

Freud teilt die Neurosen ein in:

  • Aktualneurosenmit vorwiegend vegetativen Symptomen auf Grund starker Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang eines aktuellen Konflikts (z. B. Schreckneurose, Angstneurose) und
  • Psychoneurosenmit psychischen oder somatischen Symptomen, verursacht durch einen chronischen Triebkonflikt. Zu den Psychoneurosen zählen:
  • alle Formen derHysterie(stets begleitet mit psychisch bedingten körperlichen Symptomen, z. B. Lähmungen, Ausfälle der Sinnesorgane)
  • diePhobien(real nicht begründete, psychisch bedingte Furcht vor irgend einem beliebigen Objekt)
  • dieZwangsneurosen(zwanghafte Wiederholung stereotyper Verhaltensweisen)
  • dieCharakterneurosen(Verwahrlosung, Psychopathie)

13.2 Beispiele von Phobien

Grundsätzlich kann jeder Gegenstand oder jede Situation zum Zielobjekt einer Phobie werden. So kann man sich krankhaft vor Mäusen, vor Spinnen, vor Hühnern, vor dem Eingeschlossensein in engen Räumen (Klaustrophobie), vor dem Überschreiten grosser Plätze (Platzangst, Agoraphobie), vor dem Befahren von Tunneln usf. fürchten. In extremen Fällen fürchtet sich der Phobiker nicht bloss vor dem Anblick des realen Gegenstandes, sondern auch vor dem Anblick des Bildes oder sogar vor dem sprachlichen Ausdruck des phobisch besetzten Objekts.

Eine in der Psychoanalyse berühmte Phobie ist die Pferdephobie des Knaben Hans. Freud erkannte in der Analyse, dass Hans eine ausserordentliche Angst vor dem Vater hatte, die er zu verdrängen gezwungen war. Der Anblick des eregierten Penis eines Pferdes führte dann zur Assoziation mit der Macht des Vaters, und so verschob Hans seine Angst vor dem Vater auf die Pferde, was ihm ein ersatzweises Ausleben der Angst gestattete.

13.3 Beispiele von Zwangsneurosen

Neben dem bereits erwähntenWaschzwangkennt die Psychoanalyse als weitere relativ häufig auftretende Neuroseformen denZählzwang(den Zwang, jedwelches Ereignis, das sich wiederholt, oder jedes Ding, das in Serien auftritt, zu zählen), denLästerzwang(den Zwang, z. B. bei der andächtigen Stille eines Gottesdienstes, eines Theaters oder eines Konzerts laut fluchen zu müssen), denReinigungszwang(alles und überall zu putzen), denBerührungszwang(gewisse Gegenstände im Sinne eines Rituals immer wieder berühren zu müssen), denKontrollzwang(sich stets wieder vergewissern müssen, ob man eine bestimmte Handlung wirklich vollzogen hat), denSammelzwang(gewisse Dinge krankhaft anhäufen zu müssen), dieKleptomanie(den Zwang, stehlen zu müssen), diePyromanie(den Zwang, Brände legen zu müssen) u.a. Ins Kapitel zwanghaften Verhaltens gehören auch zahlreiche sexuelle Perversionen oder die (bei Mädchen in der Spätpubertät oft auftretende) Magersucht.

13.4 Von der Vielfalt neurotischen Verhaltens

In der psychologischen Praxis zeigt es sich allerdings, dass man das neurotische Verhalten der Klienten zumeist nicht fein säuberlich katalogisieren kann. Letztlich kann jede beliebige Verhaltensweise neurotisch motiviert sein. Es handelt sich deshalb darum, in jedem einzelnen Falle jene Verhaltensweisen zu entdecken, die mit besonderen Ängsten verbunden sind, die stereotyp wiederholt werden oder sonstwie neben der ‘gesunden Norm’ liegen. Der Katalog der Abwehrmechanismen kann dabei als eine gewisse Richtschnur dienen. Aufschlussreich ist stets auch die Art, wie ein Mensch mit den Mitmenschen kommuniziert und wie er die sich ihm stellenden Lebensaufgaben angeht.

Allen Neurosen gemeinsam ist dieUnfreiheit. Für den Aussenstehenden ist es oft schwer verständlich, dass ein Neurotiker gewisse Dinge willentlich einfach nicht fertig bringt. So wie ein Drogensüchtiger zwanghaft zur Droge greift, ebenso zwanghaft wäscht sich der Mensch mit einem Waschzwang die Hände und ebenso zwanghaft muss jemand mit einem Kontrollzwang eine Sache nachkontrollieren, von der er genau weiss, dass er sie 5 Minuten zuvor bereits zum zwanzigsten Mal kontrolliert hat. Ein Mädchen, das an der Magersucht leidet, kann sehr wohl wissen, dass es essen sollte und dass dies allein sein Leben retten kann, und trotzdem sitzt es vor dem vollen Teller und verweigert – ohne etwa an Appetitlosigkeit zu leiden – die Nahrungsaufnahme. Und wenn jemand, der kommunikationsgestört ist, mit der Aufforderung konfrontiert wird, doch ‘einfach mit dem Partner zu sprechen’, so erscheint (und ist) ihm das so unmöglich, wie wenn man einen Durchschnittsmenschen die Eigernordwand hochsteigen hiesse.

Wie Adler nachgewiesen hat, ist mit jeder Neurose immer auch einerhöhtes Geltungs- und Machtbedürfnisverbunden. In aller Regel dienen neurotische Symptome immer auch der Machtausübung auf andere, ohne dass sie sich einzig aus dieser Funktion heraus erklären liessen. Sehr oft ist das neurotische Leiden mitDepressionenverbunden, und dieLiebesfähigkeitist erheblich eingeschränkt. Überall dort, wo sich die Neurose zeigt, istsachbezogenes Handeln erschwertbis gar verunmöglicht.

Des weiteren ist festzuhalten, dass Neurosen in allen Schichten und insbesondere bei allen Intelligenzklassen anzutreffen sind. Sehr oft sind es sehr differenzierte und begabte Menschen, die an schweren Neurosen leiden. Intelligenz schützt primär nicht vor dem Zustandekommen einer Neurose, da diese zumeist in der frühen Kindheit begründet sind und insbesondere abhängig sind vom sozialen Umfeld, das sich ja Kinder nicht auswählen können. Grössere Intelligenz ist lediglich eine gewisse Hilfe bei der Heilung von Neurosen.

Schliesslich ist anzumerken, dass es zwar ein erster Schritt zur Heilung sein kann, wenn jemand seine Neurose erkennt, dass aber einem Menschen die gesamte Strukur seiner Neurose bis hin zu ihrer Entstehungsgeschichte bw sein kann, ohne dass sich an seinem Verhalten das Geringste ändert. Gelegentlich trifft man Menschen, die beinahe wie ein Psychologieprofessor über ihre Neurose Auskunft geben können, ohne dass es ihnen je gelungen wäre, sich von ihrem Leiden zu befreien.

14 Die psychoanalytische Technik

14.1 Grundsätzliche Erwägungen

So weit ich sehe, ist Psychotherapie bzw. Psychoanalyse die einzige Möglichkeit, von einer Neurose geheilt werden zu können. Dabei ist der Erfolg ziemlich unsicher, wobei dieser wesentlich mehr vom Analysanden als vom Therapeuten bzw. Analytiker abhängt. Die Motivation, etwas zu unternehmen, steht zumeist in einem direkten Zusammenhang mit dem Grad desLeidensdrucks. Viele Menschen sind erst bereit, sich ihrer eigenen Psyche, ja ihrer Lebensführung insgesamt gründlich zu stellen, wenn sie unter ihren unangepassten Verhaltensweisen, Depressionen, Ängsten, Zwängen und Kommunikationsproblemen derart leiden, dass sie alles auf sich nehmen (also auch den so gefürchteten Psychotherapeuten aufsuchen), nur um Linderung im Leiden erfahren zu können.

Der Erfolg hängt ferner auch von den Fähigkeiten des Analysanden ab. Nur wer über eine gewisse Geistigkeit und Fähigkeit der Selbstwahrnehmung verfügt, nur wer grundsätzlich guten Willen hat und auch getragen ist durch einen gewissen Lebensernst, ist überhaupt zur Durchführung einer Psychoanalyse fähig.

An dieser Stelle sei auch auf denUnterschied zwischen Neurose und Psychosehingewiesen. Handelt es sich bei der Neurose um einexogen(sozial) bedingtes Leiden, so sind Psychosen – zumindest vorwiegend –endogen(Vererbung, organische Struktur) bedingt. Für die Psychosen (Schizophrenie, manisch-depressives Irresein, endogene Depression) sind Ärzte (Psychiater) zuständig, die in den meisten Fällen zur Linderung oder Heilung Medikamente einsetzen. Für die Behandlung von Neurosen sind Psychotherapeuten zuständig, die in der Regel nicht Medizin, sondern Psychologie studiert und sich durch ein Zusatzstudium zum Psychotherapeuten weitergebildet haben.

Obwohl immer wieder der Versuch gemacht wird, auch Psychosen psychoanalytisch anzugehen, so muss doch festgestellt werden, dass Freud dies nicht für möglich hielt, da ein Psychotiker nicht in der Lage ist, den psychoanalytischen Vertrag (siehe unten) einzugehen.

14.2 Der analytische Vertrag

Abgesehen davon, dass der Analysand den Analytiker zu bezahlen hat, gehen die beiden den folgenden Vertrag ein: Der Analysand erklärt seine Bereitschaft, grundsätzlich alles, was im bw wird, zu sagen, gleichgültig, ob es ihm peinlich ist, ob es ihm unsinnig, unmoralisch oder nebensächlich erscheint oder ob er befürchtet, damit in Schwierigkeiten zu kommen. Der Analytiker stellt dem einerseits die Zusicherung absoluter Diskretion, andererseits seine Bereitschaft zur Mithilfe bei der Deutung entgegen.

14.3 Der Heilungsplan

Angesichts der Tatsache, dass jede Neurose einhergeht mit einem gegenüber den Inhalten des Es geschwächten Ich, besteht derHeilungsplangrundsätzlich darin, dass sich der Analytiker mit dem geschwächten Ich des Analysanden verbündet und alles daran setzt, das Ich in echter Weise zu stärken. Das kann indessen bedeuten, dass sich der Analytiker in all jenen Fällen, wo der Analysand Widerstände entwickelt gegen die Bewusstmachung von Es-Impulsen, auf die Seite des Es stellen muss, um dessen Impulsen Zugang zum Bw des Analysanden zu ermöglichen oder erleichtern.

14.4 Übertragung und Gegenübertragung

Freud geht davon aus, dass im Zentrum jeder neurotischen Störung letztlich stets die Elternproblematik (Ödipuskomplex) steht. Die analytische Situation ermöglicht nun dem Analysanden, das Bild seiner Eltern mit all ihren emotionalen Bezügen in den Analytiker zu projizieren. Diese Projektion der Elternbeziehung auf den Analytiker bezeichnet Freud alsÜbertragung.Da bekanntlich die Elternbeziehung im Ubw ambivalent ist, führt dies zu den beiden Formen der positiven und negativen Übertragung.

In aller Regelmässigkeit stellt sich zuerst diepositive Übertragungein, die bis zur Verliebtheit in den Analytiker bzw. zu seiner Vergötterung führen kann. Das hat beim Analysanden zur Folge, dass er, statt gesund zu werden, dem Analytiker gefallen will. Das führt zwar zu einer gewissen Stärkung des Ichs und oft zur Einstellung der Symptome, aber nach einer gewissen Zeit pflegen sich diese – leider – wieder einzustellen.

Der Hauptgewinn der Phase der positiven Übertragung besteht darin, dass der Analytiker durch den Umstand, dass er an die Stelle des Vaters (allenfalls der Mutter) gesetzt wird, Macht über das Über-Ich des Analysanden gewinnt. Damit hat er die Möglichkeit der Nacherziehung des Über-Ichs, was ja in den meisten Fällen nötig ist, da einer der Gründe der Neurosen in einem entweder zu strafenden oder aber praktisch nicht vorhandenen Über-Ich liegt. Konkret bedeutet dies, dass der Analytiker auf all jene Aussagen, die beim Analysanden mit Schuldgefühlen verbunden sind, anders als seinerzeit die Eltern reagiert, nämlich gelassen und verstehend. Das eröffnet dem Analysanden die Möglichkeit, sich den verdrängten Problemen mit mehr Mut und Selbstvertrauen zu stellen.

Grundsätzlich böte sich dem Analytiker die Möglichkeit, den Analysanden in eine neue Abhängigkeit zu bringen, weshalb für diesen Beruf nur Menschen geeignet sind, die neben der nötigen fachlichen Kompetenz auch das entsprechende Verantwortungsbewusstsein haben.

Ein weiterer Vorteil der Übertragung – der positiven wie der negativen – liegt darin, dass der Analysand gegenüber dem Analytiker zuagierenbeginnt (irgendwelche ‘Spiele’ treibt), was diesem die Möglichkeit der direkten Anschauung gibt. Mit andern Worten: Der Analytiker erlebt am eigenen Leib, wie sich der Analysand gegenüber den Eltern verhielt (oder noch verhält).

Entsprechend der ödipalen Frustration ist das Umkippen der positiven in dienegativeÜbertragung (zumeist) nicht zu vermeiden, was dazu führt, dass die suggestiven Erfolge der positiven Übertragung wieder verschwinden. Das bringt stets die Gefahr mit sich, dass die Analyse abgebrochen wird. Der Analytiker kann es in dieser Phase dem Analysanden oft nirgends recht machen, er erscheint ihm unfähig, desinteressiert, egoistisch usf. Für den Analytiker ist dies eine der ganz grossen Klippen seines Berufs, denn vom Konzept her deutet er die Aggressionen und die Kritiklust des Analysanden als Projektion (als Ausdruck der negativen Übertragung), aber gleichzeitig nimmt er damit dem Analysanden die Möglichkeit, ihn wirklich als Person und Berufsmann zu kritisieren. Es erfordert darum von einem Analytiker viel Selbstkritik, wenn er die Projektionen von echter Kritik unterscheiden können will.

Die Tatsache der positiven und negativen Übertragung erfordert vom Analytiker die Fähigkeit, einerseits die positive Projektion zu mässigen (was Verzicht auf Eitelkeit bedeutet), andererseits die negative vorzubereiten und sie bei deren Eintreffen zum Gegenstand des Gesprächs zu machen.

Es versteht sich von selbst, dass sowohl die positive wie auch die negative Übertragung auch beim Analytiker Projektionen auslösen. Freud bezeichnet sie alsGegenübertragung. Es gehört zur fachlichen Kompetenz eines Analytikers, dass er in der Lage ist, seine Gegenübertragung zu erkennen und sich davon zu distanzieren. Das ist – abgesehen von der Notwendigkeit der Eigenerfahrung – einer der Gründe, weshalb der zentrale Teil einer Ausbildung zum Psychoanalytiker in der eigenen Analyse (der sog. Lehranalyse) besteht.

14.5 Die heilenden Wirkungen

Jede Analyse hat einen rationalen, einen emotionalen und einen Handlungsaspekt.

Inrationaler Hinsichtbesteht ein erster Heilungsschritt darin, dass im Gespräch und durch die vielen Deutungsversuche die Selbsterkenntnis des Analysanden erweitert wird. Gegenstand der Deutung sind die Übertragungsphänomene, alle freien Assoziationen, Träume, Fehlleistungen und das Verhalten ganz allgemein. Dabei ist wichtig, dass der Analytiker die Deutungen nicht forciert, da er sonst die Widerstände im Analysanden verstärkt oder sie aufbaut. Darum braucht jede Analyse Zeit. Am besten ist es, wenn die Deutungen vom Analysanden selbst gegeben werden, damit er die neuen Erkenntnisse wirklich innerlich akzeptieren kann.

Deremotionale Aspekteiner Analyse betrifft vorerst die Arbeit an den – grundsätzlich unvermeidlichen und auch nötigen – Widerständen. Es sind ja nicht Gedanken, die die neuen Erkenntnisse nicht zulassen wollen, sondern Gefühle: Ängste, Bindungen, Triebwünsche etc. In dem Masse, wie es dem Analysanden gelingt, Widerstände zu überwinden, verändern sich seine Gefühle. Ob und in welchem Masse es einem Analysanden gelingt, Widerstände aufzulösen, hängt natürlich wesentlich von seiner emotionalen Beziehung zum Analytiker ab. Dies zeigt einmal mehr, dass der Mensch grundsätzlich auf mitmenschliche Beziehungen angewiesen ist, dies nicht bloss im Rahmen einer (aussertherapeutischen) gesunden Entwicklung, sondern auch im Rahmen einer Therapie.

DerHandlungsaspektder Analyse besteht einerseits in jeder Form des Agierens, und die heilende Wirkung ergibt sich daraus, dass der Analytiker auf eine andere (nämlich gesunde) Weise als z. B. früher die Eltern auf die Provokationen des Analysanden reagiert. Andererseits besteht der Handlungsaspekt in den durch die Analyse bedingten Veränderungen des Verhaltens im Alltag, der sich dann als so etwas wie ein Übungs- oder Versuchsfeld erweist. In dem Masse, wie sich neue Verhaltensweisen im Alltag für den Analysanden bewähren, vermögen sie sich zu festigen und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.

Es ist hier darauf hinzuweisen, dass viele Analytiker grundsätzlich darauf bestehen, dass die Analysanden während der Analyse keine schwerwiegenden und irreversiblen Lebensentscheidungen (z. B. Ehescheidung) treffen, sondern damit zuwarten, bis der psychoanalytische Prozess abgeschlossen ist.

14.6 Besondere Schwierigkeiten

Je stärker die Neurose, desto grösser kann sich einerseits das Krankheits-, andererseits das Leidensbedürfnis zeigen.

DasKrankheitsbedürfnisentspringt dem ubw Wunsch, Schuldgefühle abzuwehren. Das erklärt die gelegentlichen Spontanheilungen nach Unglücksfällen. Für die Psychoanalyse ist dies indessen eine oft kaum zu überwindende Klippe, denn der Analysand ist im Tiefsten der Überzeugung, dass er eigentlich das Gesundwerden gar nicht verdient und sich darum mit seinem neurotischen Leiden stets selbst bestrafen muss. Hier hilft nur eine langwierige Auseinandersetzung mit den Ursachen der Schuldgefühle.

Wesentlich schwerwiegender ist dasLeidensbedürfnis.Es ist der unmittelbare Ausdruck des Destruktionstriebes (Todestriebes) und äussert sich als Trieb zur Selbstzerstörung. Freud spricht in jenen Fällen, in denen sich der Todestrieb gewissermassen verselbständigt und nicht mehr durch den Eros in einem gewissen Gleichgewicht gehalten wird, vonTriebentmischung.Wenn jemand vom ubw Drang beseelt ist, sich selber zu zerstören, so stösst zumeist auch die Psychoanalyse an ihre Grenzen.

14.7 Der Abschluss der Analyse

Jeder, der eine Analyse macht, wird irgend einmal zur Einsicht kommen, dass sich das Reservoir zu erhellender Konflikte nicht ausschöpfen lässt. Grundsätzlich könnte eine Analyse bis zum Lebensende fortgesetzt werden, ohne dass der Gesprächsstoff auszugehen brauchte und der Analysand das Gefühl hat, völlig ‘gesund’ zu sein.

So fragt sich, wann das Ende einer Analyse (abgesehen von Gründen des Geldmangels oder irgendwelchen Ausbildungsvorschriften für künftige Analytiker) gekommen ist. Sinnvoll scheint eine Beendigung dann, wenn sich die positive und negative Übertragung in eine sachliche, durch objektive Wahrnehmung geprägte zwischenmenschliche Beziehung umgebildet hat, wenn der Leidensdruck gewichen ist und die neurotischen Symptome verschwunden sind. Wer sich ernsthaft einer Analyse ausgesetzt hat, wird auch feststellen, dass er im Alltag selbstbewusster, gelassener und sachlicher ist und sich bei der Bewältigung seiner Lebensaufgaben weder über- noch unterfordert.

In jedem Falle ist auch die Beendigung einer Analyse eine ‘Unternehmung’, die sich nicht so leichthin bewerkstelligen lässt und darum selbst zum Thema der Analyse gemacht werden muss. Der Prozess der Ablösung vom Therapeuten hat insofern in sich eine therapeutische Wirkung, als der Analysand lernen muss, etwas loszulassen, was längerhin nicht mehr sehr sinnvoll ist, somit also realitätsbezogener zu werden.

15 Schlussbemerkung

Es ist mir völlig bewusst, lediglich einen Teil der Freudschen Gedanken angesprochen zu haben. Ich hoffe indessen, es sei mir gelungen, einerseits das Wesen tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Denkens erlebbar zu machen, andererseits im Leser Interesse und Neugierde zu wecken und ihn damit zu ermutigen, bei Gelegenheit durch das Studium von Fachliteratur, sei es Primär- oder Sekundärliteratur, tiefer in dieses Gebiet der Psychologie einzudringen.

Nachschrift Juli 2004:

Der Wiener Psychotherapeut Richard L. Fellner hat mit meiner Einwilligung obigen Aufsatz als Grundlage für eine eigene, in wesentlichen Punkten erweiterte Darstellung der Freud’schen Psychoanalyse verwendet. Wer tiefer in die Materie eindringen will, studiert mit Vorteil Fellners kompetente(re) Arbeit:

https://www.psychotherapiepraxis.at/art/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml

Weitere Themen: