Josef Karl Brühlmeier (StB 153)
Gemeindearchive neigen dazu, allmählich zu klein zu werden, weshalb von Zeit zu Zeit eine Wegwerfaktion angezeigt scheint, sehr zum Leidwesen der Historiker. Einer solchen Säuberung – möglicherweise im Zusammenhang mit dem Umzug der Gemeindeverwaltung aus dem Schulhaus Lägern ins neue Rathaus im Jahre 1959 – wäre das Wanderbuch des Küfergesellen Karl Josef Brühlmeier zum Opfer gefallen, hätte es mein Onkel Walter Brühlmeier in seiner Funktion als Schulhausabwart nicht vor dem Flammentod bewahrt. Irgend einmal übergab er es dann dem an Lokalgeschichte interessierten Sales Zehnder, und dieser überreichte es kürzlich unserer Famlie. Herzlichen Dank.
Da der Brauch der wandernden Handwerksgesellen und damit die Bedeutung eines Wanderbuches heutzutage kaum mehr allgemein bekannt ist, lasse ich dieses durch Abschrift der 2. Seite sich selbst erklären: „Sämmtliche Civil- und Militär-Behörden werden anmit ersucht, den Träger dieses Wanderbuchs, welches gleich einem Pass zu achten ist, und neben welchem derselbe weder Pass noch weitere Kundschaft besitzen soll, frei und ungehindert reisen zu lassen, ihm auch nöthigenfalls Hülfe und Vorschub zu gewähren. Dagegen soll der Inhaber des Wanderbuchs dasselbe jedem Polizeiposten und jeder Ortspolizeibehörde auf seiner Durchreise vorzeigen und die Visirung geziemend nachsuchen. Die Zeit eines Aufenthalts an einem Orte, so wie den Grund desselben, sei er Arbeit, oder Krankheit, oder etwas Anderes, soll er gebührend eintragen, das Zeugniss seines Meisters beifügen und die Unterschriften durch die Ortsbehörde beglaubigen lassen. Das Wanderbuch ist stets in seiner Vollständigkeit und rein zu erhalten, es darf daher in demselben nichts ausgekratzt oder ausgerissen, oder durchgestrichen, oder verändert werden, und die Visa und Einschreibungen müssen sich in ununterbrochener Folge an einander anschliessen. Wenn dem Wanderbuch die Erfordernisse abgehen, oder der Träger ohne triftigen Grund mehr als ein Vierteljahr ohne Arbeit herumgezogen ist, mag er als Müssiggänger oder Landläufer, unter Abnahme des Wanderbuchs, das dann hieher zu senden wäre, mit einem Laufpass versehen und in seine Heimath gewiesen werden. Aarau, den 29. Mai 1861 – Der Sekretär der Polizeidirektion: H. Rohr.“
Auf der nächsten Seite finden wir dann eine Personalbeschreibung, die uns verrät, dass der Bursche bei der Ausstellung des Passes 28 Jahre alt und in Schweizermass gemessen 5 Fuss, 6 Zoll und 7 Linien gross war, dass er braune Haare, eine offene Stirne, braune Augenbrauen, blaue Augen, eine starke Nase (Markenzeichen der Brühlmeier!), einen grossen Mund, gute Zähne, einen blonden Bart, ein rundes Kinn und eine ovale Gesichtsform hatte. Auf der 3. Seite beurkundet der amtierende Bezirksamtmann Bopp-Weiss (ein Wettinger Bürger), dass der Pass ausgestellt ist auf Grund eines vorgewiesenen Lehrbriefes vom 24. Juni 1851, dass dieser den jungen Mann nun „zur Reise im Inn- und Ausland“ berechtige und die Reise vorerst nach Bern gehe. Und dann kann man schliesslich seinen Weg anhand der Stempel und kurzen Zeugnisse verfolgen von Biel über Aubonne nach Basel, dann über Lörrach nach Schaffhausen und schliesslich über Winterthur nach Zürich, wo er zuerst nach Basel, dann nach Bern weitergewiesen wurde.
Zuerst fragte ich mich, weshalb dieser Pass überhaupt auf die Gemeindekanzlei zu liegen kam, und vermutete, der Kerl hätte sich nicht besonders gut benommen und von irgendwo her den berühmten Laufpass erhalten. Die Dinge liegen jedoch anders.
Josef Karl Brühlmeier ist 1833 ausserehelich geboren, und er ist denn auch der Einzige, der im Bürgerregister der Gemeinde nicht mit einem genauen Geburtsdatum eingetragen ist. Bei einem Unehelichen nahm man es offensichtlich nicht so genau. Seine Mutter war Maria Verena Brühlmeier, eine Tochter von Johann Brühlmeier (StB 55) und Anna Maria geb. Suter. In jener Zeit war eine aussereheliche Schwangerschaft in einem Dorf immer ein Ereignis, ein Skandal, um den sich viel Gewäsch drehte und dem Leid und Schmach auf dem Fusse folgten. Kaum war die Schwangerschaft ruchbar, befasste sich damit der Gemeinderat. So lesen wir im Gemeinderatsprotokoll vom 23. 2. 1833: „Für die Schwangerin Maria Verena Brühlmeier wird Leonz Brühlmeier Rebmeisters als Curator vorgeschlagen.“ Man gab also ihr und dem Kind einen Vormund, der für Recht und Ordnung zu sorgen hatte, und es verwundert durchaus nicht, dass da, wenn schon ein Brühlmeier, nur einer aus der Rebmeister-Linie in Frage kam, nämlich der Sohn des berühmten Mathe Leonz und spätere Gemeindeammann Leonz Brühlmeier, Bruder des ungerecht in Verruf geratenen Kaspar Brühlmeier.
Wo Verena mit dem Knaben lebte, bleibt einstweilen unbekannt, doch scheint sie ihm in der Pubertät nicht mehr gewachsen gewesen zu sein. Jedenfalls befasste sich die Ortsbürgergemeindeversammlung mit der Sache und beschloss am 9. Feb. 1846, der Knabe sei dem Schneider Johann Brühlmeier – von dem weiter unten noch die Rede sein wird – zu übergeben. Dies scheint logisch, denn er war der Bruder von Josef Karls Mutter Verena. Bedenkt man aber, dass dieser Johann armengenössig war und einige Jahre später in der Armenrechnung als „arbeitsunfähig“ bezeichnet werden musste, so erscheint dieser Beschluss nicht eben weise. Ich vermute, dass bei manchem die Überlegung mitspielte, dass man dann bei dem armen Schneider, wenn er die Fr. 18.- (im Jahr) erhalte, mit ein bisschen weniger finanzieller Unterstützung wegkomme. Eine solche Überlegung wäre insofern verständlich, als sich damals die Gemeinde wegen dem geradezu massenhaften Auszug ihrer Einwohner nach Amerika und der damit verbundenen Unterstützung der Auswanderungswilligen massiv verschuldete und sogar den Tägerhard-Wald schlagen musste, um mit dem Holzertrag den Zins aufbringen und die Schulden tilgen zu können.
Als an der folgenden Gemeindeversammlung vom 27. Feb. 1846 das Protokoll verlesen wurde, machte Johann Brühlmeier „die Erklärung, es seie in der letzten Verhandlung noch beschlossen worden, dass die Verena Brühlmeier gehalten sein soll, an die Verpflegung ihres Knaben 4 Fr. zu bezahlen.“ Dass der geplagte Johann die Hilfe der Gemeindeversammlung in Anspruch nehmen musste, um sich gegen die befürchtete Verweigerung der Unterstützung durch seine Schwester zu schützen, wirft ein Licht auf die nicht sonderlich harmonischen Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse. Wie dem auch sei: Dass Josef Karl offensichtlich als Tunichtgut galt, belegt der Antrag von Friedensrichter Meier (gleich nach Johanns Erklärung), „dieser Knabe der Verena Brühlmeier, von welchem die bösesten Aussichten zu gewärtigen sind, sollte unter eine ganz strenge Aufsicht gestellt werden und seie somit dem Gemeinderath und Vormund zur Verfügung zu überlassen. Dieser Antrag ist mit einer grossen Mehrheit beschlossen.“
So ganz daneben geschlagen hat der Junge dann offensichtlich doch nicht, denn er machte immerhin eine Lehre, die er als Achtzehnjähriger abschloss, und muss sich dann die nächsten 10 Jahre einigermassen gut aufgeführt haben, denn anders hätte er das Wanderbuch nicht erhalten, um sich als Geselle irgendwo im In- oder Ausland Arbeit zu suchen und zu bewähren. Sein Buch bestätigt ihm denn auch, dass er jeweils „klaglos gearbeitet“ habe, was nicht hiess, dass er bei der Arbeit nicht klagte, sondern dass man sich nicht über ihn beklagte. Seine Wanderschaft währte allerdings nicht eben lange: Der letzte Eintrag im Wanderbuch ist mit dem 15. April 1862 datiert.
Ein gutes Jahr später, am l9. Juli l863, richtete Karl Joseph Brühlmeier, Küfer, folgende Bitte an die Gemeindeversammlung: „Der Unterzeichnete ist entschlossen, nach Amerika auszuwandern und die hiesige Heimat gegen die dortige zu vertauschen. Ich bin zwar von Profession ein Küfer, sodass man glauben sollte, ich könne mich mit diesem Beruf gut durchbringen. Allein dieser Beruf erfordert, um ihn erträglich betreiben zu können, ein ordentliches Vermögen zum Ankauf von Werkzeugen und Holz und zudem geräumigen Platz. Ohne diese Mittel ist der Küfer gleich einem Reiter ohne Pferd. Es weiss jeder Bürger, dass mir keine Aussichten auf ein besseres Los bevorstehen. Von Jugend auf arm, verachtet und auch verfolgt, suchte ich schon in jungen Jahren das Weite, weil ich es nicht ertragen konnte. Ich bin Euer Mitbürger und Anteilhaber am Gemeindegut, auf das ich für mich und meine allfälligen Nachkommen durch die Auswanderung verzichte, indem unter tausend Auswanderern ja kaum einer wieder zurückkehrt. Für die Auswanderung bedarf ich der Reise- und Zurüstungskosten. Da ich arm bin, stelle ich die Bitte:
- Die Gemeinde möchte beschliessen, an meine Kosten ca. l00 Fr. beizutragen.
- Gegen Verbürgung 200 Fr. ausleihen, zinstragend à 4 % und rückzahlbar in 8 Jahresterminen. Die Bürgschaft wird in Wettingen bestellt.“
Spiegelberg, von dem ich das Zitat übernommen habe, schreibt dann (in seinen stenographischen Notizen): „Das Gesuch scheint vorerst keinen Erfolg gehabt zu haben. Am l. Okt. l864 beschloss dann die Gemeindeversammlung, dem Gesuchsteller 80 Fr. an seine Reisekosten nach Nordamerika zu geben. Das Gesuch wurde von alt Ammann Leonz Bopp und Bezirksrichter Johann Meier unterstützt.“
Ob er dann die Reise wirklich angetreten hat, bedürfte weiterer Abklärungen. Sicher ist nur eines: Er starb zwei Jahre darauf, am 28. Dez. 1866. Die Frage bleibt, weshalb sein Pass auf die Gemeindekanzlei kam. Möglich wäre, dass er von Amerika aus – und zwar von privater Seite – mit der Meldung seines Todes nach Wettingen geschickt wurde. Dagegen spricht, dass sich im Pass keinerlei Stempel oder Hinweise auf einen Grenzübertritt finden.
Seine Mutter Verena hat übrigens im Jahre 1852 im Alter von 45 den um 4 Jahre älteren Balthasar Albert Merkli geheiratet.