Arthur Brühlmeier

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Die Entfaltung von musisch-kreativem Können in der Volksschule

(unter besonderer Berücksichtigung der Musik)

Vorbemerkungen:

Der gewählte Titel liesse ein dickes Buch erwarten. Der hier vorgelegte Text ist indessen als Positionspapier im Rahmen einer bestimmten Lehrveranstaltung entstanden und möchte darum vor allem anregen. Vieles wird bloss kurz angesprochen, vieles, das auch abgehandelt werden müsste, bleibt ausgeblendet. Auch wird verzichtet auf das gegenseitige Abwägen unterschiedlicher pädagogischer Positionen. Schliesslich beschränke ich mich bei der Behandlung einzelner Fächer auf die Musik. Kurz: Ich lege hier eine Skizze vor, die zur grundsätzlichen Besinnnung anregen möchte und vielleicht geeignet ist, da und dort die Praxis zu befruchten.

1. Einige Überlegungen zu den gewählten Begriffen

In der griechischen Mythologie galten die Musen – Töchter des Zeus und der Mnemosyne (Göttin der Erinnerung) – als Schutzgottheiten der Künste. Allmählich wurden ihnen bestimmte Künste zugeordnet, nämlich:

  • Erato: Liebeslyrik, Spiel auf Saiteninstrumenten
  • Euterpe: ernste Lyrik, Spiel auf der Doppelflöte
  • Kalliope: Erzählkunst, Kunst des Schreibens
  • Klio: Geschichtsschreibung
  • Melpomene: Tragödie, tragische Maske
  • Polyhymnia: Chorgesang
  • Terpsichore: Tanz, Spiel auf der Lyra
  • Thalia: Komödie, komische Maske
  • Urania: Astronomie, Umgang mit Globus und Zirkel
  • Als Anführer der Musen (Musagetes) galt allgemein Apollo.

Es fällt auf, dass damals offenbar weder die Malerei, noch die Bildhauerei noch die Architektur den Schutz einer Muse genossen.

Der Begriff „musisch“ ist durch den vielen Gebrauch abgegriffen und randlos. Unter einem „amusischen“ Menschen versteht man jemanden, der keinen Sinn für das Schöne, keinerlei Kunstverstand besitzt und sich bloss an die „nackten Realitäten“ hält. „Musische Erziehung“ strebt somit primär nach Empfindsamkeit, Sensibilität für das Schöne, Kunstsinn. Sie ist der „ästhetischen“ Erziehung nahe verwandt und möchte aus den Kindern „musische Menschen“ machen.

Ein musischer Mensch bleibt nicht im bloss Zweckhaften stecken. Er isst nicht bloss, sondern isst schön und mit Genuss. Er bewegt sich nicht bloss, um voranzukommen, sondern tanzt. Er ergötzt sich nicht bloss an Plänen mit klarem Grund-, Auf- und Seitenriss, sondern liebt Bilder. Im Bereich der Töne sind Militärmärsche nicht das einzige, was ihn anspricht. Wenn ihm im Sektor Kunst etwas Neues begegnet, fragt er nicht „Was soll das?“, sondern „Was ist das?“. Gedichte sind ihm nicht bloss Schulbuchfüller, und Märchen sind auch etwas für Erwachsene. Ihn beglücken Spiel und Phantasie. Und immer kann er wieder staunen: vor Blumen, Käfern, Steinen, Sternen, Menschen. Er ist imstande, einen Liebesbrief zu schreiben. Er hat Sinn für Zärtlichkeit und Romantik. Gelegentlich vergiesst er Tränen. Er ist kein Dickhäuter und darum zu Zeiten kompliziert. Einige sind in der Gefahr zu entschweben. Sie bewegen sich auf schöngeistige Art stets ein paar Meter über dem Erdboden. Aber das sind die Ausnahmen.

Im Vordergrund steht also das Rezeptive: das Aufnehmen, das Empfinden. Aber der wahrhaft Musische bleibt dabei nicht stehen: Er musiziert, malt, dichtet, rezitiert und tanzt selber. Beim Musizieren, Tanzen oder Rezitieren kann er Nachgestalten: Er setzt dann Noten, Choreographien, Texte um und verbindet dies mit eigenem Können. Beim Malen ist dies schon schwieriger und weniger gebräuchlich, und beim Dichten hört es ganz auf; da steht man stets vor dem Nichts und muss es mit Neuem füllen. Es gibt also einen Weg vom Nach-Empfinden über das Nach-Gestalten zum eigenen Schaffen. Der Begriff des Musischen umschliesst dies alles, also auch das Kreative. Für die Schule heisst das: Die Schüler sollen nicht nur empfindsam werden, sondern schliesslich auch einiges können und Lust entwickeln zum eigenen Schaffen.

2. Musisch-kreatives Können als schulisches Bildungsziel

Der wirkliche, grosse Könner schafft Kunst. (Das Wort „Kunst“ leitet sich von „können“ ab.) Man sollte aber bescheiden bleiben: Nicht jeder kreative Musische ist ein Künstler. Und weil das so ist, darf Erziehung zu musisch-kreativem Können als allgemeines, d.h. für jedes Kind gültiges Bildungsziel in der Schule ihren Platz haben. Aber die Volksschule ist keine Kunstakademie; ihr Auftrag ist allgemeine Menschenbildung.

Die Frage ist aber: Darf die musisch-kreative Bildung in der Schule bloss ihren Platz haben, oder soll sie ihn haben. Ich denke, sie soll, und fragt man mich, warum, und muss ich mich kurz fassen, antworte ich mit Luther:

Wer sich die Musik erkiest (erkürt),

hat ein himmlisch Gut gewonnen,

weil die lieben Engelein

selber Musikanten sein.

Was Luther leider damals noch nicht wusste: Die lieben Engelein malen und tanzen auch und spielen auch Theater.

Profaner ausgedrückt: Musisch-kreatives Können schafft Lebensqualität.

Es gibt natürlich noch andere Gründe für die Pflege des Musischen in der Schule. Sie haben primär etwas mit Ganzheit des Menschen zu tun. Darüber hinaus gibt es didaktische Gründe: Kinder essen Salat auch lieber mit einer feinen Sauce und schätzen als Zutat zum trockenen Brot Butter und Konfitüre. Ich weiss: Das ist ein gefährliches Argument, denn es definiert das Musische als nicht zwingende Zutat. Ich würde darum dieses Argument nicht anführen, wenn ich nicht schon andere genannt hätte.

Gewiss ist, dass musisch-kreatives Können in einzelnen Schul-Fächern in besonderer Weise im Zentrum stehen, z.B. im Zeichnen und im Musikunterricht. Man sollte das Musisch-Kreative aber nicht in diese Fächer einsperren. In dem Masse, wie der Lehrer ihm in den andern Fächern Raum zu verschaffen vermag, verleiht er dem Lernen und den Lernergebnissen eine neue Qualität. Der amusische Lehrer betreibt alles trocken, nüchtern und darum oft auch freudlos. Der musisch-kreativ gebildete Lehrer versteht sein Tun als Kunst, er verbindet Stoff und Lernen mit Fantasie, mit Spiel, mit Freude. Er paart das Wahre und das Richtige mit dem Schönen. Das geht ausnahmslos in allen Fächern. In Pestalozzis Sprache: Kopf, Herz und Hand sind eins, weil in allem das Herz „die Farbe gibt“.

Die deutsche Sprache kennt ein Wort, das diese Verbundenheit, dieses Tun aus einem heiteren, freudigen Seelengrund heraus, zum Ausdruck bringt (und das die moderne Erziehungswissenschaft scheut wie der Teufel das Weihwasser): Gemüt. Es liesse sich sagen: Gemüthaftes Tun weckt musisches Leben. Gemüthaftes Lernen regt Kreativität an. Aber auch: Entwicklung musisch-kreativen Könnens ist Gemütsbildung. Oder: Im Gemüt wurzelt das Tun, das wahres Können zeitigt.

Oben wurde gezeigt, dass das Musische einerseits das Empfinden, andererseits das eigene Tun umfasst. Es mündet also aus in Können. Genaues Nachdenken zeigt, dass auch das Empfinden ein Können ist. Darum läuft die Entfaltung musisch-kreativer Kräfte stets auf Können hinaus: Empfinden-Können, Nachgestalten-Können, Selber-schaffen-Können.

Das Selber-schaffen-Können erscheint als das Höchste. Der Mensch erfährt sich hierin als frei. Die Vorstellung von Kreativität verbindet sich darum stets mit der Vorstellung von Freiheit. Und weil das so ist und weil viele Lehrer ihre Schüler zur Kreativität führen wollen, neigen viele – oder doch einige – dazu, alles, was als Gegenpol zur Freiheit empfunden wird, für verwerflich zu halten. So sind Führung, Nachahmung, Korrektur, Bindung, Vorschrift, Vorgabe verpönt. Im Extremfall führt dies zur Devise: „Kinderchen, seid kreativ!“ Und ein Lehrer, der einem Schüler sagt, er solle sich einen Fetzen Schleifpapier Nr. 3 holen und sein Kästchen verputzen, ist ein Tyrann. Je grösser der Pfusch, desto kreativer der Erzeuger!

Es ist somit zu fragen, wo, wann, unter welchen Umständen und in welchem Masse die Freiheit des Schülers bei der Entwicklung kreativen Schaffens ihren Platz hat. Ich möchte hiezu einige Thesen in den Raum stellen, ohne jede im einzelnen zu begründen und differenziert auszuleuchten:

a) Freiheit entwickelt sich. Wo beim Kleinkind und beim jungen Schüler Vorschrift und Führung war, kommt später die eigene Entscheidung.

Auch dies ist möglich: Ein Kind kann auf dem einen Gebiet frei sein (z.B. beim Herstellen einer Zeichnung) und auf dem andern Gebiet der engen Führung bedürfen (z.B. bei der Herstellung einer Faltarbeit).

b) Beim Herstellen eines Gegenstandes (Zeichnung, Werkstück, Strickarbeit usf.) und beim Ausführen einer Fertigkeit (Lied singen, Gedicht rezitieren, Text vorlesen, Instrument spielen, Theaterrolle bekleiden, Turnübung oder Tanzfigur ausführen usf.) ist zu unterscheiden zwischen der Technik (inkl. dem sachgemässen Gebrauch der jeweils geeigneten Werkzeuge) und dem Inhalt, obwohl die beiden natürlich beim reifen Werk zur Einheit verschmelzen.

Im Rahmen der Erziehung kann als Grundsatz gelten: Neu und damit der Freiheit des Schülers anheimgestellt sind bestenfalls die Inhalte, aber die Techniken sind überliefert. In ihnen hat sich die Erfahrung vieler Generationen von Sachverständigen angereichert.

Konkret: Wie man eine Feder hält, mit Stricknadeln umgeht, den Hobel führt, die Säge handhabt, Papier schneidet, Farben mischt, ein Klarinetten-Blättchen schneidet, den Geigenbogen führt, die Finger auf die Tasten setzt, in die Flöte bläst, das Tanzbein schwingt, über die Latte springt, im Wasser schwimmt, richtig spricht, richtig atmet usf. – all dies entscheidet der kundige Lehrer und nicht der unkundige Schüler. Jede Meisterschaft beruht darauf, dass sich der Lernende, und mag er noch so talentiert sein, die grundlegenden Techniken, deren Zusammenhänge er noch nicht durchschaut, von einem Lehrer zeigen lässt. Es ist darum schnöde, hochnäsig und in die Irre führend, wenn man glaubt, das Kind müsse gewissermassen jede Technik „auf kreative Weise“ neu erfinden. Im Gegenteil: Gerade darin erweist sich der soziale Aspekt der Kultur, dass die Techniken von Generation zu Generation weitergegeben und jeweils von den Kundigen weiterentwickelt werden. Aufgabe der Schule und der Bildungsinstitutionen ganz allgemein ist es, die heranwachsenden Menschen mit den sozial entwickelten Techniken vertraut zu machen. Dies basiert grundsätzlich auf Nachahmung. Kreativität im Bereiche der Technik steht erst dem Könner und nicht dem Anfänger zu.

Die Freiheit und damit Kreativität, verstanden als eigener Gestaltungswille, findet somit ihren Platz im Bereiche der Inhalte. Sie soll – allenfalls massvoll eingeschränkt – eingeräumt werden bei der Frage, was (und nicht wie) gesungen, gespielt, geschrieben, gebaut, getanzt, gesprochen, geturnt, gezeichnet, gemalt, gestrickt, genäht, gekocht wird.

In dem Masse, wie ich mich als Lehrer ernsthaft um den Erwerb einer Technik bemühe, erweise ich all jenen, die sie entwickelt und weiterentwickelt haben, meine Reverenz. In dem Masse, wie ich darauf bestehe, dass meine Schüler eine Technik korrekt erwerben, erzeuge ich in Ihnen Ehrfurcht vor der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Bescheidenheit und Achtung vor Kompetenz verdrängt penetrante Selbstherrlichkeit.

3. Einige Thesen zur Didaktik des Musik-Unterrichts

Als zentrale Anliegen des Musik-Unterrichts in der Volksschule betrachte ich:

a) Entwicklung der Fähigkeit zum Musik-Hören

b) Einführung in die Musikgeschichte

c) singen lernen

d) Aufbau eines Liedrepertoires

e) Anregung zum Instrumentalspiel

f) Vermittlung einiger grundlegender theoretischer Kenntnisse und Fertigkeiten

a) Entwicklung der Fähigkeit zum Musik-Hören

Hier gilt es zu unterscheiden zwischen einem kritischen, auf Distanz gehenden, rational analysierenden, beurteilenden Hinhören einerseits und einem auf emotionale Identifikation, auf „ganzheitliches Eintauchen“, auf „sich von den Klängen ergreifen lassen“ hinzielendes Erleben andererseits.

Ist uns bloss das erste wichtig, können wir jedes beliebige musikalische Produkt als Gegenstand der hörenden Betrachtung wählen. Das Bildende liegt nicht in der Musik, sondern in der eigenen analysierenden Tätigkeit. Ist uns das zweite wichtig, kommen unsere Qualitätsbegriffe und damit unsere Wertvorstellungen zum Tragen, denn all das, wovon sich ein Mensch wahrhaft ergreifen lässt, erfüllt seine Seele und seinen Geist, prägt ihn, nährt ihn oder – je nachdem – höhlt ihn aus.

In der heutigen (rationalistisch orientierten und wertscheuen) Didaktik dominiert die erstgenannte Komponente. Deren Einseitigkeit produziert im Extremfall das Gehabe, über alles klug zu schwatzen, ohne eigentlich das innere Wesen erfasst zu haben. „Kunst“ ganz allgemein lässt sich aber nicht angemessen bloss mit dem Verstand erfassen. Der Unterschied zwischen dem gescheiten Reden über Musik („was da alles so los ist“) und dem wirklichen Musikerleben liesse sich vergleichen mit dem Unterschied zwischen einer klugen Abhandlung eines Weinkenners über einige vor ihm stehende exzellente Weine und dem Trinken eines guten Weins. Und so, wie die Kenntnisse über den Wein den wahren Weingenuss zwar erhöhen, aber keinesfalls ersetzen können, ebenso kann die rationale Analyse einer Hörgestalt den Genuss erhöhen, aber nicht ersetzen. Das Rationale muss daher im Dienste des wirklichen Erlebens stehen.

Für den Unterricht bedeutet dies:

  • Solche Musikstücke wählen, von deren qualitativem Wert man überzeugt ist und zu denen die Schüler in ihrem jeweiligen Alter – allenfalls durch wiederholtes Hinhören – wirklich einen emotionalen Zugang finden können.
  • Nach Möglichkeit: Verbindung mit eigenem Gesang oder Instrumentalspiel.

b) Einführung in die Musikgeschichte

Dies sollte (und kann auch) nicht isoliert geschehen, sondern im Zusammenhang mit der unter a) erwähnten Einübung in erlebnishaftes Musikhören. Im Rahmen der Volksschule (und der notwendigerweise beschränkten Stundenzahl für Musik) ist lediglich eine exemplarische Beschäftigung mit der Thematik möglich. Lehrpläne oder Lehrmittel, die hier auf nur annähernde Vollständigkeit ausgehen, gehen völlig an der Realität vorbei. Voraussetzung für eine sachgerechte exemplarische Auswahl ist eine hinlängliche Übersicht des Lehrers über das Musikgeschehen von Gegenwart und Vergangenheit.

c) Singen lernen

Als das Fach „Musik“ noch „Singen“ hiess, war klar, dass das Hauptgewicht darauf gelegt wurde, die Kinder singen zu lehren. Es ist dies eine grundsätzlich jedem Menschen mögliche Art des Musizierens und zugleich die natürlichste Art. Das Musik-Instrument ist unser eigener Körper. Im Singen bringt der Mensch sich selbst zum Klingen. Es ist demzufolge eine wahrhaft elementare Tätigkeit. Wer eingesehen hat, dass die Bildung in der Volksschule elementar sein muss, kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass das Singen auch im modernen Musikunterricht im Zentrum stehen sollte.

Es geht aber nicht bloss darum, dass die Kinder einfach singen (das tun sie z.B. in einem Pfadi-Lager auch), sondern dass sie singen lernen. Der Lehrer muss also etwas von der Kinderstimme verstehen. Er muss den Kindern richtige Tonbildung, richtige Atmung, richtige Artikulation zeigen können. Er muss Übungen zur Stimmbildung kennen und anwenden.

Von der Organisation unseres Bildungswesens her drängt sich in erster Linie der Chorgesang auf. Chorgesang ermöglicht Gemeinschaftserlebnisse und bildet hin zur Gemeinschaft. Er ermöglicht auch dem schwächeren Schüler die aktive Teilnahme, ohne dass er sich blossstellen muss. Trotzdem sollte der Lehrer die Möglichkeit des individuellen Gesangs der Schüler nicht aus den Augen verlieren. Chorgesang und Sologesang sollten einander befruchten.

d) Aufbau eines Liedrepertoires

Natürlich sollen die Schüler singen lernen, damit sie dann eben in irgendwelchen Situationen wirklich singen. Die Zeiten, in denen man zur (Hand-)Arbeit sang, sind offensichtlich vorbei. Aber gemeinsamer Gesang ist im Rahmen der Geselligkeit immer wieder möglich und auch gefragt.

Noch vor einem halben Jahrhundert gab es innerhalb gewisser kultureller Einheiten einen festen Liedbestand, den jedermann kannte, den man auch in der Schule vermittelte und auf den man dann in jeder nur erdenklichen Situation – auch wenn man nicht in derselben Klasse zur Schule ging – zurückgreifen konnte. Die Basis war also da, dass man ganz selbstverständlich gemeinsam singen konnte.

Inzwischen ist das gesamte überlieferte Liedgut – musikalisch wie inhaltlich – einer fundamentalen Kritik unterzogen und weitgehend auch verworfen worden. Manches kann von unserem Lebensgefühl her nicht mehr nachvollzogen werden, und vieles empfinden wir als verlogen oder hohl. Darüber hinaus hat sich der Blick geweitet, hin zu andern Völkern und Kulturen, und dementsprechend sind auch die Gesangbücher für die Schulen gestaltet. Zudem nehmen die meisten Schüler mindestens von der Pubertät her aktiven Anteil an einer auf die junge Generation zugeschnittenen internationalen Musik-Kultur, die wenig Bezug hat zu den Möglichkeiten des eigenen Gesangs. In unserer Zeit des Umbruchs gehen die regionalen Kulturen unter und scheint sich so etwas wie eine Welt-Kultur herauszubilden. Das ist für den gemeinsamen Gesang und damit für den Auftrag der Schule, hier einen Beitrag zu leisten, eine denkbar schlechte Voraussetzung.

Der Lehrer muss sich daher beim Aufbau eines Liedrepertoires in seinen Zielsetzungen bescheiden. Realistischerweise kann dieses Repertoire kaum mehr etwas anderes sein als eine musikalische Basis, auf die man im Rahmen der eigenen Klasse immer wieder zurückgreifen kann. Ein Lied zur Einstimmung, ein Lied zur Auflockerung, gekonnt und von Herzen gesungen, hilft mit, jene Atmosphäre zu schaffen, in denen sich Kinder wohl fühlen und gut entwickeln können. – Aber schon der Aufbau eines Liedrepertoires innerhalb des Schulhauses oder gar der Schulgemeinde würde einerseits Absprachen unter den Lehrern, andererseits ein relativ beständiges Kollegium voraussetzen, zwei Dinge, die kaum mehr zu haben sind.

e) Anregungen zum Instrumentalspiel

Die Fertigkeit, ein Musikinstrument spielen zu können, ermöglicht zweifellos ein Stück erhöhte Lebensqualität. Zudem entwickelt sich eine wirklich intensive Beziehung zur Musik meines Erachtens höchstens in Ausnahmefällen anders als über das eigene Musizieren. Schliesslich ist das Erlernen des Instrumentalspiels ganz allgemein von hohem pädagogischem Wert; man denke etwa an die Bildung des Willens durch das Erfordernis, regelmässig und diszipliniert zu üben. Es ist daher als wirklicher pädagogischer Gewinn zu werten, dass heute der Grossteil der Schweizer Kinder die Möglichkeit hat, in der Schule oder in einer Musikschule das Spiel auf einem Musikinstrument zu erlernen. Sehr viele Kinder machen heute davon Gebrauch.

Als Lehrer haben wir durchaus die Möglichkeit, diese Entwicklung zu unterstützen. Wir können Kinder, die wir für begabt halten, zum Instrumentalspiel ermutigen. Wir können unser eigenes Instrumentalspiel in den Musikunterricht einbeziehen. Wir können aber auch das Instrumentalspiel der Kinder mit dem Gesang in unserer Klasse verbinden. Dem aktiven Lehrer bietet sich hier ein Feld vielfältiger Möglichkeiten zu eigener pädagogischer Kreativität.

f) Vermittlung theoretischer Kenntnisse und Fertigkeiten

Hier begebe ich mich auf das Feld der grossen Illusionen. Seit Jahrzehnten fordern die Lehrpläne, dass die Schüler von der Unterstufe her zum Notenlesen und Vom-Blatt-Singen gebildet werden sollten, aber eine einigermassen realistische Einschätzung der Ergebisse zeigt, dass nur wenige dieses Ziel erreichen, und dies dürften wohl jene Begabten sein, die auch ausserhalb der Schule Musik machen. Jenen Schulabgänger, der selber kein Instrument spielt, aber ein einfaches Lied vom Blatt singen kann, möchte ich zuerst einmal sehen.

Woran liegt dies? Ich denke, dass es zwei Gründe gibt: Einerseits ist das Notenlesen tatsächlich nicht so einfach, wie das Buchstabenlesen, d.h. die Zielsetzung ist anspruchsvoller, als die musikalischen Fachleute annehmen, und andererseits wird dieses Bildungsziel von der Lehrerschaft zu wenig ernst genommen. Es geht wesentlich schneller, den Schülern ein Lied vorzusingen oder vorzuspielen, als es sie von den Noten her selbst erarbeiten zu lassen. Das systematische Einüben in die Technik des Notenlesens erfordert auch viel Zeit, und viele Lehrer setzen diese lieber für das Singen oder das Musikhören ein, weil sie das für wichtiger betrachten. Man sieht auch allgemein nicht so recht ein, wozu das alles gut sein soll. Die wenigsten gehen später in den Gesangverein, und diejenigen, die dies trotzdem tun, beherrschen das Notenlesen vom Instrumentalspiel her oder sollen es dann eben noch lernen. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte auch der Mangel der entsprechenden Fertigkeit bei den Lehrern sein.

Ich möchte indessen trotz allem an der Zielsetzung, die Schüler mit theoretischen Kenntnissen und Fertigkeiten auszurüsten, festhalten, schlage aber vor, dass dies grundsätzlich mit dem Erlernen eines Instruments verbunden wird. Wenn man die Blockflöte schonen will, so nehme man eben die Melodika. Für Kenner: Es gibt auch die Elementargeige. Darüber hinaus leisten die Solmisations-Silben gute Dienste. Das ganze Gebiet ist komplex; ich muss mich mit diesen Andeutungen begnügen.

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