Arbeitszeitverkürzung für Schüler?
Es scheint ausgemacht: Wer sich für die Verkürzung der Unterrichtszeit der Schüler einsetzt, ist ein Kinderfreund und betreibt den Fortschritt. Darum: Mehr Freizeit für die Kinder, und her mit der Fünftagewoche!
Dieser Forderung ist dann vorbehaltlos beizupflichten, wenn erwiesen ist, dass die rein zeitliche Belastung durch die Schule die Kinder schädigt oder dass die vermehrte Freizeit durch ihren gelebten Gehalt den Verlust an systematischer Bildung durch die Schule aufwiegt.
Solange dieser Nachweis aber nicht erbracht ist, mögen die folgenden Überlegungen geeignet sein, das Problem nüchtern zu erörtern:
Dass sich die Lehrer für Verkürzung ihrer Arbeitszeit einsetzen, ist legitim, denn ihre Arbeit ist wie jede andere Berufsarbeit in erster Linie eine Leistung für andere. Sie lassen sich daher auch dafür bezahlen. Die Schüler leisten indessen ihre Schul-„Arbeit“ in erster Linie für sich selbst. Der Zweck dieser Arbeit ist die Steigerung der eigenen Gebildet- und Erzogenheit. Diese Leistung wird daher auch nicht entlöhnt, im Gegenteil: Die entstehenden Kosten müssen direkt oder indirekt durch die Eltern der Kinder getragen werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit bedeutet daher für die Lehrer die Reduktion einer Last auf Kosten der andern (nämlich der Steuerzahler), für die Schüler hingegen eine Reduktion einer Last zu ihrem eigenen Schaden. Das leuchtet sicher spätestens dann ein, wenn man sich zur Probe den Extremen nähert: Wie herrlich für uns Lehrer, zum gleichen Lohn nur noch – sagen wir mal – 5 Stunden in der Woche arbeiten zu müssen, und wie fatal für die Schüler, dürften sie nur noch 5 Stunden pro Woche zur Schule gehen. (Dass es natürlich – bei Schülern und Lehrern – auch ein Arbeiten-Wollen gibt, sei nicht bezweifelt, nur artikuliert sich dieses dann nicht in Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung.)
Um die vorgeschlagene Verkürzung der Bildungszeit zu beurteilen, gilt es, zwei bemerkenswerte Zusammenhänge zwischen Arbeitszeit und Bildung zu bedenken:
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Der Mensch soll so weit wie möglich von bloss wirtschaftlich begründeter Arbeitslast befreit werden, damit er in seiner Freizeit mehr Möglichkeiten zur persönlichen Bildung erhält. Die Bildung ist damit der Zweck der Arbeitszeitverkürzung. So wurde die Kinderarbeit, verstanden als Arbeitsleistung für wirtschaftliche Produktion, ja u. a. gerade darum abgeschafft, um Raum für die dringend notwendige Bildungsarbeit zu gewinnen.
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Die Befreiung des Menschen von bloss wirtschaftlich begründeter Arbeitslast ist andererseits eine Folge eines gut entwickelten Bildungswesens, da nur ein solches jene Wirtschaftsleistung ermöglicht, die nötig ist, um verkürzte Arbeitszeiten finanziell verkraften zu können. (Womit keinesfalls behauptet sei, die Vorbereitung des Menschen auf das Wirtschaftsleben sei der einzige oder gar der letzte Zweck der Bildung.)
Die allgemeine Forderung einer Verkürzung der Bildungszeit für die Schüler – verstanden als Postulat des Fortschritts – ist angesichts dieser beiden Gesetzmässigkeiten unhaltbar.
Beurteilt man die Verkürzung der Arbeitszeit der Lehrer und der Bildungszeit der Schüler aus der Sicht des Staates als Sachwalter der allgemeinen Volksbildung, so kann dieser an der Arbeitszeitverkürzung der Lehrer darum ein (zwar im Widerspruch mit seinen finanziellen Interessen stehendes) echtes Interesse haben, weil davon eine Qualitätssteigerung des Bildungswesens erwartet werden kann; eine allgemeine Verkürzung der Bildungszeit der Schüler führt indessen grundsätzlich (d. h. solange sie sich nicht lernpsychologisch einleuchtend begründen lässt) zu einer Minderung der Bildungsqualität.
Wir finden erst dann ein richtiges Verhältnis zur Leistung und „Arbeit“ der Schüler, wenn wir nicht jede Anstrengung an sich als möglichst zu umgehendes Übel betrachten, sondern unterscheiden lernen zwischen Anstrengungen, die sich aus der Notwendigkeit zur materiellen Existenz ergeben (und denen wir erfahrungsgemäss so weit wie möglich aus dem Wege gehen), und Anstrengungen, die im Dienste der „Entfaltung von Kräften und Anlagen“ (Pestalozzi) stehen.
Es ist nicht anzunehmen, dass die Schüler diese Zusammenhänge ohne weiteres erkennen. Sie nehmen jede „Erleichterung“ dankend entgegen, denn der Abbau von Anstrengung wird im allgemeinen als Befreiung von äusseren Zwängen erlebt und erhöht in der Regel das Gefühl der Lust. Wir Erwachsenen hingegen dürfen nicht dem Irrtum verfallen, den subjektiven Wunsch nach Steigerung momentaner Lust mit der Befriedigung objektiv bestehender Bedürfnisse zu verwechseln. So ist der Wunsch vieler (aber durchaus nicht aller) Schüler verständlich, so wenig wie möglich zur Schule gehen zu müssen; objektiv hingegen besteht ein reales Bedürfnis, für die Meisterung des Lebens gebildet und erzogen zu werden. Die Schule ist zur Erfüllung dieser zentralen Aufgaben geschaffen worden, und sie verrät ihren Auftrag, wenn sie in Verkennung dieser grundlegenden Zusammenhänge nun plötzlich den Abbau von Bildungsarbeit und Bildungszeit als zu erstrebenden Fortschritt erklärt.
Damit sei nicht verkannt, dass heute viele Schüler an der schulischen Belastung leiden – freilich weniger an der Primarschule als auf der Oberstufe und an den Mittelschulen –, und wir haben als Pädagogen die Pflicht, uns dieser Situation anzunehmen. Das Problem kann indessen nicht über eine undifferenzierte, generelle Verkürzung von Bildungszeit gelöst werden, sondern einzig dadurch, dass die Bildungsarbeit in der Schule auf eine solche Weise gestaltet wird, dass sie die Schüler als bereichernd und erfüllend erfahren. Das geht nur, wenn man sich mit den Bildungsgegenständen in Musse auseinandersetzen kann. Angesichts der Tatsache, der man sich als realistisch denkender Mensch doch einfach nicht verschliessen kann, dass nämlich die gesellschaftlich bedingten Anforderungen an den Menschen grösser und nicht kleiner werden, ist die Verkürzung der Bildungszeit der sicherste Weg, ein Lernen in Musse zu verunmöglichen. Man produziert dann genau das, was man beseitigen wollte: nämlich den Stress.