Ist die Dorfschule wirklich so schlecht?
Referat am Süddeutschen Rundfunk, 5. Dez. 1976
Meine sehr verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer,
die kleine Schule ist in Verruf geraten. Das hatte zur Folge, dass deren Beseitigung zu einem wichtigen Anliegen der Schulreform wurde. Die Schüler der Volksschule sollten von nun an in integrierten Gesamtschulen, zumindest aber in grossen Schulzentren auf ihre künftige Lebensaufgabe vorbereitet werden. Sehr viele Dörfer haben damit ihre Schule teilweise oder ganz verloren. Man war in den entscheidenden Behörden davon überzeugt, dass die kleine Schule keine Chancengleichheit gewährleisten und keine Bildung vermitteln könne, die den Ansprüchen des modernen Lebens genügt.
Es ist freilich nicht zu bestreiten, dass die extrem kleine, sogenannte Zwergschule, in der eine einzige Lehrkraft sämtliche Jahrgänge unterrichtet, einer grösseren Schule in mancher Hinsicht unterlegen ist. Aber im Zuge der Reform verschwanden nicht nur die Zwergschulen, sondern viele sehr wohl lebensfähige Dorfschulen. Diese noch durchaus lebensfähigen Schulen sind gemeint, wenn hier die Frage aufgeworfen werden soll, ob denn die Dorfschule wirklich so schlecht sei.
Dorfschule – was ist denn das? Wer mit den ländlichen Verhältnissen aus eigener Erfahrung vertraut ist, weiss, dass dies mehr ist als das Schulhaus, die Schüler und der Lehrer. Die Schule ist das geistige und kulturelle Zentrum des Dorfes. Sie verbindet Eltern, Lehrer und Behörden durch deren gemeinsame Verantwortung für die Bildung der heranwachsenden Jugend. Die Dorfschule führt mit aller Selbstverständlichkeit, und daher fast unmerklich, die Glieder einer Dorfgemeinschaft zusammen, weil sie eine wichtige gemeinsame Aufgabe zu lösen haben. In der Dorfschule bleibt das Wissen um das in der nähern Umgebung Bedeutsame und Wertvolle lebendig, denn in ihr werden die Kinder vertraut mit interessanten Eigenheiten der örtlichen Pflanzen– und Tierwelt, mit Besonderheiten der Landschaft, mit Zeugen geschichtlicher Ereignisse, mit Merkwürdigkeiten und Schönheiten der Bauweise, mit den besonderen Beschäftigungsarten der früheren und heutigen Bewohner und mit den örtlichen Sitten und Gebräuchen. In der Dorfschule lernen die Schüler auch an überschaubaren und ihnen daher verständlichen Beispielen Probleme kennen, die sich den Erwachsenen stellen und zu deren Lösung ein sachlicher politischer Einsatz nötig und auch lohnend ist.
Ein Dorf ohne Schule verliert nicht nur die Wertschätzung für das Einzigartige, es verliert allmählich auch das Bewusstsein des Vergangenen. Ein Dorf ohne Schule steht deshalb in der grossen Gefahr, traditionslos zu werden. Durch die Preisgabe der Tradition verliert es viel von seinem eigenständigen, einmaligen Charakter und damit von seiner Wohnlichkeit. Die Menschen finden in ihm nicht mehr jene Geborgenheit, um derentwillen sie das Leben im Dorfe einem Leben in der Stadt vorzogen. Im traditionslosen oder traditionsarmen Dorf versiegen die Quellen, aus denen sich das Heimatgefühl nährt.
Das Dorf verliert indessen das Bewusstsein seiner Eigenart und seiner Vergangenheit nicht nur darum, weil die heranwachsende Generation kaum mehr etwas über das Einzigartige und Merk–würdige des eigenen Dorfes erfährt, sondern auch darum, weil viele Dörfer die am Dorfleben und an der Dorfkultur interessierten Lehrer verlieren. In wie vielen Dörfern erfüllten doch die Lehrer wertvolle Arbeit als lokale Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber. In mühseliger Kleinarbeit hoben sie Vergangenes ans Licht und stellten die noch im Dorfe erhaltenen Zeugen der Vergangenheit in den grösseren Zusammenhang der Landes– oder gar Weltgeschichte. Diese geschichts– und heimatbewussten Lehrer waren es auch, die in ihrer eigenen Schule eifrig darüber wachten, dass dieses zwar nicht weltbewegende, aber für die Dorfbewohner bedeutsame Wissen nicht in Bibliotheken verstaubte und nicht aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwand. Und in wie vielen Dörfern sind die Lehrer wichtige Träger der Dorfkultur, sei’s als Chordirigent, als Theaterregisseur, sei’s als Initiant von Veranstaltungen für Erwachsenenbildung oder als Leiter irgendwelcher Vereinigungen.
Aus dem Dargelegten wird wohl klar, dass die gute Dorfschule den eigentlichen Kern des Unterrichtsstoffs aus der eigenen nächsten Umgebung bezieht. Jede Dorfschule erhält dadurch ein einmaliges, unverwechselbares Gesicht. Freilich schafft sie damit etwas, das vielen Zeitgenossen als das Weltübel Nummer eins erscheint: Sie schafft Ungleichheiten. Gewiss entstehen aus solchen Ungleichheiten manche Probleme, so etwa beim Übertritt in andere Schulen. Doch ist es wohl falsch, die Ungleichheiten – wie dies heute gängig geschieht – nur noch als Ungerechtigkeiten und als störende Einflüsse bei der Planung zu sehen und sie damit einseitig negativ zu beurteilen. Ungleichheiten können durchaus auch positiv gewertet werden als der unmittelbare Ausdruck der Vielfalt des Lebens. Nur weil viele moderne Menschen diese positive Seite der Ungleichheit nicht mehr wahrzunehmen vermochten, konnte es geschehen, dass ein an sich wertfreies und inhaltloses Prinzip – eben das Prinzip der Gleichheit – ausgesprochen oder unausgesprochen zum obersten Ziel der Bildungsreform werden konnte. Eine Zeitlang schien man gesonnen, dem Prinzip der Gleichheit alles zu opfern. Ich habe es beispielsweise selbst erlebt, dass Pädagogikstudenten an der Universität allen Ernstes die Möglichkeit erwogen, die intelligenteren und aus geistig anregsameren Verhältnissen stammenden Kinder künstlich an ihrem Fortschritt zu hemmen, um dadurch die Chancengleichheit zu bewerkstelligen.
Nun ist, wie bereits erwähnt, das Prinzip der Gleichheit an sich ohne Inhalt. Aber wenn man bei der Verwirklichung der Schulreform Gleichheit forderte, musste man sich notgedrungen nach irgendwelchen inhaltlichen Vorstellungen ausrichten, d. h. man musste sagen, worin denn eben die Chancen bestünden, die bei allen gleich sein sollten. Es ist zwar offenkundig, dass nicht alle Reformer dieselben Chancen im Auge hatten, wenn sie Chancengleichheit forderten, aber im grossen und ganzen orientierte man sich doch – mehr oder weniger bewusst – am Leitbild des studierten Stadtmenschen. Jedes Kind sollte die Chance haben, ein Abitur zu machen und nach erfolgtem Studium auf die oberste Sprosse der gesellschaftlichen Stufenleiter zu klettern. Man mag diese Aussage als überspitzt empfinden, dass sie aber im Kern stimmt, leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, dass es gewiss niemandem in den Sinn kam, die Stadtkinder zu bemitleiden und für sie die reale Chance zu fordern, eine Dorfschule besuchen zu dürfen und Bauer zu werden. Die ländliche Lebensform wurde von vornherein als minderwertig beurteilt, und deshalb hat man auch die grossen Vorteile der Dorfschule nicht mehr gesehen und diese so leichthin beseitigt. Nur weil die Inhalte, die in den lebens– und heimatkundlichen Fächern in den Dorfschulen im Mittelpunkt standen – eben die auf die jeweilige Lage bezogenen Inhalte –, als minderwertig betrachtet wurden, hat man sie zugunsten einer weitgehenden stofflichen Vereinheitlichung aufgegeben. Und dass die ländliche Lebensform gegenüber der städtischen minderwertig ist, wird Tausenden von Kindern ohne ein einziges Wort und ohne, dass man es will, mit einer sehr einschneidenden Massnahme während vielen Jahren geradezu eingeimpft: Täglich verlassen sie ihre Dörfer und fahren in die Stadt oder ins Ballungszentrum, um sich das zu holen, was ihnen das Dorf offenbar nicht geben kann: nämlich Bildung. Oder mit andern Worten: weil einerseits die Stoffe in den grossen Schulen überregional vereinheitlicht wurden und dadurch die örtlichen Gegebenheiten in der Schule weitgehend unberücksichtigt bleiben, und weil andererseits die Landkinder täglich aus ihrem Wohnort geholt werden, muss sich in ihnen notgedrungen das Gefühl verstärken, die ländliche Lebensweise sei – verglichen mit der städtischen – minderwertig. Da aber das Dorf durch die Schliessung der Schule eine entscheidende Schwächung der Dorfkultur erlitten hat und gerade dadurch gegenüber früher und gegenüber der Stadt tatsächlich minderwertig geworden ist, wird das Minderwertigkeitsgefühl des Landkindes noch weiter verstärkt. Damit wird das genaue Gegenteil von dem erreicht, was man ursprünglich in ehrlicher Absicht anstrebte: Man wollte die Bildungsmöglichkeiten für die Landbevölkerung verbessern und dadurch das Land aufwerten, die gewählten reformerischen Massnahmen bewirken indessen geistige Landflucht und damit eine Verstärkung des immer schon verdeckt vorhandenen Minderwertigkeitsgefühls der Landbevölkerung gegenüber der Stadt.
Man muss sich fragen, wie es denn dahin kommen konnte. Ein Grund wurde bereits genannt: dass man die bäuerliche Lebensform an sich nicht mehr als wirkliche Lebenschance wahrzunehmen vermochte. Ein zweiter Grund liegt meiner Ansicht nach darin, dass wir mit aller Selbstverständlichkeit mit einer wirtschaftlichen Denkweise an die Lösung von Problemen herantreten. Damit meine ich nicht, dass finanzielle Erwägungen an erster Stelle stünden, sondern dass man glaubt, diejenigen Massnahmen, die zum wirtschaftlichen Erfolg führen, seien allgemein erfolgreich. So haben uns die letzten Jahrzehnte sinnenfällig vor Augen geführt, dass überall dort besser verdient werden kann, wo man zusammenlegt und vereinheitlicht, d. h. durch Konzentration und Koordination. Diese beiden im Wirtschaftsleben weithin bewährten Prinzipien der Konzentration und der Koordination übten nun offenbar auf die meinungsbildenden und beschlussfassenden Wissenschaftler, Journalisten und Politiker eine derartige Anziehungskraft aus, dass sie sich ganz selbstverständlich auch in der Bildungsreform durch konzentrierende und koordinierende Massnahmen einen durchschlagenden Erfolg versprachen. Sie scheinen dabei übersehen zu haben, dass in der Bildung und Erziehung wesentlich andere Prinzipien und Gesetzmässigkeiten gelten als in der Wirtschaft.
Führende Pädagogen, die sich mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes als auf das System und die Organisation ausrichteten, haben das immer gewusst, allen voran der grosse Pestalozzi. Er hat überzeugend gezeigt, dass Bildung eben gerade nicht – wie man heute weithin glaubt – ein Konsumgut ist, das durch eine vereinheitlichende Planung nach Belieben erzeugt werden kann, sondern dass Bildung als ein Prozess der aktiven Umgestaltung des Einzelnen zu verstehen ist. Dieser Prozess führt nach Pestalozzi nur dann zum gewünschten Ziel, nämlich zur Menschlichkeit des Einzelnen, wenn zwei grundlegende Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss die in der Bildung notwendige Auseinandersetzung des jungen Menschen mit der Welt ausgehen von seiner intensiven Beschäftigung mit den nächsten Verhältnissen, in denen er als Einzelner lebt und die für ihn den Ernstfall darstellen, und zweitens muss diese Auseinandersetzung geschehen auf der Grundlage dauerhafter mitmenschlicher Beziehungen. Diese beiden Erziehungsprinzipien – nämlich Bildung in den je verschiedenen nächsten Verhältnissen und Bildung von Angesicht zu Angesicht – stehen aber den beiden der Schulreform zu Grunde gelegten wirtschaftlichen Prinzipien der Koordination und Konzentration diametral entgegen. Diese Schulreform ist in dieser Hinsicht ein entschiedener Schritt weg von Pestalozzi.
Die Folgen werden bereits sichtbar. Die überzogenen Erwartungen, die man in die Bildungsreform setzte, sind weithin der Ernüchterung gewichen. Die Schüler erwärmen sich nicht für den vereinheitlichten Stoff, und viele Lehrer müssen zum Druckmittel der Schulnote greifen. Insbesondere die feinfühligen Kinder fühlen sich in der Masse isoliert, und die Ärzte und Psychologen stellen eine erschreckende Zunahme von Verhaltensstörungen und seelischen Erkrankungen fest. Freilich wäre es zu billig, für diese Erscheinungen eingleisig die Schule verantwortlich machen zu wollen. Aber man kann sich nur schwer der Einsicht entziehen, dass diese unerfreuliche Entwicklung durch die Schulreform noch verstärkt wurde. Man verstösst eben notgedrungen gegen die Bedürfnisse und Interessen des Einzelnen, wenn man sich einseitig von Interessen der Gesellschaft und von Prinzipien wie Koordination, Konzentration, Vereinheitlichung und Gleichheit leiten lässt.
Was lässt sich nun heute tun, in einem Zeitpunkt, wo nur wenige den Mut aufbringen, die Zweckmässigkeit der Schulkonzentration und der Schliessung von lebensfähigen Dorfschulen in Frage zu stellen? Ich möchte in sechs Punkten die wesentlichsten Gedanken meines Referates zusammenfassen und gleichzeitig einen Weg aufzeigen, den einzuschlagen mir in der heutigen politischen Lage vertretbar und sinnvoll erscheint:
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Es muss eine grundsätzliche Besinnung auf die Werte des ländlichen Raums im allgemeinen und des Dorfs im besonderen in Gang gesetzt werden, um die schwelenden Minderwertigkeitsgefühle der Landbevölkerung gegenüber dem Städter abzubauen.
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Es muss die Einsicht gefördert werden, dass das Dorf mit der Preisgabe seiner Schule sein geistiges und kulturelles Zentrum verliert und dass dadurch die Landflucht auf lange Sicht begünstigt wird.
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Das Verständnis für die Qualität der gut geführten, überschaubaren Dorfschule muss wachsen. Die oberflächliche Meinung, die kleine Schule sei von vornherein eine schlechte Schule, muss durch die Einsicht ersetzt werden, dass selbst Abteilungen mit 2 oder 3 Jahrgängen sehr gute Schulen sein können, weil in ihnen eine besondere Betreuung des Einzelnen besser möglich ist, weil die Jüngeren von den Älteren vieles unwillkürlich lernen und weil sich gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfeleistungen natürlich ergeben.
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Das Prinzip der Gleichheit darf nicht mehr als Wert an sich gelten. Wer die Ungleichheiten nicht als Ausdruck der Vielfalt des Lebens bejahen kann, der betrachte sie wenigstens im Hinblick auf die grossen Nachteile einer übertriebenen Koordination und Konzentration als das kleinere Übel.
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Die landläufige Meinung, die Konzentration im Schulwesen sei auf die Dauer billiger, muss unter die Lupe genommen werden. Angesichts der riesigen Aufwendungen für die Errichtung von Mittelpunktschulen, des Wertverlustes durch Ausserdienstsetzung teils moderner Schulanlagen auf dem Dorfe und angesichts der jährlich anfallenden Transportkosten von gegenwärtig hundersechzig Millionen DM für das Land Baden–Württemberg ist es im Gegenteil hoch wahrscheinlich, dass es billiger gewesen wäre, die an sich tragfähigen Dorfschulen auszubauen und mit modernem Lehr– und Lernmaterial auszurüsten. – Und schliesslich
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Die Politiker, Behörden, Eltern und Lehrer solcher Dörfer, die noch über eine eigene Schule verfügen, sollten sich über die Parteigrenzen hinweg zusammenschliessen, um den Verlust ihrer Schule im Interesse ihrer Kinder zu verhindern. Dies erfordert zwar viel Kraft und Mut, spätere Generationen werden indessen diesen Einsatz zu danken wissen.