Schule heute
Es wurde mir die Ehre zuteil, anlässlich der Jubiläumsfeier ‘Fünfzig Jahre Schulpsychologischer Dienst des Kantons St. Gallen’ am 2. September 1989 das Festreferat zu halten. Der Bitte der Veranstalter, das frei vorgetragene Referat schriftlich vorzulegen, komme ich gerne nach. Da keine Tonbandaufnahme gemacht wurde, musste ich mich an meine knappen Notizen halten. Das führte dazu, dass hier nur der grundlegende Gedankengang des Vortrags beibehalten werden konnte. Dessen schriftliche Ausformulierung ermöglichte mir nun aber, vieles, was in St. Gallen nur angedeutet wurde, ausführlicher darzulegen, Unwesentliches wegzulassen und einiges Neue, das im Original überhaupt nicht zur Sprache gebracht wurde, in den Text einzubeziehen.
Ich danke dem Schulpsychologischen Dienst des Kantons St. Gallen, allen voran Herrn Dr. A. Lobeck, dafür, dass diese Publikation ermöglicht wurde.
Sehr geehrte Damen und Herren,
leichtsinnigerweise habe ich mich dazu verleiten lassen, über das Allerweltsthema ‘Schule heute’ zu sprechen. Beim Versuch, den grossen Brocken etwas zu spalten oder ihn wenigstens von verschiedenen Seiten her anzublicken, tauchen in mir zwei Fragen auf:
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Wie sieht die ‘heutige Schule’ aus, was sind ihre Eigenheiten?
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Wie wünschte ich mir die ‘heutige Schule’?
Wende ich mich dann der ersten Frage zu, so wird sofort deutlich, dass es wenig Sinn hat, die ‘heutige Schule’ ohne jede Wertung zu beschreiben. Fruchtbar wird eine solche Analyse nur, wenn die ‘heutige Schule’ beurteilt wird und somit auch Wert- und Zielvorstellungen zum Tragen kommen. Ich kann daher die erste Frage nicht behandeln, ohne gleichzeitig meine Antworten auf die zweite Frage als Richtschnur zu benutzen. Was also von meinem ersten Spaltungsversuch bleibt, ist ein Gedankengang, der bei der wertenden Analyse der ‘heutigen Schule’ ansetzt und zur Ausformulierung von Zielvorstellungen für die ‘heutige Schule’ fortschreitet.
Die ‘heutige Schule’ – Versuch einer Beurteilung
So sehr es mich lockt, den Gegenstand unserer Betrachtung – die ‘heutige Schule’ – als Brocken ins Auge zu fassen, der sich zur besseren Erfassung geistig spalten lässt, so wenig zutreffend ist das gewählte Bild. Die ‘heutige Schule’ ist vielmehr einer Nebelschwade zu vergleichen, die im Dunst verschwimmt. Kurz: Randlos. Vor mir sehe ich die Verhältnisse in der Deutsch-Schweiz; im übrigen tun wir am besten einfach so, als wüssten wir, was das sei – die ‘heutige Schule’…
Zwei Aspekte der Schule lassen sich klar unterscheiden:
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Einerseits meinen wir mit ‘Schule’ die Systeme, die durchgehenden Strukturen, die gesetzlichen Regelungen, die materiellen Voraussetzungen – kurz: all das, was in den Kompetenzbereich des Politikers und der Bildungsverwaltung gehört.
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Anderseits verstehen wir unter ‘Schule’ den konkreten Unterrichts- und Bildungsvollzug in den Tausenden von Schulstuben und in der unabsehbaren Vielfalt personaler Beziehungen zwischen Lehrer und Schülern, zwischen Schülern unter sich, zwischen Lehrer und Kollegen, zwischen Lehrer und Behörden, Lehrer und Eltern usf.
Exkurs: Eine notwendige Unterscheidung
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir einen etwas theoretischen Exkurs, der auf Anhieb kompliziert wirken mag, aber für das Verständnis meiner weiteren Ausführungen unentbehrlich ist. Mit der obigen Unterscheidung ist nämlich etwas sehr Grundlegendes ins Auge gefasst: die beiden wesensmässig zu unterscheidenden Handlungskonzepte, die uns Menschen ganz allgemein zur Verfügung stehen, um unsere Lebensbereiche und unser Leben zu gestalten und zu verbessern. Ich bezeichne sie im folgenden als institutionelles bzw. personales Handeln.
Institutionelles Handeln
Das institutionelle Handeln ist allgemein, abstrakt und mittelbar. Es schafft oder verändert Zustände, die ihrerseits als Bedingungen oder Voraussetzungen personales Handeln auslösen oder beeinflussen können. Handlungsberechtigt ist hier jeder, der im Rahmen einer bestimmten Institution (Staat, Wirtschaft, Kirche, Schule, Verein, Verband usf.) über Kompetenzen verfügt, um den Zustand der betreffenden Institution zu beeinflussen. Und handlungspflichtig ist jeder, der in seinen einzelnen Handlungen vom Willen einer Institution abhängt. Institutionelles Handeln gruppiert somit die Menschen in Freie und Hörige: Frei sind jene, welche die Institution als solche gestalten, hörig sind jene, welche sich dem Willen der Institution bloss darum fügen, weil diese es verlangt oder weil die Verweigerung Konsequenzen nach sich zöge, die sie scheuen.
Personales Handeln
Personales Handeln dagegen ist spezifisch, konkret und unmittelbar: ein existentieller Akt in einem bestimmbaren Zeitpunkt, der entweder in sich selbst sinntragend oder auch zweckgerichtet sein kann. In beiden Fällen beruht er auf personalen Impulsen, die vom Handelnden selbst gewählt und selbst verantwortet werden. Diese personalen Impulse können zwar durch institutionelles Handeln mittelbar oder unmittelbar angeregt, beeinflusst oder veranlasst sein, stimmen jedoch stets mit den Überzeugungen und Absichten des handelnden Individuums überein. Personales Handeln differenziert daher die Menschen nicht nach Freien und Hörigen, sondern kennzeichnet die Freien, allerdings nur insoweit, als diese unmittelbar und nicht mittelbar (institutionell) handeln.
Beispiele
Diese etwas massierte Theorie soll durch ein paar Beispiele erhellt werden: Institutionell wird gehandelt, wenn eine Krankenkasse das Reglement ändert oder der Kassier einem Mitglied die Arztrechnung bezahlt. Personal wird gehandelt, wenn sich ein Arzt nachts auf den Weg macht und einem Verunfallten beisteht. Institutionell handelt der Staat und handeln auch die kompetenten Politiker, wenn das Parlament den Bau einer neuen Strasse beschliesst, und institutionell handeln auch der Polier, der den Arbeitern Anweisungen gibt, und der Arbeiter, der die Walze steuert. Personal jedoch wird gehandelt, wenn ein Arbeiter sein Bier mit dem andern teilt oder ekelhaft reagiert, wenn dem andern ein Fehler unterlaufen ist.
Domänen des institutionellen Handelns
Wie die Beispiele zeigen, gibt es durchaus Bereiche, in denen das institutionelle Handeln problemlos zur Verwirklichung der angestrebten Ziele führt. Das Handeln der einzelnen Menschen ist dabei derart hochgradig durch die Gesetzmässigkeiten der jeweiligen Institution bestimmt, dass die Absichten der handelnden Institution gewissermassen im Massstab 1:1 erreicht werden. Wenn z.B ein Parlament eine Lohnerhöhung für die Lehrerschaft beschliesst, so wird die erwünschte Absicht durch den institutionell gefassten Beschluss mit Sicherheit erreicht, denn das Handeln der betroffenen Menschen – angefangen vom Staatsbeamten, der die Zahlungsaufträge ändert, bis hin zum Post-Beamten, der dem Lehrer das Geld aushändigt – beeinträchtigt in keiner Weise die Absichten der institutionell Handelnden. Ähnliches ist zu sagen, wenn neue Bauvorschriften erlassen, Strassenbauten beschlossen, Steuergesetze verabschiedet, Umweltbelastungsnormen festgesetzt oder der Gebrauch irgendwelcher Apparate bewilligt wird.
Allgemein liesse sich sagen: Es gibt zweifelsfrei Bereiche, zu deren Gestaltung und Verbesserung das institutionelle Handeln das eigentlich Konstituierende ist. Die in den Prozess involvierten Menschen funktionieren als unselbständige und für die Ziele ihres Handelns nicht primär verantwortliche Teile eines übergeordneten Handlungszusammenhangs. In diesen Bereichen mag zwar auch personales Handeln mit dem institutionellen Handeln verbunden sein, aber es ist nicht das Wesentliche, sondern das Zufällige.
Domänen des personalen Handelns
Demgegenüber – und dies ist das Entscheidende meines ganzen Gedankengangs – gibt es Lebensbereiche, zu deren Gestaltung und Verbesserung nicht das institutionelle, sondern das personale Handeln das Konstituierende ist. Es sind dies all jene Bereiche, in denen nicht die Gestaltung äusserer Bedingungen – gesellschaftliche Zustände, dingliche Verhältnisse, kurz: der Bereich des Habens -, sondern die ‘Gestaltung’ des einzelnen Menschen selbst als Ziel vorgesetzt ist. Diese Bereiche sind: Seelsorge, Heilung und Pflege von Körper, Seele und Geist sowie Erziehung und Bildung.
In all diesen Bereichen kommt auch dem institutionellen Handeln ein bestimmter Stellenwert zu. Dieses ist zwar nicht zufällig (wie das personale Handeln als Zusatz zum institutionellen), aber eben doch nicht konstituierend; das institutionelle Handeln bedeutet für das personale oft eine nützliche oder notwendige Voraussetzung oder Bedingung, es ist aber in den genannten Bereichen unverzichtbar auf das personale angewiesen. Oder anders gesagt: Im Bereiche der Gestaltung des Menschen selber vermag institutionelles Handeln Veränderungen bloss zu ermöglichen, nicht aber zu bewirken.
Versuch einer Beweisführung
Das ist vorerst eine Behauptung, deren Richtigkeit ich jetzt nachzuweisen versuche. Dabei beschränke ich mich in meiner Argumentation auf den Bereich von Bildung und Erziehung und lasse die übrigen oben genannten Gebiete der ‘Gestaltung des Menschen selbst’ in den Hintergrund treten. Im Prinzip gelten dort aber dieselben Gesetzmässigkeiten wie im Bereich des Pädagogischen.
Grundsätzlich lässt sich die Aktivität des Menschen einteilen in reine, in sich ruhende Tätigkeiten (z.B. Tanzen, Singen, Denken) und in Handlungen, welche einen als Nicht-Ich, als Aussenwelt wahrgenommenen Bereich gestalten oder umgestalten wollen. Auch dieser zweite Bereich lässt sich wiederum zweifach unterteilen: Einerseits kann sich die Gestaltungsabsicht eines Menschen auf eine dingliche, verdinglichte oder gesellschaftliche Situation beziehen, anderseits aber auf selbst handelnde bzw. handlungsfähige Subjekte.
- Im Bereich des Dinglichen vermag der Mensch, sofern er die Naturgesetze respektiert, grundsätzlich die gesetzten Ziele zu erreichen, denn das Material seiner Gestaltungsimpulse ist entweder völlig passiv oder zumindest – wie bei Pflanzen und Tieren – ohne eigenen Gestaltungswillen. In diesem Fall also gestaltet der Mensch ‘Welt’, und die erzielten Resultate sind direkte Wirkungen seiner ursächlich gesetzten Handlungen.
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Im andern Fall aber tritt der Mensch in eine doppelseitige, dialogische Beziehung ein und erreicht – sofern wir die nicht-dialogische Beziehung von Zwang und Unterdrückung des andern ausschliessen wollen – seine Absichten nur dadurch, dass sich sein Dialog-Partner mit seinen Absichten anfreundet und sie sich zu eigen macht. So liesse sich sagen: Wir handeln an der Welt, aber mit den Mitmenschen. Insofern wir mit jemandem handeln, besteht zwischen unsern Absichten und dem erreichten Ziel keine zwingende Notwendigkeit, weil sich hier zwischen Ursache und Wirkung der Eigenwille unseres Partners als integrierende Entscheidungsinstanz einschaltet.
Für den Bereich der Bildung und Erziehung bedeutet dies: Es gibt grundsätzlich keine Garantie dafür, dass das, was wir als Erzieher beim Kinde erreichen wollen, auch eintrifft – eben darum, weil das Kind (und dies mit zunehmendem Alter immer stärker) einen eigenen Willen und damit eine eigene Entscheidungsinstanz ausbildet und darstellt. Wenn wir also das Kind im Sinne der Erziehung und Bildung ‘verändern’ oder ‘gestalten’ wollen, so kann dies niemals ein Handeln am Kinde, sondern immer nur ein Handeln mit dem Kinde sein. Bildungserfolge im Sinne unserer Absichten (etwa formuliert im Lehrplan) stellen sich nur in dem Masse ein, als sich der Schüler die von uns erwünschten Handlungs- und Verhaltensimpulse selbst zu eigen macht und aus eigenem Willen das tut, was wir als erforderlich erachten.
Ich kann somit als Erzieher keinem Kinde meinen Willen auf gleiche Weise aufzwingen, wie ich einem Stück Ton die gewünschte Form aufzwinge. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, wie von einer Gesellschaft als wünschbar erachtete Handlungsimpulse in einem Schüler ‘erzeugt’ werden können. Oder anders: Wie gewinne ich den Eigenwillen des Kindes für das, was der Gesellschaft und mir als Erzieher notwendig scheint? Oder noch anders, etwas praktischer: Wie ‘motiviere’ ich den Schüler, das zu leisten und zu lernen, was z.B. die Lehrpläne von ihm verlangen?
Eines ist klar: Das blosse, kalte Ding an sich – in unserem Beispiel der Lehrplan oder das Bildungsgesetz als Resultate von institutionellen Handlungen – erreicht das, was es erreichen möchte, aus sich selbst heraus nicht. Der Schüler muss in jedem Falle ja sagen zur Zumutung, dass ‘man’ ihn bilden will. Es ist anzunehmen, dass viele Schüler einige Zielsetzungen unserer Lehrpläne von sich aus bejahen würden, ohne dass irgend jemand ‘nachhilft’. Aber es entspricht doch zumindest dem Selbstverständnis einer Lehrplan- oder Lehrmittelunternehmung, dass die Schüler sich nun eben auch auf Dinge einlassen, die sie von sich aus nicht wählen würden. Und wenn wir nun die Frage stellen, wer sie dazu zu veranlassen vermag, so leuchtet ein: Da es die Dinge aus sich selbst heraus nicht können, müssen es Menschen – konkret: die Lehrer – sein, die in ihnen den Eigenwillen zur Auseinandersetzung mit dem Geforderten zu aktivieren vermögen.
Wer mir bei der Argumentation bis zu diesem Punkte gefolgt ist, wird einwenden, ich hätte zu Beginn ja eingestanden, dass auch im Bereiche des institutionellen Handelns einzelne Handlungen von Menschen im Sinne von ‘Ausführung der Vorschriften’ mitbeteiligt sind, dass also die Institution Schule den Lehrer – gleichsam als Hörigen – verpflichten könne, den Schüler in der vom Gesetz erwünschten Weise zu motivieren. Mit andern Worten: personales Handeln sei nicht zwingend notwendig, institutionelles genüge auch.
Doch diese Rechnung geht nicht auf. Um die Gründe zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass dem Lehrer bloss zwei Mittel zur Verfügung stehen, um seine Schüler zum Lernen und Leisten zu motivieren: nämlich psychischer Druck oder gar physische Gewalt (d.h. ‘äussere’ Macht) einerseits und echte Autorität anderseits.Dass der Rückzug auf autokratische Verhaltensweisen des Drucks und Zwangs unpädagogisch ist, muss wohl nicht weiter begründet werden. Es ist also reine Logik, dass – übers Ganze betrachtet – wirkliche Lernerfolge nur im Rahmen einer Lehrer-Schüler-Beziehung entstehen können, welche auf gegenseitigem Respekt und damit auf echter Autorität des Lehrers beruht.
Mit dem Hinweis auf die echte Autorität ist nun auch jenes Bindeglied gefunden, welches zwischen einer Erziehungs- oder Bildungsabsicht einerseits und dem Eigenwillen des Kindes anderseits steht. Nur die echte Autorität vermag zu erwirken, dass das Kind die Bildungserfordernisse zum Inhalt seines eigenen Willens macht.
Da nun aber der erwünschte Bildungserfolg mit der Autorität des Lehrers steht und fällt, muss die Frage thematisiert werden: In welchem Verhältnis steht die echte Autorität zum institutionellen Handeln einerseits und zum personalen Handeln anderseits?
Die Antwort liegt wohl auf der Hand: Da echte Autorität grundsätzlich ein Ausdruck einer freien, selbstbestimmten Persönlichkeit ist und auf einer Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit beruht, die nur auf dem Boden der Selbstverantwortung wachsen können, steht sie im Widerspruch zur fremdbestimmten Vereinnahmung des einzelnen Menschen für ein kollektives Handeln, mit dem er sich nicht identifiziert. Wir Lehrer sind darum unsern Schülern gegenüber nur insofern glaubwürdige Autorität, als es für sie erlebbar wird, dass unsere Anforderungen, die wir stellen, auf eigener Überzeugung und eigener Verantwortung beruhen. Aber in dem Masse, als wir uns den Schülern gegenüber als ferngelenkte Marionetten zu erkennen geben, werden wir unglaubwürdig und vermögen – ohne den Widerspruch vertuschen zu können – Bildungsanforderungen bloss noch mit zwielichtigem Druck durchzusetzen.
Das bedeutet: Der Lehrer, der gleichsam als Vermittler zwischen den Absichten der Institution Schule und dem konkreten Schüler steht, muss ein freier Mensch sein, der das, was er den Schülern gibt, nicht einfach weitergibt, weil andere es von ihm wollen, der also – um mit Hartmut v. Hentig zu sprechen – nicht ‘Verkäufer’ des Bildungsgutes ist, sondern das, was in den Schülern zum Leben erweckt werden soll, selbst verkörpert, der also – wiederum v. Hentig – als ‘Darsteller’ wirkt. Konkret bedeutet dies: Nur das, was sich der Lehrer aus echtem Interesse oder Einsicht in Notwendigkeiten – somit aus freiem Willen – seelisch-geistig angeeignet hat, entwickelt im Rahmen seiner wirklichen Autorität jene Strahlungskraft, die das Innenleben des Kindes – das Staunen, die Neugier, das Interesse, die Lernlust – tatsächlich zu erreichen und damit das Kind zur Selbsttätigkeit anzuregen vermag.
Da somit der Lehrer dem gesellschaftlich verordneten Lehrgut gegenüber als selbstbestimmte Person steht und nicht als fremdbestimmte Durchlaufstation, da somit die verordneten Bildungsgüter zuerst in ihm zu einem echten Bildungserlebnis werden müssen, gilt für ihn all das ebenfalls, was bezüglich des Beeinflussungsversuchs von irgend einem Menschen oder einer Bestimmung gegenüber einem Kinde gesagt wurde: Auch er ist keine Marionette, die die Beine spreizt, wenn Fäden gezogen werden, sondern ein Subjekt mit eigener Entscheidungskompetenz. Darum werden nur jene von aussen kommenden Handlungsimpulse wirksam, zu denen er ja sagen und die er zum Inhalt eigenen Wollens machen kann. Mit andern Worten: Im Lehrer schlägt das institutionelle Handeln in personales um und muss in ein solches umschlagen, wenn der Bildungserfolg eintreten soll.
Daraus leitet sich zwingend die Forderung ab: Die institutionelle Seite des Systems Schule darf sich nicht derart vordrängen, dass sie sich zwischen Schüler und Lehrer schiebt, dass also der Schüler den Lehrer bloss als Diener des Systems wahrnimmt, sondern umgekehrt: Der Lehrer steht zwischen dem Handeln der Institution und dem Schüler und verkörpert in seiner Person grundsätzlich die zum Wohle des Schülers ersonnenen institutionellen Vorkehrungen. Es wird später zu zeigen sein, was seitens der Institution gegeben sein muss, dass er diesen qualitativen Umschlag des Abstrakten in eigene, konkrete Lebenspraxis überhaupt zu leisten vermag.
Und nun wieder zurück zum Hauptgeleise
Die vorstehend gemachte Unterscheidung menschlicher Gestaltungsimpulse in institutionelles und personales Handeln stellt mich als Beurteiler der ‘heutigen Schule’ vor zwei grundlegend verschiedene Situationen:
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Die institutionelle Seite des Systems Schule lässt sich nämlich relativ einfach beurteilen, weil die Fakten als Zuständlichkeiten andauern und allgemein bekannt oder doch relativ einfach feststellbar sind.
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Ganz anders verhält sich dies im Bereiche des personalen Handelns. Genau betrachtet, gibt es nämlich hier die ‚heutige Schule‘ gar nicht, sondern es gibt nur unzählige Situationen, die gestern anders waren als heute, und heute anders sind, als sie morgen sein werden. Möchte jemand diese Vielfalt objektiv beurteilen, müsste er idealerweise sämtliche Bildungsvollzüge, die sich an einem bestimmten Tag ereignet haben, kennen. Selbst dann könnte er aber keine wesensmässigen Aussagen machen, wie dies im Bereiche des Institutionellen durchaus möglich ist, sondern bloss statistische.
Einige persönliche Ansichten über die personale Seite der ‚heutigen Schule‘
Da ich mich nun aber schon darauf eingelassen habe, über die ‘heutige Schule’ zu sprechen, möchte ich mich nicht ganz um ein paar Beurteilungen von deren personalem Aspekt herumdrücken. Die Sache ist indessen so delikat – eben weil (im Gegensatz zu den Verhältnissen im institutionellen Bereich) keine allgemeinen, sondern bloss verallgemeinernde und damit dem Einzelfall niemals ganz angepasste Aussagen gemacht werden können -, dass ich bloss solche Phänomene erwähnen will, bei denen ich mich aufgrund meiner direkten Beobachtung der Gesamtsituation sicher glaube. Auch beschränke ich mich auf positive Entwicklungen, wobei ich die heutigen Zustände mit jenen vergleiche, wie man sie vor ein paar Jahrzehnten erleben konnte:
Die Zusammenarbeit zwischen Lehrern hat – übers Ganze gesehen – zwar noch keineswegs den erwünschten Stand erreicht, scheint mir aber doch wesentlich besser als ehedem. Intensiver sind auch die Kontakte zwischen Lehrern und Eltern geworden, wobei nicht übersehen werden kann, dass die Beziehung zwischen Schule und Elternhaus wesentlich konfliktbeladener ist als früher, u. a. darum, weil sich viele Eltern in Bildungs- und Erziehungsfragen kompetent genug fühlen, um ihre Forderungen gegenüber der Lehrerschaft mit relativ grossem Nachdruck zu vertreten. Vielleicht die eklatanteste Verbesserung im Vergleich zu früheren Zeiten ist im Bereiche der Lehrer-Schüler-Beziehung feststellbar. Die Lehrerinnen und Lehrer gehen im allgemeinen herzlicher, höflicher und mit mehr Einfühlung und Verständnis mit ihren Schülern um, als dies ehedem der Fall war, und verstehen es auch besser, Konflikte auf eine solche Art zu lösen, dass sich die Kinder verstanden und ernst genommen fühlen können.
Und so sehe ich die institutionelle Seite
Man mag meine Beurteilung der personalen Situation der Schule für zu optimistisch halten. Das schreckt mich nicht davor ab, auch die institutionelle Seite der Schweizer Schule – für sich betrachtet – in ein grundsätzlich positives Licht zu stellen. Wie die folgende Auflistung institutioneller Errungenschaften zeigt, leistet sich unser Staat im Bildungswesen einen sehr bemerkenswerten Aufwand, der wohl jeden internationalen Vergleich aushält. Da muss ich freilich vieles erwähnen, was wir für völlig selbstverständlich halten, aber gerade der Umstand, dass Wichtiges selbstverständlich geworden ist, spricht grundsätzlich für die Qualität unseres Schulwesens.
Also: Das Schulobligatorium ist kaum in Frage gestellt und wird mit grosser Selbstverständlichkeit von den Betroffenen respektiert. Der Schulbesuch ist nahezu lückenlos. Die obligatorische Schuldauer ist in den letzten Jahren allgemein verlängert worden und reicht aus (sofern man’s richtig macht), um die heranwachsenden Menschen so weit zu bilden, dass sie einen Beruf ergreifen und sich im Leben bewähren können.
Der grösste Teil der Kinder besucht vor dem Entritt in die Schule während einem oder zwei Jahren den Kindergarten. Dank dem Umstand, dass bislang von einem obligatorischen Besuch Abstand genommen wurde, konnte sich der Kindergarten weitgehend als kindgemässer Schonraum erhalten, in welchem die kindlichen Kräfte ohne Leistungsdruck auf naturgemässe Weise zur Entfaltung gebracht werden können.
Die Oberstufe der Volksschule ist für verschiedene Begabungstypen bzw. Leistungsgruppen eingerichtet, was auch von jenen, die sich nicht mit der dreigliedrigen Oberstufe anfreunden können, zumindest als ehrlichen Versuch anerkannt werden muss, um das schwierige Problem der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Schüler organisatorisch lösen zu können. Darüber hinaus sind verschiedenste Lösungen rechtlich verankert worden, um für geeignete Schüler den Aufstieg in die jeweils höhere Stufe so weit wie möglich zu gewährleisten (Durchlässigkeit). Im Anschluss an die obligatorische Volksschule steht allen gemäss ihren Begabungen und Neigungen ein grosses Angebot von weiterführenden Schulen zur Verfügung: Maturitätsschulen verschiedenster Ausrichtung, Diplom-Mittelschulen, Fachschulen, gewerbliche und kaufmännische Berufsschulen, Lehrerseminarien, Überbrückungskurse, Berufswahlschulen, Kunstgewerbeschulen usf. Auch wenn hier noch mancher Wunsch offen bleiben mag, so wäre es doch ungerecht, all das viele Erreichte nicht anzuerkennen. Die Kuppel über diesen gewaltigen Schulbau bilden unsere zahlreichen Hochschulen, die so dicht wie nirgends sonst auf der Welt gesät sind und – wenn sie auch stets der Reform bedürfen – Bedeutendes leisten, das Anerkennung verdient.
Das Problem der Übertrittsprüfungen ist erkannt, und man hat in verschiedenen Kantonen praktikable Lösungen verwirklicht, in denen neben den Prüfungsergebnissen die bisherigen Leistungen der Schüler und das Lehrerurteil gebührend zum Tragen kommen.
Unser öffentliches Bildungswesen wird getragen durch eine fein gegliederte Behördenstruktur, in der die demokratischen Prinzipien grundsätzlich zum Tragen kommen. Tausende von Behördemitgliedern engagieren sich – teilweise ohne jede Entschädigung – für die Erhaltung und die Verbesserung unseres Schulwesens. Die anspruchsvollen Aufgaben der Bildungsverwaltung werden von einem grossen Personalbestand bewältigt und zwar auf allen drei Ebenen unseres Staates: im Bund, in den Kantonen und in den Gemeinden. Zehntausende von Lehrkräften stehen im Einsatz, so viele jedenfalls, dass heute in der Volksschule im Durchschnitt bloss noch gut 18 Schüler auf eine Schulklasse entfallen. Die über Jahrzehnte hinweg ertönende Klage der Lehrer über zu grosse Klassenbestände ist – zu recht – verstummt.
Was die Lehrergehälter anbelangt, will ich aus wohl verständlichen Gründen mein positives Urteil mässigen; die Löhne sind ja auch nicht in allen Kantonen gleich. Immerhin: Am Hungertuch nagen wir Lehrer nicht. Dass in einzelnen Kantonen trotzdem Lohnaufbesserungen fällig sind, zeigt nicht zuletzt der gegenwärtige Lehrermangel.
Eine besondere Pflege hat unser Schulrecht erfahren. Das Recht des Einzelnen, seine Beschwerden über einen mehrstufigen Instanzenweg hinweg anzubringen, hat nicht nur die Verpflichtung vieler Juristen erforderlich gemacht, sondern eine Fülle von Entscheiden erwirkt, die insgesamt darauf abzielen, Fehler künftig zu verunmöglichen oder Fehlentscheide zu vermeiden.
Weitherum verbessert worden ist auch die Schulaufsicht. An die Stelle von oftmals inkompetenten Laien sind Fachleute – teils im Neben-, teils im Halb-, teils im Vollamt – getreten, die ihre Aufgabe zumeist durchaus nicht bloss als Kontrolle, sondern ebensosehr als Hilfe und Beratung verstehen.
Weitherum war auch die Lehrerbildung Gegenstand bildungspolitischer Verbesserungsbemühungen, was zu Umstrukturierungen, Verlängerung der Ausbildungszeit oder Systemwechseln führte. Besondere Beachtung wurde der Ausbildung der Oberstufenlehrer (Real-, Sekundar-, Bezirksschule) geschenkt, und da und dort eröffnet man auch Absolventen von Berufslehren auf dem zweiten Bildungsweg eine Möglichkeit, in den Lehrberuf hinüberzuwechseln. Wenn ich auch die eine oder andere Massnahme für kontraproduktiv halte, so ist doch offensichtlich, dass die Bildungsplaner und -politiker eine Verbesserung der Situation beabsichtigten.
Auf einem sehr hohen Niveau steht das Lehrerfortbildungswesen. Jährlich werden Hunderte, wenn nicht Tausende von Kursen in allen nur erdenklichen Themenbereichen angeboten, Hunderte von Kursleitern mit speziellen Kenntnissen und Fertigkeiten setzen sich ein für die Verbesserung der Schule, und der Grossteil der Lehrer lässt sich jährlich – teils freiwillig, teils durch die Gesetzgebung genötigt – durch diese Kurse bereichern.
Auf dem Gebiete der Lehrpläne ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten Unermessliches geleistet worden. Auch hier haben sich Hunderte von Fachleuten und engagierten Lehrern mit der Materie auseinandergesetzt und – alle auf ihre Weise – versucht, die Lehrpläne den Erfordernissen der Zeit und den Bildungsbedürfnissen der Schüler anzupassen. Pinoniere setzen sich dafür ein, dass neue Fächer (z.B. Französisch auf der Mittelstufe, Informatik) eingeführt werden, um den allgemeinen Bildungsstand unseres Volkes anzuheben.
Geradezu Unabsehbares ist in den letzten Jahren im Bereiche der Lehrmittel und Lernhilfen geleistet worden. Grosse private Verlage machen den kantonseigenen Lehrmittelverlagen Konkurrenz und bringen jährlich eine Fülle neuer Publikationen auf den Markt, die belegen, dass jeweils Fachwissenschafter, Bildungsfachleute, Typografen und Grafiker ihr Bestes geben wollten. Dass da handfeste wirtschaftliche Interessen – insbesondere der Verlage – im Spiel sind, schmälert weder die Kompetenz der Lehrmittelschaffenden noch deren Engagement. Überhaupt kennt die Phantasie, die gewisse Zweige der Wirtschaft – heute insbesondere der elektronische – für leichteres, angenehmeres und effizienteres Lernen aufwenden, kaum eine Grenze. Wer das nicht glaubt, besuche einmal eine DIDAKTA, d.h. eine der regelmässig stattfindenden internationalen Lehr- und Lernmittelmessen.
Wer sich in unserem Lande umsieht, gewinnt auch kaum den Eindruck, dass man beim Bau und bei der Einrichtung von Schulanlagen kleinlich sei. Wo Schulhäuser nötig werden, werden sie vom Stimmvolk bewilligt, Schuleinrichtungen werden als eher einmalige Auslagen gewürdigt und daher grosszügig finanziert, und auch der Kampf der Rektoren und Lehrer um mehr und besseres Ge- und Verbrauchsmaterial ist nicht mehr das, was er einmal war. Ausnahmen mögen die berühmte Regel bestätigen.
Auch haben Gesellschaft und Staat im allgemeinen akzeptiert, dass nicht jedes Kind durchs gleiche Loch schlüpfen kann. Man nimmt allerorts zur Kenntnis, dass Kinder an Behinderungen leiden können, denen durch besonders ausgebildete Fachleute einigermassen beizukommen ist. So steht der Volksschule ein breitgefächertes Netz von speziellen Schuldiensten zur Verfügung: angesichts der heutigen Jubiläumsfeier darf ich da wohl – obwohl der Schulärztliche und vielleicht auch der Schulzahnärztliche Dienst älter sind – den Schulpsychologischen Dienst als ersten nennen. Die rein psychologische Abklärungsarbeit ist längst ergänzt worden – mindestens in einer Reihe von Kantonen – durch das Angebot verschiedenster Therapien: neben psychologisch ausgerichteten Therapien zur Behandlung irgendwelcher Verhaltensstörungen kennen wir heute die heilpädagogisch ausgerichtete Logotherapie, Legasthenietherapie, Diskalkulietherapie und (in einzelnen Regionen) Psychomotoriktherapie. Um den vielen fremdsprachigen Kindern das Mit- und Vorwärtskommen in der Schule zu ermöglichen, wird ihnen entweder im Einzelunterricht oder in Kleingruppen zusätzlicher Deutschunterricht erteilt. Für Kinder, die dem normalen Unterricht nicht zu folgen vermögen, stehen Sonderschulen verschiedenster Ausprägung zur Verfügung, und Schulneulinge, die noch wenig reif erscheinen und den Schulanforderungen noch nicht so recht gewachsen sind, können sich den Stoff der 1. Klasse in zweijährigen Einschulungsklassen aneignen.
Begriffen hat man allgemein auch, dass Bildung nicht bloss Kopf-Arbeit ist. Grössere Gemeinden unterhalten daher eine eigene Musikschule, wo das Spielen auf den gängigen Musikinstrumenten erlernt werden kann oder die Kinder in der musikalischen Grundschulung mit den Gesetzen von Klang, Melodie, Takt und Rhythmus im praktischen Vollzug vertraut gemacht werden.
Auch für die Einübung in die Bewältigung des praktischen Lebens wird einiges getan: Der traditionelle Unterricht in textiler Handarbeit, Hauswirtschaft und Werken wurde ausgebaut (leider allerdings nicht überall) und steht weitherum sowohl Knaben wie Mädchen offen.
Da bekanntlich viele Wege nach Rom führen und überdies jedes System seine Nachteile hat, ist man vielerorts auf der Suche nach neuen Lösungen und richtet Schulversuche ein, die Impulse geben sollen für die Weiterentwicklung unseres Schulwesens. Schwerpunktthemen sind heute etwa die dreigliedrige Oberstufe oder die Schüler-/Leistungsbeurteilung (Noten).
Zwar bietet die föderalistische Struktur unseres Bildungswesens allen Beteiligten Freiräume, die einem zentralistisch gesteuerten Bildungssystem nicht offen stehen, aber dies führt eben auch zu Problemen und Härten. So sind zum Zwecke der interkantonalen Schulkoordination neue Gremien (z.B. Erziehungsdirektorenkonferenzen), neue gesetzliche Instrumente (z.B. Schulkonkordat), neue Stabstellen (z.B. Zentralschweizerischer Beratungsdienst für Schulfragen), kantonsübergreifende Lehrpläne und Lehrmittel geschaffen und konkrete gesetzliche Vereinheitlichungslösungen (z.B. Herbstschulbeginn) getroffen worden.
Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus ist in ihrer Bedeutung – mindestens ansatzweise – erkannt und wird durch einschlägige private Vereinigungen, aber auch durch Schulbehörden, Lehrer und Elternschaft vermehrt gefördert.
Diese gewaltigen Anstrengungen und Leistungen auf dem Gebiete der Bildung kosten eine ebenso gewaltige Summe Geldes. Im Jahre 1987 gaben Bund, Kantone und Gemeinden für das öffentliche Bildungswesen sage und schreibe 13,4 Milliarden gute Schweizerfranken aus, und bald dürften es gegen 15 Milliarden im Jahr sein. Das trifft auf jeden Einwohner in der Schweiz durchschnittlich über zweitausend Franken!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht zuletzt unter kundiger Anweisung einiger Massenmedien sind wir ein Volk von Kritikern geworden, das dazu neigt, in allem bloss noch das Negative zu sehen und die gewaltigen Leistungen unserer Vorfahren und Zeitgenossen, die sich mit Energie, Sachverstand und gutem Willen für die Gestaltung unseres Schulwesens eingesetzt haben, abzuwerten oder zu ignorieren. Als Pädagogen, die die heranwachsenden Menschen zu gerechtem Urteilen erziehen wollen, sollten wir den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen, auch wenn uns vieles, was durch Beschluss jener zustandegekommen ist, die dazu die Kompetenz hatten, nicht passt. Ich gebe offen zu, dass mir auch vieles von dem, was ich aufgezählt habe, als nicht oder wenig wünschenswert scheint und dass ich darum gegen vieles ankämpfe und andere Wege vorschlage. Ich werde daher im weiteren Verlauf meiner Ausführungen die Widersprüche und negativen Folgen vieler Massnahmen so offen wie möglich aufzeigen. Aber ich nehme jeden Andersdenkenden in Schutz gegen den Vorwurf, er hätte das Schlechte gewollt. Der einzige Vorwurf, den ich gewissen Sachverständigen nicht ersparen möchte, ist der, dass sie zu unreflektiert ihre Reform-Energien in jenen Teil der institutionellen Seite der Schule investieren, der den Lehrer tendenziell entmündigt. Doch davon später mehr.
Die Ernüchterung
Wäre ich nicht Praktiker, würde ich nicht jedes Jahr die eher besseren Sekundarschüler mehrerer Deutschschweizer Kantone beim Wunsch, ins Lehrerseminar aufgenommen zu werden, prüfen und würde ich nicht diejenigen, die wir akzeptieren, nicht selbst in mehreren Fächern – u.a. Deutsch – unterrichten, so müsste ich – wie viele, vielleicht die meisten – annehmen, um den Bildungsstand der Schweizer Jugend könne es angesichts der fast 15 Milliarden nicht mehr besser stehen.
Leider ist die Realität anders, ja oft drängt sich mir die Ansicht auf, der wirkliche Bildungserfolg stünde in diametralem Gegensatz zu den teuren und gewaltigen institutionellen Bildungsanstrengungen. Man gestatte mir, dass ich im Hinblick auf die Betroffenen nicht allzu konkret werde, aber einiges muss doch gesagt sein: Wirklich Deutsch können die wenigsten. Bei vielen ist der Wortschatz dürftig, ebenso die Fähigkeit im Formulieren, und viele beherrschen auch die elementarsten Fertigkeiten im Bereiche von Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht. Von den pädagogischen Rekrutenprüfungen her wissen wir überdies, dass ein Grossteil unserer Jugend selbst relativ einfache deutsche Texte gedanklich nicht erfassen kann. Ebenso desolat ist die Situation im Bereiche der mündlichen Sprachgewandtheit (ausser Dialekt), der Aussprache (Artikulation und Deklamation) und der Handschrift. Ähnliches stelle ich im Bereiche der Mathematik fest. In den Realfächern (Biologie, Physik, Geographie, Geschichte) vermisst man bei vielen Schülern wirklich fundierte, durch Erlebnisse gefestigte Kenntnisse. Die Interessen der Jugendlichen sind im allgemeinen schmal. Ausser Sport und moderner Rock- oder Pop-Musik vermag nur weniges wirklich zu fesseln. Kaum einer hat irgend eine Ahnung von dem, was man abendländische Kultur nennen könnte: Musik, Malerei, Bildhauerei, Literatur, Religion, geistesgeschichtliche Epochen. Das Wissen im Bereiche der Religion ist bei vielen darauf reduziert, dass ein Christ die Liebe üben soll – immerhin. Auch von unserem Staat weiss der Grossteil der künftigen Stimmbürger so gut wie nichts, und das, was etwa noch herauszubringen ist, ist unverdautes und durcheinandergebrachtes Halb- und Viertelwissen. Vielleicht ist das alles nicht tragisch. Was mich aber bei all dem gelegentlich ungeduldig macht, ist die Gewohnheit der Schüler, alles und jedes, bevor sie es irgendwie kennen gelernt haben, zu beurteilen und zwar meist negativ.
Die Vermutung liegt natürlich nahe, ich sei nicht objektiv. Ich räume dies ein und empfehle darum, den Test selber zu machen. Immerhin nehme man zur Kenntnis, was mir ein Direktor einer Orientierungs-Schule (in irgend einem hier zu verschweigenden Schweizer Kanton) versichert hat: Letztes Jahr verwendeten sie an der Übertrittsprüfung genau dieselben Aufgaben wie vor 10 Jahren und ebenso denselben Beurteilungsmassstab. Resultat: Eine ganze Note schlechter. Der Einwand, die Schüler lernten jetzt eben anderes, ist teilweise berechtigt, aber insgesamt doch zu billig.
Es ist indessen durchaus nicht nötig, die von den heutigen Schulabgängern erbrachten Leistungen mit jenen ihrer früheren Schicksalsgenossen zu vergleichen. Naheliegender ist es, ihr Können und Wissen an den ausformulierten Lernzielen in Lehrplänen und Lehrmitteln zu messen oder dann schlicht an dem, was sie unter bestimmten Umständen zu leisten imstande sind. Mit Dankbarkeit stelle ich nämlich fest, dass es durchaus möglich ist, diesen jungen Menschen z.B. ihre Vorurteile innerhalb weniger Wochen bewusst zu machen und ihnen das vorschnelle Urteilen ohne Sachkenntnis abzugewöhnen. Auch in den übrigen Bereichen sind oft in kurzer Zeit erstaunliche Fortschritte möglich, und auch das Interesse an vielen neuen Dingen kann in kurzer Zeit geweckt werden. Dies zeigt doch, dass die Schuld für den geschilderten unguten Zustand am allerwenigsten bei den Schülern zu suchen ist. Um nicht ungerecht zu sein, betone ich gerne, dass ‘meine’ Schüler (am Lehrerseminar St. Michael Zug) jetzt eben freiwillig zur Schule kommen und im Rahmen einer Lehrerausbildung auch wissen, wozu sie lernen. Ich gebe auch zu, dass in einer überschaubaren Schulgemeinschaft, deren Schulleben weitgehend durch ein Internat und durch eine religiöse Grundstimmung getragen ist, Lernerfolge leichter zu erzielen sind als unter ungünstigeren Bedingungen.
Wo fehlt’s?
Damit, dass ich im grossen und ganzen die gewaltigen und in jeder Hinsicht gut gemeinten Anstrengungen im Bereiche des institutionellen Handelns würdige, anderseits aber mit einer gewissen Verärgerung das m.E. zu dürftige Resultat darstelle, ein Resultat, das mit Sicherheit klar schlechter ist, als es meinetwegen vor 10, 20 oder 30 Jahren war, und sicher nicht den ausformulierten Zielsetzungen entspricht, habe ich mir die Aufgabe aufgeladen, einsichtig zu machen, wie ein solch eklatantes Auseinanderklaffen von Aufwand und Ertrag erklärbar sein könnte.
Thesen
Ich sehe für das beklagte Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag grundsätzlich zwei Ursachen-Komplexe, die ich zuerst einmal in zwei knappen Thesen postulieren und hernach in ausführlicheren Erörterungen nachweisen will:
These 1: Die gewandelte gesellschaftliche Situation hat die Bedingungen für erfolgreiches Lernen tendenziell verschlechtert.
These 2: Der immer lauter werdende Ruf nach Bildungsreform hat ein gewaltig gesteigertes institutionelles Handeln ausgelöst, das weitgehend vom unreflektierten Selbstverständnis ausging und noch ausgeht, dass sich seine Absichten durch Steuerung der Lehrerschaft mehr oder weniger massstabgetreu verwirklichen lassen. Wie ich nachgewiesen habe, gilt indessen: In dem Masse, wie das Handeln der einzelnen Lehrer der institutionellen Steuerung unterworfen ist, verliert es den Charakter des personalen und verwandelt sich in institutionelles Handeln. Da aber Bildung und Erziehung zu jenen Bereichen gehören, in denen personales Handeln das Konstituierende ist, mindert sich der effektive Bildungserfolg in dem Masse, wie das Handeln des Lehrers das Gepräge des Personalen verliert. Die immer grösseren Anstrengungen im Bereiche des institutionellen Handelns wirken sich daher solange kontraproduktiv auf die Praxis aus, als nicht bewusst anerkannt wird, dass institutionelles Handeln bessere Bildungserfolge bloss ermöglichen, nicht aber direkt bewirken kann. Mit andern Worten: Die negativen Auswirkungen positiv gemeinter institutioneller Massnahmen sind derart gross, dass sie als ernstzunehmende Ursachen für das Ausbleiben des erwünschten Bildungserfolgs anerkannt werden müssen.
Zu These 1: Erschwerte Bedingungen in gewandelter Zeit
Bilden und Erziehen ist heute im Vergleich zu früherer Zeit ganz allgemein schwieriger geworden. Diese Erschwerung mag etwa durch folgende gesellschaftliche Phänomene verursacht sein:
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Durch den Umbruch der industriellen Revolution ist die Verwurzelung des Menschen in einem allgemein akzeptierten Wertesystem zurückgegangen. Der Wert-Pluralismus, der unsere Gesellschaft zunehmend prägt, hat nicht nur die selbstverständliche – oder als selbstverständlich ausgegebene – Ausrichtung des Lebens nach ethisch hochstehenden Werten relativiert, sondern auch ein ungehemmtes Streben nach Eigennutz und Selbstgenuss gleichsam salonfähig gemacht. Da aber die Erziehung des heranwachsenden Menschen eine Ausrichtung auf übergeordnete Werte voraussetzt, fehlt ihr weitgehend jener atmosphärische Rahmen, der das Erreichen ihrer Zielsetzungen begünstigt.
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Die modernen Massenmedien erschweren (neben dem vielen Guten, das sie zweifellos an sich haben) in vielerlei Hinsicht das Unterrichten und Erziehen: Sie verleiten zu Oberflächlichkeit, überfluten mit der Überfülle ihrer Reize unsere Sinne, ertöten tendenziell echte Wissbegierde, lenken zu sehr ab vom wirklich bildenden Umgang mit dem Elementaren und nehmen oft das Innenleben eines jungen Menschen in unguter Weise in Beschlag.
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Die durch die Umstrukturierung und den teilweisen Zerfall der modernen Familie entstandene soziale Situation ist erzieherischen Zielsetzungen oft wenig förderlich oder auch hinderlich.
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Die in unserem Wohlstand möglich gewordene Gewohnheit des leichten Konsums lässt jene Fertigkeiten und Haltungen verkümmern, die echter Bildung zu Grunde liegen.
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Die hochgradig künstliche Welt des modernen Menschen wirkt offensichtlich nicht in gleich fruchtbarer Weise auf die Entfaltung des menschlichen Innenlebens wie die ungeschändete lebendige Natur.
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Der grosse Lärm unserer Zivilisation hemmt die gesunde Entfaltung des Kindes in Stille und Musse.
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Und schliesslich vielleicht das Wichtigste: Die Kinder kennen dank den zivilisatorischen Errungenschaften praktisch keine sinnvolle Arbeit mehr, womit das wichtigste Mittel einer Erziehung entfällt, die ganz natürlich und unreflektiert im Rahmen der sozialen Bewältigung des Alltagslebens stattfindet.
Alle diese gesellschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen erklären, weshalb Lehrer, die schon länger im Amt sind, einigermassen übereinstimmend beklagen, dass die Belastbarkeit, der Durchhaltewille und die Konzentrationsfähigkeit der Schüler wesentlich abgenommen haben. Damit sind aber gerade jene Fertigkeiten und Haltungen geschwächt, die erfolgreichem Lernen zu Grunde liegen. Die erwähnten gesellschaftlichen Erschwernisse haben auch die Zahl und den Schweregrad von Verhaltensstörungen deutlich ansteigen lassen. Ein verhaltensgestörtes Kind steht aber nicht nur seinem eigenen Lernen im Wege, sondern erschwert das Lernen der übrigen Schüler in der Klasse ganz erheblich. Es ist daher schon von dieser Seite – gesellschaftliche Rahmenbedingungen – her nicht zu verwundern, wenn die Lernerfolge nicht unsern Vorstellungen entsprechen.
Zu These 2: Zunehmender Überhang des institutionellen Handelns
Es ist nicht zu verkennen, dass die Bildungsreform als ein permanentes Anliegen seit den frühen sechziger Jahren der praktizierenden Lehrerschaft aus den Händen geglitten und von Bildungspolitikern, von der Bildungsverwaltung, von Erziehungswissenschaftern, von irgendwelchen Stabstellen und professionellen Lehrmittelproduzenten übernommen worden ist. Das zeigt sich etwa daran, dass Lehrmittelverlage, die ehemals eine Einrichtung der aktiven Lehrerschaft waren, allmählich von der staatlichen Bildungsverwaltung übernommen wurden und nun auch in Konkurrenz stehen mit – teilweise ausländischen – privaten Verlagen mit geradezu gigantischem Ausstoss. Durch diese allgemeine Entwicklung hat sich das Verhältnis zwischen institutionellem Handeln und personalem Handeln im Bereiche der Schule sehr markant zu Gunsten des ersten verschoben. Dies hat nicht zuletzt auch zu einer Schwächung der Lehrerschaft geführt, was sich u.a. auch darin zeigt, dass nur noch ein kleiner Teil der jungen Lehrer gesonnen ist, den erlernten Beruf über längere Zeit, allenfalls über Jahrzehnte auszuüben. Es ist daher durchaus kein Zufall, dass die Masse der rechtlichen Bestimmungen, welche das Schulleben steuern wollen und sollen, in den letzten drei Jahrzehnten exponentiell angestiegen ist – parallel zum ebenso gestiegenen Verwaltungs-, Material- und Finanzaufwand.
Auswirkung eins: Kanal-Prinzip statt Resonanz-Prinzip
Es ist nochmals zu betonen, dass dies in der besten Absicht geschehen ist, und es ist durchaus auch verständlich, dass z.B. Lehrplaner und Lehrmittelautoren einen möglichst direkten Einfluss auf den Bildungserfolg in den einzelnen Schulstuben nehmen möchten. Das hat aber dazu geführt, dass in vielerlei Hinsicht der konkrete Lehrer durch die institutionell Handelnden überspielt wurde und wird. Der klassische Fall sind hier Lehrpläne, die die Stoffe bis ins kleinste Detail auflisteten – heute glücklicherweise überwunden -, und jene bis ins Letzte ausgearbeiteten Lehrmittel – heute leider noch nicht überwunden -, wo sogar die Schüler im Schülerbuch nachlesen können, was sie der Lehrer zu fragen hat. Diesen Reform-Gebräuchen liegt ein – wohl kaum reflektiertes – Denkmodell zu Grunde, wonach gewissermassen die Informationen, welche ‘die da oben’ sammeln, auswählen und didaktisch aufbereiten, über den Lehrer hinunter auf die Schüler fliessen. Ich nenne diese Handlungsmaxime das ‘Kanal-Prinzip’. Es beraubt den Lehrer weitgehend seiner eigenständigen Bedeutung und macht ihn zum blossen Vollstrecker oder Übermittler von Inhalten, deren Gehalt er persönlich nicht zu verantworten hat. Oder anders: Er wird gesehen als ausführender Teil eines institutionellen Handlungskonzepts.
Wie ich indessen früher gezeigt habe, vermag nur ein Unterrichten und Erziehen, das sich als personales Handeln versteht, die Eigenaktivität des Schülers in genügender Weise anzuregen, weshalb die Formel gilt: Je stärker das Unterrichtsgeschehen als nicht vom Lehrer selbst vorgeplanter Prozess abläuft, je mehr sich also das Kanal-Prinzip breit macht, desto schlechter sind die Bildungs-Ergebnisse. Das muss leider gesagt sein, auch wenn es den Autoren perfekter Lehrpläne und noch perfekterer Lehrmittel schlecht in den Ohren klingt. Es gilt daher, das Kanal-Prinzip durch ein Denkmodell zu ersetzen, das sich an den unumstösslichen pädagogischen Gesetzmässigkeiten orientiert. Dieses andere Prinzip, das die Personalität des konkreten Bildungsgeschehens anerkennt und ernst nimmt, stellt die grundlegendste pädagogische Gesetzmässigkeit ins Zentrum: die Resonanz. Das Resonanz-Prinzip als Gegensatz zum Kanalprinzip besagt, dass seelisch-geistiges Leben in den Schülern durch den Lehrer nur in dem Masse zu selbstverantworteter und bildender Tätigkeit angeregt werden kann, als es in ihm selber wirksam und rege ist. Nur ein am Stoff interessierter Lehrer vermag Interesse zu wecken, nur im liebevollen Umgang mit Menschen und den Dingen lässt sich im Kinde Liebe anregen, nur in der selbstvergessenen Hingabe an die Sache lässt sich im Schüler Arbeitsfreude und Gestaltungswillen entfalten, und nur durch selbstverantwortliches Handeln lassen sich im Schüler die Kraft und der Entschluss zur Eigenverantwortung stärken.
Während also das Kanal-Prinzip den Lehrer zu vereinnahmen oder – noch schlimmer – zu überspielen versucht, strebt ein institutionelles Handeln, welches das Resonanz-Prinzip in seiner zentralen Bedeutung erkennt, dahin, den Lehrer zu erreichen. Die Verbesserungs-Leistungen der Institution richten sich an ihn und nicht direkt an die Schüler. Alles Materielle, alles Rechtliche und jede stoffliche Hilfestellung sind dann bloss verbesserte Bedingungen, damit er das, was er den Schülern sein muss, besser und wesentlicher sein kann.
Auswirkung zwei: Mechanismus statt Organismus
Das Kanal-Prinzip erweist durchaus seine Funktionstüchtigkeit in streng hierarchisch geordneten Systemen und Institutionen. Insoweit sich diese Systeme und Institutionen auf Dingliches, Habbares beziehen, tragen sie an sich das Gepräge eines Mechanismus. Ein Mechanismus zeichnet sich dadurch aus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen besteht, dass also aus gegebenen Ursachen zwingende Wirkungen entstehen und daher die Prozesse rational berechenbar sind. Mechanismen sind fast beliebig durch Addition vergrösserbar, und die einzelnen Teile können ohne Substanzverlust des Ganzen durch neue Elemente ersetzt werden.
Demgegenüber trägt die Erregung eigenständigen Lebens im Sinne des Resonanz-Prinzps das Gepräge eines Organismus an sich. Ein Organismus ist niemals rational restlos zu durchschauen, da er eigentlich nicht wie ein Mechanismus aus Teilen aufgebaut ist, sondern eine Ganzheit darstellt, die vor allen Teilen ist und daher gar nicht zulässt, dass einzelne Teile absolut – auch bloss gedanklich – isoliert werden, ohne dass Wesentliches verloren geht. So wie ein Mechanismus zuvor durch den menschlichen Intellekt geplant wurde und daher rational ohne Rest durchschaubar ist, ebenso ist ein Organismus eine Lebenseinheit, die rational nie ganz zu durchschauen ist, in der also stets der Rest eines Geheimnisses waltet. Dieses Geheimnis beruht nicht nur darauf, dass subtilste Wechselwirkungen zwischen den durch unser Denken ausgeschiedenen ‘Teilen’ die vollständige rationale Ingriffnahme verhindern, sondern auch darauf, dass alles Lebendige in seinem Wesen ganz grundsätzlich ins Unendliche, Unbestimmbare, Unfassliche hineinreicht.
Es ist daher durchaus kein Zufall, dass in einer Zeit, in der man möglichst alle Lebensbereiche rational in Griff nehmen will und in der ‘irrational’ und ‘nicht bewiesen’ praktisch so viel heisst wie ‘nicht existent’, das Bildungswesen in den Sog einer rationalistischen Wissenschaft geriet, die einen weiten Bogen um alles herum macht, was sich ihren Forschungsmethoden und Erklärungsmodellen entzieht. Das hat insoweit Auswirkungen auf den Schulalltag, als alles Messbare und sinnlich Erfassbare über das rational nicht Erklärbare dominiert und dieses in eine belächelte Randposition abdrängt. Und da ist es denn eben auch kein Zufall, dass sich das institutionelle Handeln, das grundsätzlich als mechanistisch zu beschreiben ist, auch in jenen Bereichen breit macht, in denen es Dienerin bleiben und dem personalen Handeln den ihm gebührenden Platz freihalten müsste.
Auswirkung drei: Masslosigkeit statt menschliches Mass
Wie erwähnt, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Organismus und einem Mechanismus darin, dass sich mechanische Gebilde durch Addition beliebig aufblähen lassen, wogegen in einem Organismus inhärente Kräfte wirken, um sein Wachstum ins Beliebige zu begrenzen. Das institutionelle Handeln – charakterisiert als mechanistisches Geschehen – läuft daher stets Gefahr, die dem Menschen bekömmlichen Grenzen zu überschreiten und ins Masslose auszuufern. Anders das personale Handeln: Es orientiert sich am Mass der beteiligten Organismen, d.h. am Menschen selbst.
Dieser Gegensatz liesse sich im Bereiche der Bildung an beliebig vielen Beispielen aufzeigen. So spricht es durchaus für den Überhang institutionellen Handelns gegenüber dem personalen, dass sich in den letzten Jahrzehnten unsere Schulen beliebig vergrösserten und z.T. zu Ungetümen heranwuchsen, in denen personales Handeln tendenziell an die Wand gespielt wird. Auch der permanent beklagte, zum Teil durch Lehrpläne, vorwiegend aber durch die Lehrmittelflut bewirkte Stoffdruck (siehe unten) weist einerseits auf die zum Mechanischen gehörende Überbewertung des Quantitativen gegenüber dem Qualitativen hin, anderseits auf die Missachtung der natürlichen, durch den menschlichen Organismus gesetzten Grenzen.
Auswirkung vier: Missachtung menschlicher Begrenztheit
Mit dem Hinweis auf menschliche Grenzen ist ein weiterer Punkt angesprochen, der die Diskrepanz zwischen dem gigantischen institutionellen Aufwand und dem vergleichsweise bescheidenen Ertrag zu erklären vermag. Der konkrete Mensch – der Lehrer als Unterrichtender und der Schüler als Lernender – setzt nämlich dem Ansinnen, sich jahrelang mit fast nichts anderem als mit der Vermittlung bzw. Aufnahme von (teilweise unnötigem) Wissen zu befassen, sehr bedeutende Widerstände entgegen, die einerseits in der menschlichen Natur, anderseits in individuellen psychischen Gegebenheiten begründet sind.
Wenden wir uns zuerst dem Schüler und bei ihm jenen Widerständen zu, die in der menschlichen Natur liegen. Da ist vorerst mit Pestalozzi festzustellen, dass ein Charakteristikum der menschlichen Natur die Trägheit ist. Sie sollte nicht bloss negativ gesehen werden: Sie ist eine gesunde und notwendige Bremse, damit sich der Mensch nicht übernimmt und nicht gleich jede Phantasie in die Realität umsetzt. Die reale Existenz dieser Bremse bedeutet indessen, dass Tätigwerden und Tätigsein stets mit einem gewissen Energieaufwand verbunden sind, der häufig genug mit dem Gefühl der Unlust verbunden ist. Wenn daher seitens der Institution Schule immer mehr und immer Perfekteres von den Schülern verlangt wird, so muss man eben auch zur Kenntnis nehmen, dass diese Absichten mit der natürlichen Trägheit des Menschen kollidieren. Der Ertrag wird, ist einmal ein gewisses Mass erreicht, keinesfalls mehr proportional zum Aufwand sein, ja von einem gewissen Punkt an hört jede Ertragssteigerung auf, wie gross auch der instutionelle ‘Input’ sein mag. Stellt man zudem in Rechnung, dass der heute so leichte Konsum die ‘Überwindungskräfte’ (Pestalozzi) des Menschen nur in ungenügender Weise stärkt, so wird das Auseinanderklaffen zwischen der eher abnehmenden Fähigkeit zur Überwindung der Trägheit und den ständig steigenden Anforderungen augenfällig. Die konkrete Wahrnehmung dieser Diskrepanz durch Lehrer und Schüler hat überdies eine lähmende Wirkung, so dass schliesslich noch weniger erreicht wird, als wirklich möglich wäre.
Zweitens muss in Erinnerung gerufen werden, dass Bildung ein organischer Prozess ist, der nicht wie irgend eine Maschine beliebig beschleunigt werden kann, sondern eigenen Zeiterfordernissen und eigenen Rhythmen gehorcht. Will man bei gleichbleibender oder gar verkürzter Bildungszeit (Fünftagewoche) quantitativ mehr erreichen, so geht das schnell zu Lasten der Qualität. So verständlich von der Gesellschaft gestellte Forderungen nach Einführung neuer Fächer (z.B. Französisch, Informatik) an sich auch sind, so sehr weiss der Praktiker an der ‘pädagogischen Front’, dass auch durch die raffiniertesten Lernsysteme kaum Zeit eingespart werden kann. Dass er sich daher politisch gegen immer neue Anforderungen an die Schule stemmt, liegt in seinem Auftrag, als ‘Anwalt des Kindes’ zu amten.
Drittens gehört auch das Vergessen zur menschlichen Natur. Vieles von dem, was in der Schule gelernt wird, darf wieder vergessen werden; der Lernprozess bleibt insofern sinnvoll, als durch das Lernen selbst im Kinde ‘Kräfte und Anlagen entfaltet werden’ (Pestalozzi). Will man als Bildungspolitiker oder als Lehrer aber, dass der Lernstoff behalten wird, so muss man auch die Bedingungen akzeptieren, die das ermöglichen. Es sind vorwiegend zwei: Erstens muss der Lernprozess selbst für den Schüler zu einem Erlebnis werden, das ihn erfüllt, und zweitens muss man das, was behalten werden soll, stets wieder repetieren. Beides erfordert Musse, beides braucht Zeit. Vom Stoffdruck gejagte Schüler vergessen darum das meiste wieder.
Viertens müssen Lerninhalte auch psychisch verkraftet werden. Wenn wir unsere Schüler pausenlos mit Neuem konfrontieren, so müssen wir uns nicht wundern, dass sich dies nicht in die Tiefe ihrer Seelen einsenkt. Sollen nämlich die Schüler vom Stoff wirklich betroffen gemacht werden – und dies ist nötig, wenn er bildend sein und behalten werden soll –, so darf man nicht gegen die Gesetzmässigkeiten des Gefühlslebens verstossen. Gefühle, aber auch die Umstrukturierung des Denkens und tragender Anschauungen, welche durch den Unterricht bewirkt werden, müssen verarbeitet werden können. Dies wiederum bedingt einfühlsame Gespräche, Gestaltungsmöglichkeiten verschiedenster Art und – immer wieder – Zeit.
Neben diesen in der menschlichen Natur liegenden Gesetzmässigkeiten, die durch grösseres Tempo, raffiniertere Lernsysteme und gesteigerten Druck einfach nicht zu überspielen sind, gibt es noch eine Fülle von Begrenzungen, die auf der Individualität des einzelnen Schülers beruhen. Bildungsplaner scheinen gelegentlich zu vergessen, dass Schüler begriffsstutzig, eigensinnig und widerwillig, einsichtslos, unmotiviert, verzogen, verwahrlost, verhaltensgestört und unsensibel sein können und dass diesen Schwierigkeiten nicht einfach mit institutionellen Verfügungen und Massnahmen beizukommen ist.
All die erwähnten Schwierigkeiten und Begrenzungen seitens der Schüler stellen sich nun den Bildungsabsichten des Lehrers entgegen. Der Lehrer ist nun in bezug auf unsere Thematik insofern in einer misslichen Lage, als all die genannten Beschränkungen und Begrenzungen auch für ihn selbst gelten. Auch der Lehrer muss seine Trägheit überwinden, auch er benötigt Zeit, um sich den Stoff anzueignen und ihn zu verarbeiten, auch er vergisst das Gelernte wieder, und auch er ist eine Individualität mit seinem Bedürfnis nach gesundem Rhythmus, mit seinen spezifischen Interessen, seinen psychischen Blockaden und seinen ganz speziellen Grenzen. Würde das Kanal-Prinzip, in welchem der Lehrer als ‘Durchlaufstation’ gesehen ist, funktionieren, so wären die erwähnten Begrenzungen nicht weiter schlimm. Da aber das Kanal-Prinzip auf einer – allerdings bequemen – Illusion beruht, der Lehrer also seinen Schülern nicht institutionell, sondern personal begegnen muss, damit sich wirklicher Bildungserfolg einstellt, wirkt auf den Schüler nur das bildend, was er selbst im Sinne eines echten Bildungserlebnisses verarbeitet hat. Dadurch wird der Lehrer in seiner Stellung zwischen dem institutionell Gegebenen und seinen Schülern zu so etwas wie einem ‘Filter’: Mag ‘von oben’ (Schulgesetz, Lehrplan) noch so viel auf ihm lasten, die Schüler erreicht nur das, was er sich selbst wirklich angeeignet hat.
Leider aber nimmt man diese ‘Filter-Stellung’ des Lehrers durchaus nicht als das wahr, was sie ist: eine Wohltat für die Schüler, weil dadurch das Masslose auf ein menschliches Mass reduziert wird, sondern man sieht den Lehrer im Modell des Kanal-Prinzips gewissermassen als ‘Knopf in der Leitung’, den es durch direkte Verbindungen von der Institution zum Schüler gewissermassen zu ‘überbrücken’ gilt. Anders jedenfalls sind die perfekten Lehrsysteme, die sich direkt an den Schüler richten und den Lehrer didaktisch entmündigen, nicht zu erklären. Der Denkfehler, der in diesem Brauch liegt, sei durch folgende Frage aufgedeckt: Wenn schon der Lehrer, der doch den Schülern einiges voraushat, eine solche Verarbeitung des Stoffes, die den Namen ‘Bildung’ verdient, aus zeitlichen und psychischen Gründen nicht mehr zu leisten vermag, wie sollen es denn die Schüler zustande bringen?
Wie so oft: Der Teufelskreis
Vergegenwärtigen wir uns nochmals die gewaltigen Anstrengungen im institutionellen Bereich – insbesondere die Vorschriften für den Lehrer, den Lehrplan (mit neuen Fächern, neuen Fachkonzeptionen, neuen Inhalten, neuen Zielsetzungen etc.), die Flut von Lehrmitteln, das steigende Angebot neuer und besserer Methoden, raffinierteres Lern- und Anschauungsmaterial, immer bessere Einrichtungen und Apparaturen, Spezialangebote für Sonderfälle aller Art usf. -, so wird deutlich, dass sich das zum grossen Teil, weil es – wie gezeigt – den Schüler nicht direkt erreichen kann, gewissermassen beim Lehrer ‘aufstaut’. Von all dem erreicht den Schüler nur gerade so viel, als der Lehrer verarbeiten und verkraften kann und will. Dies ist nun aber keineswegs ein Fehler im System, der sich schlankweg durch noch mehr Aufwand beseitigen liesse, sondern im Gegenteil: Wir haben hier einen gesetzmässigen Vorgang vor uns, der sich mit Notwendigkeit einstellt, wenn einerseits institutionelles Handeln in personales umschlagen muss (dass dies nötig ist, wurde bereits gezeigt) und anderseits seitens der Institution ein solcher Überhang von Massnahmen in Szene gesetzt wird, dass er von einem einzelnen Menschen gar nicht mehr zu verkraften ist. Die Gesetzmässigkeit liesse sich so formulieren: Wenn in einem Bereich, in dem das personale Handeln das Konstituierende ist, ein Reformprozess in Gang kommt, in dem die institutionell Handelnden die treibenden Kräfte sind, so entsteht ein Überhang von institutionellen Massnahmen im Vergleich zum personal Verwirklichbaren. Das Institutionelle staut sich an den Grenzen und der Begrenztheit des Personalen auf und wird von nun an kontraproduktiv, da der immer grösser werdende Druck jene Bedingungen untergräbt, die ein fruchtbares personales Handeln erst ermöglichen. Leider reagiert darauf die Institution, die das Gesetz des Handelns an sich gerissen hat, mit noch mehr Aufwand, mit noch grösserer Energie – dies stets in bester Absicht – und schliesst damit den verhängnisvollen Teufelskreis vollends.
Selbstverständlich geht das – in bester Absicht – massierte institutionelle Handeln nicht spurlos am Lehrer und damit an der konkreten Unterrichtssituation vorbei. Zwar fühlen sich viele – vielleicht die meisten – Lehrer unter Druck, und viele reagieren grundsätzlich defensiv, aber sie schlucken doch immer gerade so viel Wasser weg, damit sie nicht ertrinken. Das führte und führt noch dazu, dass einerseits Bräuche, die immer schon zwielichtig oder zumindest fragwürdig waren, perfektioniert und zementiert wurden und werden und dass sich anderseits didaktische Gewohnheiten neu herausbildeten, die sehr wesentlich durch das institutionelle Handeln geprägt sind und darum nicht jene Resultate bringen, die sich die Initianten und auch die Lehrer versprechen.
Kritik an an drei alten Bräuchen
Wenden wir uns zuerst drei alten Bräuchen zu, die natürlich eben darum, weil sie schon alt sind, nicht isoliert für den beklagten dürftigen Bildungserfolg verantwortlich gemacht werden dürfen. Aber ihre negative Ausstrahlung scheint zuzunehmen, einerseits, weil der Druck der Institution grösser geworden ist, anderseits, weil sie mit andern, neu hinzugekommenen Faktoren negativ zusammenwirken.
Solche Schulbräuche, die meiner Ansicht nach nicht perfektioniert, sondern tendenziell überwunden oder zumindest – wie im Falle des Fachlehrersystems – gemildert werden sollten, sind etwa die folgenden:
a) Das Stundenplansystem: Schüler und Lehrer wissen auf ein Jahr hinaus, was an jedem Wochentag zu bestimmter Stunde zu geschehen hat. Ich sehe den innern Wert rhythmischer Wiederholungen durchaus ein: Täglich zur selben Zeit aufstehen, die Mahlzeiten einnehmen, die Gebete und Meditationen verrichten, sich zur Ruhe legen usf. kann durchaus ein Zeichen hoher Lebenskultur sein. Aber wenn die ganze Arbeitszeit auf Jahre hinaus in Dreiviertelstundenrationen verplant ist, so erschwert und lähmt dies die in der Bildung erwünschte Spontaneität und Kreativität. Ich weiss: Unser Stundenplansystem ist aufs engste mit dem Fachlehrersystem verknüpft, was ein Grund mehr sein dürfte, dieses stets wieder zu überdenken. Ich weiss aber auch, dass diese starre Bindung an den Stundenplan im Klassenlehrersystem nicht nötig ist, und plädiere daher dafür, sich bei der täglichen Rhythmisierung der Arbeitszeit so oft wie möglich an spontane Wahrnehmungen, Einfälle und Einsichten in Notwendigkeiten zu halten. Organisches, d.h. körperlich-seelisch-geistiges Leben richtet sich nicht nach starren, mechanischen Rhythmen, sondern schafft durch sich selber stets solche Wellenbewegungen, die den konkreten Lebensinhalten angemessen sind. Es ist daher mehr oder weniger eine Barbarei, Kinder, die z.B. beim Niederschreiben einer Geschichte allmählich warm geworden und in Fahrt gekommen sind, wegen der aufdringlichen Pausenglocke aus ihrem Innenleben herauszureissen und sie hernach z.B. in die Beschäftigung mit mathematischen Problemen hineinzujagen. Jeder erwachsene Mensch würde solch unnatürliche und täglich mehrmals wiederkehrende Eingriffe in sein Tun als Zumutung empfinden. Kinder erleben das Tausende von Malen in ihrer neunjährigen obligatorischen Schulzeit – und dann fragen wir uns noch, weshalb sie Mühe haben, sich in eine Sache einzulassen und so lange bei ihr zu verweilen, bis ein echtes Bildungserlebnis und ein echter Bildungsertrag zustandekommen.
b) Das Fachlehrersystem an sich ist eine Antwort auf die objektive oder vielleicht auch nur vermeintliche stoffliche Überforderung des Lehrers und entspricht den Betrachtungsweisen einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Je anspruchsvoller die Schüler in stofflicher Hinsicht sind, desto gerechtfertigter und unvermeidlicher ist das Fachlehrersystem. So hat an der Hochschule der Spezialist seinen legitimen Platz. Aber bereits auf der Stufe des Gymnasiums wirken sich die Nachteile einer zu weit gehenden Auffächerung und Spezialisierung aus, und an der Volksschule sind diese Nachteile so gross, dass sie deutlich ausgesprochen werden müssen: Je jünger nämlich der Schüler ist, desto stärker ist er für seinen Lernerfolg von der Beziehung zu einem oder doch nicht allzu vielen Lehrern abhängig und desto enger ist auch der Zusammenhang zwischen Gebildet- und Erzogenwerden. Das Fachlehrersystem untergräbt indessen die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Schüler und Lehrer (und damit auch die Grundlage wirklicher Erziehung), weil ein Fachlehrer mit einem kleinen Wochenstundenanteil mehrere Klassen und damit viel zu viele Schüler unterrichten muss. Die stoffliche Überforderung ist dann einer pädagogischen Überforderung gewichen. Je weiter hinunter wir das Fachlehrersystem ziehen und je extremer wir es einrichten, desto mehr beweisen wir, dass wir eine pädagogische Überforderung des Lehrers für zumutbarer halten als eine stoffliche und dass uns demzufolge die Wissensvermittlung wichtiger ist als das Erziehen. Gleichzeitig beweisen wir auch das Schwinden unserer Einsicht, dass gute Bildungserfolge einen relativen Erziehungserfolg voraussetzen. Es ist ein verbreitetes Phänomen, dass ein Kind als Primarschüler interessiert lernt und dann auf der Oberstufe dem Minimalismus zu frönen beginnt, weil eine engagierte pädagogische Führung weggefallen ist. Wenn auch das Fachlehrersystem daran nicht allein schuld ist, so trägt es doch zu dieser unguten Entwicklung bei.
Die Befürworter des Fachlehrersystems rechnen die Tatsache, dass der Schüler in jedem Fach einen Spezialisten vor sich hat, zu den grossen Vorteilen des Systems. Aus der Sicht vieler – insbesondere der mittelmässigen und schwächeren – Schüler sieht dies gelegentlich anders aus: Diese Anhäufung unbestrittener Sachkompetenz, gegen die sie keinerlei Chance haben, kann auch etwas Erschlagendes und Entmutigendes an sich haben, einerseits, weil die Summe der in allen Lehrern repräsentierten Kompetenz nie zu erreichen ist, anderseits, weil der einzelne Lehrer in seinen Ansprüchen in der Regel zu wenig mitbedenkt, dass auch seine Kollegen ebenso wichtige und berechtigte Ansprüche stellen.
c) Auch das Notensystem trägt dazu bei, dass echte Lernerfolge verhindert werden, obwohl es natürlich in der gegenteiligen Absicht erfunden wurde und angewendet wird. Schon die ganz selbstverständliche Voraussetzung oder zumindest Auswirkung dieses pseudo-mathematischen Bewertungssystems – dass nämlich die Schüler im Hinblick auf gute Noten lernen und nicht aus echtem Sachinteresse – ist ein Grundübel. Was man nur lernt, um damit Punkte zu erhaschen, ist einem eben nichts wert und wird darum gemäss den elementarsten psychologischen Gesetzmässigkeiten rasch wieder vergessen. Darüber hinaus untergräbt das Noten-System ein wesentliches Prinzip erfolgreichen Lernens: nämlich das Individualisieren. Lernerfolg und Lernfortschritte sollten mit den gesetzten Zielsetzungen, mit objektiven Massstäben (was ist richtig, was ist falsch?) und mit den eigenen Leistungsmöglichkeiten verglichen werden, nicht aber mit den Leistungen der Mitschüler oder einem fiktiven Durchschnitt, wie dies das Notensystem weitgehend erheischt. Überdies reduziert das Notensystem die Leistungen der Schüler auf Messbares: äusserlich sichtbare Fertigkeiten und Gedächtnisinhalte. Durch die damit verbundene Vernachlässigung des Wesentlicheren – Interesse, Liebe zur Sache, Weckung von Eigenaktivität und Eigenverantwortung – wird der Bestand des weniger, aber doch nicht Unwesentlichen (vorzeigbare Fertigkeiten, reproduzierbares Wissen) gefährdet, geschmälert oder gar vernichtet.
Mir sind die Zusammenhänge, weshalb man nicht so leicht auf das Noten-System verzichten kann und will, durchaus bekannt, ebenso die Schwierigkeit, eine echte Alternative zu realisieren. Trotzdem sollte man die Augen nicht verschliessen vor den kontraproduktiven Auswirkungen dieses Systems. Man wird zwar mit Recht einwenden, dass man schon früher Noten gemacht hat, aber man müsste ebenso zur Kenntnis nehmen, dass die Handhabung des Notensystems heute in einem Dschungel von rechtlichen Bestimmungen erstarrt ist und bei Schülern, Lehrern, Eltern und Behörden (durchaus nicht bei der Wirtschaft als ‚Abnehmer‘ unserer Schüler) einen solchen Stellenwert erhalten hat, dass man geneigt ist, von einem eigentlichen Notenkult zu sprechen.
Kritik an drei neuen Bräuchen
Im Gegensatz zu den drei kurz abgehandelten ‘Schulbräuchen’ (Stundenplan, Fachlehrersystem, Notensystem) handelt es sich bei den in folgenden attackierten Phänomenen um ungute oder zum Schlechten hin tendierende Entwicklungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre. Diese Entwicklungen stehen meines Erachtens in einem direkten Zusammenhang mit der Tatsache, dass die institutionelle Seite der Schule das personale Geschehen nicht mehr bloss stützt, sondern überfährt und überwuchert.
a) Da ist in erster Linie der verstärkte Stoffdruck zu nennen, unter dem insbesondere Lehrer und Schüler der Oberstufe (und natürlich der Gymnasialstufe) leiden. Woher kommt er? Vorerst ist zu sagen: Zumeist viel stärker von den Lehrmitteln als von den Lehrplänen her. Viele – auch neuere – Lehrpläne sind betont zurückhaltend in der Auflistung konkreter Unterrichtsstoffe und lassen damit dem Lehrer zumeist grosse Freiheit in der Auswahl und auch bei der Entscheidung, wie weit er bei der Stoffbehandlung in die Breite gehen will.
Aber die Lehrbücher sind schwer (wörtlich zu verstehen) und dick geworden. Noch vor 30 Jahren war es einem Real- oder Sekundarschüler möglich, sämtliche im Unterricht verwendeten Lehrbücher, Hefte und Ordner in der Mappe unterzubringen. Während meinen Schülern vor 35 Jahren in Naturkunde ein relativ schmales Büchlein mit den Abschnitten Botanik, Zoologie, Anatomie, Physik und Chemie zur Verfügung stand (das natürlich auch damals nicht vollständig behandelt werden konnte), so stellen heute die Verlage, die gross ins Geschäft eingestiegen sind, für diese Gebiete oft genug mindestens fünf dicke Bände für die Hand des Schülers zur Verfügung, weshalb sich jeder Lehrer, der sie anschafft, als unverantwortlicher Verschwender vorkommt, wenn er von den jeweils – sagen wir mal – dreihundert Seiten bloss deren zwanzig oder dreissig berücksichtigt. Zudem nimmt natürlich der Schüler, der diese Lehrmittel verwendet, die Bruchstückhaftigkeit des Unterrichts sinnenfällig wahr, weil das meiste, das er vorgefertigt in Schulbüchern herumschleppt, kaum je zur Sprache kommen kann. Die meisten dieser Lehrbücher sind heute nicht wie ehedem von praktizierenden Lehrern geschrieben, denen natürlich gelegentlich eine sachliche Unrichtigkeit unterlief, sondern von kompetenten Fachwissenschaftern, die – vermutlich ganz unreflektiert – von der selbstverständlichen Annahme ausgehen, ein Lehrbuch müsse die Grundlagen und die Fülle der Phänomene ihrer Wissenschaft abrisshaft und systematisch darstellen. Die Lehrmittelautoren sehen leider zu oft weder links noch rechts und sind verständlicherweise davon überzeugt, dass ihr Fach sehr wichtig, wenn nicht sogar das wichtigste von allen ist. Betrachtet man deren Werke einzeln, so sind sie zumeist grossartig: reich an Material, didaktisch raffiniert aufbereitet, reich und gut bebildert und grafisch nach den letzten Erkenntnissen aufgemacht. Preis spielt keine Rolle. Stellt man aber die einzeln so grossartigen Werke nebeneinander – Lesebuch, Sprachlehre, grossartige Ordner oder anders gestaltete Lehrwerke für Aufsatzlehre, Geschichte, Gesellschaftskunde, Berufswahl-Vorbereitung, Biologie (zumeist drei Bände), Geographie, Physik, Chemie, Religion, Fremdsprachen usf. – so wird jeder, der noch konkret mit einem Oberstufenschüler (und dessen Lehrer) mitfühlen kann, depressiv. Natürlich kenne ich den gängigen Einwand gegen meine Polemik, nämlich: das alles sei bloss ein Angebot, der Lehrer müsse eben auswählen. Tatsächlich muss er das, aber bei dieser Überfülle von Lernstoff, die man nicht ihm, sondern dem Schüler in die Hände legt und die beiden den freien Atem raubt, wirkt jede Beschränkung bloss noch als Abwehr und Ungenügen. Diese Situation verleitet dazu, stets mehr zu wollen als das, was pädagogisch möglich und fruchtbar ist. Dadurch wird das vertiefende Verweilen, das geduldige Üben (siehe auch unten), das freie Umkreisen eines Themas in Ruhe und Musse erschwert oder sogar verhindert. Man tut dann relativ viel, aber erreicht wenig und betrügt sich mit den kurzlebigen Resultaten, die von den Schülern um der Note willen erbracht werden.
Diese so perfekten Lehrmittel sind aber auch noch aus einem anderen Grunde kontraproduktiv. Der Stoff ist häufig didaktisch derart bis ins Letzte aufbereitet, dass dem Lehrer und den Schülern eine eigene geistige Arbeit in bezug auf die Mittel und Wege des Lernens erspart oder verwehrt bleiben. Und dann gibt es nicht bloss das Schüler- und das Lehrerbuch, sondern auch noch vorgedruckte Arbeitshefte, die – füllt man sie nicht ganz aus – wiederum als unverantwortliche Verschwendung wirken und in den Beteiligten auch von dieser Seite her ein schlechtes Gewissen erzeugen. Und um das Mass voll zu machen, liefern gewisse Lehrmittelproduzenten – wiederum in bester Absicht, dies sei betont – auch noch Mäppchen von zusätzlichen Arbeitsblättern oder Videos, Tonbänder, Diapositive und Ähnliches. So werden schliesslich Lehrer und Schüler zu Dienern am Lehrmittel und verlieren die einfache Tatsache aus dem Auge, dass es eigentlich um die Bewältigung eines Stoffgebiets und nicht um die geistige Unterwerfung unter ein multimediales, didaktisch aufbereitetes Lehrsystem geht. Diese bis ins Letzte ausgefeilten Lehrmittel untergraben schliesslich auch die Eigentätigkeit und Kreativität des Lehrers und tragen dazu bei, dass der Unterricht als steril, überorganisiert, eingeengt und papieren erlebt wird. Kurz: Kalter Kaffee.
Nachdem ich mir durch diesen Ausfall gegen die Perfektion, die Leben vernichtet statt stiftet, alle nur erdenklichen Feinde erworben habe, mache ich das Mass voll, indem ich feststelle: Gerade die Wirkungen der Lehrmittel zeigen, dass der Stoffdruck vor allem von der Schule selbst und weniger von aussen kommt. Zwar sind es immer weniger aktive Lehrer, die Lehrmittel schreiben, aber in den Gremien, welche Lehrmittel und Lehrpläne begutachten und für gut befinden, sitzen vorwiegend Lehrer. Sie hätten es – rein von den Kompetenzen her beurteilt – durchaus in der Hand, die Notbremse zu ziehen. Ein weiterer Druck kommt von der jeweils oberen Stufe. Die Hochschule drückt – mindestens aus der Wahrnehmung der Gymnasiallehrer – auf die Mittelschule, diese auf die Sekundarstufe I und diese wiederum auf die Primarschule. Wann wird der Kindergarten dran sein?
Das Unsinnige an dieser ganzen Zwängerei ist, dass am Schluss wesentlich weniger herausschaut, als wenn man sich realistische Stoffziele setzen und der Schule nicht immer neue Aufgaben aufbürden würde.
Man kann sich fragen, weshalb diese Unterwerfung unter den Stoffdruck denn überhaupt akzeptiert wird. Einen Grund sehe ich darin, dass viele – auch Lehrer – immer noch glauben, einen Menschen bilden bedeute, ihn – und dies auf möglichst direktem Wege – mit Wissen anzureichern. Abhilfe ist darum nur zu schaffen durch die Einsicht, dass es – um mit Pestalozzi zu sprechen – insbesondere auf Entfaltung von Kräften und Anlagen ankommt. Aus dieser andern Zielsetzung resultiert ein anderer Unterricht, ein Unterricht nämlich, in dem nicht primär Ergebnisse vermittelt, sondern Erlebnisse ermöglicht werden, ein Unterricht, der nicht auf das Erreichen schnellfertiger Produkte aus ist, sondern den Bildungsprozess selbst als vollwertigen Lebensakt kreativ und fruchtbringend gestaltet. In einem solchen Unterricht wird Hektik und Hetze vermieden, man nimmt sich für alles, was man in die Hände nimmt, gebührend Zeit, verweilt dabei, umkreist es gedanklich in alle Richtungen, vertieft es auf verschiedenste Weise, gestaltet es und eignet es sich an in geduldiger Übung. Das scheinbar Paradoxe daran ist, dass ausgerechnet ein solcher Unterricht, der nicht auf direkte Wissensvermittlung abzielt, sondern die erlebnistiefe Beschäftigung mit einem Unterrichtsgegenstand anstrebt, echtes Wissen hinterlässt, Wissen nämlich, das als inneres Erlebnisbild gar nicht mehr verloren gehen kann. Es handelt sich eben um jenes Wissen, dessen Fehlen ich eingangs beklagt habe. Schnellfertig und nur zur Erreichung einer guten Note erworbenes Wissen hat indessen keine Wurzeln und geht nach den Gesetzmässigkeiten des Vergessens rasch wieder verloren.
b) Eine völlig unvermeidliche Einrichtung scheint heute das ‘Arbeitsblatt’ zu sein. Offensichtlich leistet es nach wie vor seine guten Dienste als sichtbarer Unterrichts-Beleg für Lehrer, Schüler, Eltern, Inspektoren und Behörden. Die immer besseren technischen Möglichkeiten – Kopierer und Computer – lassen einstweilen kaum die Hoffnung aufkeimen, dass die Einsicht wächst für das viele Schädliche, das mit diesem didaktischen Zwang verbunden ist, und dass entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Ich gestatte mir daher, meine diesbezügliche kritische Analyse, die letzthin in der Schweizerischen Lehrerzeitung abgedruckt wurde, im Anhang wiederzugeben. (Siehe Text Nr. 3 bei den Texten didaktischen Inhalts.)
c) Einen weiteren Grund für den eher mässigen Bildungserfolg sehe ich in der leider immer noch zunehmenden Tendenz, mögliches Wissen und mögliche Fertigkeiten in einem entwicklungspsychologisch nicht zu rechtfertigenden, verfrühten Zeitpunkt an die Schüler heranzutragen. Dieses Nicht-warten-Können wird dann noch verstärkt durch ein viel zu schnelles Verlassen der Ebene der realen Anschauung und des konkreten Handelns, so dass letztlich oft genug bloss halbwegs verstandene Gedächtnisinhalte zurückbleiben. Pestalozzi nennt das, was wir unsern Schülern angewöhnen – nämlich über Dinge zu reden, die in ihren Anschauungen kein reales Fundament haben – ‘Maulbrauchen’ und ‘Zungendrescherei’. Ich weiss wohl, dass diese Feststellung am allerwenigsten die unteren Klassen betrifft, aber je weiter man nach oben geht, desto grösser ist in vielerlei Hinsicht die Spannung zwischen dem, was dem Schüler angemessen wäre, und dem, was tatsächlich von ihm erwartet oder verlangt wird.
Ich sehe auch hier die Ursache vor allem darin, dass von der institutionellen Seite her – aufgrund des mangelnden täglichen Kontaks mit der Praxis – unrealistische Ansprüche vertreten werden. Diese Ansprüche schlagen sich wiederum nieder in Lehrplänen und Lehrmitteln, in welchen sich oft sowohl das einseitige fachwissenschaftliche Interesse (auf Kosten des pädagogischen) wie auch eine Didaktik mit stark rationalistischem Gepräge breit macht.
Grundsätze für die Bildungspolitik
Die beschriebene Tendenz, dass sich die institutionelle Seite der Schule immer breiter macht und das personale Geschehen so immer stärker denaturiert, dass also bildungsreformerische Massnahmen – in der besten Absicht getroffen – längst angefangen haben, kontraproduktiv zu wirken, diese Tendenz wird sich erst abschwächen und allenfalls die erwünschte Gegenrichtung nehmen, wenn sich die verantwortlichen Politiker mit einer neuen Mentalität anfreunden. Das heisst: Der Bildungspolitiker muss sich bewusst werden, dass sich sämtliche Massnahmen, die er trifft, bloss indirekt und unter grossen Vorbehalten tatsächlich auf den Bildungserfolg auswirken. Es liegt im Wesen der Politik, dass sie ihre Ziele mit Macht durchsetzt; aber jenes Gute, das nur in der personalen Begegnung zu erzielen ist, lässt sich mit Macht nicht erzwingen, auch wenn ein noch so gewaltiger Apparat in Funktion gesetzt wird. Was also dem Bildungspolitiker – und auch dem Wissenschafter, dem Bildungsplaner und dem Beamten – zugemutet und abverlangt werden muss, ist mehr Distanz zum eigenen Werk, mehr Sinn für das Machbare und – insbesondere – mehr Vertrauen in die konkret tätigen Menschen. Wenn mir z.B. die Autorin eines Sprachlehrwerks beteuert, sie wolle mit ihren Büchern bewirken, dass auch in jenen Schulstuben, in denen ein sprachlich unbeholfener Lehrer amte, ein guter Sprachunterricht erteilt werde, so ist dies – gelinde gesagt – das Pferd am Schwanz aufgezäumt, mindestens so lange, als besagtes Lehrmittel den Unterricht direkt steuern will und sich nicht darauf beschränkt, Anregungen zu geben und insbesondere brauchbares Übungsmaterial zur Verfügung zu stellen.
Aus dieser neuen Mentalität wird auch ein neues politisches und planerisches, d.h. ein neues institutionelles Handeln geboren. Dieses neue institutionelle Handeln wird alles zurückdrängen, was darauf abzielt, den Schüler und die konkrete Unterrichtssituation direkt zu beeinflussen bzw. zu gestalten, und sie wird alles fördern, was geeignet ist, den Lehrer in einer solchen Weise zu erreichen, dass er für die Gestaltung der personalen Begegnung zwischen ihm als Lehrendem und Erziehendem und den Schülern besser gebildet ist und bessere Bedingungen vorfindet. Konkret bedeutet dies:
Freiheit aushalten
Ich habe nachgewiesen, dass der Lehrer nur insoweit erfolgreich sein kann, als er sich selbst als freien, selbstbestimmten Menschen erlebt. Mir ist auch klar, dass es im Rahmen einer gesellschaftlichen Institution wie z.B. der Schule keine absolute Freiheit geben kann. Wer aber als institutionell Handelnder andere einschränkt und anderen etwas vorschreibt, kann dies durchaus auf eine Weise tun, dass in ihnen kein Gefühl des Gegängeltseins aufkommen muss; er muss sich nur an zwei einfache Grundsätze halten: Erstens sollen so wenige Vorschriften und Einschränkungen wie möglich erlassen werden, und zweitens sollen sie so gehalten sein, dass sich – sagen wir einmal – ein normaler Mensch damit identifizieren kann.
Leider sieht die Realität heute anders aus. Ein Beispiel: Vor 35 Jahren nahm kein Mensch daran Anstoss, wenn ich als Lehrer an einer Gesamtschule selbst entschied, ob – je nach Wochentag – am 23. oder 24. Dezember Schule gehalten wird. Möglicherweise habe ich mich noch mit dem Präsidenten der Schulpflege abgesprochen und seine Argumente einbezogen. Aus erster Quelle weiss ich, dass im Erziehungsdepartement in irgend einem Schweizer Kanton vor ein paar Jahren die Chefbeamten über diese Frage zwei Stunden debattierten. Dieses Beispiel liesse sich beliebig vermehren.
Meiner Überzeugung nach sind es zwei Gründe, welche zu derart peinlichen Erscheinungen führen:
Einerseits ist unser Denken heute geradezu beherrscht durch den Wahn, es müsse alles innerhalb unserer Grenzen völlig gleich sein. Der Gleichheitswahn hat sich an die Stelle der Lebensfreude, der Grosszügigkeit, der Lust an kreativen Lösungen und des wirklichen Gerechtigkeitsempfindens gesetzt. Kaum jemand wagt es noch, gegen diese lebentötende Besessenheit unseres Denkens aufzustehen. Im Bereiche der Schule liessen sich seitenlang Beispiele anführen, die zeigen, wie der Gleichheitswahn gewachsenes, organisches Leben zerstört hat und noch zerstört.
Anderseits ist unser Denken nicht minder beherrscht durch die Sucht nach Perfektion. Wenn z.B. jemand seine Freiheit missbraucht hat, dann begnügen wir uns nicht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen und die Dinge wieder konkret ins Lot zu bringen. Der perfekte moderne Planer ist vielmehr danach bestrebt, das zu Tage getretene Übel nun auch für alle Zukunft zu verhindern. Um auf mein Beispiel mit dem Weihnachtsferienbeginn zurückzukommen: Es ist durchaus anzunehmen, dass es Lehrer gab, die ihre Kompetenz missbrauchten. Aber statt bloss ihnen auf die Finger zu klopfen, wird nun das Problem durch eine rechtliche Bestimmung ein für alle Mal geregelt. Dadurch ist das Gute gefestigt – und gleichzeitig sind auch alle freiheitsfähigen Lehrer mit ihren örtlichen Behörden frustriert. Es versteht sich von selbst, dass mit solchen Massnahmen immer mehr kreative Lehrer vertrieben werden und dass darum immer neue Vorschriften erlassen werden müssen. Wieder einmal: Ein Teufelskreis. Nach diesem Modell geht dies nun, seit ich Lehrer bin.
Man kann aus diesem Teufelskreis nur aussteigen, wenn man die Grosszügigkeit aufbringt zu den beiden folgenden Leistungen:
Erstens muss man akzeptieren, dass Freiheit Vielfalt bedeutet und darum ihrer Natur nach ungleiche Verhältnisse schafft. Aber gerade, weil sie ungleich sind, sind sie dem konkreten Leben angepasst. Diese Maxime findet selbstverständlich ihre Grenze, wo die zu tolerierende Ungleichheit in untragbare Ungerechtigkeit umschlägt. Die Grenze ist fliessend, und wenn man dies nicht akzeptiert, so verwandelt sich die Idee der Gerechtigkeit automatisch in den Wahn der Gleichheit.
Zweitens muss man den Freiheitsmissbrauch konkret lösen, d.h. an jener Stelle, wo er passiert, und nicht allgemein in dem Sinne, dass der Missbrauch künftig nicht mehr möglich ist. Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, gibt es nicht. In dem Masse, wie wir den Missbrauch der Freiheit durch rechtliche Massnahmen verhindern, in eben dem Masse schaffen wir die Freiheit ab.
Dem Lehrer Sorge tragen
Wenn man einmal erkannt hat, wie letztlich keine noch so gut gemeinte Schulreform an der Person des Lehrers vorbeikommt, so ist es reine Logik, dass sich ein Grossteil der institutionellen Massnahmen auf ihn konzentrieren muss. Das bedeutet nicht nur, dass er gut entlöhnt wird und von Behörden, Eltern und Inspektoren gebührende Wertschätzung erfährt, es bedeutet vor allem, dass sich die Institution Schule in erster Linie um eine sehr gute Grundausbildung und Fortbildung der Lehrer kümmern muss. Dabei dürfen hier eben jene Fehler, die ich der ‘heutigen Schule’ anzukreiden genötigt war, nicht begangen werden: Bildung darf nicht Stoffhuberei oder einseitige Kopffüllerei sein, sondern sie muss den (heranwachsenden) Lehrer als ganzen Menschen ergreifen. Lehrerbildung und Lehrerfortbildung müssen daher konsequent im Sinne der Persönlichkeitsbildung gestaltet werden. In den Kursen der Lehrerfortbildung muss in erster Linie dahin gewirkt werden, dass sich die Teilnehmer auf erlebnistiefe Weise in jenen Stoffgebieten bewegen können, die in ihrer Schulstube zur Sprache kommen, und dass sie den Mut entwickeln zu einer selbstverantworteten, kreativen Gestaltung des Unterrichts. Das sollte schliesslich dazu führen, dass Lehrer weitgehend von Lehrmitteln für die Hand des Schülers unabhängig werden und dem öden Papier-Unterricht aus Überzeugung abschwören.
Dem Lehrer Sorge tragen heisst auch: Wissen, dass er an Grenzen kommen kann. Das Inspektoratswesen ist zu ergänzen durch handhabbare Möglichkeiten der Beratung in Sachfragen und der Supervision für die Bearbeitung persönlicher Probleme. Das Unterrichten und Erziehen ist derart anspruchsvoll, dass die Institution Schule, die – wie gezeigt – kaum eine Ausgabe scheut im materiellen Bereich, wesentlich mehr finanziell aufwenden müsste, um damit dem Lehrer zu helfen, seine Aufgabe besser zu erfüllen.
Eine wichtige Hilfe im skizzierten Sinne sind auch regionale didaktische Zentren, die in vertretbarer Zeit erreichbar sind und in denen der Lehrer insbesondere jene Materialien vorfindet, die ihn instand setzen, sich innerhalb nützlicher Zeit in eine Materie richtig einzuarbeiten. Hingegen wirken gemäss dem hier vertretenen Denkansatz all jene Unterrichtshilfen kontraproduktiv, die dem Lehrer die eigene geistige Auseinandersetzung abnehmen wollen und ihm pfannenfertige Rezepte sowie kopierfähige Arbeitsblätter anbieten.
Noch weitgehend unausgeschöpft sind die Möglichkeiten der schulhausinternen Zusammenarbeit. Wichtig ist, dass Lehrer dabei nicht allein gelassen, sondern eine grosszügige personelle, organisatorische und auch finanzielle Unterstützung erfahren. In diesen Zusammenhang gehört auch das Durchbrechen der Jahrgangsklassen-Ideologie. Jeder Lehrer, der schon an einer Mehrklassenschule unterrichtete, kennt die vielen erzieherischen und didaktischen Vorteile dieser Organisationsform, und die meisten stimmen darin überein, dass insgesamt die Vorteile die Nachteile überwiegen. In der einvernehmlichen Zusammenarbeit unter den Lehrern – gemeinsam mit den Behörden – lassen sich neue Formen der Schülergruppierung erproben und verwirklichen, die für alle Beteiligten eine Bereicherung sein können.
Längst fällig ist die Gewährung regelmässiger bezahlter Bildungsurlaube. Ich weiss zwar – und verstehe es auch ein Stück weit -, dass dieses Begehren nicht nur bei Politikern, sondern insbesondere in unserer Gesellschaft ganz allgemein Gefühle des Neides auslöst, aber logisch ist es sicher nicht, Millionen und Abermillionen z.B. in die Gebäude oder Apparaturen zu stecken und genau dort zu sparen, wo erwiesenermassen der grösste Nutzen herausschaut. Im Kanton Aargau hat jeder Lehrer nach ein paar Jahren die Möglichkeit, in einem halbjährigen Urlaub auf Staatskosten die ‘Lehramtsschule’ im Sinne einer konzentrierten Fortbildung zu besuchen. Dies ist ein guter Ansatz, der in allen Kantonen ausgebaut werden könnte. Bei der Gestaltung des Bildungsurlaubs müsste grosse Freiheit herrschen; zu verlangen wäre ein vom Kandidaten vorgelegtes und auf die Realisationsmöglichkeiten hin recherchiertes Bildungsprogramm sowie ein entsprechender Nachweis der tatsächlichen Verwirklichung. Würde z.B. jedem Lehrer nach jeweils 5 Jahren ein halbes Jahr Bildungsurlaub gewährt, so würde dies gesamtschweizerisch schätzungsweise 100 Millionen Franken kosten, was weniger als 1 % der jährlichen Gesamtauslagen für Bildung und Erziehung ausmacht.
Die Schuldienste ausbauen
Angesichts der Tatsache, dass – wie gezeigt – Unterrichten und Erziehen zunehmend schwieriger geworden ist und wohl noch wird, angesichts der Tatsache auch, dass letztlich eine wirkliche Verbesserung unserer Bildungssituation nur durch die qualitative Verbesserung personaler Beziehungen und Begegnungen möglich ist, sind alle Investitionen im personellen Bereich gut angelegtes Geld. Zwar kenne ich durchaus die Kritik, viele Lehrer seien bequem geworden und riefen daher sofort nach einem Spezialisten, der ihnen die Arbeit abnehme, und ich will auch nicht bestreiten, dass es Fälle geben mag, wo die Kritik angezeigt ist, aber insgesamt ist die Forderung berechtigt, dass speziell ausgebildete Fachleute dort mithelfen sollen, wo der Lehrer – aus welchen Gründen auch immer – an Grenzen stösst. Wichtig dabei ist freilich, dass das Kind nicht hin- und hergerissen wird, und dies wird vermieden, wenn Klassenlehrer und Spezialist (Therapeut, Psychologe etc.) tatsächlich miteinander zusammenarbeiten. Darum sind auch neuere Konzepte ernsthaft zu prüfen und möglichst zu realisieren, wo das Kind durch die Therapie nicht aus der Klassengemeinschaft entfernt wird, sondern der beigezogene Helfer in die Klasse kommt und dort den Lehrer unterstützt. Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass dies nicht nur finanzielle Folgen hat, sondern auch organisatorische Ansprüche stellt, die nicht leicht zu erfüllen sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Anlass des fünfzigjährigen Bestehens des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen etwas näher auf diesen speziellen Schuldienst einzugehen. Ursprünglich wurde der Schulpsychologe landesweit ‘zum Testen’ beigezogen, d.h. man erwartete von ihm ein klares Urteil über eine Situation und eine entsprechende Empfehlung für eine hilfreiche Massnahme. Inzwischen wurde die Arbeit des Schulpsychologen berechtigterweise ausgeweitet: Neben dem schriftlichen Bericht steht die mündliche Beratung der Lehrer und Eltern, aber auch eine weitergehende therapeutische Betreuung des Kindes. Aus der Erkenntnis heraus, dass das Kind oft nur Symptomträger eines sozialen Problems ist, gehen einzelne Schulpsychologische Dienste heute noch weiter und ermöglichen eine Verbesserung der psychischen Situation des Kindes z.B. durch eine Familientherapie. Das sind erfreuliche Entwicklungen, auch wenn dies natürlich Geld kostet, das nicht so ohne weiteres zur Verfügung steht. Aber die Entwicklung muss noch weiter gehen. Noch zu oft wird der Schulpsychologe als Schreckgespenst empfunden, dem man entweder (seitens der Eltern) möglichst aus dem Wege geht oder mit dem man (seitens der Schule) gelegentlich auch drohen kann. Die Aufgabe wird deshalb darin bestehen, eine selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen Schulpsychologen einerseits und der Lehrerschaft und den Behörden andererseits zu erreichen, so dass die Eltern den Beizug des Psychologen in einer schwierigen Situation ebenso als selbstverständlich empfinden. Diese Zusammenarbeit wird dann auch dazu führen, dass der Psychologe nicht bloss für ganz bestimmte Fälle ins Schulhaus kommt oder beigezogen wird, sondern dass er der Lehrerschaft in Problemen, die nicht bloss ein einzelnes Kind betreffen, als Berater zur Verfügung stehen kann.
Eine solche Weiterentwicklung des Schulpsychologischen Dienstes im Sinne einer wirklichen Zusammenarbeit ruft dann allerdings auch einem Finanzierungsmodell, das dieser Wirklichkeit angemessen ist. Negativ ausgedrückt: Bei der Einführung des Dienstes konnte es noch als richtig gelten, jede einzelne Stunde den Kostenträgern nach dem Verursacherprinzip zu verrechnen. Heute hingegen, wo der Arbeit des Schulpsychologen ein anderes Selbstverständnis zu Grunde liegt, ist es wichtig, dass der Psychologe – genau wie der Lehrer – nicht im Stundenlohn arbeitet, sondern als Angestellter jene Aufgaben erfüllen kann, mit denen er von den Betroffenen beauftragt wird. Die Erfahrung muss darum jeweils zeigen, ob in einer bestimmten Region der Personalbestand erweitert werden muss. Dies bedingt zweifellos grössere Personalausgaben, aber ich glaube in meinem Referat gezeigt zu haben, dass im Bereiche der Bildung und Erziehung der finanzielle Aufwand für jene, die wirklich mit den Schülern arbeiten, das bestinvestierte Geld ist.
Zusammenfassung und Schluss:
Der gewaltige, gutgemeinte und zweifellos viel Gutes ermöglichende bildungspolitische Aufwand droht zu so etwas wie dem Turm von Babel zu werden, wenn mit den institutionellen Anstrengungen nicht gleichzeitig die Einsicht wächst, dass bloss so viel wirksam wird, als Lehrer und Schüler als unvollkommene Menschen verkraften können. Wir sind heute versucht, ein gewaltiges Haus zu bauen, um den Himmel des vollkommen gebildeten und ausgebildeten Schülers zu erreichen, und wir konzentrieren uns dabei zu einseitig auf die Qualität der Mauern, Türme und Treppen. Darum bemerken viele kaum mehr, dass die Menschen dieses grossangelegte Haus gar nicht zu bewohnen und die vielen Treppen und Türme gar nicht zu erklettern vermögen. Eine kluge, in die Zukunft weisende Bildungspolitik wird daher die Energie verlagern. Sie wird sich auszeichnen durch die Einsicht, dass institutionelles Handeln das Gute nicht direkt bewirken, sondern bloss indirekt ermöglichen kann. Sie wird zwar die Pflege der Mauern, Türme und Treppen nicht vernachlässigen, denn das ist eine ihrer Aufgaben, aber sie anerkennt bei all ihrem Tun das menschliche Mass und möbliert dieses Haus so, dass die Menschen, die es bewohnen, darin gedeihen können. Dies können sie dann, wenn sie spüren, dass sie dem Bauherrn wichtiger sind als Mauern, Türme und Treppen und wenn er ihnen jene Freiheit, jene Selbstverantwortung und jene Entfaltungsmöglichkeiten zugesteht, die sie brauchen, damit sich das Leben im Hause wirklich erhalten und zum Guten entwickeln kann. Eine kluge Bildungspolitik wird daher Pestalozzis Satz nie vergessen, der da lautet:
„Unser Geschlecht bildet sich nur von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz wesentlich menschlich.“