Wie macht man den Lehrberuf attraktiver?
Replik auf einen Artikel von Prof. Forneck in NZZ am Sonntag vom 22. Aug. 2010.
Hermann J. Forneck, Leiter der Pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz, glaubt den Lösungsweg zur Behebung des latenten Lehrermangels erkannt zu haben: Lehrkräfte brauchen vermehrt Aufstiegschancen, mithin die Möglichkeit, eine Karriereleiter hochzusteigen. Immer noch daran zu glauben, Lehrersein sei eine Berufung, ist „unmodern“ und gilt ihm als fatale Entwicklung, ebenso die Tendenz, Quereinsteigern aus anderen Berufen durch spezielle Ausbildung den Zugang zum Lehrberuf zu ermöglichen.
Ich möchte dem entschieden widersprechen. Das Karrieredenken ist schon an sich eines der heutigen gesellschaftlichen Grundübel. Wer beim Ausüben einer Berufsarbeit an seine Karriere denkt, ist nicht sachbezogen, gibt sich nicht seiner Aufgabe als dem Ernstfall seines Lebens hin, sondern lebt in einem ständigen Provisorium und benutzt die derzeitige Tätigkeit als ein Vehikel, um, wie Forneck anpreist, „höher in der Karriereleiter“ zu steigen. Das ist grundsätzlich eine krankmachende Beziehung zur eigenen Tätigkeit. Geschieht dies im Bereich von Bildung und Erziehung, ist es besonders fatal. Erfolgreich im Beruf sind solche Lehrkräfte, die entschlossen sind, in ihrer eigenen Berufsaufgabe ganz da zu sein und sich engagiert in den Erfordernissen des Berufs zu verwurzeln, statt auf einen „höheren“ und besser bezahlten Posten zu schielen. Man frage jene Lehrerinnen und Lehrer, die dreissig und mehr Jahre hingebungsvoll gearbeitet und sich Jahr für Jahr kompetenter gemacht haben, ob sie darunter leiden, „keine Karriere“ gemacht zu haben. Sind sie in ihrem Wirken fruchtbar, so deshalb, weil sie ihrer inneren Berufung gerecht werden wollen. Aus dieser Grundhaltung erwächst auch die Kraft, in Krisen durchzuhalten und sich immer wieder um eine durch Mitmenschlichkeit geprägte Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen zu bemühen. Darüber hinaus ermöglicht diese Haltung auch jene Standfestigkeit, die nötig ist, um sich gegenüber allen Ansinnen aus Wirtschaft, Politik, Erziehungswissenschaft und Bildungsverwaltung auf die Seite des Kindes zu stellen. Denn dass diese Gesellschaftsmächte heute viel Unnützes und Schädliches von der Schule und den Lehrkräften fordern, ist offensichtlich und damit einer der Gründe für die mangelnde Attraktivität des Lehrberufs.
Um diese Karriereansprüche zu realisieren, fordert Forneck eine andere Strukur des Lehrberufs. Realisiert werden soll dies einerseits durch Spezialisierung, wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist, andererseits aber durch die Installation eines hierarchischen Systems, das jenen, die die Karriereleiter hochsteigen wollen, vermehrte Machtbefugnisse zugesteht. Diese Entwicklung ist ja schon seit längerer Zeit im Gang und ist meines Erachtens ein weiterer Grund, weshalb der Lehrberuf für viele junge Menschen unattraktiv geworden ist: Wo nämlich einzelnen Individuen grössere Macht gegeben wird, verweist man stets viele andere in die Unfreiheit. Ich selbst fühlte mich vor einem halben Jahrhundert als Lehrer an einer Gesamtschule als eigenverantwortlicher Unternehmer. Das war attraktiv. Die zunehmende Entmündigung des einzelnen Lehrers in den vergangenen Jahren hat indessen die Arbeitsbedingungen der Lehrerschaft deutlich verschlechtert. Ein noch weiter differenziertes Karriereleitersystem, das zwar einzelnen Berufsvertretern mehr Kompetenzen und damit auch bessere Bezahlung in Aussicht stellt, auf der andere Seite aber den Rest in immer grössere Abhängigkeit bringt, ist im Hinblick auf die Steigerung der Attraktivität des Lehrberufs kontraproduktiv.
Logisch ist auch: Durch die Propagierung eines Systems, das allen Berufsleuten das Besteigen einer Karriereleiter nahelegt, erscheint die erste Stufe als am wenigsten attraktiv. Ist diese dann, wie es sich aus Fornecks Vision ergibt, auch noch die am schlechtesten bezahlte, so fördert man systematisch das frühestmögliche Verlassen dieser ersten Stufe. Damit wird der Primarlehrerberuf systematisch entwertet. Dann darf man sich freilich nicht mehr wundern, wenn dieser bloss noch als eine Durchgangsstation gesehen wird und somit an den Primarschulen fast nur noch Anfänger ihre Sporen abverdienen werden. Die Bildungspolitik müsste dem gegenüber alles daransetzen, dass die Lehrkräfte über längere Zeit in einer politisch und finanziell gesicherten Stellung ein Wirkungsfeld aufbauen können, in welchem sie über Jahre und Jahrzehnte Erfahrungen sammeln und damit eine Steigerung ihrer wirklichen Kompetenzen entwickeln können. Eine solche durch die tägliche Bewältigung der anfallenden Probleme und Aufgaben heranwachsende Kompetenz bei möglichst vielen Lehrkräften ist die Grundlage für ein wirklich gutes Schulwesen. Solange das die massgebenden Instanzen nicht sehen oder nicht sehen wollen, ist jede Bemühung um eine Verbesserung der Schulen und um eine Steigerung der Bildungsqualität ein Schlag ins Wasser, auch wenn dafür ein noch so grosser Aufwand betrieben wird. Aufgabe der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik muss es sein, jene Bedingungen zu schaffen, unter denen solche echten Berufskompetenzen entstehen können, womit dann dem Lehrberuf auch wieder jenes Ansehen zurückgegeben wird, das ihm zukommt. Eine Karriereleiter ist ein völlig falsches Anreizsystem. Es ist für jene attraktiv, die besser die Hände von Bildung und Erziehung lassen würden.