Arthur Brühlmeier

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Disziplin als Konzentration auf die Aufgabe

Ist heute von Disziplin die Rede, werden oft genug gleich Bilder von eingeschüchterten Klassen, exerzierenden Rekruten oder gefügigen Unterdrückten heraufbeschworen. Trotzdem: Ohne Disziplin ist Bildung undenkbar.

Wir Menschen sind Sinnen- und Triebwesen, werden folglich von Sinneseindrücken und triebhaften Regungen jeglicher Art beinahe dauernd in Beschlag genommen, und ebenso werden wir pausenlos von Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Zukunftsvisionen und Ideen jeglicher Art bedrängt. Und je reicher ein menschliches Wesen besaitet ist, je leichter er sich für Impulse aus dem Innern und Reize aus der Umwelt ansprechen lässt, desto stärker ist er der Gefahr ausgesetzt, dass ihn all dies, das mehr oder weniger andauernd um die Zuwendung seines Ichs ringt, in Stücke reisst, zersplittert. Allerdings: Was ihn sich selbst zu entfremden droht, seine wahre Identität nicht mehr erlebbar werden lässt, ist nicht das Einzelne, nicht eine einzelne Triebregung, ein einzelner Sinneseindruck, ein einzelner Gedanke. Die Gefahr des Selbstverlustes ergibt sich vielmehr aus der Fülle, aus der Vielfältigkeit und der Menge der Gehalte, die ihn im selben Augenblick an sich binden möchten.

Der oben beschriebenen zentrifugalen Tendenz steht die in jedem Menschen angelegte Kraft zur Konzentration gegenüber, das heisst: die Kraft zum Verzicht auf augenblickliche Vielfalt, zur ernsthaften Hinwendung an einen einzigen Gehalt und damit zur Erlangung von Tiefe und Grund.

Die beiden Möglichkeiten des Menschen – sich von tausend Dingen hin- und her- oder gar zerreissen zu lassen oder sich auf eine Sache zu konzentrieren – stehen einander unter psychologischem oder ethischem Aspekt allerdings nicht spiegelbildlich gegenüber, so dass man sagen könnte: wähle die Mitte, lass dich stets ein bisschen durch augenblickliche Vielfalt verführen und verliere dich ja nicht in der völligen Konzentration. Vielmehr stellt das Sich-hin-und-her-reissen-Lassen im Hinblick auf die Aufgabe, sich selbst zu finden und (im Sinne von Angelus Silesius) „wesentlich“ zu werden, eine latente Gefährdung dar, wogegen in der Fähigkeit zur Konzentration die Möglichkeit zur Rettung und Heilung liegt. Mit andern Worten: Die Verzettelung an alles, was da so reizt, von innen oder aussen, und auch keiner bewussten Wertung unterliegt, geschieht ohne unser Zutun. Es passiert uns, wenn wir dem nicht bewusst etwas entgegenstellen: Den Willen, nicht bloss durch Reize jeglicher Art gewissermassen ‚gelebt zu werden‘, sondern durch bewusst getroffene Wahl zu wirken und somit im eigentlichen Sinne zu ‚leben‘.

Alles, was der Mensch im eigentlichen Sinne je ersonnen und geschaffen hat, beruht auf dieser seiner Fähigkeit, die zentrifugalen Kräfte im eigenen Ich durch Konzentration auf jeweils eine einzige Sache zu überwinden. Und insofern ‚Bildung‘ eigentlich nichts anderes ist, als der gelebte Wille zum ‚richtigen‘ (d.h. im Hinblick auf Menschlichkeit zuträgliche) Leben, insofern kommt auch sie nur durch Konzentration auf jene Aufgaben zustande, die im Rahmen des Bildungsprozesses als notwendig gelten.

Nun liesse sich einwenden, ein Mensch, der innert Sekunden seine Zuwendung von einem Gegenstand auf den andern wechselt und wieder wechselt, sei in diesen Augenblicken auch konzentriert. Allein dieses Aufmerken beruht nicht auf einer bewussten Leistung und führt in der Regel auch nicht zu einem erwünschten Bildungsergebnis. Was erforderlich ist, ist die Fähigkeit zur Konzentration auf einen einzelnen Gegenstand über eine längere Zeit. Und eben diese Fähigkeit heisst ‚Disziplin‘.

Natürlich weiss jeder Lehrer, wie lästig es ist, wenn er z.B. einen Impuls gegeben oder (was man ja auch darf) eine Frage gestellt hat und nun die Aufmerksamkeit vom aufgeworfenen Problem weggelenkt wird auf – beispielsweise – einen Gummiring, den jemand auf die Wandtafel geschossen hat. Und wenn sich solche Störungen häufen oder gar die Regel werden, spricht man zu recht von einer undisziplinierten Klasse, und wir alle wissen, wie schwer es da ist, irgendwelche Lernziele zu erreichen.

So weit, so gut. Die wesentliche Frage ist natürlich: Wie lässt es sich bewerkstelligen, dass sich die Schüler diszipliniert verhalten und damit auf die Lerngegenstände konzentrieren? Hier gibt es keine einfachen Antworten, aber es ist immerhin etwas gewonnen, wenn der Lehrer weiss, dass er Disziplin nicht bloss verlangen darf, sondern verlangen bzw. selber herstellen muss.

Es wäre unrealistisch, Disziplin unter allen Umständen ohne den Einsatz seiner Autorität und gelegentlich auch Macht erreichen oder durchsetzen zu wollen. Zwar ist es nicht sicher, dass sich ein Schüler nach einer Zurechtweisung wirklich auf seine Aufgabe konzentriert, aber die Wahrscheinlichkeit ist immerhin kleiner, dass er andere und schliesslich die ganze Klasse von ihrer Arbeit ablenkt.

Aber ebenso unrealistisch ist es zu glauben, echte und der Bildung zuträgliche Disziplin sei grundsätzlich oder gar ausschliesslich mit Druck und in einer Atmosphäre der Angst zu erreichen. Wirkliche Disziplin entsteht nur dort, wo die Hingabe an eine Sache letztlich Freude macht und als lohnend erlebt wird. Das geschieht aber nur in einem Unterricht, der den wirklichen (d.h. altersgemässen und individuellen) Bedürfnissen der Schüler gemäss ist, d.h. im Sinne Pestalozzis ‚naturgemäss‘ ist. Im nächsten Kapitel stelle ich daher die tragenden Gedanken von Pestalozzis Menschenkunde und Erziehungslehre dar.

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