Als Grundlage eine tragfähige Bildungsidee
Nachdem in den vorausgehenden Kapiteln verschiedentlich auf Pestalozzi hingewiesen wurde, scheint es angezeigt, einen knappen Blick auf die zwei tragenden (und einander bedingenden) Ideenkonzepte Pestalozzi zu werfen: auf seine Lehre vom Menschen (Anthropologie) einerseits und auf seine Erziehungslehre andererseits. Letztlich gibt es nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Sofern diese geschöpft ist aus breiter Erfahrung und tiefem Verständnis für die menschliche Existenz, vermag sie der ganzen pädagogischen Arbeit Konsistenz zu verleihen und ihr dadurch letztlich auch den Erfolg – was das immer heissen mag – zu sichern. Ich verwende hierzu eine Textpassage, die aus meiner inzwischen vergriffenen Schrift „Mit Freude Schule halten“ stammt. Wer sich intensiver mit den beiden Themen befassen will, vertiefe sich in die entsprechenden Kapitel dieser Website unter: Texte – Pestalozzi – Lehrtexte Abhandlungen.
Pestalozzis Lehre vom Menschen
Pestalozzi hat jahrzehntelang nach einem Fundament gesucht, um das Menschsein verstehen zu können. In seinem philosophischen Hauptwerk ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’ (1797) legt er eine Sicht des Menschen dar, die uns hilft, uns in all unsern Bezügen und Spannungen zu verstehen und unserem Handeln eine konsequente Richtung zu geben.Pestalozzi geht in seinen Überlegungen von der Tatsache aus, dass wir Menschen im Widerspruch leben: im Widerspruch mit uns selbst, insofern wir Bedürfnisse, Pflichten und Ideale nicht immer in Übereinstimmung bringen können, im Widerspruch auch mit Mitmenschen und Gesellschaft. Diese Widersprüche erklären sich nach Pestalozzis Überzeugung daraus, dass der Mensch auf drei verschiedene Weisen (Pestalozzi sagt: in drei verschiedenen ‘Zuständen’) existiert:
- Erstens sind wir natürliche Wesen, vergleichbar dem Tier, das in sich Triebe und Bedürfnisse spürt, das nach Lust strebt und Unlust vermeiden will, das aber auch egoistisch ist, da es sich selbst erhalten will und seinen eigenen Vorteil wünscht, und das – was zu wissen für uns Lehrer besonders wichtig ist – auch dem Gesetz der Trägheit unterliegt.
- Zweitens sind wir Menschen gesellschaftliche Wesen, insofern unser Handeln durch Rechte und Pflichten bestimmt wird. Als gesellschaftliche Wesen erfahren wir die Einschränkung natürlicher Triebe und selbstbezogener Wünsche und partizipieren wir an Institutionen wie dem Staat und der Wirtschaft.
- Drittens können wir, wenn wir wollen, sittliche Wesen sein. Wir sind es immer dann, wenn wir der aus unserem Innern kommenden Aufforderung gehorchen, als Persönlichkeit zu wachsen und zu reifen, die Mitmenschlichkeit zu entfalten und das als das Gute Erkannte zu tun. Sittlichkeit ist überall dort, wo echter Geistigkeit Raum gewährt wird: dem erkennenden Lieben und dem liebenden Erkennen, dies in Freiheit und Selbstverantwortung.
Die Widersprüche sind grundsätzlich unvermeidlich, denn reine Sittlichkeit ist dem Menschen nicht möglich. Als natürliche Wesen suchen wir unsere egoistischen Wünsche durchzusetzen, als bloss gesellschaftliche Wesen verfolgen wir dieselben Absichten mit rechtlichen Mitteln; erst als sittliche Wesen überwinden wir in uns den Egoismus, um in Verantwortung für das Ganze zu handeln, um dem Mitmenschen in Offenheit, Verständnis, Rücksichtnahme und Liebe zu begegnen und uns der Wahrheit ohne Rücksicht auf unsere Wünsche hinzugeben.
Vom Wesen und den Möglichkeiten des Lehrberufs
- Auch unsere Berufsarbeit unterliegt dem unvermeidlichen Widerspruch. Alsnatürliche Wesenmöchten wir, dass es uns bei der Arbeit wohl ist, dass sie sich möglichst bequem erledigen lässt und uns Anerkennung und materiellen Gewinn einträgt. Als gesellschaftliche Wesen stehen wir unter Vertrag, der uns einerseits Rechte zubilligt (u. a. das einfache Recht, in der Schulstube überhaupt wirken und damit auch unser Brot verdienen zu dürfen), andererseits aber Pflichten auferlegt: die Unterrichtszeiten einzuhalten, den Lehrplan zu erfüllen, die Schulordnung durchzusetzen, die Promotionsordnung und die Selektionsmechanismen zu handhaben, uns fortzubilden und überhaupt jede gesetzliche Regelung zu beachten.
Solange wir unsere Berufsarbeit bloss unter diesen beiden Aspekten leisten, können wir wohl kaum besonders glücklich werden, denn stets wird der unaufhebbare Widerspruch zwischen den natürlichen Bedürfnissen nach Behaglichkeit und den gesellschaftlichen Verpflichtungen auf uns lasten. Eigentliche Erfüllung ermöglicht uns unser Beruf erst unter sittlichem Aspekt: Wir leisten unsern Beitrag zur Menschwerdung der uns anvertrauten Kinder, indem wir unter Respektierung ihrer Persönlichkeit ihre Kräfte entfalten, ihre Sinne öffnen, sie in die bunte Welt hineinführen und alles uns Mögliche beitragen, damit sie gute Menschen werden können.
Freilich werden wir immer wieder erfahren, dass dieser sittliche Anspruch mit unsern eigenen natürlichen Wünschen nach Behaglichkeit oder mit den gesellschaftlich erklärten Erfordernissen kollidiert. Pestalozzis Menschenverständnis zeigt uns einerseits, dass dieser Widerspruch nicht ein für allemal beseitigt werden kann, andererseits aber auch, dass wir ihn immer dann überwinden können, wenn es uns in der einzelnen, freien Tat gelingt, im Rahmen unserer natürlichen Möglichkeiten und der gesellschaftlichen Bedingungen jene erzieherischen Aktivitäten zu entfalten, die wir aus einem sittlichen Anspruch heraus als sinnvoll und fruchtbar erkennen.
- Die äusserst weit fortgeschrittene Arbeitsteilung im Wirtschaftsprozess und der oft gnadenlose Konkurrenzkampf der Marktwirtschaft bringen es mit sich, dass viele Menschen ihre gesellschaftliche Funktion im Rahmen des Wirtschaftsprozesses nur noch sehr eingeschränkt mit ihren Vorstellungen einer erfüllenden Sittlichkeit in Übereinstimmung bringen können. Es kann sich hier nicht darum handeln, dieser Frage weiter nachzugehen und Lösungsmodelle zu entwickeln. Aber im Rahmen unserer Thematik dürfen wir doch feststellen, dass die Struktur der Berufsarbeit des Lehrers eine entfremdende Trennung zwischen gesellschaftlichem und sittlichem Anspruch nicht erfordert. Mit andern Worten:Die Ausübung des Lehrberufs kann für den einzelnen Lehrer zugleich der Weg sein, sein eigenes Menschsein zu verwirklichen.Der erzieherische Erfolg steigt nämlich in dem Masse, als ein Lehrer seine Berufsarbeit mit all ihren Problemen als seinen eigenen Weg zur Reifung seiner Persönlichkeit erkennt und benützt. Der Lehrberuf ermöglicht dem Berufenen wie kaum ein anderer die Selbstverwirklichung, freilich nicht verstanden als egoistische Wunschbefriedigung, sondern als Entwicklung des eigenen Menschseins im Sinne des sittlichen Zustands. Diese fundamentale Erkenntnis ist eigentlich schon Anlass genug, um mit Freude Schule zu halten.
Pestalozzis Erziehungsidee
Pestalozzis Sichtweise gibt uns aber nicht nur, wie bereits erwähnt, eine Handhabe, um uns selbst in unserer Berufsarbeit zu verstehen, sondern ist auch geeignet, unserer Bildungs- und Erziehungsarbeit Richtung und Ziel zu weisen. Obwohl Pestalozzi als Realist durchaus anerkennt, dass dem Menschen weder ein Abschütteln seiner natürlichen Bedingtheiten noch ein Ausstieg aus seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit möglich ist, zeigt er doch in grosser Klarheit, dass wir die eigentliche Erfüllung unseres Menschseins erst durch die Realisierung des sittlichen Zustandes erreichen. Es muss daher das Ziel aller Bildungs- und Erziehungsbemühungen sein, im jungen Menschen das sittliche Leben zu erwecken und ihn zu lehren, die Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse und die Partizipation am gesellschaftlichen Leben soweit wie möglich in Übereinstimmung mit sittlichen Ansprüchen zu bringen.
Pestalozzi ist überzeugt davon, dass ein solches Erziehungsverständnis der menschlichen Natur entspricht. In jedem Neugeborenen liegen Kräfte und Anlagen bereit, die ihn – werden sie naturgemäss entwickelt – grundsätzlich befähigen, sein Menschsein nicht nur als natürliches und gesellschaftliches, sondern auch als sittliches Wesen zu entfalten. Die Entfaltung von Kräften und Anlagen erweist sich somit als das zentrale pädagogische Anliegen, dem nach Pestalozzis Überzeugung auch die Schule verpflichtet sein muss. Unsere Arbeit kann sich daher niemals darin erschöpfen, den Schülern blosses Wissen zu vermitteln und sie in die wichtigsten gesellschaftlich vermittelten Kulturtechniken einzuführen. Da, wo der Lehrplan und die Lehrmittel aufhören und wo sich insgesamt die gesellschaftlichen Möglichkeiten pädagogischer Einflussnahme erschöpfen, beginnt erst unsere eigentliche Aufgabe: Es geht darum, dass wir die gesellschaftlich definierten Stoffe und die gesellschaftlich geforderten Fertigkeiten als Mittel benützen, um in den Schülern die naturgegebenen Kräfte und Anlagen auf eine solche Weise zu entfalten, dass in ihnen das sittliche Leben zum Tragen kommen kann.
Pestalozzis Begriff der ‘Kräfte und Anlagen’ ist weitgehend identisch mit dem, was die moderne Psychologie als ‘psychische Funktionen’ bezeichnet. Es geht dabei um all das, was es dem Menschen von seinen subjektiven Voraussetzungen her ermöglicht, ein sinnvolles Leben zu gestalten. Pestalozzi hat erkannt, dass sich die Kräfte und Anlagen nach unveränderlichen Gesetzen entfalten, nach Gesetzen allerdings, die sich voneinander teilweise erheblich unterscheiden. So zeigt er, dass sich z.B. das Denken nach ganz andern Gesetzmässigkeiten entwickelt als etwa das Vertrauen oder die Handfertigkeit. Er teilt darum alle menschlichen Kräfte in drei Gruppen ein, innerhalb derer dieselben Entwicklungsgesetze gelten. Im Einzelnen sind dies:
- Kopf (intellektuelle, geistige Kräfte): Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Gedächtnis, Erkennen, Urteilen, Sprache
- Herz (sittliche Kräfte): Lieben, Danken, Vertrauen, Glauben, Werten, Entscheiden, Wollen, Fühlen, Mitfühlen, Verantworten, Ahnen u. a.
- Hand (physische Kräfte): Körperkraft, Gewandtheit, Geschicklichkeit, Hand- und Fingerfertigkeit, Arbeiten, Handeln
Im Hinblick auf diese Unterscheidung erhebt nun Pestalozzi die zentrale Forderung, dass die Kräfte des Kopfs, des Herzens und der Hand in sich optimal und unter sich in harmonischer Übereinstimmung entwickelt werden. Heutzutage würden wir von „ganzheitlicher Bildung“ sprechen. Dabei ist zu beachten, dass die geforderte Harmonie der Kräfte gerade nicht durch Gleichstellung der drei Kräftegruppen erreicht wird, sondern dadurch, dass sich die Kräfte des Kopfs und der Hand den gebildeten Herzenskräften unterordnen. Nur dadurch, dass sich handwerkliches Tun und intelligentes Planen sittlichen Werten und sittlichem Wollen unterordnet, gelangt der Mensch zu einer sittlichen Gestaltung seines Lebens.