Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Kunstverständig werden

Auch dieses Kapitel dreht sich um die Frage, wie man Qualitätsbewusstsein ausbilden kann. Dabei begebe ich mich auf ein sehr heikles Feld, nämlich dasjenige der Kunst. Ich glaube, es war Augustinus, der gesagt hat, solange er sich nicht über das Wesen der Zeit den Kopf zerbreche, wisse er, was sie sei, aber sobald er darüber nachdenke, wisse er es nicht mehr. Denke ich über Kunst nach, geht es mir ähnlich. Trotzdem möchte ich mich nicht der Meinung anschliessen, was ‚Kunst’ sei, könne ohnehin niemand sagen, und letztendlich könne alles, was der Mensch schafft, ja sogar das, was durch Zufall entstanden ist, als ‚Kunst’ aufgefasst werden, denn es sei ohnehin alles eine Frage der Definition oder des Geschmacks. Und bekanntlich könne man über den Geschmack nicht streiten. Vielmehr sehe ich, dass es wirkliche Kunstsachverständige gibt, welche die ihnen vorgelegten Kunstwerke mit Sachwissen und sicherem Massstab beurteilen können und auch in der Lage sind, ihre Urteile zu begründen.

Zweifellos ist es nur wenigen Menschen vorbehalten, wirklich kunstsachverständig sein zu können. Was hingegen durch beharrliche Bemühung (und wohl auch mit Hilfe eines gewissen Talents) erreichbar sein dürfte, ist Kunstverstand. Der Unterschied liegt darin, dass der Kunstsachverständige auf seinem Gebiet über ein breites Fachwissen verfügt, das er sich in speziellen Studien angeeignet hat, wogegen der Kunstverständige einfach ein Mensch ist, der aufgrund seiner Beschäftigung mit der Kunst – auch aufgrund seiner Liebe zur Kunst – diese nicht bloss hochschätzt, sondern sich im Allgemeinen auch ein Urteil über die Qualität eines Kunstwerks erlauben darf und daher zumeist auch in der Lage ist, ein echtes Kunstwerk von einem Machwerk zu unterscheiden. Handelt es sich bei den Kunstsachverständigen um die Fachleute, so sind die Kunstverständigen die interessierten Liebhaber, die ergriffenen (und kritischen) Leser, die Käufer von Bildern, die Besucher von Konzerten, Theatern, Ausstellungen, und auch jene, die selber aus Freude zu Stift und Pinsel greifen oder, ohne auftreten zu wollen, auf ihrem Instrument regelmässig üben.

Meines Erachtens hängt nun die Qualität der Bildungsarbeit eines Lehrers zu einem grossen Teil von seinem entwickelten Kunstverstand ab, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Erstens gehen Beschäftigung mit der Kunst und Entwicklung von Sensibilität Hand in Hand. Dabei geht es eigentlich um die Entwicklung von Geistigkeit schlechthin. Je feiner die Sensibilität – d.h. die Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit in seelisch-geistigen Belangen – entwickelt ist, desto mehr erweist sich ein Mensch als ein wirklich geistiges Wesen. Und umgekehrt: Je dumpfer und stumpfer ein Mensch allen Möglichkeiten des Seins gegenüber ist, desto mehr muss seine Geistigkeit als noch schlummernd, zurückgedrängt, unentwickelt angesehen werden. Das gilt für das Menschsein schlechthin und betrifft dementsprechend Lehrer wie Schüler. Alles, was man als Entwicklungsaufgabe an sich selber erkennt, ist immer zugleich eine Bildungsaufgabe gegenüber den Schülern. Auch sie entwickeln ihr seelisch-geistiges Sein in dem Masse, als sie ihre Sensibilität verfeinern. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, ihnen dabei zu helfen, und wir können diese nur insoweit erfüllen, als wir bei uns selber voran gekommen sind. Niemand kann mehr geben, als er hat.

  • Zweitens begegnet man bei der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kunst einem ungeheuren Schatz und einer unabsehbaren Vielfalt von geistigen Gehalten und damit letztlich dem Menschen, ja dem Sein schlechthin, und diese Begegnung ist etwas vom Bereicherndsten, was im Rahmen menschlicher Existenz möglich ist. Als Lehrer, der etwas von Kunst versteht und Kunstwerke schätzt und liebt, kann man es da gar nicht vermeiden, dass die Schüler von diesem inneren Reichtum profitieren.

An dieser Stelle ist es wohl nötig, sich über das Wesen der Kunst ein paar Gedanken zu machen. Ich glaube allerdings nicht, dass es möglich ist, ‚Kunst’ als Begriff abschliessend und letztgültig zu definieren. Jede Definition ist ein blosser Versuch, sich dem Wesen der Kunst gedanklich anzunähern und dies sprachlich zu fassen. Und jeder Versuch ist immer nur ein Kreisen um dieses Wesen, dessen man nie habhaft werden kann. Im Bewusstsein dieser Vorbehalte meine ich: Kunst ist insgesamt der gelungene Versuch, durch das Schaffen neuer Gehalte das eigentliche Wesen des Seienden erfahrbar zu machen. Ich weiss, dass damit das vielleicht Entscheidende nicht ausgesprochen ist. Darum gestatte ich mir noch vier Zusätze:

– Kunst ist immer wahr, sonst ist es Kitsch, Mache, Prahlerei, Scharlatanerie, Pfusch.

– Kunst eröffnet dem menschlichen Geist eine höhere Dimension.

– Kunst ermöglicht geistige Teilhabe.

– Kunst erfordert den Künstler. Und das ist nicht jeder und kann nicht jeder sein. Kreativ kann jeder sein, nicht aber Künstler. Kunst hat immer auch mit Gabe, Begabung, Empfangen, Gnade zu tun. Das Eigentliche ist nicht machbar. Legitimerweise kann sich niemand frei entschliessen, Künstler sein zu wollen. Nur der Berufene ist wahrer Künstler, und es ist an uns andern, sie zu erkennen, sie von gutmeinenden Selbstbetrogenen und von Scharlatenen unterscheiden zu können und uns von den wirklichen Künstlern bereichern zu lassen.

Zu einer Erkenntnis wird ein Begriff immer nur insofern, als er sich von einem Gegenteil, von dem, was er sicher nicht ist, abgrenzen lässt. So ist zu fragen, was denn das Gegenteil von Kunst ist. Oben habe ich einiges genannt, aber ‚Kitsch’, ‚Mache’ etc. sind Ausdrücke für den Schein von Kunst. Das Gegenteil von Kunst ist eigentlich das Gewöhnliche, das Normale, das, was jeder zustande bringt, und auch all das, was keinen Anspruch erhebt, mehr als ein allenfalls nützlicher oder schöner Gegenstand zu sein. Man kann also sehr wohl durch dieses Leben gehen, ohne je von ‚Kunst’ berührt worden zu sein. Es gibt Leute, die glauben, etwas Gescheites ausgesprochen zu haben, wenn sie sagen: „Du hast eben Freude an Bach, Cézanne, Goethe, Rodin (oder wenn einem das Alter dieser Geister nicht passt: Messiaen, Chagall, Thomas Mann, Henry Moore – übrigens: Kunst veraltet nie), und ich gehe gerne jagen, erhole mich bei einem Boxkampf und besitze eine Yacht.“ Dem möchte ich entgegenhalten: ‚Kunst’ ist nicht irgend ein Interessengebiet wie Kegeln oder Briefmarken sammeln (so lustig das sein mag), sondern ist eine jener Dimensionen des Menschseins, die ihn über das blosse Tierdasein, über die blosse Frage nach Lust oder Unlust hinausheben. Auf derselben Ebene liegen etwa Religion, Politik und Wissenschaft. Bei der aktiven Teilhabe an diesen Gebieten geht es nicht um irgend eine besondere Liebhaberei, sondern um die Qualität des menschlichen Lebens schlechthin.

Ist einem als Lehrer einmal bewusst, dass der Mensch durch das Schaffen oder Nachempfinden von ‚Kunst’ an einer höheren Dimension Anteil hat, so wird er auch erkennen, wie wichtig der Kunstverstand für die Wahl der Unterrichtsstoffe ist. So kann man z.B. ohne Weiteres lesen lernen (ich meine hier mehr als den Erst-Leseunterricht) anhand beliebiger Texte, und ich will nicht bestreiten, dass man immer auch inhaltlich irgend etwas profitieren kann. Das ist gewissermassen das Gewöhnliche, es liegt auf der Stufe der Ausbildung. Wählt man aber, da man das Gespür für Sprachkunst ausgebildet hat, im weitesten Sinne ‚künstlerisch’ gestaltete Texte (welche für Schüler geeignet sind, muss natürlich weiter erörtert werden), so entfaltet man in den Kindern durch diese Teilhabe an einer ‚höheren’ Dimension – neben dem Lesen-Lernen – auf sehr wirksame Weise seelisch-geistiges Leben, mithin ihr eigentliches Menschsein. Entsprechendes gilt etwa für den Wandschmuck: Hängen da wirkliche Kunstwerke (es gibt gute und preiswerte Reproduktionen), entwickeln sich in den Schülern durch das tägliche Betrachten höhere Massstäbe, als wenn ihnen allzu Banales vorgesetzt wird. Auch in der die Wahl des Liedgutes ist das durch die Beschäftigung mit der Kunst entwickelte Qualitätsbewusstsein des Lehrers die wesentliche Voraussetzung, die Kinder das Geistige durch die Musik erfahren zu lassen.

Wer mir bis hierhin gefolgt ist, wird besorgt fragen: „Wie soll ich dies alles bewältigen, wo soll ich nur anfangen, sagst du doch selber, das gesamte Feld der Kunst sei ungeheuer gross?“ Ich kann diese Frage nicht erschöpfend beantworten, rate aber all jenen, die sich in der Kunst noch nicht heimisch fühlen, zu Folgendem:

  1. Sehr effizient ist es, sich mit einiger Systematik und Beharrlichkeit in die Biographien und in die Werke grosser Künstler (Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Komponisten, Interpreten, Maler, Bildhauer, Architekten, Filmemacher, Choreographen, Schauspieler, Fotografen usf.) zu vertiefen. Die Bibliotheken sind voll von ausgezeichneten Hilfen.

  2. Wer sich als Anfänger empfindet, hält sich mit Vorteil zuerst ans Anerkannte. Es hat für einen Anfänger keinen Sinn, über die Qualität von Mozarts ‚Don Giovanni’ oder über Bachs ‚Kunst der Fuge’ oder über die Interpretationskunst eines Dinu Lipatti zu diskutieren. Man kann auch sicher sein: Vermeer, Cézanne, Goya, Michelangelo, Klee (um nur ein paar Beispiele zu nennen) – das sind gute Adressen.

  3. Es gibt sehr gute Radio- und Fernsehprogramme. Wer diese gewohnheitsmässig den einschaltquotenorientierten Sendungen vorzieht, wird sich schon bald über seine grössere Übersicht freuen können.

  4. Sehr gewinnbringend ist das einigermassen systematische Anlegen von Sammlungen (die man natürlich auch benutzt): CDs, Schallplatten, Kassetten, Bildbände, Bilder, Videos, Bücher etc.

  5. Empfehlenswert ist es, mindestens in einer Kunstsparte selber kreativ tätig zu sein, und dies ohne den Anspruch, nun ein Künstler sein zu müssen. Man kann selber komponieren, Gedichte schmieden, Geschichten erfinden, Bilder gestalten, mit Modellierton arbeiten usf. Bei solchen Tätigkeiten gehen einem die Schwierigkeiten auf, denen sich die wirklichen Künstler gegenüber sehen, und lernt man – im ehrlichen Vergleich mit seinen eigenen Produktionen – das Grosse und Gültige erkennen und schätzen. Wenn man nicht zum Staunen kommt, wird man nie einen Begriff von Kunst haben.

  6. Sehr förderlich ist auch der Kontakt mit tätigen Künstlern. Mit der Zeit lernt man die Kriterien verstehen und anwenden, die bei Kunstfachleuten gelten, um ein Werk oder einen Künstler zu beurteilen. Besonders bildend ist es, die Entwicklung eines Künstlers und seines Werks durch persönliche Bekanntschaft über Jahre hinweg mitzuverfolgen.

Wer gewillt ist, diesen Weg zu wählen und beharrlich zu gehen, wird einerseits für sein eigenes Leben einen grossen Gewinn haben und andererseits in sich einen Schatz ausbilden, aus dem er in seiner Bildungsarbeit immer wieder neu schöpfen kann.

Weitere Themen: