Offenheit als wesentliche Voraussetzung für Bildung
Die bisherigen Kapitel befassten sich mit Voraussetzungen, die im Bewusstsein des Lehrers gegeben sein müssen, wenn Bildungsqualität erreicht werden soll. Hier geht es nun um die wichtigste Voraussetzung beim Schüler, die wirkliche Bildung erst eigentlich ermöglicht: Offenheit.
Ganz allgemein ereignet sich menschliche Existenz im Spannungsfeld jeweils zweier Pole, und die Lebenskunst besteht darin, insgesamt eine Synthese der sich als Gegensätze zeigenden Lebensmöglichkeiten zu erreichen. Die wesentlichste Polarität ist die Spannung zwischen Aktivität und Passivität, zwischen „aus sich herausgehen“ bzw. „in die Welt hineinwirken’„ auf der einen und „entgegennehmen“ bzw. „sich beeindrucken lassen“ auf der andern Seite. Eine Spielart dieser Polarität ist das Gegensatzpaar „sich bewahren“, „Einflüsse abwehren“ gegenüber „sich aussetzen“, „sich öffnen“. Beides ist nötig im Leben: Selbstbewahrung und Selbstbehauptung sind erforderlich, wenn man sich im sog. Lebenskampf durchsetzen muss oder wenn wir physisch, psychisch oder geistig bedroht sind; eine auf- und entgegennehmende Hinneigung zu einer Sache, ein Sich-ergreifen-Lassen, ein Sich-beeindrucken-Lassen, ein Sich-offen-Zeigen ist hingegen immer dann angezeigt, wenn es um unser eigenes seelisch-geistiges Wachstum, d.h. um unsere Bildung geht.
‚Bildung’ bedeutet somit immer irgend eine Art der Veränderung der Person. Wer durchaus der bleiben will, der er schon immer war, ist nicht bildungsfähig. Bildung ist daher stets auch ein Wagnis, ein Sprung ins Unerprobte, Ungewisse und oft auch ins Bedrohende. Geist und Seele des Lernenden müssen sich bereit finden und den Willen aufbringen, sich auf Neues einzulassen. Das erfordert zuerst einmal, alle Vorurteile beiseite zu lassen und sich vorschneller Beurteilungen zu enthalten. Schon Pestalozzi hat erkannt, wie verderblich das verfrühte Beurteilen dessen ist, das man eigentlich erst durch engagiertes Lernen kennen lernen sollte. Ihm war klar: „Die Zeit des Lernens ist nicht die Zeit des Urteilens“, und er forderte, das Urteil solle aus gereiften Anschauungen wie von selbst herausfallen, so wie der Kern aus einer gereiften Frucht von selbst herausfällt.
Ich möchte diese Erwägungen mit einem eigenen Erlebnis illustrieren: Während fast zwanzig Jahren habe ich den Seminaristen der ersten Klasse den Sinn und das Verständnis für sog. klassische Musik zu erschliessen versucht. Im Rahmen eines speziellen pädagogischen Projekts waren mir alle Stunden von Deutsch, Geschichte, Religion und Didaktik zugeteilt, und diese wurden auf einen einzigen Wochentag angesetzt, so dass ich mit den Schülern jeweils den ganzen Dienstag von morgens halb acht bis abends fünf arbeiten konnte. Im Sinne einer ‚ganzheitlichen’ Bildung habe ich die Auseinandersetzung mit Kunstwerken jeglicher Art (literarische Werke, Musikstücke, Bilder etc.) mit Anliegen des Deutsch-, Geschichts- und Religionsunterrichts verbunden. Beim Anhören klassischer Musikstücke ging es mir vorerst einmal darum, dass die Seminaristen ihre Vorurteile ablegten und sich auf Klänge einliessen, die den allermeisten nicht vertraut waren, die aber immerhin einen wesentlichen Bestandteil der abendländischen Kultur ausmachen. Mir schien oft, als sei das vorschnelle Beurteilen und damit das abschliessende Abschieben von etwas Neuem anstelle des offenen Hinhörens und vorurteilslos Auf-sich-wirken-Lassens geradezu eingeübt. Einmal legte ich bereits in der ersten Stunde (es war also für die neu eingetretenen Seminaristen praktisch die erste Lernerfahrung im Seminar) die Aria aus Bachs Goldberg-Variationen, gespielt von Glenn Gould, auf den Plattenteller und forderte die Schüler auf, sich zum Gehörten zu äussern. Die Aussagen waren einhellig negativ: „Der Spieler ist offensichtlich ein Anfänger, es handelt sich wahrscheinlich um eine Aufnahme nach den ersten paar Klavierstunden.“ – „Nein, gerade schlecht gespielt ist es nicht, aber da und dort müsste es etwas lauter und etwas schneller sein.“ – „Das ‚Lied’ hat zu wenig Rasse, keinen Takt.“ – „Das ‚Lied’ müsste auf der Geige gespielt werden, dann klänge es nicht schlecht.“ – „Das ‚Lied’ ist zu lang.“ – „Warum singt hier niemand?“ (Zwar singt Gould – allerdings illegitimerweise – tatsächlich mit, aber das wurde nicht gehört.) – „Machen wir’s kurz: Mit diesem Komponisten ist es nicht weit her.“ Nach dieser Aussage (etwa 20 Schüler hatten sich bereits in ähnlicher Weise geäussert) konnte ich es nicht lassen, die Zehntklässler ein wenig zu erschrecken, indem ich sagte: „Was glaubt ihr eigentlich? Das ist eine Komposition eines der grössten Genies, das es je gab, und der Pianist ist einer der bedeutendsten Künstler unseres Jahrhunderts. Es geht nicht darum, dass ihr Urteile fällt, sondern dass ihr genau hinhört, was geschieht, und darauf achtet, was in eurem Inneren vorgeht. Die Frage ist auch nicht, ob euch die Komposition gefällt, sondern wie weit wir alle in der Lage sind, ihr etwas abzugewinnen und sie allenfalls zu verstehen.“ Ich spielte dann das Stück ein weiteres Mal ab, und siehe da: Die Aussagen der Schüler bezogen sich auf wirklich Gehörtes oder waren Kundgaben dessen, was sich in ihnen während des Hörens ereignete.
Das gab mir Gelegenheit, mit ihnen über die Haltung der ‚Offenheit’ zu sprechen, und erfreulicherweise war ihnen rasch klar, welcher Anspruch erhoben werden muss, wenn Bildung zustande kommen soll. Diese Haltung der Offenheit liesse sich etwa so versprachlichen: „Ich sehe die Gefahr und erkenne es als Lernhindernis, wenn ich gegenüber neuen Gehalten grundsätzlich skeptisch und abwehrend eingestellt bin und so ein Urteil fälle, das nicht auf Sachkenntnis beruht. Ich bin darum bereit, alle Vorurteile abzulegen und das, womit ich mich auseinandersetzen soll, gelassen entgegenzunehmen und auf mich wirken zu lassen. Wie weit das Neue zu mir passt und in welcher Weise ich es in alles, was schon in mir ist, einordnen kann und soll, wird sich durch die ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Gehalt von selbst allmählich ergeben.“
Mindestens so gross wie bei der Musik sind die Vorurteile der meisten Jungen in Bezug auf die Kunst, insbesondere die moderne Kunst. Viele betrachten diese insgesamt (ähnlich wie Kishon) für Scharlatanerie und Geldmacherei. Auch hier gilt es, wie eben bei jedem Lerngegenstand, zuerst die Offenheit der Schüler zu erreichen. Erst dann sind sie bereit, ein Bild als das zu nehmen, was es sein will – eben ein Bild und nichts anderes – und dementsprechend vorurteilslos hinzusehen und das Werk auf sich wirken zu lassen. So lernten meine Schüler auch den fundamentalen Unterschied kennen zwischen der Frage „Was soll das sein?“ und der Frage „Was ist das?“. Wer wie der erste fragt, weiss es eigentlich schon: dass es sich um einen Unsinn handelt. Wer wie der zweite fragt, ist offen und auch bereit, eine Antwort anzunehmen.
Für uns Lehrer stellt sich nun natürlich die Frage, wie wir diese offene, entgegennehmende, zum Lernen und zur Veränderung bereite Haltung beim Schüler erwirken können. Ich gebe gerne zu, dass dies im Rahmen der Lehrerbildung in einem Lehrerseminar mit sechzehnjährigen Menschen verhältnismässig leicht zu erreichen ist, nicht zuletzt darum, weil die Schüler das Nutzbringende und Bereichernde dieser erwünschten Haltung sehr rasch durch Erfahrung erkennen und schätzen lernen. Aber auch in so privilegierten Verhältnissen ist etwas nötig, das dem Schüler dieses Sich-Öffnen erleichtert oder gar erst ermöglicht: nämlich echte Autorität. Hätte ich seinerzeit nicht gespürt, dass ich von der Klasse grundsätzlich akzeptiert war und somit mein Wort etwas gelten konnte, hätte ich gewiss auf meine etwas schockierende Intervention verzichtet. Das Sich-Einlassen auf etwas Neues ist in jedem Fall ein Wagnis, und das Vertrauen, das echte Autorität erzeugt, ermutigt den Schüler dazu, dieses Wagnis einzugehen.