Schreiben und Lesen
Wenn Sie jetzt diesen Text lesen, gleiten Ihre Augen für Sie kaum wahrnehmbar über die Zeilen, und Sie vollziehen in grossen Zügen jene Gedanken, die mir als Schreiber durch den Kopf gingen. Es läuft dabei alles so selbstverständlich ab, dass es Ihnen kaum bewusst wird, was das Lesen in psychologischer Hinsicht für ein komplexer Prozess ist. Um aber einem Erstklässler der Volksschule das Lesen beibringen und die übrigen Schüler im Lesen fördern zu können, muss man als Lehrer hinlänglich klare Vorstellungen jener psychischen Abläufe haben, die dem Kinde das Lesen überhaupt erst ermöglichen.
Schreiben und Lesen verhalten sich zueinander wie das Reden zum Hören. Dabei sind das Reden und das Schreiben in logischer Hinsicht das Erste: Wenn niemand spricht, lässt sich nichts Sprachliches hören, und wenn nichts geschrieben ist, kann man nichts lesen. Aus dieser Überlegung heraus haben gewisse Didaktiker (u.a. die bekannte italienische Reformpädagogin Maria Montessori, 1870 – 1952, oder J. Reichen) das Lesen aus dem Schreiben heraus entwickelt. Auch ich möchte in meinen Überlegungen bei der psychologischen Analyse des Schreib-Prozesses beginnen, allerdings ohne mich dabei mit den Methoden der erwähnten Persönlichkeiten zu identifizieren
1. Schreiben lernen
1.1. Von der Bilderschrift zur Lautschrift
Die ältesten uns bekannten Schriften sind Bilderschriften. Hier steht grundsätzlich ein festgelegtes Bild-Zeichen für einen bestimmten Begriff oder für ein bestimmtes Wort. Bilderschriften haben – abgesehen von der aufwendigen Erlernbarkeit – den Nachteil, dass die Darstellung abstrakter Sachverhalte nur erschwert möglich ist und grundsätzlich eine grosse Anzahl von Konventionen (Übereinkünften) verlangt.
Die Phönizier sind unseres Wissens die ersten, die die überkommene Bilderschrift durch eine Lautschrift ersetzt haben. Anders als bei der Bilderschrift haben die einzelnen Zeichen einer Lautschrift keine inhaltliche, sondern lediglich eine klangliche Bedeutung. Die inhaltliche Bedeutung des Geschriebenen ergibt sich erst auf einer zweiten Stufe aus seiner Klanggestalt. Mit andern Worten: Wenn ich hier „Haus“ schreibe, so hat die Form dieser Zeichen mit einem Haus nicht das Geringste zu tun. Was diese schwarzen Figuren meinen, verstehe ich grundsätzlich erst dann, wenn ich aufgrund ihrer Gestalt den Klang „Haus“ (vielleicht nur innerlich) höre. Ich muss also beim Schreiben vorerst von der Bedeutung des Gesprochenen oder Gehörten absehen und nur auf den Klang der Rede achten, um diesen in ein visuelles Zeichensystem zu übertragen.
1.2. Leselern-Methoden
Die Methode des Schreiben-Lernens steht in einem direkten Zusammenhang mit der Leselern-Methode und kann darum nicht völlig isoliert dargestellt werden. Im Verlaufe der jüngeren Schulgeschichte haben sich vor allem die Anhänger der synthetischen und der analytischen Methode bekämpft.
- Bei der synthetischen (oder Buchstabier-) Methode lernt der Schüler zuerst die Unterscheidung der einzelnen Laute und deren Zuordnung zu ihren entsprechenden Schriftzeichen, um diese allmählich zu Silben und Wörtern zusammenzubauen.
- Bei der analytischen (oder Ganzheits-) Methode prägt sich der Schüler zuerst das Schriftbild ganzer Wörter ein, um dann im Zuge des sog. Wortabbaus und Wortaufbaus allmählich die einzelnen Laute aus dem Ganzen herauszulösen.
Streng genommen, ist die Ganzheitsmethode eine Vorstufe der synthetischen, denn auch bei jener (der analytischen Methode) kommt der Zeitpunkt, wo der Schüler (beim Schreiben) Laute aus Klanggestalten herauslösen und sie (beim Lesen) zu Klanggestalten verschmelzen muss. Ich setze daher in meinen Überlegungen das synthetische Verfahren voraus.
1.3. Die fünf Hauptprobleme beim Schreibenlernen
1.3.1. Wort-Diskriminierung
Soll ein Erstklässler das Schreiben erlernen, muss er als erstes die Fähigkeit schulen, aus einer Aussage, die zumeist in der Form vollständiger oder auch unvollständiger Sätze gemacht wird, die einzelnen Wörter herauszulösen. Im allgemeinen haben Schulanfänger damit keine besonderen Probleme, weil ihnen die Austauschbarkeit von Wörtern in beliebig vielen Sätzen beim Spracherwerb und bisherigen Sprachgebrauch zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Was sich austauschen (bzw. umstellen) lässt und dabei grundsätzlich seinen Sinn behält, erlebt das Kind – zumeist natürlich unbewusst – als selbständige Einheiten. Es gibt aber auch Kinder, die die Sprache noch völlig undifferenziert und unstrukturiert – gewissermassen als Klang-Brei – erleben und daher auch noch Mühe bekunden beim Isolieren einzelner Wörter.
1.3.2. Laut-Differenzierung
Gehen wir also davon aus, dass der Erstklässler vor dem Problem steht, ein Wort zu schreiben. Die neue Schwierigkeit besteht nun darin, dass er aus dem Klangganzen eines Wortes einzelne Laute heraushören und herauslösen (isolieren) können muss. Dies bereitet vielen Erstklässlern grosse Schwierigkeiten. Man darf daher keinesfalls mit langen und komplizierten Wörtern beginnen. Die Devise heisst hier wie überall: Vom Leichten zum Schweren. Wir lassen den Schüler also z.B. den Namen „Urs“ schreiben. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass er auf Anhieb erfasst, dass das Wort aus drei Lauten besteht. Ich habe daher meine Erstklässler jeweils die geschlossene Faust vor das Kinn halten lassen; bei jedem Laut, der den Mund „verliess“, hatten sie einen Finger aufzustrecken, um dann festzustellen (d.h. auszusprechen), aus wie vielen Lauten das Wort besteht. Solche Übungen machte ich zu Beginn der 1. Klasse täglich. Dadurch schulte ich die Fähigkeit, eine Wortgestalt als eine Folge von isolierbaren Einzellauten erfassen zu können.
Konnten sie dies, so ging es darum, die Laute bewusst wahrzunehmen, in unserem Beispiel also: u – r – s. Dabei bekundeten viele Kinder recht grosse Mühe damit, die richtige Reihenfolge zu erfassen. Das zeigte sich nämlich, sobald ich sie die entsprechenden Buchstaben aus dem Setzkasten auf die Tafel legen liess. Ich erlebte es immer wieder, dass Lese-Anfänger jeweils das s (in unserem Beispiel) zuerst setzten: Sie hatten es zuletzt gehört – es war also ihrem gegenwärtigen Erleben am nächsten. Hier zeigt sich, dass Erstklässler durchaus noch nicht so sicher verankert sind im Zeiterleben der Erwachsenen (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft). Ich liess daher die Schüler nicht nur die einzelnen Laute aussprechen, sondern sie mussten mir auch sagen, ob gewisse Laute zu Beginn, in der Mitte oder am Ende des Wortes zu finden seien.
Die Laut-Differenzierung umfasst somit zwei verschiedene Leistungen:
- Einerseits müssen die Schüler die einzelnen Laute aus der Klanggestalt eines Wortes isolieren,
- andererseits müssen sie deren Reihenfolge bewusst wahrnehmen können.
Viele Schüler lernen nur darum schlecht lesen, weil zu Beginn des Lese-Lehrgangs diese Laut-Differenzierung zu wenig geübt wurde.
1.3.3. Assoziation von Laut und Zeichen
Das nächste Problem besteht nun darin, dass das Kind den erkannten Laut einem bestimmten optischen Zeichen zuordnen können muss. Es muss also in seiner Psyche eine Verknüpfung (Assoziation) von akustischer Gestalt (Laut) und optischer Gestalt (Zeichen, geschriebener Buchstabe) hergestellt werden, und zwar so, dass sie mit Sicherheit funktioniert. Viele Schüler bauen diese Assoziationen sehr schnell und sicher auf. Andere aber erwerben dies nur nach vielen Wochen anstrengender Übung. Bei der Festigung dieser Assoziationen handelt es sich um einen Speicherungsvorgang, weshalb man die Schwierigkeit vieler Schüler, diese Assoziationen herzustellen, als Speicherschwäche bezeichnet.
Mit Rücksicht auf solche Kinder sollte man gewisse Assoziationen, die erfahrungsgemäss zu Verwechslungen Anlass geben, zeitlich möglichst weit auseinander einüben. Das klassische Beispiel ist hier die Verwechslung von d und b. Beides sind Explosivlaute, was bereits die Laut-Differenzierung schwierig macht. Darüber hinaus unterscheiden sie sich bei den heute gängigen Schrifttypen (der Fachausdruck für die ganz einfache, schmucklose Druckschrift heisst „Grotesk“) nur durch die Raumlage: Sie sind symmetrisch, der eine „schaut“ nach rechts, der andere nach links. Da viele Schüler in diesem Alter links und rechts (teilweise auch oben und unten) ohnehin nicht oder nur sehr unzuverlässig unterscheiden können (gehäuft bei Linkshändern feststellbar), führt diese „Raumlage-Labilität“ zu ständigen Verwechslungen.
1.3.4. Mangelnde Eindeutigkeit der Buchstaben
In zweifacher Hinsicht sind unsere 25 Buchstaben keine eindeutigen Vertreter bestimmter Laute:
- Einerseits werden unterschiedliche Laute mit demselben Buchstaben geschrieben (z.B. das geschlossene e in „werden“, das offene e in „Berg“ und das unbetonte e in „Vater“),
- andererseits werden gleiche Laute mit unterschiedlichen Buchstaben geschrieben (z.B. das offene e in „Berg“ und das ä in „Ärger“ oder das Sch in „Schule“ und das S in „Sprache“).
Diese Komplikation bietet den Leseanfängern erfahrungsgemäss grosse Schwierigkeiten. Man sollte daher die Schüler Geschriebenes nicht zu früh „erlesen“ (buchstabieren und „verschleifen“) lassen, sondern ihnen die Textvorlage zuerst langsam vorlesen und zwar so, dass sie mit den Augen den gehörten Redefluss auf dem Blatt oder auf der Tafel verfolgen und mit dem Zeigefinger anzeigen. Nur beharrliche Übung kann hier zum Erfolg führen.
1.3.5. Die Schreibtechnik
Eigentlich haben die Schüler bis jetzt noch gar nicht geschrieben, sondern lediglich vorgedruckte Buchstaben-Täfelchen aufgrund der gehörten Laute gesetzt. Beim eigentlichen Schreiben ist eine ganze Reihe von technischen Problemen zu lösen: richtige Körperhaltung, richtige Haltung des Schreibgeräts, richtige Bewegungsabläufe. Auf diese Probleme soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. (Siehe dazu: Hans Gentsch, Handschrift – Lehre und Pflege Kantonaler Lehrmittelverlag Zürich)
1.4. Automatisierung
Was bis jetzt dargelegt wurde, gilt für den Schreib-Anfänger. Durch die fortgesetzte Schreibübung verändert sich der psychische Prozess. Beim geübten Schreiber ist vieles automatisiert: Die Assoziationen zwischen Klanggestalt und Schriftzug funktionieren blitzschnell, und es ist auch nicht mehr nötig, einzelne Laute zu isolieren, weil wir die Verbindung zwischen grösseren Klanggestalten und den dazugehörigen Schriftzeichen „ganzheitlich“ vorzunehmen verstehen.
Auch der Bewegungsablauf wird zunehmend automatischer. Von tiefenpsychologischem Standpunkt her lässt sich sagen: Die Schreibbewegungen werden allmählich der Steuerung durch das Unbewusste überlassen. Daher lassen sich dann auch Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur aus der Handschrift eines Menschen ziehen (Graphologie).
(Wie wir später sehen werden, sind auch beim Lesen die psychischen Prozesse eines Lese-Anfängers von denjenigen eines gewandten Lesers unterschieden. Vieles von dem, was beim fortgeschrittenen Leser automatisiert ist und in ausserordentlich kurzer Zeit abläuft, muss der Lese-Anfänger mühsam bewusst vollziehen. Dem Lehrer stellen sich daher im Lese-Unterricht in einer 1.Klasse andere Probleme als in den höheren Klassen.)
2. Lesen lernen
In seiner Schrift „Der neue Leseunterricht“ (Interkantonale Lehrmittelzentrale Luzern, 1977) hat Hans Grissemann die psychologisch komplexen Vorgänge dargestellt, die insgesamt den Lesevorgang ausmachen. In den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf seine Aussagen:
2.1. Die Teilfertigkeiten des komplexen Lesevorgangs
Lesen ist ein komplexer Vorgang: Eine ganze Reihe von Teilfertigkeiten müssen einerseits als solche beherrscht, andererseits mit andern Teilfertigkeiten verknüpft werden. Die wesentlichsten Teilfertigkeiten sind:
2.1.1. Segmentation
So wie der Schreiber aus einer komplexen Klanggestalt einzelne Laute oder Laut-Gruppen herauslösen muss, um das Gehörte schriftlich festhalten zu können, muss der Leser die vorgegebenen Wortschriftbilder in kleinere Einheiten segmentieren (zergliedern). Anfänger (Ausnahme: bei der analytischen Lesemethode) unterteilen das geschriebene Wort anfangs in einzelne Buchstaben. Man hat aber festgestellt, dass auch Leseanfänger sehr bald in der Lage sind, eine Buchstabengruppe, die als solche häufig vorkommt, aus dem Wort herauszulösen. Die gewandten Leser lösen deshalb nur in schwierigen (meist fremdsprachlichen) Wörtern einzelne Buchstaben aus der optischen Gestalt des Wortes heraus, erfassen aber sonst kleinere oder grössere Teile eines Wortes oder ganze Wörter „auf einen Schlag“.
Diese Tatsache macht sich die Erst-Lesemethode, wie sie von Grissemann vertreten wird, zu nutze:
Es werden schon von Anfang an solche Buchstabengruppen systematisch eingeführt und eingeübt, die in der deutschen Sprache immer wieder vorkommen. In diesem letzten Wort („vorkommen“) sind es: „vor“ – „omm“ – „en“. Ein einzelnes Segment (z.B. „omm“) wird dann mit kurzen, unterschiedlichen „Köpfen“ oder Endungen oder andern, bereits eingeübten Wortsegmenten verbunden, wodurch Reihen von Variationen entstehen: komm – fromm – tromm – klomm – somm – schwomm – ommel – ommer usf. Diese Wortsegment-Methode (Buchstabengruppen-Methode) nimmt somit zwischen den beiden traditionellen Methoden (synthetisch und analytisch) eine Zwischenstellung ein. Damit hat man sich ein Stück weit jener Methode angenähert, die seinerzeit Pestalozzi entwickelt hatte, wobei natürlich die neue Methode durch neu gewonnene psychologische Erkenntnisse abgestützt ist.
Sobald der Leser die Wörter nicht mehr in einzelne Buchstaben, sondern in Buchstabengruppen segmentiert oder einzelne Wörter ohne zu segmentieren ganzheitlich („auf einen Blick“) erfasst, ist bereits das Segmentieren an sich ein komplexer Vorgang, auch wenn er unwillkürlich und unbewusst abläuft. Der Entscheid, was nun alles zum isolierbaren Segment gehören soll, setzt nämlich die Speicherung vieler Segmente im sog. Langzeitspeicher voraus und erfordert demgemäss eine entsprechende Selektion.
Die Art der Segmentation hängt natürlich auch von der Leistungsfähigkeit des Auges ab. Fixieren wir einen einzelnen Buchstaben einer gedruckten Zeile, so können wir nur wenige Buchstaben nach links und rechts scharf sehen. Nun ist es aber keineswegs so, dass wir das Zentrum der Netzhaut („gelber Fleck“) kontinuierlich von links nach rechts bewegen . Das Auge macht, um eine Zeile oder eine Fläche „abzutasten“, Sprünge. Bei jedem Stillstand der Augäpfel nehmen wir einen kleinen Bereich des Gesichtsfelds scharf wahr, aber in jenen Phasen, in welchen sich das Auge bewegt, sehen wir nichts. Die Augenbewegungen lassen sich durch eine Apparatur, das sog. Augen-Tachistoskop, aufzeichnen. So können wir den Weg des Auges, den es z.B. beim Abtasten eines Bildes zurücklegt, genau verfolgen. Dabei zeigt es sich, dass es immer Bereiche des Bildes gibt, die nur mit wenigen Haltepunkten abgedeckt sind. Wäre das Sehen eine rein physikalische Angelegenheit, müsste somit in unserer Vorstellung ein Bild mit vielen dunklen oder weissen Flecken entstehen, vergleichbar etwa einer Landkarte aus früherer Zeit, wo die unerforschten Gebiete einfach weiss gelassen wurden. Im Gegensatz dazu haben wir aber stets die Vorstellung eines ganzen Bildes. Die Bereiche, die nicht durch genügend viele Haltepunkte abgedeckt sind, werden somit durch unser Bewusstsein automatisch ergänzt. Das Sehen ist eben nicht nur ein physikalisches Ereignis (Bildausschnitte werden via Linse auf die Netzhaut geworfen), sondern ebenso sehr ein aktiver psychischer Prozess.
Was hier im Zusammenhang mit einer Bildbetrachtung beschrieben wurde, gilt auch beim Lesen. Hier zeigt das Tachistoskop, dass wir die Haltepunkte in unregelmässigen Abständen setzen, die teilweise so gross sind, dass gewisse Wortpartien unmöglich scharf gesehen werden können. Wir ergänzen somit in unserem Bewusstsein die entstandenen Wortlücken durch Buchstaben oder Buchstabengruppen aufgrund der allgemeinen und speziellen Leseerwartung (siehe 2.2.3.1. und 2.2.3.2) ganz unwillkürlich. Darüber hinaus weist das Tachistoskop nach, dass unser Auge beim Lesen durchaus nicht Punkt für Punkt von links nach rechts schön der Reihe nach wandert, sondern dass es oft vorauseilt und zurückspringt. Wir entziffern somit einen Text – auch wenn wir ihn laut vorlesen – nicht streng in der Reihenfolge der Wörter, sondern durchgliedern geschriebene Zeilen eher so, wie wenn wir ein Bild betrachten würden. Damit erklärt sich, weshalb auch der geübteste Schulmeister oder Berufskorrektor beim Korrigieren eines Textes immer wieder Fehler übersieht. Auch das sog. „Verlesen“ (Hineinlesen von Wörtern oder Wortteilen, die nicht dastehen) erklärt sich aus dieser Tatsache. Das Lesen ist eben kein passives „Auflesen“ von Geschriebenem, sondern ein aktiver Prozess, woran wir mit unserem Denken und Deuten beteiligt sind.
2.1.2. Rekodieren
Unter „Rekodieren“ versteht man die Zuordnung der optischen Zeichen zu den entsprechenden Lauten. Genau besehen, besteht das Rekodieren aus zwei verschiedenen Leistungen:
2.1.2.1. Assoziation der einzelnen Zeichen mit den entsprechenden Lauten
Das Schreiben und Lesenkönnen beruht darauf, dass in uns die Verknüpfungen (Assoziationen) zwischen visuellem Zeichen und Laut gefestigt sind. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass diese Verknüpfungen in beide Richtungen funktionieren. So kann es vorkommen, dass ein Kind, wenn es z.B. den Buchstaben M sieht, ihm den richtigen Laut zuordnet, aber nach dem falschen Täfelchen greift, wenn es das gehörte M schreiben soll. Beim Lesenlernen kommt natürlich alles darauf an, dass die Zuordnung eines optischen Zeichens zu seinem akustischen Laut, d.h. das Rekodieren gefestigt wird. Das Kind muss lernen, beim Anblick eines Buchstabens einen Laut zuerst innerlich zu hören. Erst dann kann es ihn auch laut aussprechen.
Die Leistungsfähigkeit von Schulanfängern ist im Bereiche dieser Teilfertigkeit sehr unterschiedlich. Während man den einen am selben Tag das Lernen mehrerer Laut-Buchstaben-Verknüpfungen zumuten darf, ist bei andern ein ausserordentlich behutsames Vorangehen unumgänglich, wenn man nicht ein heilloses Durcheinander anrichten will. Als allgemeine Regel kann gelten: Neue Buchstaben sind erst dann einzuführen, wenn die bereits gelernten mit einiger Sicherheit sitzen.
2.1.2.2. Integration der einzelnen Laute zum Wortklang
Nun muss der Leseanfänger ja nicht nur die einzelnen Buchstaben-Laut-Verknüpfungen kennen, sondern die Buchstabenreihen in komplexere Lautgebilde (Wörter) umsetzen. Genau besehen, ist der Klang eines Wortes durchaus nicht die Aufreihung von unter sich unabhängigen Buchstabenklängen. Das stellt man heute spätestens dann fest, wenn man die Computer sprechen lassen will. In der lebendigen Sprache nehmen die einzelnen Laute je nach ihrer Umgebung und der Wortbedeutung eine andere Artikulation, Betonung oder Färbung an. Sprechen wir z.B. Vokale isoliert oder am Anfang eines Wortes aus, beginnen wir mit dem sog. Glottisschlag, der beim Öffnen der geschlossenen und damit den Atemstrom stauenden Stimmbänder entsteht. Es bereitet oft grosse Mühe, den Lese-Anfängern den Verzicht auf den Glottisschlag im Wortinnern und damit das sog. „Verschleifen“ der Buchstaben beizubringen. Dieses Verschleifen muss daher systematisch geübt werden.
2.1.3. Richtige visuelle Wahrnehmung
Beide bereits dargelegten Fertigkeiten – das Segmentieren und das Rekodieren – beruhen auf einer Teilfertigkeit, die den genannten logisch vorausgeht, aber zur selben Zeit in Anspruch genommen wird: das richtige Wahrnehmen eines Zeichens. Dies ist nicht so selbstverständlich, und es gibt recht viele Kinder, die hier nicht geringe Mühe bekunden. „Richtig wahrnehmen“ bedeutet hier: Die einzelnen Buchstaben oder Wortsegmente müssen optisch durchgliedert werden, und es müssen Unterscheidungsmerkmale gegenüber ähnlichen Buchstaben oder Segmenten erkannt werden, indem das jeweils Relevante (Bedeutsame) einer Form vom Irrelevanten (Zufälligen, Bedeutungslosen) gesondert wird. Das ist nie bloss eine Sache der biologischen Funktionstüchtigkeit des Auges, sondern immer zugleich auch eine Leistung des Bewusstseins, weil man ja nicht einfach auf die Figuren starren kann, sondern sie im Zuge des Wahrnehmungsakts zugleich deuten können muss.
Es hat sich gezeigt, dass Legastheniker grosse Mühe haben, die angebotenen Wortbilder richtig wahrzunehmen. Sie verwechseln daher oft die symmetrischen Formen d, b, p, und q oder n und u und versagen häufig auch hinsichtlich der Anforderung, die einzelnen Buchstaben in der richtigen Reihenfolge aufzufassen (Raumlage-Labilität).
2.1.4. Dekodieren: Zuordnung eines Wortklangs zu seiner Bedeutung
Es ist grundsätzlich möglich, einen Text zu rekodieren, ohne davon das Geringste zu verstehen. So kann man z.B. einen Schüler einen lateinischen Text laut lesen lassen, den nur des Lateins kundige Menschen verstehen. Das Lesen eines in einer Lautschrift geschriebenen Textes ist daher stets ein zweistufiger Prozess: Zuerst müssen die optischen Zeichen in Klang übersetzt werden (Rekodieren), und erst hernach wird der Klang in Bedeutung umgesetzt (Dekodieren). Bei Lese-Anfängern lässt sich das Umschlagen des blossen Rekodierens ins Dekodieren oft sehr eindrücklich feststellen. Das Kind liest z.B. langsam und stockend „Vaateeer“ und wiederholt dann im Sinne eines Aha-Erlebnisses „Vater“ mit dem unbetonten e in der zweiten Silbe.
Natürlich geht es darum, beim Lesenlernen das Rekodieren und Dekodieren zu einer Einheit zu verschmelzen. Das gelingt um so besser, je leichter verständlich die Lese-Texte sind. Versuche haben klar gezeigt, dass man beim Rekodieren wesentlich leistungsfähiger ist, wenn man zugleich auch dekodiert. Oder einfacher ausgedrückt: Einen Text, den wir verstehen, lesen wir gewandter. Das liegt daran, dass die sog. „Restriktionen“ wirksam werden (siehe Kapitel 2.2.3.1. und 2.2.3.2.).
2.2. Psychologische Bedingungen und Voraussetzungen
Der Leseprozess ist nicht nur abhängig vom konkret vorliegenden Text, sondern auch von einer Reihe psychologischer Bedingungen, die im Leser individuell unterschiedlich gegeben sind:
2.2.1. Lesemotivation und Leseziel
Eine Selbstverständlichkeit: Der Leseprozess kann natürlich nur in Gang kommen kann, wenn jemand zum Lesen motiviert ist. Je nach Zielsetzung wird er entweder eher oberflächlich (diagonal) oder sehr gründlich lesen.
2.2.2. Inhalte des Langzeitspeichers
Alle bisher erworbenen Gedächtnisinhalte sind für jeden neuen Leseakt mitbestimmend: Die gesamte mündliche Spracherfahrung, aber auch die ganze Leseerfahrung des Lesers fliessen in den Leseprozess ein. So verfügen wir alle über bestimmte Ausspracheerfahrungen, wir wissen, welche Silben in den Wörtern betont, welche unbetont sind, wir haben uns angewöhnt, die Sätze nicht monoton vor uns her zu sprechen, sondern die Satzmelodien dem Gedankengang und dem Gefühlsgehalt angemessen zu gestalten, und wir beherrschen mehr oder weniger die richtige Artikulation der Laute (phonologische Gesetzmässigkeiten). Für das Verständnis eines zu lesenden Textes ist natürlich der Wortschatz von grösster Wichtigkeit. Bedeutungstragend sind aber nicht nur einzelne Wörter, sondern auch bestimmte Satz-Konstruktionen (syntaktische Strukturen). Wenn wir beispielsweise eine Aussage mit der Konjunktion „weil“ beginnen, wird uns bewusst, dass wir es im eingeleiteten Nebensatz mit einer Begründung zu tun haben.
Der Langzeitspeicher hält aber die Wörter nicht nur als bedeutungstragende Klanggestalten verfügbar, sondern auch als Konfigurationen optischer Gestalten (Signalgruppen, Buchstabenfolgen, Einzelbuchstaben). Dasselbe gilt von Wortteilen, die an sich schon eine Bedeutung haben (z.B. die Schluss-Silbe „en“ als Zeichen der Mehrzahl. Solche bedeutungstragenden Wortteile (bzw. Grundwörter) bezeichnet die Linguistik als Morpheme.
2.2.3. Inhalte des Kurzzeitspeichers
Im Kurzzeitspeicher werden Bedeutungen festgehalten, die nur innerhalb kurzer Zeit verwendbar sind und daher gleich wieder vergessen werden können. Die Inhalte des Kurzzeitspeichers erleichtern uns das Lesen vor allem deshalb, weil sie das jeweils zu Entziffernde aus den prinzipiell unendlich vielen Möglichkeiten auf relativ wenig wirklich Mögliches beschränken. Man bezeichnet solche Beschränkungen als „Restriktionen“ und unterscheidet deren zwei:
2.2.3.1. Semantische Restriktionen
Angenommen, ich lese einen Text über den Einmarsch der Franzosen in der Schweiz im Jahre 1798. Da steht auf der untersten Zeile der Buchseite: „Als im Jahre 1789 die Französische …“ Nun muss ich umblättern. Eigentlich weiss ich schon, dass das erste Wort auf der neuen Seite „Revolution“ heissen wird. Ein flüchtiger Blick, der vielleicht bloss das grosse R oder die Länge des Wortes registriert, genügt, um mir die Richtigkeit meiner Annahme zu bestätigen. Es ergeben sich somit beim Lesen sehr viele Einschränkungen aufgrund des Inhalts. Unsere allgemeine Leseerwartung wirkt somit als semantische Restriktion (inhaltliche Einschränkung; „Semantik“ ist die Lehre von den Bedeutungsgehalten der Wörter).
2.2.3.2. Syntaktische Restriktionen
Lauten aber die letzten Wörter meiner Buchseite „Napoleon handel-„, so weiss ich jetzt schon, dass oben auf der neuen Seite „te“ stehen wird. Mit andern Worten: Aufgrund der Regeln der Grammatik werden die Möglichkeiten dessen, was jeweils dastehen oder folgen kann, weiter eingeschränkt. Dies ist die syntaktische Restriktion („Syntax“ ist die Lehre vom Satzbau).
2.3. Das Wesen des Leseprozesses
Aus all dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das Lesen zu verstehen ist als ein analytisch-synthetisches Suchverhalten, bei welchem die Gestalterfassung (Erfassen einer einzelnen Wortgestalt, eines Wort-Segments oder einer Wortgruppe) und die Bedeutungszuordnung im Zusammenhang mit dem gedruckten Text und mit der Spracherfahrung erfolgt. Anders gesagt: Der Leser bildet fortwährend und von ihm meist unbemerkt Hypothesen (Annahmen) in bezug auf Klang und Bedeutung einer Buchstabenfolge, sodann überprüft er diese Hypothesen aufgrund seiner Leseerfahrung, seines Wortschatzes, seines allgemeinen inhaltlichen Verständnisses und unter Einbezug der kurz zuvor wahrgenommenen graphemischen Gestalten (Buchstaben oder Buchstabengruppen) und entscheidet schliesslich über seine hypothetisch gesetzten Annahmen, indem er sie entweder akzeptiert und dann in den Gesamtzusammenhang integriert oder sie als falsch verwirft.
Lesen ist demgemäss ein Selektions-Prozess, in dem je nach Hinweisen der speziellen Leseerwartung (inhaltlicher Zusammenhang, grammatikalische Einschränkungen) und der allgemeinen sprachlichen Erwartung (Wortschatz, erfahrene Lautkombinationen der deutschen Sprache) aus dem graphemischen Reizangebot (gedruckte Lettern) die jeweils notwendigen Teilinformationen ausgewählt werden. Diese werden verarbeitet, und das Verarbeitungsprodukt (erschlossener Wortteil, erschlossenes Wort, erschlossener Sinnschritt) wird dann der Hypothesentestung unterzogen.
Aus all dem ergibt sich, dass zur schliesslichen Bedeutungserfassung eines Wortes bzw. eines Satzes verschiedene Wege führen. Der Lesevorgang kann daher unterschiedlich verlaufen und ist auch einer Entwicklung im Verlaufe der zunehmenden Lesefertigkeit unterworfen.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Lesen ist kein sukzessiv von links nach rechts fortschreitendes mechanisches Umsetzen von Buchstaben oder Buchstabengruppen in Laute oder Lautgruppen mit anschliessender Bedeutungszuordnung, kein Aneinanderreihen der erfassten Wörter zu Sätzen, sondern ein Such- und Erkundungsverhalten, ein In-Beziehung-Setzen, oft ein Verwerfen und Neuansetzen – kurzum: ein denkendes Erfassen.
3. Lesen- und Schreibenlernen als ganzheitlicher Prozess
In den vorstehenden Ausführungen wurde versucht, das Wesen des Schreibprozesses (Kapitel l) und des Leseprozesses (Kapitel 2) logisch und psychologisch zu analysieren. Nun verhalten sich Lesen und Schreiben zueinander wie das Einatmen und Ausatmen, weshalb auch das Lesen und Schreibenlernen im praktischen Vollzuge nicht voneinander getrennt werden können. Zu beachten ist, dass hier mit „Schreiben“ vorerst das Setzen von Buchstaben oder Buchstabengruppen gemeint ist. Setzen und Lesen wechseln daher insbesondere zu Beginn des Leselern-Prozesses in rascher Folge. Wie weit und in welcher Weise auch das eigentliche Schreiben mit dem Stift in diesen Prozess einbezogen werden soll, ist eine Frage, die einer umfassenderen Analyse bedürfte.
4. Einige kritische Anmerkungen zur „Ganzheitsmethode“
Je grösser die Leseerfahrung ist, desto häufiger wird auf die Segmentation kurzer Wörter verzichtet. Diese Ganzworterfassung liegt der analytischen Methode zu Grunde. Das Kind soll also vorerst nicht von Lauten ausgehen, sondern eine „Ganzheit“, die als solche bedeutungstragend ist, erfassen.
Obwohl die Schüler erfahrungsgemäss auch mit dieser Methode lesen lernen, stehe ich ihr kritisch gegenüber, und zwar aus folgenden Gründen:
- Diese Methode arbeitet m.E. mit einem verfehlten Ganzheitsbegriff. Das Wortbild ist nämlich keine „natürliche“, eigenständige Ganzheit (Gestalt), sondern kommt erst sekundär durch Aufreihung von Laut-Zeichen (Buchstaben) zustande und ist insofern als optisches Gebilde völlig zufällig. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen optischer Wortgestalt und Wortbedeutung besteht nicht (wie etwa bei einer Bilderschrift). Die eigentlichen Gestalten (für sich bestehende, nicht bloss zusammengesetzte Einheiten) sind also – was das geschriebene Wort anbelangt – die einzelnen Buchstaben als optische Entsprechungen von Lauten. Die Buchstaben (Schriftzeichen) sind gar nicht verstehbar, wenn man nicht die vorausgegangene Isolation von Lauten aus Wörtern voraussetzt. Die Grundeinheit eines „Wortbildes“ ist daher stets der Buchstabe, und ein geschriebenes Wort ist daher seiner Natur nach keine natürliche Ganzheit, sondern immer schon etwas Zusammengesetztes. Oder, um es kürzer zu sagen: Unsere Schrift ist keine Bilderschrift; der gedruckte oder handschriftlich gesetzte Schriftzug „Pferd“ hat in optischer Hinsicht nicht das Geringste mit einem Pferd zu tun. Das Lesen einer Laut-Schrift ist grundsätzlich ein zweistufiger Prozess (Rekodieren und Dekodieren), und man sollte dem Leseanfänger gegenüber nicht so tun, als könnte man aus den Schriftzeichen direkt deren Sinn ohne den Umweg über den Klang entnehmen. Wenn „Ganzheitler“ trotzdem lesen lernen, so eben nur deshalb, weil auch bei dieser Methode später die Segmentation in Laute erfolgt.
- Die Befürworter der Ganzheitsmethode führen als Hauptargument ins Feld, ihre Schüler könnten schon von Anfang an sinnvolle Sätze lesen. Die Beschäftigung mit isolierten Lauten wird als trocken und nicht kindgemäss empfunden. Dem ist entgegenzuhalten: Abgesehen davon, dass man so lange nicht von „Lesen“ sprechen kann, als der Leser vor dem Dekodieren nicht rekodiert, auch abgesehen davon, dass man mit einiger Fantasie schon mit wenigen Buchstaben sinnvolles Lesematerial zustandebringt, basiert die erwähnte Argumentation auf einer ungerechtfertigten Minderbewertung der Beschäftigung mit dem einzelnen Laut. Der einzelne Laut ist nämlich nicht nur ein belangloses Bruch-Stück der Sprache, sondern eigentliches Element. Kleine Kinder, aber auch Erwachsene, die starken Gefühlen Ausdruck geben wollen, äussern „Laute an sich“. Der Laut hat einen eigenständigen Ausdruckswert, vor aller begrifflichen Sprache. Er kann auch als solcher, ohne Zusammenhang mit einem Wort, wo er bloss „Diener“ ist, im eigentlichen Sinne erlebt werden. Laute sollen daher für die Erstklässler so etwas sein wie „Persönlichkeiten“, zu denen man intuitiv differenzierte Gefühlsbeziehungen haben kann. Die Beschäftigung mit den Lauten ist daher nicht weniger kindgemäss als das „Schreiben“ und „Lesen“ eines Geschichtleins mit Hilfe von optisch eingeprägten Wortganzen, im Gegenteil: Durch die Beschäftigung mit dem einzelnen Laut erlebt das Kind das Elementare der Sprache überhaupt.
- Es hat sich gezeigt, dass der Prozentsatz von Legasthenikern bei der analytischen Methode grösser ist als bei den andern Methoden.
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Was ist Legasthenie?
Aus dem Aufsatzheft eines Fünftklässlers:
Kasbar und ich wir haben zusamen einen hochsiz auufgeschtelt das ging so am lezten herbst dachte ich konten wir nicht einen hochsiz bauen. am sontag sezten wir uns zusamen und beriten ainander bis wir eine lösung fanden die his ich muste einen langen laden besorgen. mein fater hatel so einen langen laden. aber eben wir haten ihm haben solen. kasbar und ich wir gingen in die scheune und namen den laden heraus und legtem in zuoberst auf die beige das mein fater ia nicht sagen konte es sei zu umschtentlich. danach fragte ich den fater er sagte nein ein laden ist nicht bilig aber ich bedelte und zuzezt sagte er also meinetwegen kanst du den laden haber aber du beckomst sonst keinen mer. Ich mam im im hleichen tag noch heraus und mgelte hälzer an. das so etwa so aus …
Eine Legasthenie (Lese/Rechtschreibe-Schwäche) liegt vor, wenn die schlechten Leistungen im Lesen und in der Rechtschreibung in einem deutlichen Gegensatz zur allgemeinen Intelligenz eines Kindes stehen. Die Ursachen sind umstritten, doch scheint es, dass diese Lernstörung mindestens teilweise vererbt wird. Andere Ursachen können in einer erworbenen gehirnphysiologischen Störung oder in der sozialen Umwelt liegen.
Legastheniker leiden in der Regel an drei Störungen:
a) Raumlage-Labilität
Das heisst: Das Kind kann sich im Raum nicht mit konstanter Sicherheit orientieren, es verwechselt immer wieder links und rechts, oben und unten. Daraus ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben: b, d, p und q oder n und u oder M und W werden oft verwechselt. Darüber hinaus besteht auch das Problem, die Leserichtung einzuhalten. „Und“ wird z.B. als „dun“ gelesen. Auch im Rechnen wirkt sich diese Störung aus, da solche Kinder z.B. den Unterschied zwischen 27 und 72 nicht mit Sicherheit machen können. (Die der Legasthenie entsprechende Störung im Rechnen nennt man „Diskalkulie“.) Die Wiener Schulpsychologin Lotte Schenk-Danzinger weist darauf hin, dass die Verwechslung von d und b vermieden werden kann, wenn gleich von Anfang an verbunden geschrieben wird. Heute lernen die Erstklässler meistens zuerst in Blockschrift schreiben. Ich habe in meiner Schule indessen sehr gute Erfahrungen damit gemacht, in der 1. Klasse gleich mit der verbundenen Schrift zu beginnen. Offensichtlich kommt dies den Legasthenikern entgegen.
Auch die in Erstlese-Lehrgängen verwendeten Schriften erhöhen die Schwierigkeiten für Legastheniker. Es wird nämlich heute zumeist für Leseanfänger eine in der Fachsprache als „Grotesk“ bezeichnete Schrift verwendet. Es ist unschwer feststellbar, dass sich b und d sowie q und p bloss noch durch die Raumlage unterscheiden, aber sonst keine spezifischen Merkmale mehr aufweisen.
b d q p
Das war ehemals, als man z. B. in „Fraktur“ oder Post Antiqua druckte, anders. Hier die Buchstabenmuster b, d, p und q in einigen Varianten von „Fraktur“ und (bei 4) „AntiquePost“:
Es ist klar, dass heute diese Typen für Leseanfänger nicht mehr verwendet werden können. Ganz sicher möglich wäre aber irgend eine heute noch geläufige „Antiqua“, z. B. die in diesem Abschnitt verwendete „Times“.
Wäre ich heute Lehrer an einer 1. Klasse, würde ich mir den Computer zu Nutze machen und den Leseanfängern grundsätzlich keine Texte in Grotesk zum Lesen abgeben, sondern irgend eine schöne Antiqua verwenden (wie diese Garamond)
oder sogar kursive (schräggestellte) Antiquaschriften wählen. Bei diesen sind nämlich einerseits die gedruckten Buchstaben relativ nah an der Schreibschrift, und andererseits gleichen die erwähnten Buchstabenformen einander nicht wie ein Ei dem andern: b d p q
b) Lautdifferenzierungs-Schwäche
Dem Kind gelingt es nicht, beim Schreiben alle Laute eines Wortes und dazu noch in der richtigen Reihenfolge richtig zu hören. Das führt dann zu Auslassungen, Verwechslungen und falscher Aufreihung von Buchstaben beim Schreiben. Auch beim Lesen kommt es zu Verwechslungen. Oft wird das eu (insbesondere beim Schreiben) mit au, ö und ei verwechselt. Wir finden auch Verwechslungen von ö und ü, u und o, n und m, g und k, d und t, b und p, s und z.
c) Speicherschwäche
Diese zeigt sich zuerst darin, dass sich die Assoziationen zwischen Laut und Buchstabe nur schwer verankern lassen. Das Kind kann dann z.B. beim Schreiben einen Laut zwar richtig hören, verwendet aber ein falsches Schriftzeichen; und beim Lesen ordnet es dem optisch wahrgenommenen Zeichen eine falsche Klanggestalt zu. Wie wir gesehen haben, speichern wir aber nicht nur einzelne Buchstaben-Laut-Verbindungen, sondern auch die Klanggestalt von Buchstabengruppen und ganzen Wörtern. Der Legastheniker kommt nur mühsam zu solchen Speicherungen. Die Rechtschreibung macht ihm dann zusätzlich in all jenen Fällen Mühe, wo man einfach die richtige Schreibweise wissen muss (z.B. ie, Dehnungs-h, e oder ä, Klein- und Grossschreibung, Konsonanten und Vokal-Verdoppelung, sp und st im Anlaut usf.)
Die drei genannten Störungen sind oft auch noch begleitet von Linkshändigkeit und einer allgemein gehemmten Sprachentwicklung. Auch Kinder mit einem POS (Psycho-organisches Syndrom, heute zumeist als ADS bezeichnet) neigen zur Legasthenie.
Als Lehrer müssen wir wissen, dass Legastheniker weder dumm noch faul sind. Es liegt eine wirkliche Störung im Bereiche der Wahrnehmung (Raumlage-Labilität, Lautdifferenzierungs-Schwäche) und des Gedächtnisses (Speicherschwäche) vor. Grissemann hat nachweisen können, dass auch gewandte Leser dieselben Störungssymptome produzieren, sobald sie in eine Überforderungssituation kommen. Auch gute Leser verwechseln dann Buchstaben und missachten die richtige Reihenfolge der Buchstaben. Dies zeigt, dass der Lehrer besonders darauf achten muss, dass Legastheniker nicht unter einen emotionalen Druck oder in irgendwelche Überforderungssituationen kommen. Dann werden die allgemein vorhandenen Schwierigkeiten noch zusätzlich erhöht.
Im allgemeinen können Lehrer zu wenig auf Legastheniker eingehen, um sie zu „heilen“. Der Gang (allenfalls über den Schulpsychologen) zum Legasthenie-Therapeuten, der sich seine Kenntnisse in einer speziellen heilpädagogischen Ausbildung erworben hat, ist daher unumgänglich. Allerdings soll dies nicht zu früh geschehen: Nicht alle Schüler, die in der 1. Klasse beim Lesen-Lernen Schwierigkeiten haben, sind Legastheniker. Meistens ist eine genauere Abklärung in der 2. Klasse angezeigt.
Sept. 1987 / 15. Aug. 1992 / 27. Mai 1993 / 14. Mai 1996