Vom bildenden Wert des Mathematikunterrichts an der Volksschule
Obwohl ich nicht Mathematiker bin, ist mir bewusst, dass man sehr tiefsinnig über die Grundlagen der Mathematik, über ihren spezifischen Beitrag zur Erfassung vorgefundener und zur Konstruktion neuer Welten sowie über die Schönheit rein abstrakter logischer Strukturen und Bezüge reden und schreiben kann. Wer einiges von Mathematik versteht, liest solche Erwägungen zweifellos mit Genuss.
Ich möchte (und muss notgedrungen) mein Instrument weniger hoch stimmen, sondern vielmehr versuchen, von Kollege zu Kollege darzulegen, weshalb ich es seinerzeit, als ich noch Primarschüler unterrichtete, als sinnvoll, notwendig, lohnend und faszinierend empfand, Kinder in die Welt der Zahlen und logischer Strukturen hineinzuführen.
Dass man heute, um sich in unserer Gesellschaft bewegen und bewähren zu können, rechnen können muss, ist derart selbstverständlich und einleuchtend, dass darüber keine weiteren Worte zu verlieren sind. Tatsächlich genügt dies vielen Lehrern, um jede Woche die 4 oder 5 Mathematikstunden zu gestalten. Mir ist diese rein auf Nützlichkeit ausgerichtete Begründung zu billig und zu einseitig, und ich glaube auch nicht, dass mich dies seinerzeit genügend motiviert hätte, um mich als Lehrer im Mathematikunterricht anzustrengen.
Mag sein, dass ich in der Rückschau meine Erinnerungen vergolde, aber den Schulanfängern das Rechnen beizubringen, empfand ich Jahr für Jahr als herrlich. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass mir Jahr für Jahr Dinge klarer wurden, die mir anfangs kaum bewusst waren.
Warum beginnen Kinder zu zählen, während Pferde, Katzen oder Tauben (sofern man sie nicht von aussen darauf konditioniert hat; vgl. Skinner) die Dinge ungezählt lassen? Ich bin gewiss nicht allein mit der Überzeugung, dass sich darin das geistige Wesen des Menschen offenbart. Als geistiges Wesen will der Mensch mit den Dingen nicht bloss zusammenstossen, sondern er will sie – in einer abstrakten, ungegenständlichen Repräsentation – mit sich selbst verbinden, sie sich einverleiben. Erkennen ist mit dem Essen verwandt: So wie die Kuh als triebhaftes, leibliches Wesen in ihrem Hunger den Löwenzahn einfach auffrisst, so ähnlich nimmt der menschliche Geist – soweit er sich vom Zwang des triebhaften Zugriffs distanziert und befreit hat – den Löwenzahn als geistige Gestalt in sich auf. Natürlich hinkt auch dieser wie jeder andere Vergleich. So scheidet die Kuh den Löwenzahn, nachdem sie ihm die ihr erreichbare Energie entzogen hat, wieder aus, wogegen das Wesen des Löwenzahns fortan ein Teil unseres geistigen Lebens bleibt. Alles wahrhaft Erkannte nährt nicht nur, sondern bereichert unsern Geist. Eine Kuh kann essen, soviel sie mag, sie bleibt im Prinzip stets gleich gross. Anders der menschliche Geist: Das Erkannte reichert sich an zu einem grundsätzlich nicht zu beschränkenden Reichtum.
Die Kuh verfügt über ein sinnreiches physisches Instrumentarium, um sich den Löwenzahn einverleiben zu können: Auge und Nase, um ihn wahrzunehmen, Zähne und (oben) eine Knochenplatte, um ihn abzureissen, Mahlzähne, um ihn in Brei zu verwandeln, vier Mägen und einen langen Darm, um ihn zu verdauen. So ist zu fragen, welches denn die Instrumente des menschlichen Geistes sind, um sich den Löwenzahn geistig einzuverleiben. Wie Pestalozzi dargelegt hat, beginnen auch wir mit dem Auge und den übrigen Sinnesorganen, aber unsere Anschauung bleibt nicht „tierisch“, führt also nicht zu bloss triebhaftem Reagieren, sondern wird „menschlich“, indem wir das, was unsere Sinne reizt, zuerst hinsichtlich ihrer Form und ihrer Zahlverhältnisse, dann aber auch hinsichtlich weiterer Eigenschaften erfassen, es zugleich mittels der Sprache in die Rüstkammer unserer Begriffe einordnen und es schliesslich mit dem, was in dieser Rüstkammer schon bereit liegt, verbinden. Das Erfassen der Dinge, der Welt, hinsichtlich ihrer Zahlverhältnisse ist somit ein wesentliches Zugriffsinstrument des menschlichen Geistes, um zur Erkenntnis zu kommen.
Ich glaube, dass man nur dann wirklich elementar bilden kann, wenn man nichts als selbstverständlich betrachtet. Wenn mich das Simple nicht erregt, sollte ich nicht Primarlehrer sein. Darum frage ich ganz simpel: Was tue ich eigentlich, wenn ich zähle, sagen wir – der Einfachheit halber – bis zwei: „Hier blühen zwei Saublumen.“ Da löse ich zuerst einmal die eine heraus aus allem, was es sonst noch geben mag, und erfasse sie als eine Einheit. Eins ist die – vorerst einmal – unteilbare Ganzheit. Eins ruht in sich. Eins sagt: „Ich bin da“. Eins kümmert sich um nichts. Eins grenzt sich ab, ist allein. Eins denkt: „Ich bin alles.“
Es ist eine grosse Leistung, wenn ein Kind erstmals sagen kann: „Du bist eins.“ Es hat erahnt, intuitiv erfasst, dass es unendlich viele Eins gibt. Die Welt ist kein Brei mehr. Sie hat Struktur. Es beginnt der Kampf: Alle die Einse wollen sich behaupten, wollen da sein.
Wie soll ich die Erstklässler das Wesen der Eins erfahren lassen? Hier gilt die allgemeine Regel: Hebe es vom Gegenteil ab. Das Gegenteil der Eins ist die Vielheit (und nicht etwa die Null; diese ist das Gegenteil von „überhaupt etwas“, also von eins oder vielem). Um dies zu üben, hatte ich mir seinerzeit aus Illustrierten (man nutze die Werbung) allerlei Bilder herausgeschnitten und hübsch aufgeklebt: eine Flasche – viele Flaschen, einen Hund – viele Hunde, einen Stern – viele Sterne, eine Zigarette – viele Zigaretten. Dabei könnte man lange rätseln: Beruht die Eins auf der Vielheit oder die Vielheit auf der Eins? Kann ich „eins“ nur deshalb sagen, weil ich schon um die Vielheit weiss, oder kann ich die Vielheit nur deshalb als solche erkennen, weil ich sie als vorerst noch unbestimmte Ansammlung von Einheiten erkenne? – Ich habe mit den Kindern lange geübt und liess sie sprechen: „Dies ist ein Hund – das sind viele Hunde; dies ist eine Saublume – das sind viele Saublumen.“ Die Kinder fanden das nicht langweilig.
Wenn ich nun aber sage „zwei“ (später „drei“, „vier“ usf.), so habe ich die Vielheit in ihrer jeweils konkreten Gestalt erfasst. Bei der Zwei gibt die stolze Eins ihr Alleinsein auf. Sie blickt nach links oder nach rechts, nach oben oder nach unten, nach hinten oder nach vorne. Neben ihr steht noch ein Gleiches. Sie muss sich gefallen lassen, bloss in Verbindung mit ihrem Ebenbild erfasst zu werden. Es sind Paare entstanden, und jedes der beiden blickt den Partner an. Die Zwei stiftet Beziehung und erzeugt Spannung. – Bei meinen Erstklässlern kamen nun neue Bilder dazu, und sie sprachen: „Das sind viele Bäume – das sind zwei Bäume – das ist ein Baum.“ Zwei lässt sich auch hören (zwei Töne, zwei Schläge) oder fühlen (auf meinen Rücken drückt ein Finger, drücken zwei, drücken viele Finger). Und wenn sie zwei Dinge sahen, die zusammengehörten (zwei Schuhe, zwei Socken), durften sie sagen: „Das ist ein Paar Schuhe.“
Natürlich können die meisten Kinder schon zählen, wenn sie in die Schule kommen. Sie können es so, wie sie schon sprechen, schon zeichnen oder schon turnen können. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, das Zählen – wie alles andere – ernst zu nehmen, es über das bloss mechanische Können hinauszuheben, es als gewichtig erleben zu lassen, es mit dem geistigen Wesen des Kindes zu verbinden. Das hat etwas mit Ehrfurcht zu tun, mit Ehrfurcht vor den Zahlen und Ehrfurcht vor dem Kinde. Es ist ähnlich wie mit der Musik: Das Radio läuft ganz selbstverständlich – und da kommt nun ein Lehrer und sagt: „Hört hin!“ und spielt auf der Gitarre einen einzigen Ton. Und die Kinder hören zu, wie er allmählich verklingt. Es geht um ein Innewerden, um das Staunen vor dem Selbstverständlichen.
Was ich oben darlegte, heisst in der Mathematik-Didaktik „Bildung der Zahlbegriffe“. Nach der Zwei kommt die Drei. Zwei kann ich immer nur gleich anordnen – variieren lässt sich bloss der Abstand. Das ist bei der Drei anders: Es gibt unendlich viele Dreiecke. In der Drei formiert sich die Beziehung und Spannung zur Bewegung. Ich habe nicht bloss drei Bäume oder drei Äpfel dem jeweils einen, den zweien oder vielen gegenübergestellt und benennen lassen, sondern auch abstrakte Zeichen: Kreise, Farbplättchen etc. Hier sagten dann die Kinder bloss noch: „Das sind drei.“
Ich habe letzthin während einer Woche einige Unterstufenklassen besucht. Dabei sah ich viele Schüler, die z.B. beim Addieren zuerst 3 Steine und dann 4 hinlegten und dann die gesamte Anzahl zählten. So kamen sie auf ein richtiges Resultat. Aber gerechnet haben sie trotzdem nicht. Mir hat eine erfahrene Unterstufenlehrerin noch im Seminar eingeschärft: „Solange Kinder zählen, rechnen sie nicht.“ Ich teile diese Auffassung. Bildung des Zahlbegriffs bedeutet die Schulung der Fähigkeit, eine bestimmte (beschränkte) Anzahl auf Anhieb, auf einen Blick zu erfassen. Das muss man solid üben. In der Regel lassen sich die Zahlen 3 und 4 in jeder beliebigen Anordnung auf einen Schlag erfassen; von der 5 an aufwärts sind die „Zahlbilder“ so hinzulegen, dass die innere Struktur der jeweiligen Anzahl sichtbar wird, wie dies z.B. bei den Augen der Würfel der Fall ist. Es sollten aber alle möglichen Variationen eingeübt werden; so ist die 7 stets zu erkennen als 6 + 1, 5 + 2, 4 + 3. Dabei sind wiederum die 6 und die 5 in allen ihren eigenen strukturierten Zahlbildern hinzulegen. Auf diese Weise lernen die Kinder die Additionen und Subtraktionen bereits beim Aufbau der Zahlbegriffe, ohne dass formelhaft gerechnet wird.
Ich will nicht zu sehr ins Methodische abgleiten. Im Zusammenhang mit der Einführung in die Mathematik auf der Unterstufe wäre dann viel zu sagen über die Verwendung der Zahlenstäbchen (Methode Cuisenaire) und der logischen Blöcke. Mir ging es als erstes um den Aufweis, dass das Erfassen der Welt mit Hilfe der Zahlen einen wesentlichen Akt geistigen Lebens darstellt. Die – insbesondere auf höheren Schulstufen – im Zusammenhang mit der Mathematik oft geäusserte Frage „Was nützt mir dies alles?“ greift darum grundsätzlich zu tief; es geht in der Mathematik nicht in erster Linie um Nützlichkeit – obwohl diese auch ihre Berechtigung hat –, sondern um geistiges Leben schlechthin.
Immerhin: Die Frage nach dem Nutzen der Mathematik vermag einen Wesenzug dieser Wissenschaft bewusst zu machen, der dem Lehrer bewusst sein muss, wenn er dieses Fach so erteilen können will, dass es wahrhaft bildet. Ich bin davon ausgegangen, dass das Kind die Welt hinsichtlich der Zahlverhältnisse zu erfassen beginnt. Diese Verbindung zwischen zahlenmässigem Erfassen und real begegnender Welt findet in der weiteren Entwicklung sowohl der Mathematik wie auch der Menschheit ihre Entsprechung in der mathematischen Beschreibung der Phänomene der Natur durch die Naturwissenschaften. Dass sich die Natur dem mathematischen Zugriff nicht entzieht, sondern sich vielmehr mit Hilfe mathematischer Gesetzmässigkeiten angemessen beschreiben und erfassen lässt, ist keineswegs selbstverständlich und darum ein Tatbestand, der uns eigentlich zum Staunen bringen sollte. Martin Wagenschein spricht sogar von einer „fundamentalen Erschütterung“, die die Erkenntnis dieser Tatsache in uns zu bewirken vermag.
Aber die Mathematik an sich bedarf dieses Zusammenhangs mit der Natur durchaus nicht. Sie ermöglicht vielmehr Erkenntnisse, deckt Bezüge, Gesetzmässigkeiten und Strukturen auf, die entweder rein durch das Zahlensystem gegeben sind oder – noch allgemeiner – völlig abstrakt als logische Tatbestände Gültigkeit haben. So ist z.B. die Gesetzmässigkeit, dass man zwei Quadratzahlen addieren und dann auf eine dritte Quadratzahl stossen kann (9 + 16 = 25) völlig unabhängig von irgendwelcher physischen Gegebenheit wahr. Das mathematische Tun hat darum etwas völlig Zweckfreies an sich: es ist reines Spiel des erkennenden – und auch schaffenden – Geistes. Der wirkliche Mathematiker erlebt daher eine mathematische Gestalt ganz ähnlich wie ein Bild oder ein Stück Musik: nämlich als etwas Schönes, Erfüllendes. Ich betrachte es als ein erstrebenswertes Ziel des Mathematikunterrichts an der Volksschule, dass der Schüler zu solchen Erlebnissen kommen kann. Möglich ist dies freilich nur, wenn der Lehrer selbst dessen fähig ist, und dies wiederum setzt voraus, dass er einerseits in der Mathematik hinreichend bewandert ist und dass er sie andererseits auch liebt.
Betrachte man nun die Mathematik als Instrumentarium zur Erfassung der Natur oder aber als reine Äusserung des erkennenden Geistes: So oder so tritt sie dem Menschen mit dem berechtigten Anspruch entgegen, in sich wahr zu sein. Ihre Gesetzmässigkeiten bestehen objektiv. Nun neigen wir Menschen – und ein Stück weit durchaus zu recht – dazu, die Welt nach unserem eigenen Geschmack wahrzunehmen, d.h. „für wahr zu nehmen“. So verfügt denn jeder Mensch über seine individuelle, subjektive Wahrheit. Aber es ist unverkennbar, dass wir uns in unseren subjektiven Wahrheiten isolieren. Was uns gegenseitiges Verstehen, Kommunikation ermöglicht, ist der Bestand jener Gehalte, die wir gemeinsam als objektiv bestehend erleben und anerkennen. Das Objektive stiftet somit Gemeinsamkeit, es verbindet im Denken. Ich habe vor bald 20 Jahren mit einem Mädchen der 3. Klasse, das zu Hause konsequent „antiautoritär“ erzogen wurde, zu rechnen versucht. Es war nicht möglich, denn das Mädchen weigerte sich, irgend etwas Objektives anzuerkennen, und wollte sich alles nach seinem subjektiven Belieben verfügbar machen. Da wurde mir bewusst, wie sehr die richtige Beschäftigung mit der Mathematik einen Beitrag zur Überwindung des Egozentrismus des Menschen zu leisten vermag; wer es sich angewöhnt, sich der Objektivität vorbehaltlos zu fügen, kommt von seiner krankhaften Bindung an sich selbst weg und wird dadurch im besten Falle auch gemeinschaftsfähig. Man könnte es auch so formulieren: Der Mensch wächst nur geistig am Widerstand. Solange aber dieser Widerstand von Menschen (z.B. von Lehrern) aus kommt, besteht die Gefahr, dass das Kind diesen als willkürliche Machtdemonstration der Erwachsenen interpretiert und ihm demgemäss seinen Eigensinn entgegensetzt. Tritt aber der Widerstand als objektive Gesetzmässigkeit, als unumstössliche Gewissheit, der sich alle in ihrem Denken zu fügen haben, dem Kind entgegen, so ist ihm der ausweichende Kampf gegen Menschen nicht möglich, sondern es muss sich vielmehr dazu bereit finden, sich der objektiven Erkenntnis zu fügen.
Der Zwang, sich objektiven Wahrheiten zu fügen, ist indessen nicht der einzige charakterbildende Beitrag, den der Mathematikunterricht zu leisten vermag. Ich setze voraus, dass das Kind von Natur sehr stark seinen Triebregungen unterworfen ist und damit primär dazu neigt, Unlust zu vermeiden und nach lustvollen Erlebnissen zu streben. Würde es darin bis ins Erwachsenenalter verharren, wäre es dann kaum in der Lage, seinen ihm möglichen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten und zu jener Persönlichkeit heranzureifen, zu der es die Bestimmung in sich trägt. Man müsste vielmehr von einem verwahrlosten, chaotischen Menschen sprechen. Fragt man sich nun, was denn den Chaoten von einer reifen Persönlichkeit unterscheidet, so zeigt sich, dass der erste nicht über die Fähigkeit verfügt, seine augenblicklichen Triebregungen zu steuern und seine Handlungen einem höheren Lebensziel unterzuordnen. Pestalozzi würde sagen: Er hat keine „Überwindungskräfte“ gebildet. Tatsächlich gehört es zum Wesen des menschlichen Lebens, dass wir – wollen wir unser Lebensziel nicht verfehlen – in der Lage sein müssen, entgegen unseren augenblicklichen, vom Lustprinzip geprägten Impulsen zu handeln. Diese Fähigkeit, trotz augenblicklicher Unlustgefühle nach übergeordneten Grundsätzen handeln zu können, bezeichnet man im allgemeinen als Willen.
Nun kann jeder durch einen einfachen Versuch an sich unschwer erfahren, dass das Vollziehen richtiger Gedankenabläufe Energie erfordert, also mit einem durch den Willen gesteuerten Kraftaufwand verbunden ist. Man rechne rasch im Kopfe aus (bitte wirklich ausführen): 420 : 15; oder 776 + 887; oder 4235 – 1789; oder 26 x 48. Das sind einfache Rechnungen, wie man sie etwa in einer 4. oder 5. Klasse routinemässig übt. Rechnet man dies durch, kann man leicht feststellen, dass man z.B. froh ist, das Resultat nun errechnet zu haben, und zwar nicht, weil einen das Resultat so freut, sondern weil man jetzt mit Rechnen aufhören kann. Es dürfte die Ausnahme sein, dass jemand durch diese Aufgaben angeregt wird, aus lauter Lust gleich noch von jeder Art so an die 20 weitere anzuhängen.
Was man hier erfahren kann, darf – wenn auch nicht absolut – verallgemeinert werden: Denken ist anstrengend, man muss eine innere Trägheit überwinden, es kostet Energie, und angenehmer wäre es zumeist, es zu unterlassen. Mit andern Worten: Wer sich zum korrekten und – wie im Falle des Rechnens – anspruchsvollen Denken durchringt, erbringt eine Willensleistung und bildet somit gemäss Pestalozzis grundlegender Erkenntnis, dass sich Kräfte nur durch deren Gebrauch entfalten, seinen Willen. Es ist darum nicht sonderlich einfallsreich, wenn jemand gegen uns Lehrer argumentiert: „Was vertrödelt ihr da die Zeit mit Kopfrechnen, wo doch heute jeder über einen Taschenrechner verfügt!“ Uns Lehrern geht es eben nicht ums Resultatekriegen, sondern um den Denkakt und nicht zuletzt auch um die damit verbundene Willensbildung.
Nachdem der Zusammenhang zwischen dem Rechnen und der Willensbildung erwähnt wurde und so ganz allgemein der Auftrag der Kräftebildung ins Blickfeld gerät, ist schliesslich auf das Wesentlichste hinzuweisen: nämlich auf die Schulung des Denkens selber. Der Wille hält dieses bloss aufrecht, aber dass es richtig vonstatten geht, steht auf einem andern Blatt. Hier spielt zweifellos die Begabung herein: Es gibt Kinder, die richtige Gedankengänge sehr leicht zu vollziehen vermögen, und andere, die damit die grösste Mühe haben. Unsere Aufgabe ist es, alle – gemäss ihren Möglichkeiten – zu fördern. Das kann nur durch gezielte, systematische Übung geschehen.
Neuere Mathematiklehrmittel neigen dazu, die Schüler mit immer neuen Problemen zu überschütten. Die Devise heisst: nur keine Routine, das Problemlösen muss gelernt werden. Es ist dies wohl eine Reaktion auf ältere Lehrmittel mit den berühmten „Biegeli“, wo das Kind jeweils eine Menge gleichartiger Rechnungen zu lösen hatte. Gespräche mit erfahrenen Lehrern haben mir gezeigt, dass gewisse neue Lehrmittel insbesondere die schwächeren Schüler überfordern – oder dann den Lehrer, der bei sämtlichen Aufgaben Hilfe leisten muss. Ich meine: Wenn das Kind irgend eine gedankliche Struktur einsieht, irgend einen Denkablauf verstanden hat, sollte es Gelegenheit bekommen, diesen in verschiedensten Varianten zu üben. Nur durch die Wiederholung festigen sich die einmal gewonnenen Einsichten und entsteht zuverlässiges Können.
Man sollte damit aufhören, das Üben als „sturen Drill“ abzuqualifizieren. Bollnow sagt, in Anlehnung an Schiller: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er übt.“