Arthur Brühlmeier

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Einige grundsätzliche Überlegungen zur Notenproblematik

Publiziert in der ‚Schweizer Schule‘ 24/1980

Zwei Grundfragen

In meiner Arbeit „Die Noten als pädagogisches Problem“  habe ich versucht, die Schulnoten hinsichtlich ihrer verschiedenen erwünschten und unbeabsichtigten Funktionen und Wirkungen zu beleuchten. Im vorliegenden Aufsatz soll das Wesen der Schulnote von zwei Fragenkomplexen her untersucht werden:

  • Beurteilen oder bewerten wir mit den Noten?
  • Beurteilen/bewerten wir die Schüler, deren Verhalten oder Leistungen?

Beurteilen oder Bewerten?

Zweifellos gehören Beurteilen und Bewerten zum Aufgabenbereich des Lehrers im Rahmen des Lernprozesses der Schüler. Um der Frage nachgehen zu können, welcher Stellenwert hierbei der Benotung zukommt, ist es unerlässlich, Klarheit über den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Grundbegriffen zu gewinnen:

  • Im Beurteilen orientieren wir uns am Ideal der Objektivität, d. h. wir erhellen und strukturieren das zu Beurteilende durch einfache Tatsachen- oder Beziehungs-Urteile. Die Massstäbe, worauf wir uns allenfalls beziehen, sind objektiv oder werden zumindest als objektiv angenommen.
  • Im Bewerten gehen wir insofern über das Beurteilen hinaus, als wir dem zur Diskussion stehenden Sachverhalt einen Wert zuerkennen, der ihm ‚an sich‘ nicht zukommt, sondern eine Funktion unserer subjektiven Stellungnahme ist. Das heisst: Unsere subjektiven Wertmassstäbe kommen voll zum Tragen.

Aus dieser Unterscheidung ergibt sich, dass der Gegenstand durch das Beurteilen in seinem So-Sein belassen wird, während er durch das Bewerten insofern verändert wird, als wir ihm durch den Akt der Bewertung eine ‚an sich‘ nicht bestehende Eigenschaft zuerkennen oder ihn – wie später noch gezeigt wird – mit einer bestimmten Potenz aufladen.

Nun sind freilich die Übergänge vom Beurteilen zum Bewerten in der Praxis fliessend, und zwar darum, weil die Spaltung der Welt in Objekt und Subjekt künstlich ist und sich damit die Grenze zwischen Objektivität und Subjektivität nicht eindeutig bestimmen lässt.

Trotz dieser Einschränkung scheint mir die Frage sinnvoll, welchen Platz das Beurteilen bzw. Bewerten in der Schulpädagogik hat.

Beurteilen

Dass die Schüler hinsichtlich ihrer Leistungen und/oder ihres Verhaltens auf die Beurteilung durch den Lehrer angewiesen sind, liegt im Wesen der pädagogischen Situation, auch wenn es Lernprozesse gibt, die keiner personalen Rückmeldung bedürfen. Die Beurteilung hat gegenüber der Bewertung den Vorzug, dass der Gegenstand nicht verändert, eine Schülerleistung bzw. das Kind somit nicht abgestempelt wird. Der Schüler wird vielmehr mit einem objektiven Anspruch konfrontiert und erfährt dadurch unsere Reaktion auf seine Leistung bzw. sein Verhalten nicht als beliebigen Ausfluss unserer augenblicklichen Laune, sondern als eine auch ausserhalb unserer individuellen Existenz gültige Realität. Damit werden negative Auswirkungen auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis weitgehend vermieden.

Nun ist die Beurteilung keinesfalls identisch mit der Notengebung, im Gegenteil: Beurteilung, wie sie hier aufgefasst wird, schliesst die heute übliche Notenpraxis aus, weil die Noten-Werte eben eine Wertung enthalten (sehr schwach, schwach, ungenügend usf.). Beurteilung ist denn auch wesentlich komplexer und differenzierter als Notengeben, sie ist ein integrierender Bestandteil des Lernprozesses, des kontinuierlichen Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler über dessen Leistungen und Verhalten. Die Fähigkeit, dieses Gespräch auf die Individualität des einzelnen Schülers bezogen, intensiv, taktvoll und gewissenhaft zu führen, ist wohl eine der wesentlichen Qualifikationen des erfolgreichen Lehrers .

Bewerten

Es wäre freilich unrealistisch, wenn nicht gar unmenschlich, wollten wir um der Vorzüge einer sauberen Beurteilung willen jede Form von Bewertung aus der Schulstube verbannen. Wie bereits festgestellt, bringen wir beim Bewerten unsere Person mit ins Spiel, d. h. unsere eigenen Wertmassstäbe, Erwartungen und Vorlieben.

Dagegen ist sicher nichts einzuwenden, solange wir – nicht zuletzt durch die sprachliche Ausdrucksweise (‚Ich-Botschaften‘) – dem Kind zu verstehen geben, dass wir uns als Bewertende unseres subjektiven Standpunktes bewusst sind. Es versteht sich von selbst, dass wir für solch wörtliche und im Lernprozess unumgängliche Bewertungen kein Notensystem brauchen. Wir sagen oder schreiben eben direkt, wie wir eine Leistung oder ein Verhalten einschätzen.

Wenn wir darüber hinaus mit Noten bewerten, so bedeutet dies zweierlei, und es ist sehr wichtig, diesen Unterschied genau zu erkennen:

a) Unter Bewerten durch Noten verstehen wir vorerst einmal das Einordnen einer Leistung in eine fixe Notenskala. Mit ‚Noten-Wert‘ meinen wir die Stellung der Leistung in einem mathematischen Äquivalent. Diese Art von Bewerten geht von der grundsätzlichen Überzeugung aus, dass es möglich sei, etwas Qualitatives – die Schülerleistung – quantitativ zu erfassen. Meist bleibt dabei unbeachtet, dass die Notenskala im Ansatz eine Abkürzung qualitativer Aussagen (sehr gut, gut, genügend usf.) darstellte und dass daraus unter der Hand in dem Moment ein quantitatives System wurde, als man anfing, Noten miteinander zu Durchschnitten zu verrechnen. Der Brauch, mit Noten so umzugehen, als handle es sich dabei um mathematische Grössen, ist indessen sehr fragwürdig. Wenn ein Schüler im Abstand von zwei Wochen zuerst einen knapp genügenden (3–4) und darauf einen guten (5) Aufsatz abgibt, so gibt es in seinem Wesen oder Verhalten keine reale Entsprechung für den errechneten Wert von 4,25. Diese Zahl hat mit ihm, mit seinen Leistungsmöglichkeiten und den tatsächlich erbrachten Leistungen nicht das Geringste zu tun. Und wenn ich mich darüber hinaus berechtigt glaube, ihm für ein Rechtschreibediktat eine 5–6 und für eine Grammatik-Prüfung eine 2–3 zu geben, so ist nur schwer einzusehen, weshalb ich zum abschliessenden Urteil komme, er sei in ‚Sprache schriftlich‘ mit der Note 4 (ich muss hier ja abrunden) ‚genügend‘ .

Dieses pseudo-mathematische Gehabe steckt voll grundsätzlicher und psychologischer Fragwürdigkeiten. Viele Lehrer sind bereit, dies im Bereich der Sprache und verwandter Fächer zuzugestehen, glauben aber, diese Vorbehalte hätten keine Geltung für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, wo man doch einfach das Verhältnis der richtig gelösten zu den gestellten Aufgaben errechnen und das Ergebnis entsprechend in die lineare Notenskala einsetzen könne. Aber auch hier bleibt sehr viel zu fragen:

  • Können die Unterschiede der mathematischen Leistungsfähigkeit überhaupt in einer linearen Skala erfasst werden?
  • Ist unsere Notenskala linear interpretierbar?
  • Wonach hat sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben zu richten?
  • Soll er im Rahmen einer Prüfung gleich bleiben oder gesteigert werden, und wenn ja, in welchem Grade?
  • Und was bedeutet überhaupt eine falsch gelöste Aufgabe? Inwiefern rechtfertigt es sich, drei Schüler mit ‚genügend‘ zu bewerten, die von 10 Aufgaben deren 4 nicht lösen konnten, wobei der eine zwar alles begriffen hat, aber zu langsam ist, der zweite ein grundlegendes Problem, das in den betreffenden 4 Aufgaben in Erscheinung trat, nicht durchschaut, und der dritte eigentlich alles verstanden hat, sich aber in seiner Nervosität verhaspelt?

Der Fragwürdigkeiten-Katalog liesse sich noch um einiges verlängern. Es ist hier nicht der Ort, näher darauf einzutreten. Ich möchte lediglich noch auf ein Problem im Zusammenhang mit dieser Art von Bewerten – Umwandeln einer qualitativen Leistung in einen quantitativen Wert und Einordnung dieses Wertes in eine lineare Skala – hinweisen, das besonders brennend ist: Was ist überhaupt der Bewertungsmassstab? Bei wie vielen Fehlern gebe ich im Diktat eine 4? Soll ich mich auf mein unmittelbares Gefühl, auf meine Erfahrung, auf den Kollegen im Zimmer nebenan oder auf irgendwo schriftlich fixierte Werte berufen?

Verbreitet ist die Orientierung am Klassendurchschnitt, man glaubt an die Allgültigkeit der Gauss’schen Normalverteilung. Aber auch dies ist voller Probleme. Ich glaube nicht, dass wir um die Feststellung herum kommen, dass die durch die mathematische Ausdrucksweise suggerierte Objektivität lediglich vorgetäuscht ist. Auch wenn wir bewerten im Sinne von ‚Einordnen in eine Wertskala‘, entrinnen wir der bereits im Ansatz gegebenen Subjektivität jeglichen Wertens nicht.

b) Nun hat aber ‚bewerten‘ noch eine weitere, folgenschwere Bedeutung, nämlich in dem Sinne, dass wir einem Sachverhalt einen ‚Wert verleihen‘, ihn also mit völlig neuen, nicht in der Sache selbst liegenden Möglichkeiten aufladen. Eine Briefmarke – ein hübsches kleines Bild – hat so viel ‚Wert“, dass uns die Post einen Brief nach Amerika befördert, eine Banknote – ein ebenfalls hübsches, aber etwas grösseres Bild – gestattet uns, an der Riviera eine Woche Ferien zu machen, und der Reisepass – ein hübsches kleines Büchlein – ermöglicht uns, verschiedenste Landesgrenzen zu überschreiten. All die erwähnten Papiere haben also nicht nur einen Wert in sich oder als das schlicht Erscheinende einen Wert für uns, sie haben – auf einer völlig neuen Ebene – ‚Werte zu etwas‘, sie sind Mittel zu einem Zweck geworden.

Wir Lehrer machen dasselbe mit den Leistungen unserer Schüler. Wir bewerten nicht nur in dem Sinne, dass wir z. B. einen Aufsatz als ‚zu kurz‘, ‚zu langfädig‘, ‚langweilig‘, ‚abgeschmackt‘ oder aber als ’spannend‘, ‚lebendig‘ oder ‚erregend‘ bezeichnen, sondern wir laden ihn auf mit einem vorgeblich objektiven Wert (3–4 oder 5–6) und packen diesen Wert dem Schüler in den Rucksack, den er mindestens bis zum nächsten Zeugnistermin mitschleppt und mit möglichst guten Noten-Werten füllen soll. Wir machen seine Leistung zum Mittel für einen Zweck: zur Promotion oder Selektion. So bleibt eine gute nicht einfach eine gute und eine schlechte nicht einfach eine schlechte Geschichte, sondern sie werden zu einem Bonus oder Malus, die sich überdies noch gegenseitig verrechnen lassen, eben wie eine Zwanziger- und eine Zehnernote im Durchschnitt Fr. 15.- wert sind. Aber was ist schon der Durchschnitt aus einer interessanten und einer langweiligen Geschichte? Genauso wie eine Aktie als reines Schriftstück zu einem Wert-Papier verfremdet wird, geschieht es mit den Aufsätzen und Probearbeiten unserer Schüler. Wir verwandeln z. B. die Tatsache, dass Hans den Pythagoras verstanden hat, in einen Bonus, der es ihm ermöglicht, den Höhensatz – wenigstens dieses Semester – nicht auch noch verstehen zu müssen; zwei, drei hübsche Geschichten entlocken dem Vater ein grösseres Taschengeld; und der Umstand, dass Susi das Kürzen von Brüchen nicht auf Anhieb verstanden hat, wird zu einem belastenden Malus, der unbedingt dadurch wettgemacht werden muss, dass sie wenigstens das Erweitern auf Anhieb versteht. Dass ihr beim Studium dieses Problems plötzlich auch noch das Kürzen klar wird, worüber sie das erste Mal stolperte und was ihr die blanke 2 eintrug, ist nicht von Belang: 2 + 6 = 8, und die Hälfte macht 4. Susi ist also in diesem Semester in Mathematik genügend. Mit einem glänzenden Bonus konnte sie den belastenden Malus gerade noch so weit kompensieren, dass sie nicht unter den ominösen Strich sank.

Oder anders gesagt: Durch die Benotung verleihen wir einer Schulleistung, die entweder der Ausdruck eines erfolgten Lernprozesses ist (z. B. Probearbeit) oder nur in sich selbst einen Wert hat bzw. haben sollte (z. B. ein gesungenes Lied), einen zusätzlichen Wert im Sinne einer Potenz (bzw. Impotenz). Dadurch bekommt diese Leistung so etwas wie einen Kurswert im Hinblick auf das nächste Zeugnis. Es ist so, als trüge jeder Schüler pro ‚zählendes Fach‘ eine Aktie mit im Schulsack, deren Kurswert mit jeder Prüfungsarbeit sinkt oder steigt. Und die Schlusskurse werden ins Zeugnis eingetragen und mit den Schlusskursen der übrigen Fächer-Aktien verrechnet, was dann gelegentlich über Sein oder Nichtsein entscheidet.

Diese Seite des Bewertens – das Wertverleihen – erzeugt landesweit in vielen Schulstuben kaum zu überschätzende Probleme:

  • Die Schüler werden dazu verleitet, nicht aus Interesse oder Liebe zur Sache zu lernen, sondern um den Kurs-Wert der Fach-Aktie zu steigern.
  • Die Schüler lernen von den Lehrern sehr bald die Notenmathematik und setzen sich oft gerade noch so viel ein, dass sie nicht unter den Strich fallen (Minimalismus).
  • Das Scheitern kann weder von den Lehrern noch von den Schülern als allenfalls fruchtbare Entwicklungsphase akzeptiert werden. Welcher Lehrer – z. B. an einer Sekundar- oder Mittelschule – kann es sich schon leisten, einen Schüler vielleicht über Monate in Untätigkeit verharren zu lassen in der pädagogisch verantworteten Hoffnung, dass der Schüler aus eigener Inititative heraus seine Lethargie überwinde, ohne dass er seine Remotion befürchten muss oder ihm damit droht.

Oder auf einen knappen Nenner gebracht: Eine Bewertung von Schülerleistungen im Sinne von ‚Wert verleihen‘ – und dies ist eine der zentralen Funktionen des Notensystems – ist pädagogisch kontraproduktiv und sollte daher unterlassen werden.

An sich kann die Schulnote diese Bedeutung des Wertverleihens durchaus entbehren, nämlich dann, wenn sie nur im Lernprozess als Code für eine Kurz-Bewertung eingesetzt, nicht aber mit andern Noten oder gar anderen Fächern für ein Notenzeugnis verrechnet wird. Oder, um eine klare Forderung auszusprechen: Wir müssen nicht unbedingt die Noten, wohl aber die Notenzeugnisse abschaffen. Die Note kann dann bleiben, was sie immer war: eine subjektive Einschätzung einer bestimmten Schülerleistung, wobei man sich bewusst bleibt, dass diese subjektive Einschätzung eben nur zu verstehen ist in Kenntnis der subjektiven Wertmassstäbe des benotenden Lehrers.

Mit dieser Forderung wende ich mich bewusst gegen alle bisherigen Versuche, die Bewertung von Schülerleistungen durch ausgeklügelte Verfahren (etwa normierte Leistungstests) zu objektivieren. Ich halte dieses krampfhafte Bemühen um objektive Leistungsmessung für einen unnötigen Tanz um einen Fetisch, der unsere Aufmerksamkeit und unsere Energie vom Wesentlichen abzieht und unsere eigentlichen Erziehungs- und Bildungsaufgaben wesentlich erschwert. Statt unkritisch die Objektivität von Noten zu behaupten oder sie durch sog. wissenschaftliche Verfahren zu retten, ginge es vielmehr darum, deren Subjektivität vorbehaltlos zu akzeptieren und daraus in jeder Hinsicht die Konsequenzen zu ziehen.

Das Objekt: Schüler, Schülerverhalten oder Schülerleistung?

Darüber, was wir denn nun beurteilen oder mit Noten bewerten, den Schüler (seine Intelligenz, seinen Fleiss, seine Reife, seine Talente, seinen Charakter) oder aber sein Verhalten bzw. seine Leistungen, herrscht erfahrungsgemäss keine Einigkeit. Und dies ist auch verständlich, denn wenn es einerseits zwar richtig ist, dass der Mensch als kulturschaffendes Wesen objektive Sachverhalte setzt, Werke objektivierend von sich abspaltet, die durchaus eine vom Erzeuger unabhängige Bedeutung und einen von ihm unabhängigen Wert annehmen können, so ist eben doch auch wahr, dass der Mensch nicht von seinen Werken abgespalten werden kann, ohne dass er seine Identität verliert. Jedes schaffende Individuum identifiziert sich um so mehr mit seinem Werk, je mehr es von seinem Wesen hineingearbeitet hat. Darum verstehen wir auch einen Schüler, der stundenlang an einem Aufsatz gearbeitet hat, dass er sich persönlich beurteilt fühlt, wenn man seine Geschichte und seine Gedanken als ‚dummen Quatsch‘ bezeichnet. Da hilft dann der Hinweis, man meine nicht ihn, sondern den Aufsatz, recht wenig.

Ferner sind die Grenzen zwischen Wesen, Verhalten und Leistung fliessend oder vielmehr ein künstliches Produkt unseres Denkens. Eine Zeichnung beispielsweise hat sich tatsächlich deutlich genug von der kindlichen Existenz abgespalten, um als von ihm abgelöste Leistung angesprochen werden zu können. Aber schon bei einem Lied oder bei einer Turnübung lassen sich Leistung und Verhalten nicht mehr trennen, und beide bringen hochgradig das ‚innere Wesen‘ (was immer das sei) zum Ausdruck, das dann eben bei der Beurteilung bzw. Bewertung der Leistung (bzw. des Verhaltens) mitbeurteilt (mitbewertet) wird.

Gehen wir für den weiteren Gedankengang aber trotzdem von der Annahme aus, Schüler und Schülerleistung liessen sich trennen. Da ist denn wohl offensichtlich, dass bei der Beurteilung und erst recht bei der Bewertung des Schülers als Person äusserste Zurückhaltung angezeigt ist. Wer zu sauberen Extremen neigt, könnte dies gar als gänzlich unstatthaft erklären; ich möchte indessen nicht so weit gehen, ich möchte einem Schüler noch sagen dürfen: ‚Du bist ein lieber Kerl.‘ Mit einer Aussage wie „du bist ein rücksichtsloser Rüpel“ wäre ich schon vorsichtiger und würde etwa ein Feedback wie „ich beginne zu kochen, wenn ich sehe, wie du die Kleinen plagst“ der andern Formulierung vor- und mich damit der allgemeinen Regel unterziehen: Je mehr sich eine Beurteilung auf einen vermuteten Wesenszug eines Schülers bezieht, um so wichtiger ist es, dem Schüler zu sagen, wie er auf mich wirkt, was er bei mir auslöst mit seinem Verhalten (Ich-Botschaften).

Ich komme auf dieses Problem darum zu sprechen, weil viele Eltern, aber auch andere an der Schule Interessierte, in Anbetracht der Tatsache, dass für das schulische Weiterkommen lediglich die Noten solcher Fächer berücksichtigt werden, in denen Denkleistungen im Zentrum stehen, fordern, dass ‚der ganze Mensch‘ beurteilt werde. Diese Forderung scheint mir aus zwei Gründen fragwürdig:

  • Erstens entspringt sie dem Gefühl, dass das sog. Sitzenbleiben eine Art Strafe sei, die das Kind ungerechterweise zu erdulden habe, und wenn eben seine sozialen und allenfalls künstlerischen Qualitäten ‚zählen‘ würden, so könnte man nicht so böse an ihm handeln. Man mag zum Sitzenbleiben stehen, wie man will, aber hier liegt doch ein krasses Missverständnis vor: Die Remotion wird notwendig, weil das Kind in eben den Fächern, die es intellektuell fordern, überfordert ist. An dieser Situation ändert die Tatsache, dass es lieb und künstlerisch kreativ ist, nichts, und diese Seiten sind in seiner neuen Situation genauso viel (oder wenig, je nachdem) gefragt, wie in der Klasse, wo es nicht mitkam. Das Sitzenbleiben ist nun eben einmal eine Massnahme (ob im einzelnen Fall die beste, sei dahingestellt), die sich lediglich von der zu geringen intellektuellen Leistungsfähigkeit her aufdrängt.
  • Zweitens ist die Ausdehnung der Bereiche, die ‚zählbar‘, sichtbar und gewichtig, also schriftlich fixiert (und nicht nur im Gespräch) bewertet werden, pädagogisch unerwünscht, da es die Unbefangenheit des Schülers im Umgang mit dem Lehrer noch mehr zerstört. Werden schon viele Schüler durch unsern Brauch, z. B. Aufsätze mit Noten zu bewerten, derart getroffen, dass sie häufig nichts Persönliches mehr hergeben und Aufsatzschreiben als reine Pflichtübung betrachten, um wie viel mehr müssten sie getroffen werden, wollte man nun auch noch ihr ganzes Wesen und Verhalten benoten. Auch normierte Beurteilungsbögen oder ausführliche individuelle, schriftliche Berichte helfen hier nicht weiter. Es gibt eben Dinge, die ganz dem persönlichen Gespräch zwischen den Beteiligten – hier Lehrer und Schüler – vorbehalten bleiben müssen. Und wenn, vorab im sozialen Bereich, ein Problem auftaucht, so kann gerade die Tatsache, dass es schriftlich fixiert und so aus den konkreten Umständen herausgezogen wird, dessen Lösung hochgradig erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Was sollen denn die Eltern mit einer schriftlichen Mitteilung anfangen, das Kind sei ’nicht hilfsbereit‘? Sollen sie es im Moment, wo sie das lesen, schelten oder strafen? Und muss sich das Kind nicht vom Lehrer verraten vorkommen, dass er nicht mit ihm gesprochen hat? Und wenn er es getan hat, warum steht es denn noch im Bericht, war man denn damals nicht einig geworden? Wenn wir den Lehrer zwingen, die sog. ‚ganze Persönlichkeit‘ des Kindes zu beurteilen bzw. zu bewerten, so tragen wir damit wesentlich zur Belastung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und zum allgemeinen Vertrauensschwund bei.

Gehen wir weiter, gleichsam zum Zwischenglied zwischen Wesensart des Schülers und seinen Leistungen: zum Schülerverhalten. Dies wurde bis anhin etwa mit Notenrubriken wie ‚Betragen‘, ‚Ordnung‘, ‚FIeiss‘ abgedeckt, oder es findet sich im Zeugnisformular Platz für Bemerkungen wie ‚ist sehr scheu‘. Dies stand z. B. im Zeugnis einer Drittklässlerin. Sie hatte eben angefangen, sich hie und da durch Aufstrecken vorzuwagen. Nachdem sie dies im Zeugnis las, hat sie die Lehrerin abgelehnt und nicht mehr aufgestreckt. Auch sonst weiss wohl jeder Lehrer, wie empfindlich Schüler und Eltern auf ungenügende Noten in den oben erwähnten Verhaltens-Fächern reagieren. Und das Wichtigste wird meist verschwiegen: dass nämlich das Betragen, der Fleiss und die Ordnung (d. h. die Disziplin) in weit höherem Masse vom Lehrer selbst abhängen als etwa Schulleistungen in Sprache und Rechnen. Es ist bequem, das Problem vom Lehrer auf den Schüler abzuschieben, womit ich nicht sagen will, dass es keine schwierigen und verhaltensgestörten Kinder gebe. Dass man aber mit einer ungenügenden Zeugnisnote ihr Verhalten ändern kann, das offenbar durch die vereinigten erzieherischen Einwirkungen von Eltern und Lehrer nicht geändert werden konnte, ist sehr unwahrscheinlich.

Daraus ergibt sich für mich die Konsequenz, dass das Verhalten im Gespräch zwischen Lehrer und Schüler selbstverständlich zur Diskussion steht, dass es aber keinesfalls schriftlich beurteilt, bewertet oder benotet werden darf. Wir sollten uns von der Vorstellung lösen, dass sich in der Schule nur das ereignet, was man ’schwarz auf weiss nach Hause trägt‘.

Bleibt also zur Beurteilung resp. Bewertung/Benotung noch die Schülerleistung. Dass ich das sachliche und von Einfühlung getragene Beurteilungs- bzw. Bewertungsgespräch für notwendig halte, wurde bereits gesagt. Auch eine Bewertung durch Noten – verstanden als abgekürzte Mitteilung an den Schüler – halte ich so lange für wenig problematisch, als Noten nicht in Durchschnitte verrechnet und für Noten-Zeugnisse massgebend sind.

Das wesentliche Problem, das sich hier stellt, scheint mir darin zu bestehen, dass wir bei der Frage nach den Bewertungsmassstäben nie so richtig wissen, wonach wir uns zu richten haben. Solange wir nur beurteilen und nicht bewerten, sind wir dieser Sorge grosso modo enthoben, denn wir können uns schlicht an die Objektivität halten: „Du hast im Diktat 25 Fehler gemacht, und von deinen 10 Rechnungen sind 3 falsch.“ Basta. Warum man das Bedürfnis hat, ein derart objektives Urteil in eine subjektive Wertung (Note) umzuwandeln, wird mir stets unverständlicher.

Das Massstab-Problem stellt sich also erst, wenn wir bewerten bzw. benoten. Wir haben real zwei Möglichkeiten: Wir orientieren uns am Lernziel, und dann ist gut eben gut und schlecht eben schlecht, oder aber wir orientieren uns am Kind, an seinen Leistungsmöglichkeiten, und dann sieht die Sache reichlich komplizierter aus. Im ersten Fall sind wir gerecht, wir haben klare Verhältnisse, aber das schöne Gefühl des Gerechtseins bezahlen uns die wenig begabten Kinder (was immer das sei). Sie sind hoffnungslos überfordert, dauernd entmutigt und hängen ab. Im zweiten Fall kommen wir dem Kind in seiner je anders gelagerten Begabung entgegen, aber wir handeln uns viel Arbeit und viele Vorwürfe seitens der Mitschüler, der Eltern und Behörden ein. Und da dann solche Noten intersubjektiv nicht vergleichbar sind, verliert dieses Notenzeugnis hinsichtlich der wichtigsten Funktionen von Promotion und Selektion jeden Sinn. Das heisst, man könnte ebensogut darauf verzichten, eine Erkenntnis übrigens, die sich mit schöner Regelmässigkeit immer dann von selbst einstellt, sobald man wirklich die Bedürfnisse des einzelnen Kindes im Auge hat.

Wie ersichtlich, können wir Lehrer also tun, was wir wollen: es ist falsch. Die meisten ziehen sich dadurch aus der Schlinge, dass sie einen dritten Weg einschlagen, so als Zwischenweg zwischen einem aus dem Lernziel sich ergebenden objektiven und einem am Kind orientierten subjektiven Massstab: Sie orientieren sich am Klassendurchschnitt. Aber die Sache trägt auch nicht. Erstens ist nun nicht etwa die Objektivität oder die ernstgenommene Subjektivität der Massstab, sondern ‚der andere‘. Welche Laster durch diesen Vergleich mit dem andern gesät und genährt werden, kann man schon bei Rousseau und Pestalozzi nachlesen. Zweitens wird durch die Ausrichtung nach dem Klassendurchschnitt je etwa ein Viertel der Schüler über bzw. unterfordert. Drittens macht diese Methode alle Anstrengungen von Lehrer und Schülern zur reinen Sisyphusarbeit, denn wie sehr sie sich auch anstrengen, ihr Durchschnitt liegt stets bei 4 oder 4–5, je nachdem. Und schliesslich tut bei diesem System aus der Sicht der Klasse jeder Faule ein gutes Werk.

Zusammenfassung und Ausblick

Summa summarum meine ich, dass das Notensystem in der heutigen Form mehr Probleme schafft als löst und voller Fragwürdigkeiten ist. Es sollte daher etwas geschehen. Ich fasse zusammen:

  1. Die Beurteilung des Verhaltens und der Leistungen des Schülers ist vom Ansatz her objektiv und gehört unverzichtbar zum Lernprozess. Sie ist so lange relativ unproblematisch, als sie Bestandteil des Gesprächs zwischen Schüler und Lehrer ist.
  2. Die Bewertung, wie wir sie in der Schule praktizieren, hat mindestens drei verschiedene Aspekte:
  • Wir versehen beim Bewerten einen Sachverhalt mit einer Eigenschaft und bringen so über unsere subjektiven Massstäbe unsere Person ins Spiel.
  • Mittels der Note verwandeln wir beim Bewerten etwas Qualitatives in etwas Quantitatives und setzen dieses in Beziehung zu einer linearen Skala.
  • Darüber hinaus verleihen wir den Schülerleistungen dann einen zusätzlichen Wert, wenn wir Noten zu Durchschnitten verrechnen und Promotion bzw. Selektion von erreichten Durchschnittswerten abhängig machen.
  1. Der negativste Aspekt der Notengebung besteht darin, dass wir den Schülerleistungen einen ‚Wert verleihen‘ und sie dadurch verfremden. Sie werden Mittel zum Zweck. Das hat bedeutsame Rückwirkungen auf die Lernmotivation .
  2. Die vordringlichste Änderung besteht daher im Verzicht auf Noten-Zeugnisse, da sie die Ursache dafür sind, dass die einzelnen Leistungen mit zusätzlichem Wert aufgeladen und dadurch verfremdet werden.
  3. Ein Verzicht auf die Noten-Zeugnisse wird dann, und nur dann, möglich sein, wenn das intensiv gepflegte Gespräch über Leistung und Verhalten zwischen Schülern und Lehrer als dem heutigen System mindestens gleichwertig anerkannt wird.
  4. Der Verzicht auf Noten-Zeugnisse schafft die Notwendigkeit, dass das Gespräch zwischen Lehrer und Eltern im Hinblick auf das einzelne Kind intensiviert wird.
  5. Promotion und Selektion müssen von Grund auf neu überdacht werden. Bei der vorgeschlagenen neuen Lösung wird es nicht mehr möglich sein, sich mechanisch an Notendurchschnitten zu orientieren. Folgende Verfahren scheinen mir realisierbar:
  • Promotion: Eine sich aufdrängende Remotion (bzw. Versetzung in die Hilfsschule) erfolgt auf Antrag des Lehrers nach Absprache mit den Eltern. Wird keine Einigung erzielt, entscheidet die Schupflege nach Anhören von Lehrer, Eltern und nach Möglichkeit auch des Schulpsychologen unter Kenntnisnahme der vorgelegten schriftlichen Leistungen. Der Rekursweg bleibt im Rahmen der geltenden gesetzlichen Bestimmungen vorbehalten .
  • Selektion: Die Einstufung in die Oberstufenzüge erfolgt auf Vorschlag des Lehrers nach vorausgegangenem Gespräch mit dem betroffenen Schüler und dessen Eltern. Wird keine Einigung erzielt, kann sich der Schüler an der gewünschten Stufe einer Prüfung unterziehen. Die Prüfung ist so zu gestalten, dass das Begabungs- und Leistungsprofil des Schülers möglichst in ganzer Breite sichtbar wird. Die Prüfungsorgane, in denen auch die zuliefernde Primarlehrerschaft angemessen vertreten ist, richten sich in ihrem Entscheid nicht nach mathematisch errechneten Durchschnitten von mit Noten bewerteten Leistungen, sondern nach einer ganzheitlichen Beurteilung der Prüfungsunterlagen und -ergebnisse. Im Zweifelsfall ist dem Schüler eine Bewährung in einer halbjährigen Probezeit zuzugestehen. Die Anträge der prüfenden Lehrer werden von der Schulpflege erwogen und verabschiedet. Der Rekursweg bleibt im Rahmen der geltenden gesetzlichen Bestimmungen vorbehalten.
  1. Sofern auf die Abgabe von Noten-Zeugnissen verzichtet wird, können Noten zur Lernerfolgsbestätigung weiterhin verwendet werden. Man wird dann den Anspruch, dass Noten objektiv sein sollen, fallen lassen können. Sie drücken die subjektive Einschätzung einer Schülerleistung durch einen bestimmten Lehrer in einer konkreten Situation aus und werden von dieser Voraussetzung aus interpretiert. Es steht dann im freien Ermessen des Lehrers, inwieweit er bei der Benotung die individuellen Begabungen berücksichtigen und dadurch die Noten zu einem pädagogischen Mittel machen will.
  2. Die Befürchtung, dass die Schüler nach der Abschaffung der Notenzeugnisse weniger lernen werden, erschwert oder verhindert Reformen. Die Schüler der untern Klassen sind indessen durch das Notensystem noch nicht so stark geprägt, weshalb es möglich sein sollte, in einem ersten Schritt wenigstens in den ersten 4 Schuljahren auf Notenzeugnisse zu verzichten. Nach meinem Dafürhalten ist es indessen von der Sache her möglich und gerechtfertigt, die Zeugnisse in der ganzen Primarschule abzuschaffen. Sie haben als Dokument für den spätern Lebensweg des Schülers ohnehin keine Bedeutung.
  3. Der Verzicht auf Noten-Zeugnisse darf nicht dazu führen, dass die Lehrerschaft zur regelmässigen Abfassung schriftlicher Berichte verpflichtet wird. Die Zeugnisse sind vielmehr durch Gespräche mit den Eltern zu ersetzen. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass sich diese Gespräche um die heutigen Zeugnistermine herum zusammendrängen müssen. Im Hinblick auf die Belastung des Lehrers sind sie vielmehr auf das ganze Jahr zu verteilen. (Vorschlag: pro Monat 1 Abend mit 4 ca. halbstündigen Gesprächen.)

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