Arthur Brühlmeier

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Individualisieren

Problemstellung

Mit der Forderung nach individualisierender Bildung und Erziehung wird eine bedeutsame pädagogische Aufgabe zum Ausdruck gebracht. Fragt man, was genauer darunter zu verstehen sei, erhält man zumeist etwa die folgenden Antworten:

  • nicht von allen Schülern dasselbe verlangen
  • individuelles Lerntempo ermöglichen
  • in Kleingruppen und mit einzelnen Schülern üben
  • individuelle Interessen aufgreifen und im Unterricht berücksichtigen
  • bei der Notengebung auf die Begabung des Schülers Rücksicht nehmen
  • Mitbestimmungsrecht der Schüler bei der Wahl von Stoffen und Lehrmitteln
  • Ergänzung der Notenzeugnisse durch ausführliche schriftliche Berichte

Ein Lehrer, der diesen Regeln nachlebt, darf für sich in Anspruch nehmen, einen wesentlichen Beitrag zu einer individualisierenden Bildung zu leisten, und die folgenden, oft zu hörenden Fragen werden ihn kaum beirren:

  • Zerstört das Individualisieren nicht den Klassenunterricht?
  • Muss ich für jeden Schüler eigene Lehrmittel schreiben?
  • Führt das Individualisieren nicht zu asozialem Verhalten? Fördert es nicht den Egoismus?
  • Erschwert es nicht die Gemeinschaftsbildung?

Alle diese Fragen können getrost verneint werden, wenn man das Prinzip des Individualisierens nur recht versteht und ernst nimmt.BegriffsklärungFür die Beseitigung des scheinbaren Widerspruchs ist es wesentlich, die beiden Begriffe „Individuum“ und „Individualität“ klar zu unterscheiden.

  • Individuum„, das ist der oder das Einzelne, gesehen als kleinstmöglicher Teil eines grösseren Gebildes: das Unteilbare. Als solcher hat er einen bloss numerischen Wert. Die Anzahl der Individuen entspricht der Stückzahl. (Beispiel: In einem mittelgrossen Dorf der Schweiz wohnen 2000 Individuen.).
  • Spricht man hingegen von „Individualität„, so wird der Einzelne hinsichtlich seiner Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit, Unwiederholbarkeit, Eigenart ins Auge gefasst.

Entscheidend ist nun, dass dem didaktischen Begriff „Individualisieren“ nicht bloss der Begriff „Individuum“, sondern der wesentlich komplexere Begriff „Individualität“ zugrunde gelegt wird. Individualisieren zielt nicht auf Vereinzelung, sondern bedeutet Berücksichtigung und Pflege der Individualität. Individualisieren heisst: dem Einzelnen hinsichtlich seiner Eigenart gerecht werden.Individualisieren und GemeinschaftserziehungWenn heute ein Pädagoge einen „individualisierenden Unterricht“ fordert, so stösst er damit zumeist auf die Befürchtung, die Gemeinschaftsbildung könnte dadurch in den Hintergrund gedrängt werden. Nun hat aber ausgerechnet Pestalozzi, der in dieser Hinsicht gewiss völlig unverdächtig ist, die richtig verstandene Individualisierung als eigentliche Basis der gesamten Erziehung verstanden. In seinem grossen Werk von 1815 schreibt er unter anderem:„Das Individuum, wie es dasteht vor Gott, vor seinem Nächsten und vor sich selber, von Wahrheit und Liebe in sich selber gegen Gott und den Nächsten ergriffen, ist die einzige reine Basis der wahren Veredlung der Menschennatur und der sie bezweckenden Nationalkultur.“Dieser Satz macht deutlich, dass die Forderung der Individualisierung nicht gegen die Gemeinschaftsbildung ausgespielt werden kann oder umgekehrt. Der Einzelne wird schon im Ansatz in seiner gemeinschaftlichen Verbundenheit gesehen. Individualisieren heisst daher stets: den Einzelnen sehen und fördern auch im Hinblick auf seine soziale Verantwortung, seine Zuwendungs- und seine Liebesmöglichkeiten.Was ist eine Individualität?Nun ist freilich nicht zu übersehen, dass zur Eigenart eines Menschen durchaus auch seine Schwächen, Marotten, Eitelkeiten und Verlogenheiten gehören können, und es kann ja wohl nicht der Sinn des Individualisierens sein, diese Seiten des betreffenden Menschen zu fördern. Die Basis der Veredlung ist vielmehr das Individuum, insofern es „von Wahrheit und Liebe in sich selber gegen Gott und den Nächsten ergriffen“ ist. Dieser Formulierung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es in jedem Menschen hinter all seiner Maske und Mache, hinter seinen Verbohrtheiten, Ängsten und Zwängen einen guten – Pestalozzi sagt: „göttlichen“ – Kern gibt, der letztlich die Person trägt und sie wesenhaft zum Menschen macht.Um zu verdeutlichen, auf welche Bereiche des Menschseins sich die Forderung des Individualisierens bezieht und wie sich individualisierendes Erziehen jeweils auswirken soll, mag eine Modellvorstellung der menschlichen Persönlichkeit hilfreich sein, die der Psychoanalytiker Wilhelm Reich entwickelt hat. Er glaubt beim Menschen grundsätzlich drei Wesensschichten zu erkennen:In der äussersten Schicht sind angelernte Verhaltensweisen der Konvention und damit der mehr oder weniger oberflächlichen Begegnung mit Menschen lokalisiert.Bei der mittleren Schicht handelt es sich um den neurotisch gestörten Bereich, der geprägt ist durch Ängste, Schuldgefühle, Aggressionen, Depressionen, enttäuschte Wünsche, frustrierte Triebregungen und Minderwertigkeitsgefühle und der damit die Grundlage für innerpsychische und zwischenmenschliche Konflikte bildet.Den Kernbereich betrachtet Reich als vollkommen und gesund. Ihn gilt es von den Beschränkungen der äussern Bereiche, insbesondere des zweiten Bereichs zu befreien, damit die im einzelnen Menschen angelegten Liebesmöglichkeiten und schöpferischen Fähigkeiten zum Tragen kommen können.Selbstbehauptung und GeistigkeitZweifellos gehören alle drei genannten Schichten zur Individualität, aber sie haben für den Menschen unterschiedlichen Wert und unterschiedliche Bedeutung:Die Schicht des konventionellen Verhaltens steht im Dienste der Selbstbehauptung und der Durchsetzung und hat die Tendenz, die als Belastungen empfundenen Züge der mittleren Schicht zu verdecken.Die mittlere Schicht wird zumeist als schicksalhafte Belastung erlebt, lässt sich aber auch in den Dienst der Selbstbehauptungsstrebungen nehmen.Im Kernbereich sind alle Tendenzen der Selbstbehauptung überwunden und findet Geistigkeit ihren Raum: liebendes Erkennen (Gewahrwerden) und erkennendes Lieben. Im geistigen Leben verbinden sich Wahrheit und Liebe. Pestalozzi bezeichnet eine durch die Wahrheit geläuterte und der unbedingten Wahrheit verpflichtete Liebe als „sehende Liebe„. Er hält sie einerseits für die notwendige Voraussetzung beim Erzieher, damit die Erziehung fruchtbar werden kann, andererseits für das in der Erziehung anzustrebende Ziel.Das Wesen des IndividualisierensGeht man davon aus, dass es der Sinn menschlichen Daseins ist, diesen innersten Kernbereich zur Entfaltung zu bringen und dass nur dieser innerste Kern (der „göttliche Funke“) unzerstörbar ist, wogegen die „äussern Schalen“ der Konvention und der neurotischen Gestörtheit untergehen, so ist es berechtigt, den innersten Bereich als das eigentliche individuelle Wesen, als die Individualität schlechthin aufzufassen.Dieses Verständnis des Begriffs „Individualität“ verleiht dem Prinzip des Individualisierens eine sehr spezifische Bedeutung: Weckung und Entfaltung des im Keime angelegten geistigen Lebens im Einzelnen.Geistigkeit zwischen Objektivität und SubjektivitätNun ist zu fragen: Ist Geistigkeit tatsächlich etwas Individuelles, wenn wir doch von allen individuellen neurotischen Beschränkungen absehen? Manifestiert sich im Geistigen nicht vielmehr das Objektive, immer Gleiche, nicht vom Subjekt Abhängige? Diese Fragen erscheinen um so berechtigter, als die beiden tragenden Wirklichkeiten des Geistigen, Wahrheit und Liebe, durchaus als objektiv Gegebenes aufgefasst werden können: Wahrheit als im Bewusstsein aufscheinende Entsprechung der Wirklichkeit, Liebe als den ganzen Kosmos durchdringendes schaffendes und gestaltendes Prinzip.Ich sehe es so: Zwar verwirklicht sich im Geistigen ein Allgemeines, zumindest ein allgemein Menschliches, jedoch manifestiert es sich im Individuum – auch abgesehen von neurotischen Behinderungen – auf je neue, unverwechselbare Weise. Zwar sind die tragenden menschlichen Werte etwas objektiv Bestehendes, sie verwirklichen sich aber durch jede Individualität in einmaliger, unverwechselbarer Gestalt. Zwar durchdringt Liebe alles Geschaffene, verbindet es, erhält es, doch schafft jedes liebende Individuum in und mit seiner Liebe stets eine neue, nur ihm als solche erlebbare Wirklichkeit. Vielleicht darf man sagen: In der Individualität, verstanden als innerster Kern der einzelnen menschlichen Wesenheit, reichen sich das Objektive und das Subjektive die Hand.Johannes Niederer, ein Mitarbeiter Pestalozzis, der dessen „Lenzburger Rede: Über die Idee der Elementarbildung“ (1809) bearbeitet hat, drückt dies so aus:„Das Vermögen, die Individualität im Kinde, seine Selbständigkeit als Individuum zu schauen, zu erkennen, wie sich die Humanität (das allgemein Menschliche: AB) in unendlichen Gestalten ausgebiert und auf unzählige Weisen in jedem einzelnen Dasein eigentümlich wird, und wie doch wieder die eine Menschheit (= Menschlichkeit; AB) in allen erscheint, wie jeder ein Spiegel des Ganzen ist und dieses als das Eine, Unwandelbare und Ewige, mehr oder minder sichtbar, in weiterm oder engerm Umfange, mit grösserer oder geringerer Herrlichkeit offenbart – dieses zu erkennen ist die Wonne des Methodikers, d.h. des Erziehers, der seine Aufgabe und sein Verhältnis zur Menschheit erkennt.“Das Innerste des Menschen: gut oder verdorben?Die hier im Anschluss an Wilhelm Reich und Pestalozzi entwickelte Vorstellung eines innersten Bereichs der menschlichen Wesenheit, der vollkommen, gut und gesund ist, kann als anthropologischer Optimismus unter Verweis auf die kirchliche Lehre des Sündenfalls in Frage gestellt werden. Das dadurch aufgeworfene Problem ist als philosophische und theologische Frage im Laufe der Geschichte unterschiedlich beantwortet worden. Für mich ist die Gefallenheit des Menschen derart offensichtlich, dass ich mich dagegen wehre, sie durch soziologische, psychologische oder anthropologische Konzepte hinwegargumentieren zu lassen. Insofern ich nun aber die Schicht der neurotischen Beschränkung – den „Schatten“ bei C.G.Jung und den „verdorbenen Naturzustand“ bei Pestalozzi – als wesensmässig zum Menschen und Menschsein gehörend betrachte, habe ich keine Ursache, den „innersten Bereich“ nicht als vollkommen anzunehmen. Jedenfalls erweist sich in der Pädagogik und Psychotherapie die Annahme eines vollkommenen Kerns im Menschen als fruchtbar: Sie rechtfertigt ein Vertrauen auf selbststeuernde und selbstheilende Kräfte im Kinde bzw. im Klienten, ein Vertrauen, das erfahrungsgemäss positive Entwicklungen fördert.Die Aufgabe des ErziehersAufgrund der vorstehenden Erwägungen ist es die Aufgabe des Erziehers, dem heranwachsenden Menschen zu helfen, seine individuellen Möglichkeiten im Rahmen allgemeinen Menschtums zu verwirklichen. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, möchte ich kurz ein Konzept des Schweizer Pädagogen Marcel Müller-Wieland beiziehen. Nach ihm lässt sich der Bildungsauftrag als dreistufiger Prozess verstehen:

  1. Ausbildung, verstanden als Kräftebildung. Das zentrale Mittel des Lehrers ist die systematische Übung.
  2. Erziehung, verstanden als Erschliessung des geistigen Lebens im allgemeinen (Ausrichtung des Verhaltens auf übergeordnete Werte). Das zentrale Erziehungsmittel ist das Gespräch.
  3. Die persönliche Emporbildung, verstanden als Entwicklung der Individualität im oben dargelegten Sinne. Das zentrale Bildungsmittel ist die personhafte Begegnung.

Damit dürfte klar geworden sein, dass Individualisieren nicht betrachtet werden darf als irgendeine Methode, die man ebenso gut befolgen als missachten kann, oder als ein Erziehungsanliegen unter vielen andern, sondern dass es sich sozusagen um den Inbegriff des pädagogischen Auftrags handelt: Kräftebildende Übung und erziehendes Gespräch werden vollendet durch die persönliche Emporbildung in der personhaften Begegnung.Die Bedeutung der ErzieherpersönlichkeitDer Gedanke, dass sich die Individualität des heranwachsenden Menschen in der Begegnung mit Erziehern ausgestaltet und festigt, verdeutlicht einmal mehr die zentrale Bedeutung des Resonanz-Prinzips: Was im Erzieher geistig-seelisch lebt, regt Adäquates im Kinde an. Dabei geht es nicht darum, dass der junge Mensch einfach die Interessen des Erwachsenen übernimmt und gewissermassen zu dessen Abbild wird. Es geht vielmehr um die Grundgebärden des geistigen Lebens: Selbstsein erregt Selbstsein, liebende Zuwendung weckt liebende Zuwendung, Verantwortung erhebt zur Verantwortlichkeit, Ergriffenheit lässt ergreifen, Ernstnehmen der eigenen schöpferischen Kräfte stärkt den Mut zur Kreativität, Ausdauer und Beharrlichkeit stärken Willenskräfte, Geduld und Gelassenheit lösen Verkrampftheit. Das zeigt auch, dass eine personhafte Begegnung nur in dem Masse zustande kommen kann, als der Erzieher bereit und fähig ist, dem geistigen Leben in sich selbst Raum zu geben und allfällige aversive Haltungen gegenüber dem Kinde abzulegen.Was der individualisierende Lehrer können mussDas einzelne Kind umfassend wahrnehmenSo wichtig die Beachtung der Stoffe und der Leistungen sein mag: Wir Lehrer müssen in erster Linie lernen und uns stets neu darum bemühen, die Schüler wirklich so zu sehen, wie sie sind. Das gelingt nur dann, wenn man sie als Menschen annimmt und liebt. Dann interessieren einen nicht nur ihre erbrachten Leistungen, sondern ihre Eigenart, ihre Lebensverhältnisse, ihre Interessen und Neigungen, ihre Begabungen, ihr Entwicklungsstand, ihr Denken und Fühlen, ihre Schwächen und Schwierigkeiten. Letztlich geht es darum, dem Kinde mit „sehender Liebe“ (Pestalozzi) zu begegnen. Besonders wichtig ist es, genau zu beobachten, wie und wann sich beim einzelnen Schüler Eigenaktivität regt. Ist der Unterricht lebendig und anregend, so gibt er den Schülern vielfältige Impulse, die sie oft aufgreifen und weiterführen. Gelingt es dem Lehrer, diese Eigenaktivität der Schüler wahrzunehmen und sie zu unterstützen, leistet er einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung der Individualität.In diesem Zusammenhang wird oft eingewendet, es sei einem Lehrer unmöglich zuzumuten, alle Schüler gleich gern zu haben, da auch er den Gefühlen von Sympathie und Antipathie unterworfen sei. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen, denn wir sind keine Übermenschen. Erfahrungsgemäss treten aber die Gefühle von Sympathie und Antipathie dann stark in den Hintergrund, wenn es gelingt, einen Menschen – so wie er einem gerade entgegentritt – wirklich zu verstehen. Zu fragen ist allerdings, was geschehen soll, damit das Verständnis für einen Menschen wächst. Ich bin überzeugt, dass das offene Gespräch eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür ist. Insofern ist die Kunst der Gesprächsführung, wie sie uns u.a. Gordon lehrt, für einen Lehrer von grosser Bedeutung. Wer es wirklich versteht, aktiv zuzuhören, wird spüren, dass auch die Zuneigung zu dem Menschen wächst, der sich ihm öffnet.


Das Gesunde vom Kranken unterscheiden

Um es etwas pointiert auszudrücken: Ein Lehrer, der seinen Beitrag zur Entfaltung der Individualität des Schülers leisten will, darf sich kein X für ein U vormachen lassen, sonst läuft er Gefahr, dass er das kultiviert, was Wilhelm Reich als neurotische Schicht auffasst. Es gilt daher genau zu unterscheiden zwischen Eigensinn, der immer dort in Erscheinung tritt, wo jemand etwas Erforderliches verweigern oder sich einen Vorteil auf Kosten der andern ergattern will, und Eigenständigkeit oder Eigenwille, der ein Ausdruck des Wesenskerns eines Menschen ist. Der genau beobachtende Lehrer vermag auch zu unterscheiden zwischen Überreiztheit der Schüler und eigentlicher Lebendigkeit. Auch verwechselt er Bluff, Pfusch und billige Nachahmung nicht mit Kreativität und die Angst, sich auf etwas Neues einzulassen, nicht mit Charakterstärke. Vorlautes Wesen, Geltungsdrang und Altklugheit vermag er klar von Selbstbewusstsein und gesundem Selbstwertgefühl auseinanderzuhalten. Und schliesslich deutet er Frechheit und ungehobeltes Wesen nicht fälschlich als Ehrlichkeit und Offenheit.


Das Kind und die Klasse beruhigen

Um es gleich vorwegzunehmen: Kinder (und vielleicht auch Erwachsene) brauchen immer wieder Momente, wo sie lärmen und schreien und sich austoben dürfen. Das hat etwas mit dem Fluss seelischer und auch körperlicher Energie zu tun. Der verständnisvolle Lehrer wird daher immer wieder dafür besorgt sein, dass die Schüler dazu kommen, ihrem Drang nach lautem Tun und starken Bewegungen Ausdruck zu geben.Trotzdem: Irgendwie sind wir Menschen, wenn wir laut sind, nicht bei uns selbst, sondern ausser uns. Darum sagt man auch von einem Menschen, der seine Beherrschung verliert, er sei „ausser sich“ vor Zorn. Wenn wir Lehrer den innern Kern als eigentliche Manifestation der Individualität der Schüler bilden wollen, so müssen wir immer wieder danach trachten, sie zu sich selbst und in sich selbst hinein zu führen. Das gelingt wesentlich nur in der Ruhe und Stille. Pestalozzis Satz „Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe“ (PSW 28/62) erscheint mir als Ausdruck tiefer Lebensweisheit. In seinem „Stanserbrief“ lesen wir: „Ich habe meinen Kindern unendlich wenig erklärt; ich habe sie weder Moral noch Religion gelehrt; aber, wenn sie still waren, dass man eines jeden Atemzug hörte, dann fragte ich sie: `Werdet ihr nicht vernünftiger und braver, wenn ihr so seid, als wenn ihr lärmet?`“ (PSW 13/15). Die Ansicht scheint mir berechtigt, dass wir Menschen dann, wenn wir still in uns hineinhören, uns still einer Sache hingeben oder still einem andern Menschen zuhören, tatsächlich „vernünftiger und braver“ sind, als wenn wir uns laut gebärden.Die hier postulierte Ruhe und Stille als atmosphärische Voraussetzung für bildsamen Unterricht ist freilich nicht zu verwechseln mit einer rein äusserlichen Ruhe, die durch autoritären Druck des Lehrers erzwungen wird. Der Unterschied ist leicht festzustellen, wenn der Lehrer das Zimmer verlässt …Wie ist nun diese echte Ruhe zu erreichen? Voraussetzung ist, dass der Lehrer selbst den Wert der Stille kennt und innerlich beruhigt vor die Klasse tritt. Das ist nicht immer möglich, hat aber letztlich mit Selbstwertgefühl, mit Gespür für den Lebenssinn, mit Selbsterziehung und Psychohygiene etwas zu tun. Wichtig ist auch, dass die Schüler die Ruhe immer wieder als erfüllend erfahren. Das tritt vor allem dann ein, wenn der Lehrer wirklich Wesentliches – seien es eigene Gedanken, interessante Tatbestände oder Gedanken und Geschichten anderer Menschen – in die Stille hinein zu tragen versteht.Freiräume gewähren.Individualisierender Unterricht ist nicht möglich, wenn jeder Lernschritt und jede Aktivität vom Lehrer geplant und gesteuert wird. Im Hinblick auf gesellschaftliche Bedingungen und Erfordernisse ist allerdings die extreme Forderung, dass alles zu Lernende vom Kinde oder zumindest von der Klassengemeinschaft, in die sich der Lehrer integriert fühlt, auszugehen habe, nicht erfüllbar. Meines Erachtens wird sie auch nicht zu recht erhoben, denn der Bildungsprozess ist in jedem Falle ein Wechselprozess zwischen Lernbedürfnissen aus dem Innern des Lernenden und solchen, die von aussen an ihn herangetragen werden. Wer diesen zweiten Teil ablehnt, übersieht die Bedeutung der Tradierung der Kultur für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft. Es gilt somit, einen gangbaren Mittelweg zwischen genormten Lehrplanforderungen und individuellen Lernbedürfnissen einzuschlagen. Der dem individualisierenden Prinzip verpflichtete Lehrer ist stets darauf aus, Freiräume zu entdecken, zu schaffen und zu nutzen. So ist es durchaus nicht nötig, dass alle Schüler gleich viele Arbeiten haben, dieselben Aufgaben lösen, dieselben Übungen machen und dieselben Aufsatz-, Zeichnungs- oder Werkthemen behandeln. Im Rahmen von Gruppen- oder Projektunterricht können besonders gut die individuellen Voraussetzungen, Lernbedürfnisse und Interessen berücksichtigt werden. Dasselbe gilt bei der Wahl der persönlichen Lektüre, wozu anzuleiten und anzuregen ein wichtiger Auftrag der Schule ist.Grossen Spielraum kann man den Schülern bei der Einteilung der Arbeitszeit einräumen. Grundsätzlich unterscheiden wir ja Klassenaktivitäten, die hochgradig durch den Lehrer geplant und gelenkt sind (mündlicher Unterricht) von schriftlicher Arbeit bzw. stiller Beschäftigung. Die Einteilung der Zeit im Rahmen der stillen Beschäftigung könnte und sollte man weitgehend dem Schüler überlassen. Dadurch entfaltet sich Verantwortungsgefühl und Selbständigkeit.Überhaupt vermeidet der individualisierende Lehrer jede Gängelung des Schülers. Eine der heute am weitest verbreiteten besteht im inflativen Einsatz vorpräparierter Arbeitsblätter, die dazu dienen sollen, den Lernertrag kurz und bündig festzuhalten. Wer individualisierend unterrichten will, lässt die Schüler den Lernertrag selbst zeichnerisch und sprachlich festhalten und gestalten. Nur unbedrucktes Papier verdient den Namen „Arbeitsblatt“.Problemspezifisch helfen.Beklagt sich ein Lehrer, seine Schüler könnten nicht rechnen oder nicht Deutsch, so bildet diese Aussage wegen ihrer Allgemeinheit keine Grundlage zu wirksamer Abhilfe. Jede fehlerhafte oder nicht erbrachte Leistung, jedes gestörte Verhalten beruht auf individuellen psychischen Zusammenhängen. Man kann darum einem Schüler nur in dem Masse über seine Schwierigkeiten hinweghelfen, als man sich über die Struktur und die möglichen Ursachen einer Störung oder eines Versagens genau Rechenschaft ablegt. Es ist daher unbedingt nötig, dass man jedem Einzelnen immer wieder zuschaut beim Schreiben, dass man in angemessenen Abständen mit jedem Einzelnen den einzuprägenden Stoff lernt (und dies nicht einfach den geplagten Eltern überlässt) und dass man mit jedem Einzelnen rechnet und übt. Das kann immer dann geschehen, wenn grundsätzlich die ganze Klasse still beschäftigt ist. Dies ist die Zeit, in der sich der Lehrer den einzelnen Kindern annehmen kann. Unter Umständen ist es auch praktikabler, kleine Leistungsgruppen zu machen, denn die Schüler können einander durchaus auch gegenseitig helfen.Klassenunterricht und IndividualisierungSo bedeutsam individuelle Hilfe auch ist, so falsch wäre es zu glauben, der Klassenunterricht diene grundsätzlich nicht der Individualisierung. Fürs erste ist zu bedenken, dass sich gewisse individuelle Kräfte nur im gemeinsamen Tun entfalten. So setzt die Angewöhnung an Rücksichtnahme, die Fähigkeit, andern zuzuhören und überhaupt einen konstruktiven Beitrag an das gemeinschaftliche Leben zu leisten, grundsätzlich das Leben in der Gemeinschaft voraus. Darüber hinaus aber ist es auch eine für den Lehrer tröstliche Erkenntnis, dass der Unterrichtsstoff durch die Schüler selbst kraft ihrer Individualität eine Individualisierung erfährt, indem jeder als Nahrung für sich aufnimmt, was er gerade jetzt braucht und seiner Fassungskraft gemäss ist. Das kann von Schüler zu Schüler sehr verschieden sein. Voraussetzung ist nur, dass die Darbietung des Lehrers wirklichen Nährgehalt hat, was am ehesten der Fall ist, wenn sein eigenes Erleben – Denken, Fühlen und Wollen – darin mitschwingt.Es kann also auch mit einem verhältnismässig einheitlichen Klassenunterricht ein Bildungsbeitrag im individualisierenden Sinne geleistet werden. Diese Tatsache ist insbesondere im Hinblick auf den Einwand vieler Lehrer von Bedeutung, sie fühlten sich zeit- und kräftehalber ausserstande, in ihrem Unterricht vorwiegend Einzelbetreuung walten zu lassen. Lebendiger, gehaltvoller Klassenunterricht bietet fördernde, aufbauende Nahrung für jeden Schüler, den fortgeschrittenen wie den zurückgebliebenen. Um dem Schwachen nachzuhelfen, kann immer wieder die Einzelhilfe des Lehrers oder des Mitschülers eingesetzt werden. Jedenfalls ist die individuelle Entfaltung der Schüler die Hauptsache, ein „Klassengleichstand“ dagegen unwichtig.Zum Ausklang: Ein Satz Pestalozzis

„Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich. Es bildet sich wesentlich nur in engen, kleinen, sich allmählich in Anmut und Liebe, in Sicherheit und Treue ausdehnenden Kreisen also. Die Bildung zur Menschlichkeit, die Menschenbildung, und alle ihre Mittel sind in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen ewig die Sache des Individuums und solcher Einrichtungen, die sich eng und nahe an dasselbe, an sein Herz und an seinen Geist anschliessen. Sie sind ewig nie die Sache der Menschenhaufen.“ (PSW 24A, 19)

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