Gemütsbildung als Grundlage der moralischen Erziehung
Die grundlegende pädagogische Aufgabe
Ich teile Pestalozzis Ansicht, wonach der Mensch dazu bestimmt ist, seine Kräfte und Anlagen zu entwickeln. Zwar ist es möglich, dass entwickelte Kräfte negativ eingesetzt werden können, aber grundsätzlich lassen sich alle in den Dienst des Guten stellen. Insofern erwächst der Erziehung der Auftrag, die Kräfte und Anlagen allseitig, harmonisch und in Übereinstimmung mit der Idee der Menschlichkeit zu entfalten. In der Idee der Menschlichkeit verdichtet sich das Insgesamt aller Werte – das Gute, Wahre, Schöne, Heilige –, insofern sie zu seelisch-geistigen Grundhaltungen und Existenzvollzügen werden, wie etwa Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit, Religiosität, Gerechtigkeitssinn, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabefähigkeit, Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft, Willensstärke, Verantwortungsbewusstsein, Treue, Schönheitssinn, Pflichtgefühl, Schöpfertum, Offenheit, Sensibilität u. a.
Was liegt dem guten Handeln zu Grunde?
Im Hinblick auf die Möglichkeit des Missbrauchs entwickelter Kräfte ist zu fragen, welche Kräfte der guten Tat gewissermassen zu Grunde liegen. Oder etwas zeitgemässer ausgedrückt: Was motiviert den Menschen zu guten Handlungen?
Als erste Antwort erscheint die Feststellung einleuchtend: Die Vernunft, d.h. Einsicht ins Wahre und Richtige, ganz allgemein ins Werthafte, bildet die Basis der Moral. Das trifft gewiss bei reifen Menschen zu, und es gilt wohl insbesondere dort, wo eine gute Tat die eigenen Interessen und Wünsche nicht allzu sehr tangieren. Aber im Hinblick auf das ganz offensichtliche Auseinanderklaffen zwischen Einsicht und Handeln beim Grossteil der Menschen kommen wir einfach nicht um die Erkenntnis herum, dass das gute Handeln durchaus nicht mit Notwendigkeit aus der Vernunft erwächst. Die Praxis belegt es tausendfach, dass Menschen, die eigennützig ein Interesse verfolgen, sich entweder der Einsicht in das Gute (was das im konkreten Fall auch sein mag) schlicht verschliessen oder – sofern sie da ist – nicht danach handeln. Die Grundannahme des Rationalismus, Sittlichkeit beruhe auf Vernunft, setzt eben den autonomen, d.h. wahrhaft freien Menschen voraus, und darum gilt der behauptete ursächliche Zusammenhang zwischen Vernunft und Sittlichkeit höchstens logisch, nicht aber psychologisch. Aus tiefenpsychologischer Sicht kann nämlich von Freiheit so lange keine Rede sein, als die Menschen ganz allgemein (und vereinzelte sogar ziemlich stark) neurotischen Zwängen unterworfen sind. Darum vermag in den von der Neurose betroffenen Bereichen die Einsicht auch das Verhalten nicht oder nicht ausreichend genug zu bestimmen. Es gibt folglich in der Tiefe der Seele Kräfte, die stärker sind als die Vernunft.
Nun liesse sich einwenden, die Motivation des Verhaltens aus tiefenseelischen Bereichen (was immer das heissen mag) sei bloss negativ – im Sinne der Destruktion und der Verhinderung des einsichtig Erkannten – und entfalle in dem Masse, wie neurotische Züge aufgelöst würden, mache dann folglich einem freien Handeln aus Vernunft und Einsicht Platz.
Vielleicht. Vielleicht aber liegen auch wesentliche Motive des wertbezogenen Handelns, die nicht als neurotisch zwanghaft zu betrachten sind, in einem tiefenseelischen Bereich, der nachhaltiger wirkt als die logische Einsicht ins Richtige und Notwendige. Pestalozzi jedenfalls, dessen Erziehungskonzept sich bewahrheitet und bewährt hat, ist dieser Ansicht. Für ihn gibt es keinen Zweifel darüber, dass die Grundlage der Sittlichkeit ‘im Herzen’ liegt und nicht ‘im Kopf’. Hier unterscheidet er sich klar von Kant.
Angesichts dieser Möglichkeit oder Tatsache wäre es unklug, die sittliche Bildung einseitig auf die Einsicht abstützen zu wollen. Daraus ergäbe sich ein Erziehungskonzept, in welchem der Erzieher in allen Fragen der Moral gegenüber dem Kind von klein auf logisch argumentiert und dieses daran gewöhnt, den andern gegenüber sein Verhalten logisch zu begründen. Schon Rousseau hat sich mit Vehemenz dagegen gewandt, weil seiner Ansicht nach die Vernunft erst allmählich heranreift und jedenfalls in einer Zeit, in welcher das Kind sein Handeln bereits andern Prinzipien als seinem Egoismus unterstellen muss, noch zu wenig entwickelt ist. Inzwischen sind uns auch tiefenpsychologische Einsichten geläufig geworden, die aufzeigen, dass der Mensch, der aus ihm zumeist nicht bewussten Motiven etwas tut, grundsätzlich dazu neigt, dies mit einsichtigen Gründen zu rechtfertigen, d.h. zu ‘rationalisieren’. So ist denn zumindest der Verdacht berechtigt, dass ein Erziehungskonzept, das den Menschen von Kindsbeinen her zum Argumentieren nötigt, die Tendenz zum blossen Rationalisieren verstärkt.
Damit wende ich mich keinesfalls dagegen, dass der Mensch aus Einsicht handelt, im Gegenteil: Ich halte dies für sehr wünschenswert und letztlich notwendig. Es geht lediglich um die Erkenntnis, dass die Verankerung der Moral in der Einsicht offensichtlich nicht ausreicht.
Was also – das ist die Frage – kann einen Menschen zur guten, nicht eigennützigen Tat bewegen, wenn nicht die bewusste Einsicht?
Ich denke vorerst an die Welt der Gefühle. Mit diesem Begriff erfassen wir die unterschiedlichsten seelischen und auch geistigen Phänomene, und darum können allgemeine Aussagen über das Gefühlsleben kaum sehr präzise sein. Die Stufenleiter von einem ganz elementaren Gefühl wie Ekel bis hinauf zur Liebe, Ergriffenheit, Ehrfurcht kennt tausend Nuancen. Eines darf wohl als gewiss gelten: Wer seine Gefühlswelt differenziert hat und intensiver Gefühle fähig ist, hat aus der Tiefe wirkende Beweggründe zu vielfältigstem Handeln. Ob indessen gefühlsmotiviertes Handeln auch ein gutes Handeln ist, entscheidet der Grad, in welchem sich in einem Menschen die Kräfte des Fühlens mit den Werten verbunden haben. Aufgabe der Erziehung ist es folglich, im Kinde einerseits die Gefühlswelt zu differenzieren und andererseits das Fühlen mit dem Werten in Übereinstimmung zu bringen. Pestalozzi spricht in diesem Zusammenhang von ‘Veredelung’ der Gefühle. Ob die erwähnte Verbindung darin besteht, die Wertordnung im Gefühlsleben zu verwurzeln, so dass dann Wertungen immer auch gefühlsbetont sind, oder ob – umgekehrt – das Gefühlsleben in der Welt der Werte zu verwurzeln ist, so dass dann Gefühle stets wertverbunden sind, oder ob beides gilt, lässt sich nicht so leicht entscheiden, da sich hier – wie mir scheint – das logisch-begriffliche Denken und die Sprache in einen Bereich vorwagen, der mit diesen Mitteln nicht schlüssig zu erhellen ist.
Dann wirken in und aus der menschlichen Seele Bilder. Jede Erfahrung, jedes Erlebnis, jeder Traum, jede Fantasie kann zum Bild werden, und sie werden es um so mehr, als sie zusammenschwingen mit jenen inhaltlich vorerst noch weitgehend offenen Urbildern, die C. G. Jung als ‘Archetypen’ bezeichnet. In wem das Bild des barmherzigen Samariters lebt (was nicht gleichbedeutend ist mit der Tatsache, dass er die Geschichte einmal gehört hat), der handelt in gewissen Lebenslagen so und nicht anders, ohne sich des Bildes bewusst zu sein, ohne an Werte zu denken, ohne sich theologischer Grundsätze zu erinnern und ohne im Augenblick Einsicht in das objektiv Richtige zu haben (wobei freilich nicht ausgeschlossen bleibt, dass ihm dies alles bewusst werden kann).
Das Wirken von Bildern aus der Tiefe der Seele steht in engstem Zusammenhang mit dem, was sich als Intuition bezeichnen lässt, wobei anzunehmen ist, dass diese noch aus andern Quellen als den eingetieften Bildern schöpft. Der Intuitive ‘weiss’ etwas einfach, ohne zu wissen warum. Er tut wie selbstverständlich das Richtige, er ‘sieht’ Zusammenhänge, die ihn niemand gelehrt hat, er hört in sich hinein und vertraut auf seine Eingebungen. Woher die Gaben kommen, weiss er nicht, und es interessiert ihn nicht einmal besonders. Er handelt gewissermassen ‘mit schlafwandlerischer Sicherheit’. Er hat Verständnis dafür, dass es Dinge gibt, die sich einfach schicken, und andere, die unschicklich sind. Er fordert nicht für alles einen mathematischen Beweis, denn er hört in den andern und in die Sache hinein und versteht. Er ist ein Mensch mit einer Schau.
Trotz der oben gemachten positiven Beispiele muss wiederum bewusst bleiben, dass Bilder und Intuitionen zwar zum Handeln motivieren können, aber durchaus nicht notwendigerweise zum guten Handeln führen müssen. Auch ein Brandstifter kann aus inneren Bildern handeln, und auch ein Betrüger kann seinen Intuitionen vertrauen. Mit andern Worten: Es handelt sich beim seelischen Bilderreichtum und bei der Fähigkeit, auf Intuitionen zu hören, um entwickelte Kräfte, die vorerst wertfrei sind. Zu Kräften im Dienste der Sittlichkeit werden auch sie erst – gleich wie die Gefühle –, wenn sie verwurzelt sind in den tragenden Werten. Alle menschlichen Kräfte erweisen sich erst dann als ‘Segenskräfte’ (Pestalozzi), wenn sie durchdrungen sind vom Geist der zeitlos gültigen Werte.
Wenn wir nun den Versuch machen, alle erwähnten Fertigkeiten (aus Gefühlen, Bildern und Intuitionen heraus und stets in Verbindung mit Werten handeln zu können), die tiefer liegen als die rationale Einsicht, in eins zusammenzufassen, so kommen uns zwei Begriffe in Blick, die untereinander in engstem Zusammenhang stehen, nämlich ‘Gewissen’ und ‘Gemüt’. Man gestatte mir, mich einzugrenzen und die Frage des Gewissens aus meinen Erörterungen völlig auszublenden, auch wenn unbestritten bleiben soll, dass es keine sittliche Bildung, keine Werteerziehung, keine Herzens- und keine Gemütsbildung gibt, ohne dies alles in Verbindung mit der Gewissensbildung (soweit es nicht identisch ist) zu sehen. Ich möchte mich im folgenden vielmehr dem zuwenden, was die deutsche Sprache seit Jahrhunderten mit ‘Gemüt’ bezeichnet.
Man muss den Begriff des ‘Gemüts’ tief und breit fassen. Er meint mehr als blosse Emotionalität. Das Ausleben von Gefühlen kann schale Sentimentalität oder gar destruktiv sein. Das Gefühlsleben wird – wie bereits gezeigt – nur dann zum Fundament der Moral, wenn es ‘veredelt’ wurde durch die Verbindung mit den Werten. Ein gefühlvoller Mensch hat folglich erst dann wirklich Gemüt, wenn in seinen Gefühlen die ‘sittlichen Gefühle’ (Pestalozzi) wie Mitgefühl, Liebe, Freude, Dankbarkeit, Ehrfurcht die tragenden Elemente sind. Ein gemüthafter Mensch ist darum immer ein guter Mensch. Er hat ein reiches Innenleben. Er ist feinfühlig, empfindsam und erlebnisstark. Er hat Sinn für alles Feine und alles Schöne. Er liebt unbedingt die Wahrheit und verschmäht darum keineswegs das glasklare Denken. Er ist ein Mensch mit wirklicher Vernunft und verwechselt sie nicht mit kaltem Intellekt. Seine Religiosität ist ihm eine Herzensangelegenheit, und er geht darum theologischen Rechthabereien lieber aus dem Weg. Er lebt diesbezüglich mehr in Bildern als in Lehrsätzen.
Wenn wir nun – zusammenfassend – den Gedankengang nochmals überblicken, dass nämlich nicht primär die Einsicht das gute Handeln trägt, sondern dass gutes und richtiges Handeln durch die emotionale Verwurzelung in Werten, durch die Schau innerer Bilder und durch das Eingehen auf Intuitionen aus der eigenen Seelentiefe motiviert wird, und wenn wir akzeptieren, dass die erwähnten Fertigkeiten und die Wertverwurzelung Aspekte dessen sind, was wir als ‘Gemüt’ bezeichnen, so kommen wir zum logischen Schluss:
Das, was den Menschen wesentlich zum guten Handeln bewegt, ist in erster Linie sein entwickeltes, gebildetes Gemüt.
Demzufolge schafft ein Erzieher, der sich um Gemütsbildung bemüht, ein Fundament, auf dem sittliches Handeln gedeihen kann. Und da sittliches Handeln identisch ist mit dem Wollen des Guten und – wie gezeigt wurde – die entscheidenden Impulse zum guten Wollen aus dem Gemüt kommen, das Gemüt folglich das Wollen gewissermassen nährt, so folgt logischerweise: Gemütsbildung ist der eigentliche Weg der Willensbildung. Die vernünftige Einsicht gibt uns ja oft genug den richtigen Weg an, aber wenn aus dem gemüthaften Leben heraus keine Willenskräfte freigesetzt werden, klaffen – wie bereits angemerkt – Einsicht und Handeln auseinander.
Damit sind wir ins Zentrum dessen vorgestossen, was Pestalozzi mit ‘Herzensbildung’ meint. Herzensbildung und Gemütsbildung sind absolut identisch. Und es zeigt sich von hier, dass in der Schule Gemütsbildung keine fakultative Zugabe zur Erfüllung von Lehrplanzielen sein kann, sondern umgekehrt, dass alles Lernen, das sich vom Lehrplan her legitimiert, in den Dienst des Wichtigsten, der Gemüts- oder Herzensbildung, gestellt werden muss.
Exkurs: Gemütsleben als Basis von Lebensqualität
Nun erweist sich zwar das Gemüt als Basis moralischen Handelns, aber es erschöpft sich nicht in dieser Funktion. Es soll und kann ja nicht alles menschliche Handeln moralisch gewertet werden. Ein Existenzvollzug kann, jenseits von aller Moral, für das erlebende Subjekt mehr oder weniger erfüllend sein, d.h. sich durch grössere oder kleinere Lebensqualität auszeichnen. Insofern wohl als unbestritten gelten darf, dass wesentliche Aspekte von Lebensqualität einerseits in einer differenzierten Erlebnisfähigkeit, andererseits in entwickelten kreativen Kräften bestehen und insofern es auf der Hand liegt, dass beides – Erlebnisfähigkeit und kreatives Können – wiederum Aspekte eines entwickelten Gemütes darstellen, darf ein differenziertes Gemütsleben ganz allgemein als Basis von Lebensqualität betrachtet werden. Oder, um es simpel auszudrücken: Ein guter Mensch ist meist auch ein glücklicher Mensch, und dies nicht etwa darum, weil er in seinen moralisch guten Handlungen sein eigenes Glück sucht, sondern weil die Basis zu wirklich ethischem Handeln – das Gemüt – gleichzeitig auch die Grundlage für wirkliche Lebensqualität darstellt.
Differenzierte Erlebnisfähigkeit und Kreativität gleichen dem Ein- und Ausatmen: Beides gehört zusammen, aber die Bewegung flutet im einen Fall zum Zentrum hin, im andern vom Zentrum weg. Wir sprechen darum zu Recht von einem ‘musisch-kreativen’ Bereich in der Schule oder von einem ‘musisch-kreativen’ Aspekt des seelisch-geistigen Lebens. Im Begriff des ‘Musischen’ liegt das Schwergewicht auf der Sensibilität, dem Empfinden-Können, dem Erleben, wiewohl es sich nicht darin erschöpft. Und umgekehrt liegt im Begriff des ‘Kreativen’ das Schwergewicht auf der Aktion, auf dem Ein- und Ausgreifen, obgleich – wie jeder kreativ Tätige weiss – in jedem Schöpfertum immer auch ein Empfangen liegt.
Im Hinblick darauf, dass das Musisch-Kreative einen wesentlichen Aspekt schulischer Bildung ausmacht, folglich in engstem Zusammenhang mit der Gemütsbildung steht und demzufolge einerseits zu erhöhter Lebensqualität, andererseits (was unser Thema ist) zu moralischem Handeln führt, gestatte ich mir, noch etwas länger bei den beiden Begriffen zu verweilen:
In der griechischen Mythologie galten die Musen – Töchter des Zeus und der Mnemosyne (Göttin der Erinnerung) – als Schutzgottheiten der Künste. Allmählich wurden ihnen bestimmte Künste zugeordnet, nämlich:
Erato: Liebeslyrik, Spiel auf Saiteninstrumenten
Euterpe: ernste Lyrik, Spiel auf der Doppelflöte
Kalliope: Erzählkunst, Kunst des Schreibens
Klio: Geschichtsschreibung
Melpomene: Tragödie, tragische Maske
Polyhymnia: Chorgesang
Terpsichore: Tanz, Spiel auf der Lyra
Thalia: Komödie, komische Maske
Urania: Astronomie, Umgang mit Globus und Zirkel
Als Anführer der Musen (Musagetes) galt allgemein Apollo. Es fällt auf, dass damals offenbar weder die Malerei noch die Bildhauerei noch die Architektur den Schutz einer Muse genossen.
Der Begriff ‘musisch’ hat sich heute im Vergleich zu seinem Ursprung zweifellos ausgeweitet. Ein musischer Mensch zeichnet sich primär aus durch Erlebnisfähigkeit, Sensibilität für das Schöne, Kunstsinn. Er bleibt nicht im bloss Zweckhaften stecken. Er isst nicht bloss, sondern isst schön und mit Genuss. Er bewegt sich nicht bloss, um voranzukommen, sondern tanzt. Er ergötzt sich nicht bloss an Plänen mit klarem Grund-, Auf- und Seitenriss, sondern liebt Bilder. Im Bereich der Töne sind Militärmärsche nicht das einzige, was ihn anspricht. Wenn ihm im Sektor Kunst etwas Neues begegnet, fragt er nicht „Was soll das?“, sondern „Was ist das?“. Gedichte sind ihm nicht bloss Schulbuchfüller, und Märchen sind auch etwas für Erwachsene. Ihn beglücken Spiel und Fantasie. Und immer kann er wieder staunen: vor Blumen, Käfern, Steinen, Sternen, Menschen. Er ist imstande, einen Liebesbrief zu schreiben. Er hat Sinn für Zärtlichkeit und Romantik. Gelegentlich vergiesst er Tränen. Er ist kein Dickhäuter und darum zu Zeiten kompliziert. Einige sind in der Gefahr zu entschweben. Sie bewegen sich auf schöngeistige Art stets ein paar Meter über dem Erdboden. Aber das sind die Ausnahmen.
Im Vordergrund steht also das Rezeptive: das Aufnehmen, das Empfinden. Aber der wahrhaft Musische bleibt dabei nicht stehen: Er musiziert, malt, dichtet, rezitiert und tanzt selber. Beim Musizieren, Tanzen oder Rezitieren kann er Nachgestalten: Er setzt dann Noten, Choreographien, Texte um und verbindet dies mit eigenem Können. Beim Malen ist dies schon schwieriger und weniger gebräuchlich, und beim Dichten hört es ganz auf; da steht man stets vor dem Nichts und muss es mit Neuem füllen. Es gibt also einen Weg vom Nach-Empfinden über das Nach-Gestalten zum eigenen Schaffen. Der Begriff des Musischen umschliesst dies alles, also auch das Kreative. Für die Schule heisst das: Die Schüler sollen nicht nur empfindsam werden, sondern schliesslich auch einiges können und Lust entwickeln zum eigenen Schaffen.
Das Musische umfasst also einerseits das Empfinden, andererseits das eigene Tun und mündet somit aus in Können. Genaues Nachdenken zeigt indessen, dass auch das Empfinden ein Können ist. Darum läuft die Entfaltung musischer Kräfte stets auf Können hinaus: Empfinden-Können, Nachgestalten-Können, Selber-schaffen-Können. Es erscheint darum sinnvoll, im Hinblick auf die Verbindung von Empfinden und Erschaffen von ‘musisch-kreativer’ Erziehung zu sprechen.
Das Selber-schaffen-Können erscheint als das Höchste. Hier vereinigen sich Fantasie, Intuition, Schönheitssinn, Tiefblick und Wahrheitserkenntnis mit Willenskräften, manuellen und intellektuellen Fertigkeiten. Im kreativen Tun erfährt sich der Mensch als frei. Die Vorstellung von Kreativität verbindet sich darum stets mit der Vorstellung von Freiheit.
In dem Masse also, wie wir es gelten lassen wollen, dass ein nicht unbedeutender Aspekt der Gemütsbildung in der Entwicklung musisch-kreativer Kräfte besteht, erweist sich diese somit nicht bloss als Beitrag zur sittlichen Bildung, sondern auch als Beitrag zu erhöhter Lebensqualität ganz allgemein. Da ich aber in dieser Arbeit den Zusammenhang zwischen Gemütsbildung und Sittlichkeit zu erhellen versuche, lege ich in meinen folgenden Gedankengängen das Schwergewicht auf jene Aspekte der Gemütsbildung, die zur Basis ethischen Handelns werden können.
Gemütsbildung in der Schule
Die dargelegten Gedankengänge legen den Schluss nahe, dass die Pflege der musisch-kreativen Kräfte in der Schule einen besonders wichtigen Beitrag zur Gemütsbildung bildet. Das könnte leicht zum Irrtum verleiten, die Herzensbildung sei vorwiegend die Aufgabe der als ‘musisch-kreativ’ erklärten Fächer (z.B. Musik, Zeichnen und Werken) und ginge jene Lehrer, die sich ‘mit wirklichen Leistungen’ (wie man gelegentlich zu sagen pflegt) befassen, nichts an. Nichts könnte indessen falscher sein, und zwar aus zwei Gründen:
- Erstens darf das ‘Musisch-Kreative’ nicht eingesperrt werden in einzelne Fächer, sondern muss alles schulische Lernen begleiten und durchdringen. Damit verleiht der Lehrer dem Lernen und den Lernergebnissen eine neue Qualität. Der amusische Lehrer betreibt alles trocken, nüchtern und darum oft auch freudlos. Der musisch-kreativ gebildete Lehrer versteht sein Tun als Kunst, er verbindet Stoff und Lernen mit Fantasie, mit Spiel, mit Freude.
- Zweitens haben wir bereits erkannt, dass es ja das differenzierte Gefühlsleben und ein innerer Bilderreichtum – beides verbunden mit einer gültigen Wertordnung – sind, was als besonders wichtige Fundamente moralischen Handelns erkannt wurde. Dies ist nicht identisch mit ‘musisch-kreativ’, sondern führt darüber hinaus und kann darum auch gar nicht erschöpfend durch die sog. musischen Fächer entwickelt werden. Wirkliche Gemütsbildung ist auf die Breite des ganzen Fächerspektrums angewiesen.
Demgemäss soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise in der Schule ganz allgemein das Gefühlsleben differenziert und das sittliche Gefühlspotential entwickelt und wie in der kindlichen Seele ein Reichtum innerer Bilder, die zu Fundamenten moralischen Handelns werden können, entfaltet werden kann.
In Bildern leben
Vorerst mag es erstaunen, wenn ein Pädagoge in einer Zeit der Bilderflut nach Bildern ruft. Aber man sollte Qualität nicht mit Quantität verwechseln. Zudem geht es hier primär nicht ums äusserlich sichtbare Bild auf Papier oder Bildschirm, sondern um die Inszenierung der Innenwelt.
Für den Menschen gibt es zwei Grundfragen: Was ist und was soll? Im Ringen um Antworten auf die erste Frage muss der Wert der Wahrheit, in demjenigen um die zweite Frage der Wert des Guten wegleitend sein. In dem Masse, wie dies geschieht, erweisen sich Wahrheitssuche und Handeln als moralisch.
Nun gibt es – mindestens – zwei Wege, um zur Erkenntnis des Wahren und des Guten zu kommen: durch logisch-begriffliches Denken (Ratio) und durch Bilder (Mythos). Dabei ist der Mythos zeitlich sowohl in der Menschheitsgeschichte wie auch in der Entwicklung des einzelnen Menschen das erste. Wir tragen diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass wir in der Erziehung der Kinder die Moral primär im Mythos verwurzeln, d.h. in ihnen eine reiche Bilderwelt entwickeln.
Befassen wir uns zuerst mit jenen Bildern, die dem Menschen zur Erkenntnis des Wahren verhelfen. Wir finden sie vorwiegend in der unbelebten und belebten Natur. Naturvorgänge werden so zu Symbolen für Allgemeingültiges. In dieser Anschauung steckt die Überzeugung, dass es allwaltende Gesetze gibt, dass im Teil das Ganze, im Kleinen das Grosse sich wiederfindet und darum erkannt werden kann. Wie oben, so unten, wie innen, so aussen. Alte Wissenschaften wie Alchemie und Astrologie beruhen auf dieser Anschauung.
Wer als Lehrer seine Schüler nicht bloss informieren, sondern ihnen – über das Symbol – zu tieferen Einsichten verhelfen will, zeigt ihnen die Natur in Bildern, die Betroffenheit auslösen und Allgemeingültiges aussagen können. Stürme, Gewitter, Schwüle, Wärme, Kälte und düstere Nebligkeit gibt es nicht bloss als Witterungserscheinungen, sondern auch im Seelischen und Geistigen. Bedrohung durch den unendlich weiten Horizont, aber auch durch schroffe Talflanken, durch Überflutung und Austrocknung, durch Erschütterung und Öde, dies alles findet auch in uns statt und kann zum Bild des menschlichen Dramas werden. Der Drang in die Höhle, die Erklimmung des Gipfels, die Wanderung durch die Wüste, die Verirrung im Dschungel, die Rast am kühlenden Schatten, der Einbruch in die Eisdecke – das alles gibt es draussen wie drinnen. Wie anders wird der Geographieunterricht in der Hand eines Lehrers, der dies erkennt und erlebt und darum mit wahrer Gemüts-Anteilnahme erzählt, statt die Schüler bloss mit oft wirklich unnötigen Zahlen und Daten zu belasten.
Auch der Biologieunterricht wird anders aussehen, wenn der Lehrer in ihm ein Mittel zu erkennen weiss, um durch lebendige Symbole die Grundlage für Wahrheitserkenntnis zu legen. Wer z.B. einmal ein paar hundert Brennessel-Raupen fressen gehört hat, wie das dröhnt und rauscht, wie jede Raupe ein einziges grosses Fressen ist, und dann sieht, wie sie sich zuerst bei den Häutungen, dann bei der Verpuppung in sich zurückzieht und in aller Stille umwandelt, wie sie sich dann der einengenden Hülle entledigt und als bunter Falter der Luft und dem Licht zustrebt, der trägt in sich das lebendige Bild des menschlichen Schicksals im Wechsel zwischen Erobern und Verdauen, Expansion und Integration, aber auch zwischen dem Hier und dem Dort, und er erfasst das Wesen des Lebens als einen Prozess, in dem immer neue Wandlungen von Stufe zu Stufe führen. Alle pflanzlichen Vorgänge wie Konzentration der Lebenskraft im Samen, Entkeimen, Wachstum, Aufblühen, Frucht tragen, Welken, Absterben und wieder Grünen können zu Bildern werden, die im Kinde das Gespür für das Wesen seines Daseins und auch seiner Bestimmung entkeimen lassen. Da aber Wahrheitserkenntnis letztlich menschliches (richtiges und angemessenes) Handeln anregt, wird die Verwurzelung des Kindes in diesen Bildern zum Fundament seiner Sittlichkeit. Wer beispielsweise weiss, dass man einen alten Baum nicht verpflanzen kann, wirkt in einer Kommission für den Bau eines Altersheims anders als seine Kollegen ohne Naturbezug. Wer weiss, dass alles seine Zeit hat – das Keimen, Blühen und Frucht tragen –, geht mit jungen Menschen anders um, als wer kein Verständnis für Lebensrhythmen hat. Wer weiss, dass ein mit Kunstdünger allzu arg getriebenes Gewächs leicht erkrankt und wenig schmackhafte Früchte trägt, steht z.B. als Lehrer anders in der Schulstube als jemand, der an die beliebige Machbarkeit des Menschen glaubt.
Da das moralisch Gute allein dem Menschen möglich ist und auch zukommt, ist es nur logisch, dass die Bilder für eigentlich sittliches Handeln stets mit dem Dasein des Menschen zusammenhängen. Dabei ist zu bedenken, dass es dann eben auch Bilder für unsittliches Handeln gibt. Die Welt ist heute voll von Beispielen. So nimmt ein durchschnittliches Amerikanerkind erwiesenermassen via Bildschirm vor dem Schuleintritt an einigen Tausend Morden teil, und bei uns ist es auch nicht mehr viel besser. Man muss ja schon von allen guten Geistern verlassen sein, um zu glauben, diese Bilder könnten unwirksam bleiben. Schliesslich hat man in der Schweiz mit gutem Grund die Brutalo-Filme verboten. Dies zeigt, dass – anders als im Bereiche der Natur – Bilder aus dem menschlichen Leben nur dann positiv ins Gemüt des Kindes wirken, wenn durch die gezeigten menschlichen Verhaltensweisen seine Verwurzelung in den tragenden Werten gefestigt wird.
Unter diesem Gesichtspunkt erwachsen dem Sprach- und Geschichtsunterricht (aber nicht nur diesen) ganz spezifische Aufgaben. Hier können wir den Schülern eine Fülle von Bildern vermitteln, die ihnen das Drama des Menschseins in aller Breite und Tiefe erschliessen. In Märchen, in wahren und erfundenen Geschichten, Sagen, Fabeln, Legenden, biblischen Erzählungen und Gleichnissen und auch in der Erzählung eigener Erlebnisse bringen wir die Gesetze des Lebens in bildhafter Weise (konkret, als Exemplum) zum Ausdruck. So kann der bewusst erziehende Lehrer durch die Erzählung eigener Erlebnisse seine Schüler auf annehmbare, vielleicht sogar witzige Art (mit leichtem Augenzwinkern) für manch brauchbare Lebenserfahrung empfänglich machen. Im Märchen vom ‘Rotkäppchen’ erfährt das Kind etwas über den Lebensweg, die Lebensaufgabe, die Versuchung, den Fall, die Schuld und die Erlösung. In andern Geschichten wird ihm der qualitative Unterschied zwischen Treue und Verrat, zwischen Mut und Feigheit, zwischen Liebe und Eigennutz usf. bildhaft vor sein inneres Auge geführt. In alten Sagen erfährt es von den Abgründen der menschlichen Seele, von den Ängsten des Schuldigen, von seinem Schicksal im Jenseits und von unserer Verbundenheit mit der unsichtbaren Welt, ja mit dem ganzen Kosmos. In kurzen Fabeln wird ihm der feine Unterschied zwischen Klugheit, Witz, Schlauheit, Trug und Hinterlist bildhaft nahe gebracht. In Legenden über das Leben gottbezogener Menschen erfährt das Kind das Wesen des Gerufenseins, des Gehorsams, der Prüfung, des Opfers, der Demut. Im biblischen Gleichnis von den Talenten erwacht in ihm die Ahnung, dass es seine Kräfte entfalten soll, dass sein Leben einen Sinn bekommt, wenn es seinen Auftrag auf sich nimmt. Im Gleichnis vom Senfkorn wird es eingeweiht ins Geheimnis der Überlegenheit des Schwachen über das Starke, des Feinen über das Grobe, der Qualität über die Quantität. Im Gleichnis von den Saatkörnern, die auf guten oder schlechten Boden fallen, erkennt es die Möglichkeiten seiner eigenen Seele.
Demgemäss kann es sich im Geschichtsunterricht der Volksschule auch nicht nur und auch nicht in erster Linie darum handeln, dass alle einen Überblick über die geschichtlichen Ereignisse der letzten paar tausend Jahre erhalten, sondern es soll für alle erfahrbar werden, dass letztlich die Geschichte die Biographie des Menschen schlechthin darstellt. In der Geschichte haben sich ungezählte Lebensmöglichkeiten offenbart, und in der Kenntnisnahme des Spektrums zwischen Niedertracht, Verworfenheit, Hinterlist, Brutalität, Hochmut, blankem Eigennutz auf der einen Seite und Grossherzigkeit, Aufopferung, Hingabe an Welt und Mitmensch, Erfindungsgeist, Schöpfertum, Wahrheitsleidenschaft auf der andern Seite (um jeweils nur eine Auswahl zu nennen), tut der heranwachsende Mensch einen Blick in die eigene Seele, denn letztlich liegt dies alles in uns, insofern wir Menschen sind. Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge sieht, gibt seinem Geschichtsunterricht eine andere Farbe und wählt die Stoffe auch anders (man kann ja immer nur wenig behandeln) als einer, der seine Zielsetzungen auf die blosse Kenntnisnahme geschichtlicher Fakten (was immer das bedeuten mag) herunterschraubt.
Die vorgetragenen Gedankengänge erfordern insgesamt die Hochschätzung einer Lehrform, die bei vielen – völlig zu Unrecht – negativ gewertet ist: nämlich des Erzählens. Ich halte die Fähigkeit zum guten Erzählen (verbunden mit wirklichem Gemüt) nach wie vor als eine der wesentlichsten Qualitäten eines erziehenden Lehrers. Der Vorwurf, man dränge die Schüler durch das blosse Zuhören-Müssen in die Passivität, zeugt von wenig Einsicht. Das Umsetzen von sprachlichen Lauten des gesprochenen Wortes und von visuellen Eindrücken (z.B. Mimik und Gestik des Erzählers) in innere Bilder erfordert höchste Konzentration und ist vollgültige seelisch-geistige Aktivität. Im übrigen können all die erwähnten Formen sprachlicher Gebilde für sämtliche sprachpädagogischen Zielsetzungen, die sich aus dem Lehrplan ableiten lassen, eingesetzt werden. Man kann nacherzählen, dramatisieren, zeichnen lassen, man kann die Texte gestaltend lesen, sie gedanklich durchdringen, sie im Werken auswerten, an ihnen – wenn’s sein muss – auch grammatikalische und orthographische Erkenntnisse gewinnen, sie für Wortschatzübungen gebrauchen usf. Ich plädiere keinesfalls dafür, irgendwelche legitimen Zielsetzungen der Schule zu vernachlässigen, sondern ich setze mich dafür ein, dass Geist in unsere Lehrtätigkeit kommt, Geist unsere Lehrtätigkeit durchdringt. Und dies gilt nicht etwa bloss für die Unterstufe, sondern für alle Stufen der Volksschule (und vielleicht auch noch darüber hinaus, aber das ist nicht mein Thema).
Der gemüthafte Lehrer
Nun wirkt gewiss jede gute Geschichte wie jedes wahre Kunstwerk grundsätzlich aus sich selber, aber der Mensch und insbesondere das Kind ist doch weitgehend auf mitmenschliche Vermittlung angewiesen. Darum verweise ich – rückblickend auf das bereits Dargelegte (in Bildern leben) und vorausblickend auf meine Erwägungen über die Entwicklung des Gefühlslebens – an dieser Stelle auf einen Zusammenhang, der dem Leser vermutlich schon längst klar geworden ist: Wenn die Schule die Aufgabe erfüllen will, im Kinde das Gemüt zu entwickeln, das heisst seine musisch-kreativen Kräfte zu stärken, sein Gefühlsleben zu differenzieren, in ihm einen inneren Bilderreichtum zu entfalten und sein Erleben in den objektiven Werten zu verwurzeln, so setzt das einen Lehrer voraus, der dies alles zu einem guten Teil in sich selbst entwickelt hat. Niemand kann mehr geben, als er hat, niemand kann mehr anregen, als was in ihm lebt. Im Bereiche der Gemütsbildung gilt das Gesetz der Resonanz: Gleiches wirkt auf Gleiches, Gleiches bewirkt Gleiches. Es zeigt sich von dieser Seite (einmal mehr), dass in der Lehrerbildung auf die Entwicklung musisch-kreativer Kräfte im besonderen und auf die Entfaltung des Gemüts im allgemeinen ein sehr grosses Gewicht gelegt werden muss. Nur ein solcherart gebildeter Lehrer vermag das musisch-kreative Element in allen Fächern zu verwirklichen, die Symbolträchtigkeit des Seienden zu entdecken und die erkannten Symbole in ihrer Verbindung mit dem Werthaften für die Erziehung fruchtbar zu machen. Ein solcher Lehrer paart das Wahre und das Richtige mit dem Schönen, erkennt in allem auch das Wirken des Göttlichen und ermöglicht immer wieder beglückende Lernerlebnisse. In Pestalozzis Sprache: Kopf, Herz und Hand sind eins, weil in allem das Herz ‘die Farbe gibt’.
Das ist auch der Grund, weshalb sich ein Unterricht, der sich die Erzeugung einer tragfähigen Bildwelt zum Ziele setzt, nicht im eigentlichen Sinne verordnen lässt. Das kann nur ein Lehrer leisten, der das will und der selber durchdrungen ist von einer kräftigenden Bilderwelt. Ein solcher Lehrer wird sich immer wieder die Frage vorlegen: Welche Bilder habe ich heute vermittelt? Stellt er dann fest, dass viel Betrieb war (man hat Rechnungen gemacht, über das Funktionieren des Wasserhahns gesprochen, die Verben in einem Sachtext blau unterstrichen, do-mi-so gesungen, die Aufgaben kontrolliert, die Arbeitsblätter eingeordnet, eine Kuchenform mit der Schere ausgeschnitten usf., Tätigkeiten also, die – ich betone es – durchaus ihren Sinn haben), dass aber die Schüler nie still wurden, um hinzuhören und in sich Bilder entstehen zu lassen, dass keine Momente echter Betroffenheit entstanden, in denen in den Gesichtern der Schüler Staunen, Fragen, Begeisterung, Ergriffenheit, Anteilnahme, vielleicht auch Angst und darauffolgende Erleichterung zu lesen war, dann müsste dies zum Entschluss führen, am Unterricht etwas zu ändern.
Gefühle differenzieren
Gefühle sind im allgemeinen keine selbständigen Inhalte des seelisch-geistigen Lebens, sondern treten in Verbindung mit Gedanken, Vorstellungen, Erfahrungen oder Willensimpulsen auf. Ein differenziertes Gefühlsleben kann darum immer nur gedeihen auf dem Fundament eines gewissen Lebensreichtums. In dem Masse, wie wir als Lehrer das Schulleben als reiches Leben gestalten, tragen wir bereits zur Differenzierung der Gefühle bei. Als ‘Lebensreichtum’ empfinden die Schüler alles, was Farbe ins Schulleben bringt, alles, was Freude macht, nicht zuletzt eben alles Musische und alles Kreative, im weitesten Sinne die erlebnistiefe Begegnung und Auseinandersetzung mit Natur und Kultur. Starke Gefühle werden wach, wenn die Schüler mit Begeisterung Gedichte rezitieren, Theater spielen, Lieder singen, Musik machen, Reigen tanzen, sportliche Leistungen erbringen, Bilder malen, Töpfe modellieren, Rucksäcke nähen, Tiere und Pflanzen pflegen und beobachten, aber auch Geschichten schreiben und mathematische Probleme lösen. In allem soll der Lehrer darauf hinwirken, dass die Schüler zu den Lerngegenständen und zu ihrem Tun eine positive Gefühlsbindung knüpfen. Aus dem begeisterten Tun, aus der Freude, erwächst die Liebe zur Sache, die es eben – neben der Liebe zu Gott, zu sich selbst und zu den Mitgeschöpfen – auch noch gibt. Der Ausdruck ‘Liebe’ ist hier natürlich recht unscharf und bedeutet im Bereich der Beziehung zu fühlenden Wesen, ihnen vor allem ‘etwas zuliebe zu tun’, und im Bereich der Beziehung zu einer unfühlenden Sache, ‘an ihr Freude zu haben’, ‘zu ihr Sorge zu tragen’, ‘sie gerne zu tun’.
Diese Form von Liebe zur Sache und zu dem Mitgeschöpfen ist eine nicht unwesentliche Basis zu moralischem Handeln. So werden etwa Kinder, die einen Hydranten bunt und originell als wartenden Kobold bemalen und dabei das Beglückende des ‘künstlerischen Schaffens’ erfahren durften, natürlicherweise davon Abstand nehmen, die bemalte Plastik auf dem Schulhausplatz mit Farbe zu besprayen. Oder Kinder, die Froschlaich ins Aquarium geholt, Kaulquappen gefüttert und die jungen Fröschlein rechtzeitig (bevor sie ertrinken) ins Freie gelassen haben, werden später als Autofahrer im Frühling besonders darauf achten, dass sie keine wandernden Amphibien auf ihrem Weg in die Gewässer überfahren, und mutwillig einen Frosch zertreten werden sie auch nicht mehr. Gerade im Hinblick auf den so nötigen Schutz der lebendigen Natur hätten wir in der Schule alle Ursache, den ganzen Naturkundeunterricht so zu gestalten, dass in den heranwachsenden Menschen jede Schändung der Natur ein Vorgang ist, der ihre Gefühle wirklich verletzt. Das kommt nur zustande, wenn sie in ihrem intimen Umgang mit Pflanze und Tier diese Wesen wirklich lieben gelernt haben und Ehrfurcht vor dem in ihnen wirkenden Leben empfinden können.
Wenn wir uns fragen, was denn zu tun ist, damit der Schüler die erhofften positiven Beziehungen zu den Lerngegenständen aufbauen kann, so muss – auch wenn ich mich hier wiederhole – festgestellt werden, dass dies nur über die Resonanz geht. Gefühle sind ausserordentlich ansteckend. Wir dürfen darum als Lehrer darauf vertrauen, dass unser eigenes differenziertes Gefühlsleben bei den Kindern erregend und fördernd wirkt.
Hier höre ich natürlich den Einwand: Aber das ist doch Manipulation. Woher nimmt der Lehrer das Recht, die Kinder mit seinen Gefühlen anzustecken? Da würde ich gerne die Gegenfrage stellen: Und woher nehmen wir alle das Recht, das Kind überhaupt zu erziehen (denn das heisst doch grundsätzlich, auf es einzuwirken), und woher nehmen wir gar das Recht, es während neun Jahren obligatorisch zu beschulen? Und dann gilt es zu erkennen: Resonanz spielt, ganz unabhängig, ob man es weiss oder nicht weiss, will oder nicht will. Und Gefühllosigkeit ist auch eine Variante des Gefühlslebens. Wenn also jemand glaubt, er würde seine Schüler nicht beeinflussen, wenn er ihnen das Schulfutter möglichst ohne innere Anteilnahme vorsetzt, so steckt er sie eben mit seiner Coolheit an. Woher nimmt er das Recht dazu?
Wir retten uns aus dieser Frage nur, wenn wir dazu stehen, dass Erziehen eben immer Beeinflussen heisst und dass wir darum unsere spezifische Weise der Beeinflussung verantworten müssen. Das heisst viel, unter anderem das, dass ich mich bereit erkläre, gelassen Red und Antwort zu stehen, wenn das Kind später, wenn es erwachsen ist, mich fragt: Du, was hast Du damals mit mir gemacht? Wer diese Frage scheut, lasse die Finger vom Erziehen.
Gefühle differenzieren heisst nun nicht bloss, Gefühle anzuregen, sondern auch mit Gefühlen richtig umzugehen. Jeder Psychologe weiss, dass Gefühle grundsätzlich ein Lebensrecht fordern. Es gibt darum nur eine Alternative: Entweder werden Gefühle wirklich gelebt, oder sie werden verdrängt und wirken dann zumeist destruktiv. Daraus leitet sich für den Pädagogen die Pflicht ab, grundsätzlich jede Gefühlsregung anzunehmen. Solange allerdings noch Redensarten wie „ein Bub weint nicht“ oder „ach, diese Heulgret“ möglich sind, kann von Annahme der Gefühle keine Rede sein. Und wenn sich gar ein Kind – voll vertrauend – vorwagt und bekennt, es hasse seinen Banknachbarn, so ist hier nichts falscher als Entrüstung und Verweis. Für einen wissenden Lehrer gilt darum die Regel: Gefühle werden nicht diskutiert, d.h. nicht in ihrer Berechtigung in Frage gestellt, nicht beurteilt. Gefühle sind, punktum. Es hat keinen Sinn, ein Kind zu loben, wenn es seiner Freude Ausdruck gibt, und ihm zu beweisen, dass es, wenn es sich ängstigt, dazu gar keinen Grund hat. Freude und Trauer, Angst und Bedrückung, Mutlosigkeit und Begeisterung, Spannungsgefühl und Langeweile, Ärger und Gelöstheit, Mut und Verzweiflung, Wut und Liebe und Hass und was es an Gefühlen noch geben mag, alles ist, wenn es da ist, wahr, und die einzig nötige Haltung dem allem gegenüber ist es, diese Gefühlswelt wahrzunehmen (für wahr zu nehmen). Menschen, die ihren Gefühlen Ausdruck geben dürfen, ohne negative Konsequenzen zu befürchten, wachsen zumeist gesund auf, fühlen sich – übers Ganze betrachtet – sehr oft glücklich und finden zumeist in ihren Gefühlsäusserungen auch das richtige Mass. Denn dass jeder für sich selbst (nicht von aussen diktiert) in der Lage sein muss, ein Gefühl zwar zu spüren, es aber trotzdem nicht zu zeigen, gehört meines Erachtens zu jenen Fähigkeiten, die nicht nur unser, sondern jedes gesellschaftliche Zusammenleben gelegentlich und immer wieder erfordert.
Das Lernen, Gefühle wahrzunehmen, geht Hand in Hand mit dem Lernen, Gefühle zu benennen. Was bewusst ist, lässt sich zumeist sprachlich fassen, und es ist eine Aufgabe der Schule, dem Schüler beim Erwerb dieser Fähigkeit behilflich zu sein. Man sollte dabei aber die Entwicklungspsychologie nicht ausser acht lassen: Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und zur Reflexion der eigenen Gefühlswelt entwickelt sich erst so recht in der Pubertät. Und gerade weil dies so ist, haben sehr oft Pubertierende eine ganz besondere Scheu, sich über Gefühle zu äussern. Ein Lehrer, der dies anstrebt, sollte das darum mit viel Einfühlungsvermögen und Taktgefühl tun. Wesentlich einfacher – und in vielen Fällen wohl auch richtiger – ist es, geeignete Lektüre zu wählen und sich zuerst in die Gefühlswelt der handelnden und betroffenen Menschen einzufühlen und dann über deren Gefühle zu sprechen. Der ergriffene Leser identifiziert sich ja meistens mit irgendwelchen Personen (jedenfalls sollte die Lektüre so gewählt werden, dass dies geschehen darf), und der pubertierende Schüler hat dann durch die Auseinandersetzung mit der Gefühlswelt von literarischen Gestalten die Möglichkeit, sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu werden und allmählich die sprachlichen Mittel zu erwerben, um sich selbst artikulieren zu können.
Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, die Gefühlswelt von literarischen Gestalten zum Gegenstand des Gesprächs zu machen, ist schliesslich auch die Brücke geschlagen zur höchsten Form der Gefühlsdifferenzierung, zur Einfühlung in ein anderes Wesen, zum Mitgefühl. Solange Gefühle bloss Ausdruck der eigenen Verletzlichkeit und des eigenen Lustanspruchs sind, sind sie Ausdruck des Egoismus. Das darf sein, aber es darf dabei nicht sein Bewenden haben. Wie Pestalozzi (und wohl viele vor und nach ihm) bereits festgestellt hat, gibt es neben den ichbezogenen ‘natürlichen’ (primären) Gefühlen die ‘sittlichen’ Gefühle. Die liegen auf einer ganz andern Ebene und sind Ausdruck von dem, was Pestalozzi als ‘höhere Natur’ bezeichnet. Es handelt sich um alle Gefühle, die unsere positive Verbundenheit mit der Wahrheit, unsere Freude am Wohlergehen der Menschen und der Welt ganz allgemein zum Ausdruck bringen: Ehrfurcht, Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit u. a. Ganz allgemein soll das Gefühlsleben Mittel der Verbundenheit aller Menschen und aller Wesen untereinander werden, und das kann es nur, wenn das Einfühlungsvermögen und die erwähnten sittlichen Gefühle entwickelt werden und sich das Mitgefühl immer wieder einstellt. Erst dann findet der Umschlag von der Emotionalität zur Gemüthaftigkeit statt, und nur durch diesen Umschlag wird das Gefühlsleben zur Basis ethischen Handelns.
Es sei indessen betont, dass die Entwicklung des Mitgefühls nicht bloss durch den Umweg über die Literatur anzustreben ist, sondern insbesondere und täglich bei der Bewältigung zwischenmenschlicher Konflikte. Dies kann auf allen Stufen gleichermassen geschehen. Und hier ist der Ort, wo ich einmal mehr auf die Wichtigkeit des Gordon’schen Konfliklösungskonzepts hinweisen muss. Ich halte die Lektüre der ‘Familienkonferenz’ oder der ‘Lehrer-Schüler-Konferenz’ von Thomas Gordon für jeden Erzieher als äusserst hilfreich. Mit der Gordon’schen Methode lernen wir, unsere eigenen Gefühle und diejenigen unserer Mitmenschen ernst zu nehmen und in uns jene Gefühle zu entwickeln, die oben als ‘sittliche Gefühle’ bezeichnet wurden.
Auf Intuitionen vertrauen
Wir sind bekanntlich im sprachlichen Ausdruck oft recht unpräzis und pflegen etwa von ‘Gefühlen’ zu sprechen, wenn es sich durchaus nicht um Gefühle handelt. Wenn z.B. jemand sagt, er habe das Gefühl, die Wirtschaftslage werde sich wieder erholen, so ist das alles andere als ein Gefühl. Zumeist ist es eine Vermutung, eine schwer zu begründende Meinung oder, wenn’s hoch kommt, eine Intuition. Wie wir wissen, gibt es echte Intuition, eine Kundgabe aus dem Innern, die nichts mit Gefühlen zu tun hat. Es geht um ein nicht weiter zu begründendes Wissen, folglich um Gewissheit, um das Annehmen einer Stimme oder eines Einfalls aus dem Innern. Im moralischen Bereich darf dieses Vernehmen des Sein-Sollenden aus dem Innern wohl als identisch mit dem Gewissen betrachtet werden.
Im Hinblick auf die allgemeine Aufgabe des Menschen, seine Kräfte zur Entfaltung zu bringen, sollte er lernen, seine Intuitionen zu vernehmen und auf sie zu hören. Es sei aber nicht verschwiegen, dass dies eine heikle Sache ist. Schon manch einer glaubte mit Sicherheit einen Anruf oder ein ‘Halt’ aus dem Innern zu vernehmen, und das weitere Leben zeigte dann doch, dass es ein Irrweg war. Vielleicht ist gar der richtige Umgang mit Intuitionen das Schwierigste, was es im Leben überhaupt gibt.
Ich weiss, wir geraten hier auf ein sehr persönliches Gebiet. Beweise für meine Ansichten kann ich nicht geben. Trotzdem wage ich folgendes auszusprechen:
Erstens muss man lernen, zwischen neurotischen Bindungen und der wirklichen innersten Stimme zu unterscheiden. Das ist eine Lebensaufgabe. Zweitens muss den Intuitionen der Boden bereitet werden. Der wesentlichste Beitrag ist meines Erachtens die Verinnerlichung von tragfähigen Bildern, wie ich dies oben dargestellt habe. Drittens muss man bei aller ‘Gewissheit’ vorsichtig bleiben und alles intuitiv Erfasste immer neu überprüfen. Das hat auch etwas mit Demut zu tun, und diese erweist sich – viertens – darin, dass man um geistigen Beistand bittet.
In der Schule können wohl erst die Anfangsschritte gewagt werden. Das lässt sich etwa so machen, dass man die Schüler zuerst in eine meditative Ruhe führt, dann ihr Fühlen und Imaginieren um einen Gedanken, ein Bild, ein Thema kreisen lässt und ihnen danach Raum gewährt, intuitiv Erfasstes zu gestalten, sei dies im sprachlichen Ausdruck, sei dies als Zeichnung, als Tanz, als Melodie. Am besten ist dies überall dort möglich, wo Kreativität legitimerweise gefragt ist. Auch im Rahmen sozialer Konflikte kann Intuition spielen, sofern ein echtes Vertrauensverhältnis zwischen dem Lehrer und der Klasse besteht. Aus echter Intuition kann ein spontaner Zuneigungserweis, kann Verzeihen, kann Neubeginn wachsen. Im Gespräch unter vier Augen, wenn die Seele offen ist für alles Gute von innen und aussen, kann der Hinweis „Hör in Dich hinein und handle danach!“ zu Entschlüssen von höchster Moralität führen.
Hat ein Mensch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass er seinen Intuitionen vertrauen darf, so ist dies meines Erachtens eines der wesentlichsten Elemente zur Stärkung des Selbstwertgefühls und damit des wichtigsten Fundamentes sittlichen Handelns. In der Intuition erfährt der Mensch seine Verbundenheit mit dem Kosmos, sein Eingebettetsein in das sinnreiche Wirken unbekannter, aber geahnter Lebenskräfte. Sein unbestrittener, absoluter Wert erweist sich gerade in seinem Einssein mit dem Ganzen. Daraus leitet sich die Berechtigung für die Selbstachtung ab, und diese ist wohl noch immer das stärkste Argument, um moralisch zu handeln.
Der gesellschaftliche Ertrag
Dass ‘die Zeiten schlechter geworden sind’, war – wie wir wissen – seit eh und je die Auffassung der älteren Generation. Neu ist, dass heute ein Grossteil der Jugend diese pessimistische Grundstimmung teilt. Die belastenden Fakten lassen sich meines Erachtens auf eine einfache Formel zurückführen: Das Grundübel ist der um sich greifende Egoismus. „Ohne mich“, „das ist dein Problem“, „da grenze ich mich ab“, „das hemmt meine Selbstverwirklichung“, „ich lasse mich nicht vereinnahmen“ sind Aussprüche, die alle etwas Berechtigtes an sich haben können, die aber sehr oft dazu dienen, die eigenen egoistischen Ansprüche schonungs- und rücksichtslos durchzuboxen. Ein Zusammenleben auf der Basis von Liebe, Vertrauen und gegenseitiger Hilfe ist nicht möglich, wenn jede notwendige Verpflichtung als Versuch der Machtausübung durch andere beargwöhnt wird. Und auch der Staat, der mit Hilfe seiner Rechtsordnung das geordnete Zusammenleben garantieren soll, ist überfordert, wenn der Verstoss gegen das Recht als absolut selbstverständlich praktiziert und nur noch dann unterlassen wird, wenn man befürchtet, erwischt zu werden. Das ganze Drogenproblem – um nur ein Beispiel zu nennen – würde nicht existieren, wenn die heranwachsende Generation gelernt hätte, demokratisch gesetztes Recht als sittlichen Willen der Gemeinschaft zu achten und sich daran zu halten. Und Tausende von Scheidungswaisen könnten sich am Mami und Papi freuen, wenn die beiden in sich die Kraft entwickelt hätten, in den unvermeidlichen Konflikten nicht in erster Linie ihren eigenen Vorteil, sondern das an sich Werthafte zu suchen. (Als Psychologe weiss ich natürlich auch, dass es tief wurzelnde Beziehungsstörungen gibt, die eine Trennung als bestmögliche Lösung des Problems erfordern.)
Mit andern Worten: Wenn es stimmt, dass ‘unsere Gesellschaft’ ziemlich krank ist, so ist jeder Versuch einer Gesundung zum Scheitern verurteilt, wenn nicht alles daran gesetzt wird, den um sich greifenden Egoismus in die Schranken zu weisen. Das kann unmöglich der Staat an sich mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Machtinstrumenten tun, denn diese taugen höchstens dazu, den durch den Egoismus angerichteten Schaden ein Stück weit zu begrenzen, und dies auch nur, solange die überwiegende Mehrheit der Menschen mit den Zielen des Staates – Garantierung eines menschenwürdigen Zusammenlebens – solidarisch ist. Die Eindämmung des Egoismus ist nur durch Erziehung möglich, und zwar eine Erziehung, der die Bildung zur Gemeinschaftsfähigkeit oberstes Ziel ist. Eine solche Erziehung ist einerseits dadurch gekennzeichnet, dass sie die jungen Menschen lehrt, ihre Handlungen nicht in erster Linie nach eigenen oder fremden egoistischen Wünschen, sondern nach übergeordneten Werten auszurichten, und andererseits dadurch, dass sie die Herzensbildung absolut ins Zentrum ihrer täglichen Praxis stellt. Unserer Welt fehlt es nicht an Informiertheit (und seit dem Aufkommen des Internets schon gar nicht mehr), sondern an wirklicher Herzensbildung. Nur durch die konsequente Bildung des Gemüts werden die so oft geäusserten Wünsche nach einer ‘besseren Welt’ keine Wunschträume bleiben. Diese Auffassung hat Pestalozzi in seinem 1815 veröffentlichten Werk ‘An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes’ mit grosser Klarheit ausgesprochen. Ich schliesse meine Ausführungen mit zwei Zitaten Pestalozzis aus diesem Werk:
„Lasst uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können und nicht durch Unmenschlichkeit zur Unfähigkeit des Bürgersinns und durch Unfähigkeit zum Bürgersinn zur Auflösung aller Staatskraft, in welcher Form es auch immer geschehe, versinken!“ (Pestalozzi, Sämtliche Werke, Band 24A S. 39)
„Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil (Pestalozzi meint Europa) keine Rettung möglich, als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung!“ (Pestalozzi, Sämtliche Werke, Band 24A, S. 166)