Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier beantwortet Fragen zu Pestalozzi

Im Hinblick auf das Pestalozzi-Gedenkjahr 1996 (250. Geburtstag) wurde ich von der Schweizerischen Lehrerzeitung über meine persönliche Beziehung zu Pestalozzi befragt. Hier das damals publizierte Interview:

Was assoziieren Sie zum Begriff Pestalozzi?

Zuerst: ein eigenwilliger, bedeutender Mensch, der sich mir immer wieder entzieht, wie sehr ich ihn zu verstehen suche. Und dann: eine Fülle fruchtbarer, in die Zukunft weisender Ideen. Und schliesslich Gefühle: Bewunderung, weil er trotz aller Misserfolge seinen Weg unbeirrt beschritt; echtes Mitleid, weil ihm kaum ein Leid und Leiden erspart blieb; hochmütiges Mitleid und ein bisschen hilflose Wut ob seinem gelegentlich trottelhaften Benehmen und seiner geringen Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen und Konflikte zu bewältigen; auch Scham, wenn ich lese, wie er sein Innerstes nach aussen kehrt oder sich um seines Werkes willen den Mächtigen andient; Liebe, weil er voll Farbe und Leben ist und weil in ihm selber, bei allem Widerspruch, die Liebe wirklich lebte und er die Wahrheit immer suchte. Und schliesslich Ehrfurcht gegenüber dem, das oder der ihn bis zum Tode leitete.

Warum haben Sie Pestalozzi in ihrem Leben aufgegriffen?

Weil ich seine Ideen gut finde. Seine Lehre vom Menschen hilft uns, die Wechselwirkungen zwischen individuellem und sozialem Menschsein zu verstehen. Fussend auf dieser Menschenkunde, hat er auch eine stimmige Erziehungslehre entwickelt. Die Richtigkeit seiner pädagogischen Grundsätze hat sich mir in meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Lehrer und auch als Vater immer aufs neue bestätigt.

Darf man über Pestalozzis dunkle Seiten nicht reden?

Wer sollte schon die Macht haben, dies zu verbieten? Peter Stadler hat in seiner zweibändigen Biographie ausgiebig davon Gebrauch gemacht, oft derart, dass man gelegentlich das Helle sucht.

Welches könnten seine dunklen Seiten sein?

Fragt sich, was mit ‘dunkler Seite’ gemeint ist. Hinterhältigkeit, Boshaftigkeit, Ausschweifung, Lügenhaftigkeit, lasterhafter Lebenswandel, Gotteslästerung – solches habe ich bei ihm nirgends angetroffen. Er hat sich, wie man so sagt, ‘redlich bemüht’. Als seine Schattenseite sehe ich am ehesten sein Selbstmitleid und einen gewissen Hang, mit seinen Schwächen zu kokettieren und andere – bewusst oder unbewusst – damit zu manipulieren.

Der glorifizierte Pädagoge: guter Ehemann, guter Vater? …

Pestalozzi teilt hinsichtlich der Glorifizierung das Geschick vieler bedeutender Menschen. Er selbst gab sich nie als guten Ehemann aus, und er hat darunter gelitten, dass er seinem behinderten Jacqueli offenbar kein besonders guter Vater sein konnte. Von einem Bach, Mozart, Goethe und Rousseau verlangt man das ja auch nicht. Genie hat eben seinen Preis. Er war ‘Vater’ in einem weiteren Sinne. Unbestreitbar wollte er all die Kinder, die ihm anvertraut waren, nach besten Kräften zu guten Menschen erziehen und hatte darin gewiss auch Erfolg. Auch hatte er für die Armen – im allgemeinen und in konkreten Begegnissen – ein offenes Herz und eine offene Hand, auch wenn er nicht jener gutmütige Tropf war, als der er vielen gilt.

Tabus und Pestalozzi

Die Tabus sind längst gebrochen, aber es werden neue errichtet. So beruft man sich heute in vielem auf Pestalozzi und zitiert seine Idee der harmonischen Bildung von Kopf, Herz und Hand, verschweigt aber, dass er z.B. keine Herzensbildung für möglich hielt, die den religiösen Bereich ausklammert. Auch ist es heute nicht ratsam, die egalisierende und vorwiegend an Strukturdiskussionen orientierte Bildungspolitik in der Schweiz als einen Weg nachzuweisen, der von den Pestalozzischen Idealen wegführt.

Pestalozzi zerrte selbst an Tabus …

Natürlich. Letztlich bricht jeder eigenständige Denker fortwährend tabuisierte Bereiche. Ein Beispiel: Schon 1780 – in einer Zeit also, wo z.B. in Zürich und in andern reformierten Städten das moralisch-religiöse Verhalten der Bürger den Sittenmandaten des Stadtrates unterworfen wurde – vertrat Pestalozzi die Ansicht, der Staat habe lediglich durch Erziehung an der Versittlichung des Menschen mitzuwirken, nicht aber bestrafend gegen Unsittlichkeit vorzugehen (z.B. durch Bestrafung des vorehelichen Beischlafs). Ja, er erkannte in dieser Bestrafung die eigentliche Wurzel des damals grassierenden Kindsmords. Das war ein mutiger Stich in ein Wespennest.

Was achten Sie, was verachten Sie allenfalls an Pestalozzi am meisten?

An ihm achte ich alles und verachte ich nichts.

Sie haben sich viel damit beschäftigt, was man von Pestalozzi lernen kann?

Von ihm als Person kann man lernen, in sich zu hören und sich um seine Berufung, um seinen Lebensauftrag zu bemühen.