Johann Heinrich Pestalozzi –
Sein Leben und Werk
Als Stadtzürcher genossen die Pestalozzis Vorrechte, die erst gut 50 Jahre nach Johann Heinrichs Geburt, beim Untergang der Alten Eidgenossenschaft, eingeebnet werden sollten: Ihnen standen alle Schulen und Staatsstellen offen, sie konnten Pfarrer werden und durften unbeschränkt Handel treiben oder einen Industriebetrieb eröffnen. Nicht-Zürchern war dies ganz oder teilweise verwehrt. Trotzdem war Pestalozzis Vater nicht eben erfolgreich. Er arbeitete als Wundarzt und starb früh; Heinrich war gerade fünfjährig. So wuchs denn dieser, wie er später bezeugte, als „Weiber- und Mutterkind“ auf, war „gehütet wie ein Schaf, das nicht ausser den Stall darf“ und „kam nie zu den Knaben seines Alters auf die Gasse, kannte keines ihrer Spiele, keine ihrer Übungen und Geheimnisse.“ Pestalozzi glaubte später, seine Unbeholfenheit in praktischen Dingen wurzelten in dieser Einschränkung seiner Kindheit. Trotzdem: Wesentliche Grunderfahrungen machte er bei seinem Grossvater Andreas Pestalozzi, der in Höngg – damals ein kleines Weinbauerndorf – Pfarrer war. Hier sah er das Elend der entrechteten und verarmten Landbevölkerung und nahm sich vor, dereinst alles zu tun, um „die Quellen des Elends zu stopfen“.
Pestalozzi durchlief alle Schulen, wollte zuerst auch Pfarrer werden, wechselte dann zum Rechtsstudium, brach aber dieses vorzeitig ab und absolvierte als Einundzwanzigjähriger bei einem Musterbauern im bernischen Kirchberg eine landwirtschaftliche Lehre. Dies lag ausserhalb des Üblichen, wird aber verständlich auf dem Hintergrund der damaligen Naturschwärmerei, ausgelöst durch den Philosophen Rousseau. In Zürich hatte nämlich der hervorragende Professor Johann Jakob Bodmer eine Schar begabter und politisch interessierter Studenten um sich versammelt – die ‘Patrioten’ – und diskutierte mit ihnen wöchentlich über antike und zeitgenössische Philosophie und aktuelle politische Ereignisse. Die meisten stiegen nach ihrer aufmüpfischen Phase der Studentenzeit brav ins elterliche Geschäft ein, aber Pestalozzi machte mit seinen Idealen ernst. So schrieb er, trotz rasender Verliebtheit, seiner späteren Gemahlin, der reichen Zuckerbäckerstochter Anna Schulthess, er werde die Pflichten gegenüber Ehefrau und Familie seinen Vaterlandspflichten unterordnen und sich auch durch ihre Tränen nicht von diesem Vorsatz abhalten lassen. Ihm war schon mit 21 Jahren klar: „Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen.“
Als erstes erwarb er auf dem Birrfeld von etwa 60 Bauern mehr oder weniger brach liegendes Weideland, um es durch Düngung und Einführung neuer Gewächse intensiv zu bewirtschaften. Ausserhalb Birr errichtete er einen neuen Sitz, der mehr den Reputationsvorstellungen eines Stadtzürchers als Pestalozzis finanziellen Möglichkeiten entsprach. Sein Geschäftspartner kündigte ihm denn auch vorzeitig das Kapital, es folgten Missernten, Pestalozzi geriet zunehmend in die Klemme, und schon nach wenigen Jahren war er bankrott, und die Familie seiner Frau musste ein erstes Mal einspringen.
Dann stieg er ins Baumwollgeschäft ein. Als Fergger belieferte er die Bauern mit dem Rohstoff und verkaufte die Gespinste und Gewebe. Pestalozzi sah in der Verbindung der Landwirtschaft mit der aufkommenden Textilindustrie eine Möglichkeit, wie sich auch Bauern mit nur kleinem Landbesitz ökonomisch erhalten konnten. Damals wurden für diese Heimarbeit auch die Kinder angestellt. So begann er, herumstreunende Bettelkinder auf dem Neuhof aufzunehmen, ihnen den kleinen Feldbau, das Spinnen und Weben beizubringen und sie gleichzeitig zu schulen und zu erziehen. Diese ‘Armenanstalt’ sollte selbsttragend sein: Kinder, die bereits eine gewisse Gewandtheit in diesen Arbeiten erreicht hatten, sollten noch länger in seinem Hause bleiben und so den Unterhalt für die jüngeren und noch ungeschickteren erbringen. Aber es ging anders: Kaum hatte Pestalozzi eines aufgepäppelt, neu eingekleidet und ihm Spinnen oder Weben beigebracht, wurde es von seinen Eltern wieder geholt und auf deren eigene Rechnung angestellt. Pestalozzi trat an die Öffentlichkeit und bat um Unterstützung. Doch der Schuldenberg wurde grösser, die Familie Schulthess musste wieder aushelfen, und als dann 1779 sein Bruder mit dem Erlös von 20 Jucharten Land auf Nimmerwiedersehen verschwand, brach auch diese zweite Unternehmung zusammen. Seine Frau hatte sich krank gearbeitet, und die rund 40 teilweise verwahrlosten Kinder hatten auf seinen eigenen Buben, Jean Jacques, der 1770 zur Welt gekommen war, auch keinen besonders guten Einfluss ausgeübt.
Damit war das öffentliche Urteil über Pestalozzi gesprochen: unbrauchbar. Nur wenige Freunde blieben ihm, so etwa der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin, der ihm bei den ersten schriftstellerischen Versuchen beistand. Tatsächlich sah Pestalozzi im Moment keine andere Möglichkeit mehr, öffentlich zu wirken, als durch die Schriftstellerei. Sein Erstling, der 1. Teil von ‘Lienhard und Gertrud’, 1781 veröffentlicht, war ein überwältigender Erfolg und machte den Autor weit über die Landesgrenzen und das deutsche Sprachgebiet hinaus berühmt. In den insgesamt vier Bänden (1781 bis 1787) entwickelte er ein gesellschaftliches Modell, das zuerst einmal alle Willkür durch das Recht ersetzte, dann aber das Wohlergehen des Volks auf das sittlich-religiöse Leben der Regierenden und der Regierten gründete.
Die Phase zwischen 1780 und 1798 gilt nicht bloss als die eigentliche Schriftstellerepoche Pestalozzis, sondern auch als die Zeit der grossen Lebenskrise. Pestalozzis Frau weilte oft bei ihrer Freundin, der Gräfin Franziska Romana, auf dem Schloss Hallwil. Der Mann vom Neuhof drohte zu verwahrlosen und wurde zum Gespött der Umgebung, was erklärt, dass er allmählich auch seinen Glauben an den Menschen verlor und sich sein ursprünglich positives Menschenbild verdüsterte. Wie immer in kritischen Situationen, zog er sich auf die Grundfrage zurück: Was ist der Mensch? Im Bemühen, dies umfassend zu beantworten, entstand sein philosophisches Hauptwerk ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’, das er 1797 veröffentlichte. Hier zeigte er auf, weshalb das Erleben des Widerspruchs unlösbar zum Menschen gehört, dass aber die Bemühung, zur Harmonie mit sich selbst zu kommen, dem menschlichen Dasein Sinn und Erfüllung ermöglicht.
Den Umsturz in Frankreich (1789) begrüsste Pestalozzi grundsätzlich, insofern ein Regime des Unrechts und der Willkür beseitigt wurde. Aber er verabscheute auch den Terror. Ohne sein Zutun wurde er als einziger Schweizer – neben andern Berühmtheiten wie Schiller, Washington, Wieland – 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger der Nation erklärt. Indessen blieb Pestalozzi innerlich der aufgeklärten Aristokratie zugetan, und er versuchte mehrere Jahre, eine pädagogisch einflussreiche Stellung am Hof zu Wien zu erlangen. Ihm ging es auch bei allen politischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Schweiz – auch bei seinen Vermittlungsbemühungen zwischen der revolutionär gestimmten Zürcher Landschaft und der Stadtregierung – nicht so sehr um die Demokratie im Sinne der direkten politischen Mitbestimmung des Volks als vielmehr um Beseitigung von Privilegien, um Rechtssicherheit und um eine Rechtssetzung, die sich an den Idealen der Gerechtigkeit und an den Grundgegebenheiten der menschlichen Natur orientierten. Politische Mitbestimmungsmöglichkeit war ihm nicht ein Wert an sich; wesentlich war der Gehalt des Rechts, ganz gleich, wer dieses setzte. Und dieses Recht sollte seiner Ansicht nach ein Leben in Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung ermöglichen.
Die Zeit der Helvetik, begründet durch den Einmarsch der Franzosen im Jahre 1798, war jene politische Phase, in der Pestalozzi durch die Regierung nachhaltig gefördert wurde. Vorerst wurde er zum Redaktor des ‘Helvetischen Volksblattes’ bestellt, einem regierungstreuen Blatt, das dem Volk die neuen Staatsgedanken näherbringen sollte. Bekanntlich verlief der Übergang vom alten Staatenbund zum Einheitsstaat nicht reibungslos, sondern die Innerschweiz, zuletzt noch Nidwalden, weigerten sich, die neue Verfassung zu beschwören. Da der Bestand des Staates selbst bedroht war, hiess Pestalozzi in dieser Situation den Einmarsch der französischen Besatzungstruppen in Nidwalden im voraus gut. Aber er war auch über das Morden und Brennen der Franzosen entsetzt. Die Regierung versuchte sofort zu helfen und übertrug Pestalozzi die Aufgabe, die Waisen in Stans zu sammeln und zu betreuen, keine leichte Aufgabe für den Protestanten Pestalozzi, der als Werkzeug der neuen Ordnung galt.
Für Pestalozzi persönlich war der Stanser Aufenthalt so etwas wie eine zweite Geburt. Endlich konnte er wieder praktisch tätig sein, sich wieder für notleidende Menschen einsetzen, und endlich konnte er die Richtigkeit seiner pädagogischen Ansichten unter Beweis stellen. Unter dem Eindruck seines Erfolgs verjüngte sich seine Kraft, er sah wieder eine Zukunft. Seiner Frau und deren Freundin auf dem Schloss Hallwil schrieb er, er unternehme „eine der grössten Ideen der Zeit“.
Die Kriegsfront zwischen den Alliierten und Frankreich ging 1799 mitten durch die Schweiz, und Heinrich Zschokke, damals Kommissair in Luzern, liess die Stanser Anstaltsräume für ein Militärspital räumen. Für Pestalozzi war es womöglich ein Segen, denn er hatte sich derart heruntergearbeitet, dass er sich zur Erholung ins Gurnigelbad begeben musste. Aber wenn er von dort oben über das weite Land hinuntersah, wurde er nicht von der schönen Aussicht, sondern vom Gedanken überwältigt, wie schlecht das Volk in all den Dörfern gebildet war. So fasste er dann, im Alter von 54 Jahren, endgültig den Entschluss, Schulmeister zu werden.
Dank den guten Beziehungen zu Philipp Albert Stapfer, dem helvetischen Minister für Künste und Wissenschaft, kamen Kontakte mit der Burgdorfer Schulkommission zustande, die ihm die Erprobung seiner neuen didaktischen Einsichten in ihren Schulen gestattete und ihn schliesslich als Lehrer anstellte. Der Erfolg war eklatant, weshalb er nach dem überraschenden Tod des designierten Seminardirektors Fischer oben im Schloss die Lehrerbildung an die Hand nahm, ein privates Institut gründete und dies mit seiner eigenen Schulklasse verschmolz. Pestalozzi fand tüchtige Mitarbeiter, und gemeinsam entdeckten sie unbetretene pädagogische Wege, was dem Institut in kürzester Zeit internationalen Ruf eintrug.
Das Ende der Helvetik nach nur 5 Jahren bedeutete für Pestalozzi eine erneute Katastrophe, denn das wieder weitgehend unabhängige Bern beanspruchte das Schloss für seinen Amtmann und bot das verlotterte Johanniterstift zu Münchenbuchsee als Ersatz. Kurzzeitig verband sich Pestalozzi mit Philip Emanuel von Fellenberg, dem Pädagogen von Hofwil, aber die beiden waren doch zu verschieden, als dass eine Kooperation hätte von Bestand sein können. Eine endgültige Bleibe fand Pestalozzi schliesslich im Schloss Yverdon (1804), das ihm vom jungen Kanton Waadt auf Lebenszeit unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde. Hier entfaltete er eine weitausgreifende pädagogische Tätigkeit, pflegte Beziehungen zu aller Herren Länder und entwickelte gemeinsam mit einer grossen Anzahl von Mitarbeitern seine ‘Idee der Elementarbildung’: grundlegende Gedanken über Bildung und Erziehung, die er in seinem letzten Werk, dem ‘Schwanengesang’, als ‘gereifte Früchte am Baum seines Lebens’ bezeichnete.
Pestalozzis bisheriger Lebensgang war eine lange Folge von Versuch und Scheitern. Alles begann hoffnungsvoll und endete kläglich oder tragisch, so auch in Yverdon. Diesmal waren es die Lehrer, die in ihrem Streit um seine Nachfolge das Institut ruinierten. Pestalozzi hatte sich 1825 mit seinem Mitarbeiter Joseph Schmid und den letzten Zöglingen auf den Neuhof zurückziehen müssen, wo er als Achtzigjähriger mit der Errichtung einer neuen Armenanstalt – dem immerwährenden Traum seines Lebens – begann. Er hatte in seinem Buch ‘Meine Lebensschicksale’ die Yverdoner Ereignisse aus seiner Sicht dargelegt und damit die Partei seiner Gegner unter der Führung von Johannes Niederer, der sich an Pfingsten 1817 öffentlich von ihm losgesagt hatte, herausgefordert. Eine dickleibige Schmähschrift, die ihm im Januar 1827 in die Hände kam, warf ihn auf Krankenlager und schliesslich aufs Todbett, denn bereits am 17. Februar verstarb er unter der Obhut seines Arztes zu Brugg. Die Zeit, sich zu rechtfertigen, war ihm nicht mehr vergönnt.
Pestalozzi hat ein gewaltiges Schriftwerk hinterlassen. In Bälde wird die wissenschaftliche Ausgabe all seiner Schriften und Briefe (inkl. der an ihn gerichteten Briefe) abgeschlossen sein und um die 50 Bände umfassen – eine nährende Quelle für suchende Menschen.