Berufsbildung bei Pestalozzi
Beruf, Stand und Individuallage
Pestalozzi, dessen 250. Geburtstag 1996 weltweit gefeiert wird, hat sich lebenslang mit dem Problem der Berufsbildung befasst, angefangen bei der Schrift Von der Freiheit meiner Vaterstadt (1797) bis hin zum Schwanengesang (1826). Dabei war für ihn die Berufsbildung keinesfalls ein Spezialgebiet, dem er sich als Pädagoge nebenbei auch noch widmete; im Gegenteil: „Berufsbildung“, „Berufselementarbildung“, „Industriebildung“, „Kunstbildung“ sind in seinem Gedankengebäude Grundbegriffe, in denen sich praktisch alle Linien seines Denkens begegnen.
Pestalozzi war ein Denker, der in allem in die Tiefe drang und stets nach dem Zusammenhang des Lebensalltags mit dem eigentlichen Wesen und der Bestimmung des Menschen suchte. So bedeutete ihm denn „Beruf“ etwas wesentlich Umfassenderes als das isolierte Verfügen über spezielles technisches Wissen und Können. Nicht zufällig ist an zahllosen Stellen, wo er sich über Berufsbildung äussert, auch von „Stand“ und von „Standesbildung“, von „Stand und Gewerb“, von „Berufs- und Standesbildung“ die Rede. Stand und Beruf bilden für Pestalozzi eine Einheit und bezeichnen in seiner Sicht des Menschen die je spezifische Weise, wie der Einzelne in das gesellschaftliche Ganze eingefügt ist bzw. sich eingefügt hat und durch seine ihm mögliche Tätigkeit und Arbeit seinen Daseinssinn verwirklicht.
Nun wird Pestalozzis Begriff des Standes allerdings oft missverstanden. Man wirft ihm vor, er wolle mit seinen Vorstellungen der Standesbildung und mit seiner Forderung, der Mensch solle zur Bewährung „in seinem Stand“ befähigt werden, bloss die überlebte ständische Gesellschaft in die Zukunft hinein retten. Aber das ist nicht Pestalozzis Anliegen. Für ihn bedeutet „Stand“ vorerst ganz wörtlich die Stelle, wo ein Mensch steht, wo er sein Leben fristet, wo er demgemäss auch seine Aufgaben zu bewältigen hat. Diese Aufgaben beziehen sich auf Familie, gesellschaftliche und staatliche Mitwirkung sowie den Broterwerb durch die Ausübung eines Berufs. Sodann bezeichnet „Stand“ ein Kollektiv: das Insgesamt jener Menschen, die in etwa gleicher Weise im Leben stehen, ähnliche Verantwortungen tragen und in vergleichbarer Weise ihr Brot verdienen. Der Beruf ist ein spezieller Aspekt des Standes: die Art, wie jemand durch Arbeit sich und seine Familie versorgt und gleichzeitig einen sinnvollen Beitrag ans gesellschaftliche Leben leistet. Dabei ist Pestalozzi überzeugt, dass es zur Würde des Menschen gehört, so weit wie möglich für sich selbst und die Seinen sorgen zu können. So hat denn der Staat die Aufgabe, jene ökonomischen Bedingungen zu begünstigen, die dem einzelnen Bürger die „Selbstsorge“ ermöglichen. Der Ausdruck „Selbstsorge“, der seit 1783 fast das ganze Schrifttum Pestalozzis bis zur Langenthaler Rede (1826) durchzieht, beinhaltet aber immer auch eine Beschränkung auf das tatsächlich Erforderliche und hat nichts mit Egoismus, mit ungehemmtem Schefflertum zu tun. Wie noch zu zeigen sein wird, hat diese existentielle Ausrichtung auch eine sehr bedeutsame pädagogische Komponente.
Nun ist nicht zu übersehen, dass sich Pestalozzi gesellschaftliche Verhältnisse herbeigewünscht hat, von denen wir uns heute immer mehr entfernen: nämlich die existentielle Einheit von Lebensalltag und Broterwerb. Nicht zufällig hat er in seiner Armenanstalt auf dem Neuhof zwischen 1774 und 1780 den Kleinfeldbau mit Heimarbeit (Spinnen und Weben) zu verbinden versucht. In der Sorge um die „nächsten Verhältnisse“ soll nach Pestalozzi menschliches Leben zur wahren Erfüllung kommen. In den nächsten Verhältnissen gilt es einerseits, Probleme des Alltags, der Ernährung und Kleidung, der Gesunderhaltung und Erziehung zu lösen, und andererseits, sich durch kompetente Berufsarbeit den Erwerb für den Lebensunterhalt zu sichern. Daraus erwachsen dem Menschen nicht bloss Aufgaben und Pflichten, sondern auch Glück oder Unglück, Erfüllung oder Bedrängnis, je nachdem, wie er diese Verhältnisse gestaltet oder zu gestalten vermag.
Im Versuch, die Situation des Menschen, der als Angehöriger irgend eines Standes in seinen nächsten Verhältnissen seinen speziellen Beruf ausübt, mit einem einzigen, treffenden Ausdruck zu beschreiben, hat Pestalozzi den Begriff „Individuallage“ geprägt. Durch das Ernstnehmen seiner Individuallage erwachsen dem Menschen einerseits Aufgaben und Pflichten, aber auch Freuden und Glück, andererseits ist eben dieses Ernstnehmen seiner Individuallage die wahre Grundlage für seine Bildung.
Individuallage und Bildung
Um verständlich zu machen, weshalb Individuallage und Bildung eines Menschen aufs engste miteinander verknüpft sein sollten, wenn Bildung „naturgemäss“ und damit fruchtbar werden soll, um also zu verstehen, weshalb Pestalozzi zur lapidaren Feststellung kommt, dass „das Leben bildet“, gilt es zuerst, sein grundlegendes Bildungsverständnis in Kürze zu klären:
Im Hinblick auf die beiden möglichen Lernerträge, nämlich Wissen und Können, steht für Pestalozzi klar das Können im Zentrum. Wissen soll nicht Selbstzweck, losgelöst von wirklichen Lebensbedürfnissen sein, sondern hat das für die Bewältigung des Lebens notwendige Können zu stützen. Erst im Können, im praktischen Bewältigen von Lebensaufgaben erweist sich wahre Gebildetheit. So fragt sich denn, wie der Mensch zum Können kommt. Voraussetzung dafür sind nach Pestalozzi „Kräfte und Anlagen“, die jedem Menschen per Geburt mitgegeben sind. Aufgabe jeder Erziehung – im Elternhaus, in der Schule, durch die Kirche usf. – ist es, diese Kräfte gemäss den Gesetzen der menschlichen Natur zu entfalten. Bildung ist also wesentlich nicht Wissenserwerb, sondern Kräfteentfaltung, und der Mensch erweist sich insofern als gebildet, als er über entwickelte Kräfte verfügt, die er gemäss den täglichen Lebenserfordernissen einzusetzen versteht.
So ist denn zu fragen, durch welche Mittel sich Kräfte entfalten. Für Pestalozzi besteht da kein Zweifel: „Kräfte entfalten sich nur durch deren Gebrauch.“ Bildung findet folglich nur da statt, wo Kräfte gebraucht, d. h. wo geübt, gearbeitet, etwas geleistet wird, wo innere und äussere Widerstände überwunden werden. Und da fragt sich dann, wie der Mensch ganz allgemein – nicht zuletzt im Hinblick auf seine naturgegebene Trägheit – dahin gebracht werden kann, dass er die zur Kräfteentfaltung nötigen Anstrengungen auf sich nimmt. Und hier sieht Pestalozzi die positive Bedeutung der Lebensnot, d. h. der Notwendigkeit, sich anstrengen zu müssen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Nach Pestalozzi wirkt ein System, das dem Menschen die Selbstsorge entweder abnimmt oder verunmöglicht, letztlich im eigentlichen Sinne „verbildend“, da es dem Menschen die Beweggründe nimmt, um Kräfte zu gebrauchen, und damit eben seine Bildung untergräbt. Aus demselben Grund betrachtet Pestalozzi die Armut, solange sie zumutbar ist und nicht in ein Absinken unter das Existenzminimum ausartet, als besonders günstige Voraussetzung für die Kräfteentfaltung und damit für die Menschwerdung, ja er scheut sich nicht davor, in diesem Zusammenhang von „heiliger Armut“ zu sprechen.
Wenn nun aber Pestalozzi seine berühmte und oft missdeutete Forderung erhebt, der Arme müsse zur Armut erzogen werden, so geht es ihm allerdings nicht um die Erhaltung der Armut, denn an sich besitzt sie keinen Wert, sondern darum, dass sie für die Bildung des Menschen fruchtbar wird: Im Bestreben, die Armut durch eigene Kraft zu bewältigen, bilden sich ganz allgemein die Kräfte und Anlagen des Menschen, vorausgesetzt allerdings, dass dies mit Bewusstheit geschieht.
Auch Pestalozzis Forderung nach einer Berufsbildung in den nächsten Verhältnissen darf nicht so gedeutet werden, als wünschte er sich damit, dass die Jungen generell in die Fussstapfen der Eltern treten und einfach deren Handwerk, Betätigung und Geschäft übernehmen sollten. Um diesem Missverständnis nicht zu verfallen, gilt es Pestalozzis Sichtweise zu verstehen, wonach sich in allem Speziellen immer etwas Allgemeines verwirklicht. Wer den Acker bebaut, den Schmiedehammer schwingt, den Webstuhl oder das Spinnrad tritt, tut und erlernt damit nicht bloss dies, sondern erwirbt gleichzeitig vieles und Wesentliches, das berufliche Tätigkeit überhaupt ausmacht. Entscheidend ist allerdings, dass die Erziehung bewusst darauf achtet, dass im Speziellen das Allgemeine erworben wird. Dann wird das Kind, das durch selbstverständliche Mitarbeit in seinen nächsten Verhältnissen seine Kräfte bildet, gleichzeitig, ja sogar vorrangig befähigt, später auf dieser Basis mit einer gewissen Leichtigkeit jene Tätigkeiten zu erlernen, die für seinen nunmehr gewählten Beruf erforderlich sind. Damit ist die frühe Auseinandersetzung mit bestimmten Berufstätigkeiten in den nächsten Verhältnissen, das heisst das Mitarbeiten, wo es Hand anzulegen gibt, immer bloss die spezielle Art, wie das viel Allgemeinere als ein übergreifendes Können ausgebildet wird: nämlich das engagierte Tätigsein, um sich dereinst selbst und die Seinen erhalten zu können und ein sinnvolles Leben zu gestalten. So liesse sich denn bei Pestalozzi – ohne dass er diese Begriffe verwendet hätte – eine spezifische von einer unspezifischen Berufsbildung unterscheiden. In seiner Sichtweise besteht zwischen den beiden eine Wechselwirkung: spezifische Tätigkeiten in jungen Jahren entwickeln beim Kind und Jugendlichen unspezifische Fertigkeiten, und diese sind wiederum die Voraussetzung für das Erlernen und Ausüben eines ganz bestimmten Berufs.
Pestalozzi selbst bezeichnet die unspezifische Berufsbildung, die schon sehr früh, eigentlich von Geburt an einzusetzen hat, oft als „Bildung zur Industrie“, womit natürlich nicht beabsichtigt ist, den jungen Menschen schon früh zum Industrie-Arbeiter auszubilden, sondern eben ihn zur allgemeinen Erwerbstätigkeit, zur Selbstsorge tüchtig zu machen. An zahllosen Stellen zeigt er, was darunter konkret zu verstehen ist: entwickelte physische Kraft, Behendigkeit, geschickte Hände, Fleiss, Ordnungssinn und Sauberkeit, Ausdauer, Sorgfalt, Pünktlichkeit, Bedachtsamkeit, Sparsamkeit, Einsichten in ökonomische Zusammenhänge, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit andern, zur Steigerung des Ertrags durch Einsatz und neue Ideen, die Fähigkeit, seine Gelüste zu Gunsten höherer Ziele zurückzustellen, mithin Selbstüberwindung, Wachheit gegenüber den Eigengesetzlichkeiten von Dingen und Welt, Klugheit im Umgang mit Geld und allen andern Mitteln. Vor allem der mittlere Pestalozzi (so zwischen 1785 und 1792) ist derart von der Wichtigkeit dieser „Bildung zur Industrie“ überzeugt, dass er sich in seiner Begeisterung gar zum Satz versteigt (den er dann später freilich wieder relativiert), „Weisheit in Erwerbung und Anwendung des Geldes“ sei „das Fundament des Menschen“.
Die klassische Dreiheit: Kopf, Herz und Hand
Wenn Pestalozzi die zu entwickelnden Kräfte einteilt in „physische, intellektuelle und sittlich-religiöse“ oder – vereinfachend – von der Bildung von „Kopf, Herz und Hand“ spricht, so dürfte dies zwei Hauptgründe haben: Vorerst klingt in dieser Dreiteilung die klassische Dreischichtung des Menschen an (Leib-Seele-Geist) und ist damit der Mensch in seinen grundlegenden Lebensäusserungen (Fühlen-Denken-Handeln/Wollen) in Blick genommen. Sodann aber hat diese Einteilung für Pestalozzi praktische Gründe: Er sucht nach den Gesetzmässigkeiten, wonach sich die menschlichen Kräfte und Anlagen entfalten, und entdeckt, dass sich alle Kräfte den Grundkräften Kopf, Herz und Hand zuordnen lassen, wobei sich dann diese Kräftegruppen nach je eigenen Gesetzmässigkeiten entfalten.
Wie eingangs erwähnt, sieht Pestalozzi die Berufsbildung eingebettet in sein gesamtes pädagogisches System, weshalb der Frage nachzugehen ist, wie nun eben die Berufsbildung mit der Bildung von Kopf, Herz und Hand zusammenhängt.
Berufsbildung im Zusammenhang mit Bildung der Hand
Pestalozzi spricht an verschiedenen Textstellen von „Geistesbildung, Herzensbildung und Berufsbildung“ oder von „Sittlichkeit, Weisheit und Berufskraft“. Damit wird deutlich, dass er die Berufsbildung dem Bereich der Hand zuweist. Dieser Bereich ist in seiner Theorie allerdings vieldeutig und randlos. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er mit der Frage ringt, wie sich die Entfaltung und Anwendung der Kräfte zueinander verhalten. Dabei erkennt er, dass zwar die Entfaltung die logische Voraussetzung für die Anwendung ist, dass sich aber – psychologisch gesehen – die Kräfte eben durch deren Anwendung entfalten. Nun sind aber alle Kräfte, auch intellektuelle, die angewendet werden, ein Können, in Pestalozzis Ausdrucksweise „Kunst“ oder eben „Beruf“, weshalb dann in der Formel „Geist, Herz und Kunst“ der letzte (mit „Hand“ gleichzusetzende) Bereich sehr diffus bleibt und – je nach Zusammenhang – Unterschiedliches bedeuten kann: Körperkräfte, körperliche Gewandtheit, handwerkliche Geschicklichkeit, Kunst (im Sinne von Können oder Fertigkeit), Anwendung von irgendwelchen Kräften im Beruf, ja sogar Handeln in der Gesellschaft ganz allgemein.
Im Hinblick auf diese Bedeutungsvielfalt von „Hand“ und die Tatsache, dass Pestalozzi die Berufsbildung diesem Bereich zuordnet, kann diese wohl am ehesten als „Erwerb von Fertigkeiten“ verstanden werden, obwohl sie sich natürlich (und Pestalozzi würde dem auch zustimmen) nicht darin erschöpft. Deshalb mag es interessieren, welche Gesetzmässigkeit Pestalozzi dabei als naturgemäss erkennt. Er sieht einen vierstufigen Bildungsgang: Erstens muss sich der Lernende den richtigen Bewegungsablauf bzw. Arbeitsvorgang intellektuell vergegenwärtigen. Nur das volle Bewusstsein, worauf es ankommt, garantiert den Erfolg. Im andern Fall wird Unrichtiges eingeübt. Sodann geht es einfach darum, dass der Lernende die Technik probiert und die entsprechenden Bewegungen einübt. Zwischen dieser zweiten und der folgenden Stufe besteht bloss ein gradueller Unterschied, geht es doch nunmehr um Perfektionierung, Verfeinerung, Behendigkeit. Die letzte Stufe bezeichnet Pestalozzi als „Freiheit und Selbständigkeit“: Wenn die gesellschaftlich überlieferten Techniken erworben sind, kann der nunmehr Kompetente diese weiterentwickeln und kreativ anwenden.
Berufsbildung und Sittlichkeit
Zentral für Pestalozzis Denken sind zwei Konzepte des Menschen: das anthropologische, das ihn eingespannt sieht in die Wechselbeziehungen und Widersprüche zwischen Naturzustand, gesellschaftlichem und sittlichem Zustand, und das psychologische, das ihn als Individuum begreift, in welchem die Kräfte des Kopfs, der Hand und des Herzens in Harmonie stehen sollen. Die beiden Konzepte sind durch die Idee verknüpft, dass menschliche Existenz ausschliesslich durch die Verwirklichung der individuellen Sittlichkeit zur Erfüllung kommt: Leben im sittlichen Zustand ist identisch mit der Vorherrschaft der sittlich-religiösen Kräfte (Herzenskräfte) über jene des Kopfs und der Hand. So darf denn die Berufsbildung, verstanden als Befähigung für einen Broterwerb, nicht als letzter Zweck gesehen werden, sondern hat wie die intellektuelle Bildung der Sittlichkeit zu dienen.
Es ist nun also zu fragen, was konkret unter sittlicher Berufsausübung zu verstehen ist. Vorerst ist dies der bewusste Verzicht auf unsaubere Mittel der Bereicherung und auf rücksichtsloses Verhalten gegenüber andern. Sodann gehören dazu die Motive der Berufsausübung. Für Pestalozzi kommen besonders deren zwei in Betracht: Man nimmt die Mühsal der Berufsausübung auf sich, um niemandem zur Last fallen zu müssen bzw. seine Familie ernähren zu können, und/oder man sieht in seiner eigenen Berufsarbeit einen Beitrag an notwendige gesellschaftliche Prozesse. Heute steht bei vielen das Motiv der Selbstverwirklichung im Vordergrund, aber zu Pestalozzis Zeiten war ein solcher Anspruch ein Luxus, der für das breite Volk kaum zur Diskussion stand. Im übrigen bedeutet für Pestalozzi „Selbstverwirklichung“ „Werk seiner selbst“ sein, und dies ist identisch mit Sittlichkeit. Diese ist aber dadurch charakterisiert, dass auf egoistische Wünsche verzichtet wird. Das heisst indessen auch wieder nicht, dass nach Pestalozzi ein Mensch keinen Spass an seiner Berufsausübung haben soll, aber für ihn ist das dann eben Naturzustand und nicht Sittlichkeit. Pestalozzi weiss sehr wohl, dass der Mensch nicht rein sittlich leben kann, aber er ist auch überzeugt, dass man nur dann wahre Erfüllung seiner Existenz erfährt, wenn allem Handeln immer auch tragende sittliche Motive zu Grunde liegen.
Pestalozzi heute?
Womöglich enthalten Pestalozzis Anschauungen auch brauchbare Impulse für die Lösung gegenwärtiger Probleme. Vorab vermag wohl seine grundsätzlich positive Einschätzung der Arbeit im Hinblick auf die Menschwerdung Anlass zur Besinnung sein. In der heutigen Tendenz, die Arbeitszeit weiter zu verkürzen, äussert sich – ohne dass dies ausgesprochen würde – eine grundsätzlich negative Wertung der Arbeit an sich: Sie ist lästig, ein unerfreuliches Mittel zum Zweck. Dass Arbeit Anstrengung bedeutet und nicht immer ein Honigschlecken sein kann, wusste natürlich Pestalozzi sehr genau. Aber ihm war auch klar, dass ohne Anstrengung und den durch die Lebensnot geschaffenen Zwang zur Anstrengung die menschlichen Kräfte verkümmern. Deshalb verlangte er, die Kinder schon früh an das Unangenehme der Arbeit zu gewöhnen. Insofern war für ihn die Arbeit eine natürliche Form notwendiger Disziplinierung. Diese war ihm indessen nicht Selbstzweck sondern stand im Dienste der „Sittlichkeit“ des Menschen, welche auf seiner Fähigkeit beruht, den eigenen Egoismus zu besiegen, das heisst: sich zu überwinden. Die Bildung von „Überwindungskräften“ durch das Arbeiten in jungen Jahren ist also die nötige Voraussetzung, damit ein Mensch als Erwachsener überhaupt sittlich handeln kann. Im Hinblick auf das nicht so seltene Abgleiten heutiger untätiger Jugendlicher in Drogenkonsum und Delinquenz scheint es jedenfalls ratsam, sich diesen Zusammenhang zwischen der frühen Angewöhnung ans Arbeiten und der Möglichkeit einer sittlichen Lebensgestaltung wieder bewusst zu machen.
Des weiteren war für Pestalozzi die Arbeit – und zwar nicht die reine Kopf- sondern die Handarbeit – das beste Mittel, um auch die intellektuellen Kräfte zu schulen. So schreibt er in seinem Mémoire über Armenversorgung (1807): „Der Mensch schaut auf Erden nichts so fest und ruhig an, als was er in die Hand nehmen und bearbeiten muss. Ebenso wird seine Seele durch nichts so sehr in Zusammensetzen, Trennen und Vergleichen der Gegenstände geübt als dadurch; folglich ist die Arbeit das erste und beste, das von Gott selbst dem Menschen gegebene Fundament der Begründung seiner Geistestätigkeit und richtigen Entfaltung seiner logischen Kräfte, die in seiner Natur liegen.“ Tatsächlich kann man immer wieder bestätigt sehen, wie Menschen, die ihre handwerkliche Arbeit mit Geschick zu bewältigen verstehen, mit Logik und Besonnenheit an alle möglichen Problemlösungen herangehen und auch abstrakte Denkvollzüge auf der Basis von handwerklichen Grunderfahrungen meistern können. Im Hinblick auf eine solche Erkenntnis würde es sich jedenfalls rechtfertigen, der wirklichen handwerklichen Schulung und Tätigkeit (was mehr ist, als unverbindliches Basteln) in der Volksschule vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken und jenen Bestrebungen mit einer gewissen Skepsis zu begegnen, welche die in der Schweiz bewährte handwerkliche Berufslehre von Handarbeit „entlasten“ wollen.
Wie man sieht, erkannte Pestalozzi in der Arbeit das beste Mittel, um alle drei Kräfte – Herz, Kopf und Hand – in Übereinstimmung und in Harmonie zur Entfaltung zu bringen. Insofern ist die Jugendarbeitslosigkeit ein grosses Problem, und Pestalozzis Einsichten vermögen jene politischen Impulse zu untermauern, die konsequent auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für Jugendliche abzielen.
Schliesslich mag auch Pestalozzis Vorstellung einer unspezifischen Berufsbildung, welche aller spezifischen vorauszugehen hat, zur Überprüfung der heutigen pädagogischen Situation Anlass geben. Nach Pestalozzi gibt es Grundhaltungen und Grundfertigkeiten, die in jedem Beruf zum Tragen kommen und deren Fehlen als verminderte Berufseignung wahrgenommen wird. Nicht zufällig stören sich Lehrmeister oft daran, dass viele Schüler (auch Lehrer und Eltern) keine hinreichenden Vorstellungen mehr haben von der für eine erfolgreiche Berufstätigkeit erforderlichen Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Flinkheit, Sorgfalt, Genauigkeit usf. Pestalozzi ruft uns wieder in Erinnerung, dass Eltern und Lehrer der jungen Generation einen schlechten Dienst erweisen, wenn sie die Entwicklung solcher Grundhaltungen und Fertigkeiten in der Bildung und Erziehung vernachlässigen.