Gedanken zu Pestalozzis Anschauungsbegriff
Sprache ohne Anschauung ist nicht denkbar,
Anschauung in der Natur ohne Sprache nicht fruchtbar,
und Anschauung und Sprache ohne Liebe
führt in der Natur nicht zu dem,
was die Ausbildung unseres Geschlechts menschlich macht.“
(Werke 16, S. 331)
Welch radikale Umkehr Pestalozzi angesichts der damaligen pädagogischen Situation in Familie und Schule forderte und in seinen eigenen Erziehungsunternehmungen vollzog, zeigt sich besonders eindrücklich in einer Szene, die sich 1799 in der Hintersassenschule des Schuhmachers Samuel Dysli in Burgdorf abspielte: Während dieser seine Schüler ‚Siegfrieds Anfänge der christlichen Lehre‘, den ‚Heidelberger Katechismus‘, das ‚Psalmenbuch‘ und Gellerts ‚Geistliche Lieder‘, also lauter für die Kinder schwer oder nicht verständliche Texte, auswendig lernen liess, führte Pestalozzi in einer andern Ecke desselben Zimmers seine Kinder an die Wand, liess sie diese betrachten und betasten und die Sätze sprechen: „lch sehe ein Loch in der Tapete. Ich sehe ein langes Loch in der Tapete. Hinter dem Loche sehe ich die Mauer. Hinter dem langen, schmalen Loche sehe ich die Mauer“ (Widmer, S. 61). Dem 53jährigen Pestalozzi war nämlich auf Empfehlung des Helvetischen Direktoriums gestattet worden, als Winkelschulmeister seine pädagogischen Einsichten an den Hintersassenkindern auszuprobieren. Dem Schuster Dysli blieb der tiefere Sinn dieser simpeln Übungen freilich verborgen. Für Pestalozzi indessen waren sie die fundamentale praktische Konsequenz aus jahrzehntelangem Beobachten und Nachdenken über den Weg, den die Natur einschlägt, um den Menschen zu wahrer Erkenntnis und zu sinnerfülltem Sprechen zu führen. Dabei bildete sich in ihm die unumstössliche Gewissheit aus, dass die Anschauung „das absolute Fundament aller Erkenntnis“ (u. a. 13, 305) sei.
Denken, Erkennen, Urteilen sind zwar – für sich genommen – rein geistige Prozesse, aber sie beruhen auf der organischen Sinnestätigkeit des Menschen, die durch verschiedene physikalische Gesetzmässigkeiten mitbedingt ist. Die Wechselwirkungen zwischen Materie und Geist, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Entwickeltem und sich Entwickelndem werfen eine ganze Reihe theoretischer Probleme auf, denen sich Pestalozzi um und nach 1800 stellte, die aber hier nicht weiter erörtert werden sollen. Der vorliegende Aufsatz zielt vielmehr auf die Praxis ab und geht der Frage nach, inwieweit Pestalozzis Sichtweise für die heutige Schulwirklichkeit wegleitend sein kann.
1. Kein Sprechen ohne tragende Begriffe
Lebenslang hat Pestalozzi gegen das ‚Maulbrauchen‘ gekämpft. Er verstand darunter jegliches Sprechen, das nicht durch deutliche Begriffe getragen und nicht von Wahrheit und Erfahrung erfüllt ist. Er hielt die Schulen seiner Zeit insofern als verbildend, als sie das Kind vor dem Lesen und Schreiben nicht sprechen lehrten. Er legte daher, als ihm praktische Schularbeit ermöglicht wurde, auch sofort alle Bücher weg und führte die Kinder hin zu den Dingen. Die Schüler sollten zuerst tragfähige, von klaren Vorstellungen geprägte Begriffe erwerben. Das in den Schulen verbreitete und nicht auf Anschauung gründende Schwatzen über alles und jedes nannte er ‚Lirilariwesen‘. Er verstand darunter „alles, was den Kindern so eine Art gibt, mit dem Maul ein Weit und Breites über die Sachen zu machen, hinter denen für sie nichts steckt und die sie nicht verstehen und nicht im Herzen tragen, mit denen man ihnen aber doch die Einbildungskraft und das Gedächtnis so anfüllt, dass das rechte Alltagshirn und der Brauchverstand im menschlichen Leben dadurch zugrunde geht“ (6, 116 f.). Pestalozzi hielt das ‚Lirilariwesen‘ somit nicht nur für unnütz, sondern für schädlich. „Wo Wörter und Urteile dem Überlegen und Anschauen voreilen, da ist denn Überlegen und unbefangen Anschauen doppelt schwer“ (Br. 3, 142), lesen wir schon 1782 in einem seiner Briefe an den Hauslehrer Petersen.
Tun wir einen Blick in unsere heutigen Schulen, so dürfen wir sicher feststellen, dass Pestalozzis Anliegen von vielen Lehrkräften ernst genommen wird. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass viele Lehrbuchautoren in ihrem Bemühen, die Komplexität unserer Welt den Schülern durchschaubar zu machen, deren Verständnishorizont nicht selten überschreiten. Damit vermitteln sie Halbwissen und leisten der Maulbraucherei Vorschub.
2. Hin zu den Dingen mit allen Sinnen
Die Lehrmittelindustrie stellt der Schule eine Fülle von Materialien zur Verfügung, um die Realität abzubilden und zu erhellen. Pestalozzi würde sich bestimmt über vieles, aber nicht über alles gefreut haben. Sein primäres Anliegen war es, dass die Schüler mit den Dingen selbst konfrontiert werden. Bilder und Modelle können zwar hilfreich, gelegentlich unentbehrlich sein, aber ein vollgültiger Ersatz für die Wirklichkeit sind sie nicht. Ihre Verwendung ist insbesondere dort widersinnig, wo die lebendige Begegnung mit dem Gegenstand selbst möglich wäre. Die Vorteile der realen Anschauung gegenüber der künstlichen Veranschaulichung liegen auf der Hand: Erstens können wir einen Gegenstand – zum Beispiel eine Pflanze – als dreidimensionales und lebendiges Wesen erfahren, es also von allen Seiten und in seinem lebendigen Bezug zur Umwelt beobachten; zweitens lassen sich alle Sinne einsetzen – Gesicht, Geruch, Geschmack, Tastsinn, ja selbst das Gehör (etwa bei einem ‚Rührmichnichtan‘) –; und drittens erschliessen sich uns, wenn wir näher herantreten und immer tiefer ins Detail dringen (zum Beispiel mit der Lupe oder dem Mikroskop), stets neue und überraschende Welten, ganz im Gegensatz zu einem Bild, wo wir durch extreme Annäherung das Abgebildete verlieren und zur Struktur des Papiers oder der Mattscheibe vorstossen.
Pestalozzi legte grossen Wert darauf, dass möglichst alle Sinne am Erkenntnisprozess beteiligt sind, denn „durch je mehrere Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über dieselbe“ (13, 250). Es ging ihm also nicht um eine methodische Spielerei, etwa um den Unterricht zu versüssen, sondern um die Möglichkeit, zur Wahrheit vorzudringen.
Wollen wir Pestalozzis Forderung ernst nehmen, so gilt es, vom leider verbreiteten Papierunterricht wegzukommen. Das geht freilich nur, wenn dem Lehrer die Freiheit zugestanden wird, das Schulzimmer als einen lebendigen Erfahrungsraum zu gestalten und dieses auch nach Bedarf mit seinen Schülern zu verlassen. Ferner müssen wir jeder Stoffhuberei entsagen. Es war nämlich auch Pestalozzi klar, dass die intensive sinnliche Erfahrung eines Sachverhalts Zeit braucht, Zeit nämlich zum Verweilen. Die gängige Aufsplitterung der Unterrichtszeit in 45–Minuten–Lektionen verhindert dieses Verweilen in hohem Masse. Und schliesslich muss es dem Lehrer selbst ein Anliegen, ja ein Bedürfnis sein, seine eigene Welt in der direkten sinnlichen Auseinandersetzung zu erfahren und zu durchdringen, denn seine Art, auf die Dinge einzugehen, überträgt sich auf die Schüler.
3. Verbindung von Anschauung und Sprache
Pestalozzi nennt „das blosse vor den Sinnen Stehen der äussern Gegenstände und die blosse Regmachung des Bewusstseins ihres Eindrucks“ (13, 281 ) ‚verwirrte‘ oder ‚dunkle‘ Anschauung. Sinnliche Begegnung mit einem Gegenstand bleibt in der Tat ein blosses Anstarren, wenn der Eindruck nicht zugleich sprachlich bewältigt wird. Solange das Kind blosse Sinneseindrücke empfängt, unterscheidet es sich hinsichtlich seiner Wahrnehmung nicht wesentlich vom Tier. Diese ‚tierische Ansicht‘ der Welt wird erst dann zu einer ‚menschlichen Ansicht‘, wenn die Eindrücke getrennt, geordnet, miteinander in Beziehung gesetzt und durch die sprachliche Benennung ins menschliche Bewusstsein gehoben werden. In dieser menschlichen Anschauung sind die einzelnen Sinneseindrücke die Grundlage für die Bildung tragfähiger Begriffe.
Nun wird aber die Sprache nicht von der Sache, sondern ausschliesslich vom Mitmenschen vermittelt. Die geistige Entwicklung des Kindes ist daher ohne Mithilfe der Erzieher undenkbar. Diese sind im eigentlichen Sinne Mittler zwischen dem Kind und der Welt. Natürlicherweise fällt diese Mittlerrolle zuerst den Eltern, nach Pestalozzis Ansicht vorab der Mutter zu. Lassen wir ihn selbst zu Worte kommen; seine Sätze machen deutlich, worin der Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Ansicht der Welt liegt:
„Mutter, Mittlerin zwischen deinem Kind und der Welt! Mutter! Durch die bis jetzt einseitig gebliebene sinnliche Besorgung deines Kindes und während derselben hat dein Kind durch alle fünf Sinne zahllose Eindrücke gefasst, die jetzt zum Teil in ihm liegen, wie sie in jedem andern Tier liegen. Du, Mutter, musst jetzt diese sinnlichen, tierischen Eindrücke in ihm alle zu menschlichen Eindrücken umwandeln. Du musst das, was es noch tierisch sieht, ihns menschlich sehen, das, was es noch tierisch geniesst und tierisch leidet, menschlich fühlen, menschlich geniessen, menschlich leiden lehren.
Mutter, die tierischen Sacheindrücke, die durch seine Sinne in dein Kind hineingekommen (sind), liegen verwirrt, ungeregelt und dunkel in demselben. Was es in seiner Vorstellung voneinander trennen sollte, das liegt ungetrennt. Dein Bett und die Wand, an der dein Bett steht, liegt ihm als ein und ebendasselbe Bild in seiner Seele. Es kann den Baum nicht einmal von der Erde trennen, in der er steht, und sein Bild ist ihm in der Unerfahrenheit seiner ungereiften tierischen Ansicht nur ein Ganzes. Baum ist ihm nur Baum. Die Ansicht desselben in seinen Teilen, die Ansicht desselben als Wurzel, Stamm, Ast, Zweig, Rinde, Holzmark, hinwieder die Ansicht desselben als sprossender Keim, als wachsendes Bäumchen, als junger Baum, als alternder Baum, als gesunder, als belaubter, als blühender, als fruchttragender, als entlaubter, als kranker, als serbelnder, als verdorrter Baum, hinwieder dass das Ganze ‚Baum‘ heisst, dass die Worte ‚Wurzel, Stamm, Ast, Zweig, Blatt, Rinde, Splint, Holzmark‘ Teile des Baumes bezeichnen, Namen von Teilen des Baums, ferner dass ‚belaubt sein‘, ‚in der Blüte stehen‘, ‚entlaubt sein‘, ‚verdorrt sein‘ Wörter sind, die Beschaffenheiten des Baums bezeichnen, diese menschliche Ansicht des Baums hat dein Kind nicht. Ferner dass ‚beschattet werden‘, ‚vor Regen geschützt, genährt, getränkt, vergiftet werden‘ Wörter sind, die die Wirkung des Baums bezeichnen, diese menschliche Ansicht des Baums hat dein Kind nicht. Noch weniger denkt es sich den Zusammenhang seiner Nahrung, seines Tranks, des Schattens, des Schutzes, den es vom Baum geniesst, noch weniger des Ekels, den ihm einige Baumfrüchte erregen, noch des Vergifts, den es von einem andern gefahrt, mit dem ganzen Wohl und Weh seiner Tage, mit seiner Ruhe, seinen Freuden und seinen Gefahren – diese menschliche Ansicht des Baums hat dein Kind nicht, diese Erfahrungsansicht des Baums hat dein Kind nicht… Mutter, die tierische Ansicht aller Dinge ist die ursprüngliche Ansicht deines Kindes, aber in ihr liegt der Keim aller menschlichen Ansicht, und du entscheidest, ob die tierische Ansicht derselben sich in ihm verhärten oder ob sie früh und sanft und rein in eine menschliche hinübergehen soll. Mutter, erkenne deine Stellung gegen dein Kind! Du kannst die sinnliche Entfaltung der tierischen Ansicht aller Dinge bei deinem Kind leiten, stärken und vergeschwindern, wie die Natur ohne dein Zutun diese Ansicht nicht leiten, nicht stärken und nicht befördern wird, und indem du das tust, entfaltest du in ihm die menschliche Ansicht eben der Dinge, die die Natur ihm tierisch vor die Sinne bringt.
Die Mittel zu diesem Zwecke sind deine Sprache und deine Liebe. Jeder Sinneneindruck, mit dem sich der Eindruck deiner Liebe vermischt, wird ein menschlicher Eindruck, jeder Sinneneindruck, der durch die Sprache bestimmt wird, ist ein menschlicher Eindruck“ (16, 270f., 328).
Die Schule hat nun nach Pestalozzi die Aufgabe, auszudifferenzieren und weiterzuführen, was in der Wohnstube grundgelegt wurde. Wir Lehrer helfen dem Kind somit bei der Entfaltung seiner geistigen Anlagen und Kräfte in dem Masse, als wir uns gemeinsam mit ihm auf eine Sache einlassen und es durch die Sprache an unserm Weltbezug teilnehmen lassen. Aus dieser Gesetzmässigkeit erwächst uns erstens die Verpflichtung, unsern eigenen Weltbezug immer weiter zu differenzieren und unsere sprachlichen Mittel zu verfeinern, und zweitens der Auftrag, Sach- und Sprachunterricht aufs engste miteinander zu verbinden. Pflegen wir nämlich einen Sachunterricht, ohne den Schülern genügend Zeit einzuräumen, um das sinnlich Wahrgenommene immer auch sprachlich zu bewältigen, so ertrinken sie in unverarbeiteten Sinneseindrücken. Und ein Sprachunterricht, losgelöst von einem sachlichen Interesse, ist stets in der Gefahr, ins Lirilariwesen abzugleiten.
4. Erfassen des Wesentlichen
Pestalozzi erkennt, dass uns die Welt an sich „als ein ineinander fliessendes Meer verwirrter Anschauungen vor Augen“ liegt (13, 254). Sie ist ein Chaos voller Ungereimtheiten und Zufälle, solange wir sie nicht in der Tätigkeit unseres Geistes strukturieren und begrifflich erfassen. Das Problem besteht nun darin, dass das Kind ja all die Begriffe, deren es zum Erfassen der Welt bedarf, erst in der Auseinandersetzung mit eben dieser Welt erwirbt. Daher braucht es bei der Begriffsbildung die Mithilfe der Erzieher. Wie unter Punkt 3 bereits dargelegt, besteht diese Hilfe u. a. darin, dass das lernende Kind vom Erzieher die auf einen Sachverhalt zutreffenden Ausdrücke vermittelt bekommt.
Nun ist aber kein sinnlich erfahrbarer Sachverhalt frei von Zufälligkeiten. Die Gefahr, dass das Kind das Wandelbare, Veränderliche als das Wesen der Sache ansieht und mit dem vermittelten sprachlichen Ausdruck versieht, ist daher latent gegeben. Versuchen wir beispielsweise unsern Schülern die Kenntnis der einheimischen Bäume und Sträucher zu vermitteln, so kann es leicht geschehen, dass sich einige die Artbezeichnungen aufgrund zufälliger Merkmale wie Blattgrösse, Farbtönung, Frassspuren usf. merken. In diesem Falle ereignet sich keine wirkliche Bildung, denn „alle Dinge, die meine Sinne berühren, sind für mich nur insoweit Mittel, zu richtigen Einsichten zu gelangen, als ihre Erscheinungen mir ihr unwandelbares, unveränderliches Wesen vorzüglich vor ihrem wandelbaren Wechselzustand oder ihrer Beschaffenheit in die Sinne fallen machen. – Sie sind umgekehrt für mich insoweit Quellen des Irrtums und der Täuschung, als ihre Erscheinungen mir ihre zufälligen Beschaffenheiten vorzüglich vor ihrem Wesen in die Sinne fallen machen“ (13, 249). Eine wichtige Aufgabe des Lehrers bei der Begriffsbildung besteht daher auch darin, das Wesen einer Sache zu verdeutlichen. Das geschieht zumeist mit Hilfe der Sprache. Ein guter Anschauungsunterricht setzt den Schülern nicht einfach möglichst viele Dinge vor die Sinne, so dass sie durch die Überfülle in Verwirrung geraten. Es geht vielmehr darum, sich auf Wichtiges und das geistige Leben Befruchtendes zu konzentrieren und dann das Wesentliche deutlich herauszustellen. So warnt z. B. Pestalozzi davor, etwa in der Pflanzenkunde ohne besondere Vorkehren ins Freie zu gehen:
„Um das Kind auf die zuverlässigste Art zur richtigen und vollendeten Kenntnis eines Baums oder einer Pflanze hinzuführen, ist es bei weitem nicht die beste Art, dass du dasselbe ohne weitere Sorgfalt in den Wald oder auf die Wiese hinausgehen lässest, wo Bäume und Pflanzen aller Art durcheinander wachsen. Weder Bäume noch Kräuter kommen hier auf eine Weise vor seine Augen, die geschickt ist, das Wesen einer jeden Gattung derselben anschaulich zu machen und durch den ersten Eindruck des Gegenstandes zur allgemeinen Kenntnis des Fachs vorzubereiten“ (13, 475 u. 324).
So handelt z. B. ein Lehrer durchaus im Sinne Pestalozzis, der etwa bei der Behandlung der Eiche zuerst einige Eichenzweige, Eicheln und Eichenhölzer ins Schulzimmer bringt, sie durch die Schüler sinnlich erfahren und sprachlich benennen lässt, dann von der heiligen Eiche und den früher auch bei uns heimischen Eichenhainen erzählt und schliesslich die Eichen am Waldrand aufsucht, wo die Schüler allenfalls ihre Kletterkünste an jungen Eichen beweisen können. Dabei kann das Wesen der Eiche um so deutlicher erfasst werden, je mehr es dem Lehrer gelingt, durch begeisterndes Erzählen ein tiefes Erlebnis zu vermitteln. Nach Pestalozzi ist ‚das Wesen einer Sache erfassen‘ gleichbedeutend mit ‚einen deutlichen Begriff davon haben‘. Die deutlichen Begriffe aber beruhen immer auf Eindrücken, die über die in der konkreten Anschauung des Gegenstandes möglichen sinnlichen Erfahrungen hinausgehen. Das beste Mittel zur Erzeugung jener notwendigen Eindrücke ist die bildhafte, lebendige, anschauliche Erzählung des Lehrers. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, einer packenden Erzählung lauschende Schüler seien passiv. Innere, geistige Aktivität ist so wichtig und vielleicht wichtiger als äusserlich sichtbare Bewegung. Wir müssen uns davor hüten, Aktivismus mit Aktivität, Betriebsamkeit mit Selbsttätigkeit zu verwechseln.
5. Das Urteil hinausschieben
Da das Urteil als die höchste Leistung des ‚Kopfes‘ auf der Anschauung beruht, ist es verständlich, dass sich Pestalozzi dagegen wendet, wenn man das Kind zu früh zum Urteilen provoziert. So sagte er seinen Mitarbeitern, er „sei gar nicht dafür, das Urteil der Kinder über irgendeinen Gegenstand vor der Zeit scheinreif zu machen, sondern vielmehr dasselbe solange als möglich zurückzuhalten, bis sie jeden Gegenstand, über den sie sich äussern sollten, von allen Seiten ins Auge gefasst und mit den Worten, die das Wesen und die Eigenschaften derselben bezeichnen, unbedingt bekannt seien“ (13, 217). Nach seiner Überzeugung muss das Urteil wie von selbst „als ein Resultat einer in allen Teilen vollendeten Anschauung des zu beurteilenden Gegenstandes“ (13, 246) „so reif und vollendet herausfallen, als der gereifte Kern vollendet, frei und gewaltlos von selbst aus der Schale herausfällt“ (13, 206).
Ohne verallgemeinern zu wollen, scheint mir doch eine gewisse Tendenz unserer Schule unverkennbar: die Kinder daran zu gewöhnen, „sich über Dinge zu prononcieren, die sie nur oberflächlich kennen“ (13, 206). Erziehung zur Kritikfähigkeit ist gewiss ein achtenswertes Ziel, aber es ist gerade nicht dadurch zu erreichen, dass man die Kritiklust der Schüler anstachelt, sondern dass man ihrem Unterscheidungsvermögen durch ‚Realerfahrung‘, also durch Anschauung des wirklichen Sachverhaltes in seiner ganzen Komplexität, eine Grundlage gibt. Wir verraten unsere Aufgabe als Erzieher, wenn wir es nicht mehr wagen, vorschnelles und nicht in Sachkenntnis begründetes Urteilen der Schüler zurückzuweisen. Der heranwachsende Mensch braucht nicht einen Erzieher, der ihm in allem und jedem Beifall klatscht, sondern einen, der auch in Frage stellt, Massstäbe setzt und ihm mit einem Anspruch entgegentritt. Dass dies mit Liebe und Verständnis geschehen soll, ist wohl selbstverständlich.
6. Den ganzen Menschen ergreifen
Das zentrale pädagogische Anliegen Pestalozzis ist bekanntlich die harmonische Entfaltung der Kräfte des Kopfes, des Herzens und der Hand. Im Hinblick darauf ist eine Tätigkeit um so bildender, je mehr Kräfte des Menschen durch sie in Anspruch genommen werden. Das bedeutet für die Schulpraxis, dass wir bei der Anschauung nicht nur auf saubere sprachliche Bewältigung und gedankliche Durchdringung achten, sondern unsern Bezug zum Gegenstand den Schülern so darleben, dass in ihnen sittliche (moralische, soziale) und ästhetische Gefühle geweckt und entfaltet werden. Darüber hinaus gilt es, den Gegenstand so weit wie möglich auch in einer handelnden Auseinandersetzung zu erfahren. Diese allseitige Begegnung mit der Sache, die den Menschen ‚in Kopf, Herz und Hand ergreift‘, nennen wir Erleben. Nachhaltige Bildung geschieht also dann, wenn den Schülern das Anschauen zum Erlebnis wird. Anschauen ist nach Pestalozzi eben kein passives Sich–beeindrucken–Lassen, sondern höchste geistige Aktivität. Das geistige Leben entsteht nicht erst durch die Sinneseindrücke, sondern ist durch die geistige Natur des Menschen ursprünglich gegeben und wird durch die lebendige Auseinandersetzung mit äusserlich und innerlich Erfahrenem in Bewegung gehalten. Anschauung ist daher letztlich identisch mit geistigem Leben. So verstehen wir auch Pestalozzis Satz: „Das Leben bildet“ (6,471). Es geht wesentlich nicht darum, gelegentlich Anschauungen zu haben, sondern in der Anschauung zu sein.
Die Vertiefung in diese Zusammenhänge ist heute besonders dringend, in einer Zeit, wo viele allen Ernstes glauben, schulische Bildung bedeute eine auf fix formulierten Zielen beruhende Informationsvermittlung mit möglichst rasch folgender Erfolgskontrolle. Vorgeplante Lernziele, Informationen und Lernkontrollen haben im Unterricht gewiss ihren Stellenwert, aber sie dürfen sich im Lernprozess nie derart in den Vordergrund drängen, dass der Sinn für das Wichtige, für das gemeinsame geistige Leben, für die gemeinschaftliche Begegnung in der Anschauung verloren geht.
7. Innere Anschauung
Wie bereits erwähnt, besteht der zentrale Auftrag der Erziehung in der Bildung von Kräften. Diese entfalten sich in der Auseinandersetzung mit einem Stoff, was gleichbedeutend ist mit Anschauung. Folglich lebe ich als Mensch „in so vielen Arten von Anschauung, als ich Seelenkräfte habe“ (13, 282). Bekanntlich teilt Pestalozzi die Kräfte ein in einen intellektuellen (Kopf), einen sittlichen (Herz) und einen physischen (Hand) Bereich. Die Kräfte des Kopfs ermöglichen dem Menschen das verstandesmässige Erfassen der Welt. Insoweit dies auf der Tätigkeit unserer fünf Sinne beruht, handelt es sich um die äussere Anschauung. Ihr Stoff sind die sinnlich erfassbaren Sachverhalte.
Nun sind wir aber als sittliche Wesen aufgefordert, das in der äusseren Anschauung Erfasste einem innern Urteil zu unterstellen. Wir können dies, weil wir nach Pestalozzi als Menschen nicht nur über Sinnesorgane verfügen, die auf die Aussenwelt gerichtet sind, sondern auch über einen ‚innern Sinn‘, der uns in die Lage versetzt, die Wahrheit zu erkennen und den richtigen Weg zum Handeln zu finden. „Mensch, dein innerer Sinn ist dir sicherer Leitstern der Wahrheit und deiner Pflicht“ (1, 274), lesen wir schon in der Frühschrift ‚Die Abendstunde eines Einsiedlers‘. Dieser ‚innere Sinn‘ ermöglicht uns die innere Anschauung. Ihr Stoff ist das Wesen des sittlichen und religiösen Lebens. So wie die äussere Anschauung das Fundament der Erkenntnis ist, ist die innere Anschauung die Grundlage für die Entfaltung unserer Herzenskräfte, d. h. der Fähigkeit zu lieben, zu vertrauen, zu glauben, zu danken, aber auch der Fähigkeit zu ästhetischen Gefühlen.
Nun ’schaut‘ nach Pestalozzi der Mensch das Wesen des Sittlichen schon als Säugling, indem er erfährt, dass seine Bedürfnisse durch eine liebende Mutter befriedigt werden. Indem er in eine Atmosphäre der Liebe und des Vertrauens eingebettet ist, entwickelt sich in ihm eine sittliche Gemütsstimmung als grundlegende Form der innern Anschauung und als Bedingung zur Entfaltung seiner sittlichen und religiösen Kräfte. Durch die natürliche Bedürfnisbefriedigung stellt die Mutter die tierhafte Gierigkeit, mithin den Nährboden der Selbstsucht, still und erzeugt im Kind die Grundstimmung der innern Ruhe als wesentliche Grundlage der Sittlichkeit. Wahres Menschentum kann nur in der Gestimmtheit des Beruhigt- und Gelöstseins wachsen.
Legen wir uns nun die Frage vor, welche Konsequenzen der Schule aus diesen Einsichten erwachsen, so muss zuerst an Pestalozzis zentralen Gedanken erinnert werden, dass das Kind ohne die Sittlichkeit und Religiosität der Erzieher nicht zur innern Anschauung des Sittlichen kommen kann. Nur in der Erfahrung unseres Vertrauens und unserer Liebe kommt das Kind zur innern Anschauung des Wesens von Glaube und Liebe. Wenn uns die auf innerer Anschauung gründende sittliche und religiöse Erziehung der Schüler ein Anliegen ist, so steht uns Lehrern nach Pestalozzi kein anderer Weg dazu offen, als uns selbst um eine sittliches, d. h. von Wahrheit und Liebe getragenes Leben und um religiöse Tiefe zu bemühen. Die Art, wie wir aus einer solchen Gesinnung heraus den Dingen und Mitmenschen begegnen, wie wir Konflikte lösen, mit unsern Fehlern und Schwächen umgehen, dies alles ist für das Kind innere Anschauung. Durch unser eigenes ehrliches Bemühen wird das Kind emotional in das Atmosphärische des sittlichen und religiösen Lebens eingetaucht. Aus der auf solche Weise in ihm geweckten Gemütsstimmung erwächst in ihm das Bedürfnis und die Kraft für eigenes sittliches Handeln.
Wie oben gezeigt, gehört zur sittlichen Gemütsstimmung die Grundgestimmtheit der Ruhe. Nun ist Ruhe in der Schulstube in den letzten Jahren in Verruf geraten, sie wird von vielen vorschnell als Friedhofsruhe beargwöhnt und als Produkt einer autoritären Führung gewertet. Pestalozzi geht es aber um anderes, nämlich um ein inneres Beruhigtsein, um eine Art von Gelassenheit, in welcher warmherzige menschliche Begegnungen, Verständnis für die Schwierigkeiten des andern, Anteilnahme an seinen Freuden und Leiden wie von selbst gedeihen. Diese Ruhe ist wiederum weitgehend eine Folge der innern Ruhe des Lehrers. Wenn es ihm gelingt, sie stets wieder neu zu finden und die Schüler von ihrem Seelengrund her zu beruhigen, so kann er gewiss sein, dass all das, was in seiner Schulstube geschieht, in seinem Wesen auch innere Anschauung ist.
8. Verbindung von innerer und äusserer Anschauung
Mag Pestalozzi auch die menschlichen Grundkräfte in Kopf, Herz und Hand unterteilen und dafür je eigene Entwicklungsgesetze entdecken, so geht ihm doch der Blick für die unteilbare Einheit des Menschen nicht verloren, ja die innere Harmonie des Menschen mit sich selbst ist ihm letztes Erziehungsziel. Innere und äussere Anschauung müssen daher in der Bildung mit Bedacht vereinigt werden. Pestalozzi hat diesen Gedanken sehr eindringlich und bildhaft in seiner tiefsinnigen Schrift ‚Über den Sinn des Gehörs in Hinsicht auf Menschenbildung durch Ton und Sprache‘ (1803/04) dargelegt. Darin fordert er von der Erziehung die Verbindung von Anschauung, Sprache und Liebe. Da im Begriff der äussern Anschauung bereits die Verbindung von Anschauung und Sprache mitenthalten ist, bedeutet die vorstehende Formel die Verbindung von äusserer und innerer Anschauung. Diese Verbindung bewirkt beim derart Erzogenen, dass seine Erkenntnisse (Kopf) und beruflichen Fertigkeiten (Hand) zum Mittel für die Liebe (Herz) werden.
„Der Mensch muss sich geistig (Kopf) und physisch (Hand) im Dienst des Glaubens und der Liebe (Herz) entfalten und ausbilden, wenn er durch seine Ausbildung sich veredeln und befriedigen soll“ (6, 471).
Ein in dieser Weise erzogener Mensch vermag auch in allem, in seinem Erkennen, Handeln und Lieben, das Wirken einer göttlichen Macht und einer göttlichen Liebe zu erahnen.
Der Erziehung und damit auch der Schule sind in diesen Gedanken hohe Ziele gesteckt. Ob wir sie erreichen, kann und muss nicht gefragt werden; wesentlich aber ist, ob wir sie überhaupt noch anstreben, ob wir uns durch diese zweifellos hohen Ideale Pestalozzis noch bewegen und beunruhigen lassen.
Der Praktiker wird – mit Recht! – fragen, wie er denn nun innere und äussere Anschauung verbinden soll. Aber der Versuch, ihm mit methodischen Ratschlägen entgegenzukommen, muss in jedem Fall scheitern, denn wo unsere Liebe erwartet ist, sind wir existentiell und ganz persönlich herausgefordert. Die Frage kann dann nur noch lauten: Wie bringe ich es zustande, dass in mir selbst die Liebe gedeiht, und wie verbinde ich mich mit der Welt, damit ich darin und in mir das Wirken der göttlichen Kraft erahnen kann? Dies kann nur jeder für sich selbst beantworten.