Pestalozzi und die Armut
(Zitiert wird aus der Kritischen Ausgabe: PSW = sämtliche Werke, PSB = sämtliche Briefe)
Über das seltsame Leben des grossen Pestalozzi erzählt man sich hierzulande unzählige Anekdoten. Hier ein Beispiel:
Als Pestalozzi auf dem Neuhof gegen sechzig Bettelkinder um sich versammelt hatte, um ihnen Vater und Lehrer zu sein, geriet er oft in grosse Geldnot, so dass er dann bei einem reichen Freunde Geld borgen musste. Einmal verlangte er von ihm nicht weniger als fünfhundert Gulden. Der Freund lieh ihm den grossen Betrag nicht ohne Bedenken und ermahnte ihn zu vorsichtiger Verwendung des Geldes. Pestalozzi versprach es, stand aber schon nach einer Stunde wieder da und verlangte mit niedergeschlagenen Augen nochmals fünfhundert Gulden. Der erstaunte Freund wollte nun genauen Bescheid wissen, und da kam heraus, dass Pestalozzi auf dem Weg einem Bauern begegnet war, dessen Haus vor Tagen niedergebrannt war und der damit Hab und Gut verloren hatte. Als ihn Pestalozzi fragte, wie viel er brauche, um sich wieder helfen zu können, antwortete er: Fünfhundert Gulden. Pestalozzi sah darin einen Fingerzeig Gottes und vertraute dem Manne das Geld an, das er eben von seinem Freunde geliehen hatte. Als er nach dem Namen des fremden Bauern gefragt wurde, sprang Pestalozzi unruhig auf und sagte: „Ja, das hab ich ihn wirklich zu fragen vergessen; aber es war gewiss ein ehrlicher, beim Donner, es war ein ehrlicher Mann! Ich hab’s ihm wohl angesehen.“ Sein Freund musste trotz des Missgeschicks von Herzen lachen und versprach Pestalozzi, ihm die fünfhundert Gulden nochmals zu leihen, aber diesmal werde er es direkt seinem Gläubiger schicken. Nach längerem Forschen gelang es dann, den Bauern ausfindig zu machen, und tatsächlich: es war ein ehrlicher Mann. Als man ihn nach dem Namen seines Wohltäters fragte, wusste auch er es nicht und antwortete: „Es war ein wüster Grüsel, aber ein seelenguter Mann; ich hab’s ihm wohl angesehen.“ (Adolf Haller, Pestalozzi-Anekdoten, S. 37)
Diese Begebenheit zeigt Pestalozzi als gutmütigen und leicht verstörten Almosengeber, der – ganz dem Augenblick hingegeben – seinem liebenden Herzen gehorcht und auch da noch Almosen spendet, wo er eigentlich nichts mehr zu spenden hat. Trotzdem zeichnet die Anekdote von Pestalozzi ein einseitiges, unvollkommenes Bild. Ihm war wie wohl kaum jemandem klar, dass man die Armut nicht mit Liebesgaben bekämpfen kann. Er wusste daher sehr wohl zu unterscheiden zwischen der Bedeutung einer Liebestat, in der ein Mensch die Not des Mitbruders sieht und sein Herz öffnet, und allgemein hilfreichen, ins Grosse und an die Wurzel des Übels greifenden Massnahmen der Politik und der Erziehung. Ja, Pestalozzis Ansichten über Armut, Armenfürsorge und Armenerziehung erreichen eine Tiefe, wie wir sie selten bei einem Denker und Sozialpolitiker antreffen. Dies wurde wohl nur deshalb möglich, weil er selbst über Jahrzehnte das Los der Armen teilte und das Elend nicht aus einem blossen noblen Gerechtigkeitsempfinden heraus bekämpfen wollte, sondern weil er mit dem Elenden tief im Herzen mitlitt und ihn ebenso tief liebte.
Pestalozzi hat sich im Laufe seines langen und bewegten Lebens mit vielen Problemen befasst: mit Religion, Wirtschaft im allgemeinen und Landwirtschaft und Baumwollindustrie im besonderen, mit Politik, Erziehung, Erkenntnisphilosophie und Anthropologie, Rechtsprechung, Strafvollzug, öffentlichen Sitten und anderem mehr. Vieles hat ihn nur zeitweise beschäftigt, aber ein Thema liess ihn während seines ganzen Lebens nicht los: die Armut. Schon in jungen Jahren erklärte er mit Bestimmtheit, dass er „die Erforschung der Wege wie die Auferziehung des Armen erleichtert und mit Sicherheit durch einfache Anstalten erzielt werden könne, zum einzigen Geschäfte (s)eines Lebens bestimmt habe.“ (PSW 1, 185) Und als er, 81jährig auf dem Todbett liegend, in tiefster Traurigkeit sein Lebenswerk als zerstört empfand, beklagte er das Schicksal der Armen: „Und meine Armen, die gedrückten, verachteten und verstossenen Armen! Arme, man wird auch euch wie mich verlassen und verschupfen!“ (Walter Guyer, Pestalozzi – eine Selbstschau, Zürich 1926, S. 173)
Pestalozzi begegnete der Armut bereits in der Kindheit. Zwar gehörte sein Geschlecht zu den bevorrechteten der Stadt Zürich, aber sein Vater, der es wirtschaftlich kaum auf einen grünen Zweig brachte, starb mit 33 Jahren, als der junge Heinrich erst 5jährig war. Damit versank die Familie in die Armut und konnte sich nur dank der aufopfernden Hilfe der Magd einigermassen über Wasser halten.
Beim Grossvater, der in einem Dorf in der Nähe Zürichs Pfarrer war, lernte Pestalozzi die Not und das Elend der armen Landbevölkerung kennen. Dies ist bereits in Pestalozzis Lebensbeschreibung erwähnt worden. Der Knabe sah dort, wie die Kinder in gleicher Weise durch die Heimarbeit in der Baumwollindustrie und durch die unbeschreiblich schlechten Schulen verdorben wurden und ihre angestammte Natürlichkeit und Kraft verloren, und er schwor sich schon als Knabe, später alles zu tun, um den Armen zu helfen.
In seinen Briefen an seine künftige Frau schmiedete Pestalozzi ebenfalls Pläne, um als Bauer den Armen helfen zu können. Und als er dann als Bauer selber Schiffbruch erlitt, verwandelte er seinen Hof in eine Armenanstalt und nahm eine grössere Anzahl Kinder in sein Haus auf. Auch diese Unternehmung scheiterte, und so versank Pestalozzi selbst in äusserste Armut. Zwar brachte ihm die Schriftstellerei das eine oder andere ein, aber es reichte kaum fürs nackte Überleben. 1802 schrieb Pestalozzi einem Bekannten (Heinrich Zschokke): „Wusstest Du es nicht? Dreissig Jahre war mein Leben eine unaufhörliche ökonomische Verwirrung und ein Kampf gegen eine zur Wut treibende Bedrängnis der äussersten Armut! ––Wusstest Du es nicht, dass mir gegen dreissig Jahre die Notdurft des Lebens mangelte; nicht, dass ich bis auf heute weder Gesellschaft noch Kirchen besuchen kann, weil ich nicht gekleidet bin und mich nicht zu kleiden vermag? Oh Zschokke! Weisst Du es nicht, dass ich auf der Strasse das Gespött des Volkes bin, weil ich wie ein Bettler umherlaufe? Weisst Du es nicht, dass ich tausendmal kein Mittagessen vermochte und in der Mittagsstunde, da selbst alle Armen an ihren Tischen sassen, mein Stück Brot mit Wut auf den Strassen verzehrte!“ (PSB 4, 109) Aber gerade diese äusserste Armut öffnete ihm die Augen für die Not der Mitmenschen: „Jetzt, selbst im Elend, lernte ich das Elend des Volkes und seine Quellen immer tiefer und so kennen, wie sie kein Glücklicher kennt. Ich litt, was das Volk litt, und das Volk zeigte sich mir, wie es war und wie es sich niemandem zeigte. Ich sass eine lange Reihe von Jahren unter ihm wie die Eule unter den Vögeln. Aber mitten im Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lauten Zuruf: Du Armseliger! du bist weniger als der schlechteste Tagelöhner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, dass du dem Volke helfen könnest? – mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf, einzig und einzig nach dem Ziel zu streben, die Quellen des Elends zu stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah.“ (PSW 13, 184)
Der Empfänger des erwähnten Briefs von 1802 (Heinrich Zschokke) wollte ihm beistehen, aber Pestalozzi wollte kein Almosen annehmen. Vielmehr bat er ihn, er möchte sich für den Verkauf seiner Schriften einsetzen, damit er endlich seine Armenanstalt wieder eröffnen könne. Wie bereits früher erwähnt, lebte Pestalozzi 1799 innerlich wieder auf, als er endlich wieder praktisch tätig werden und in Stans eine Armen- und Waisenanstalt führen konnte. Zwar führte ihn sein Lebensschicksal dahin, sich in der Folge vermehrt mit der Verbesserung der Schulen zu beschäftigen, aber im Hintergrund seines Denkens und Tuns blieb immer die Sorge um die Armen lebendig. Als ihm seine Erziehungsarbeit in Burgdorf weltweite Anerkennung gebracht hatte, schrieb er in einem Brief: „Das Wesentliche, das getan werden muss, ist eine Armenschule im Geist der Methode, die als Beispiel der Armenbildung auf einen grossen Grad der Vollkommenheit gebracht werden muss.“ (PSB 4, 176 – Mit dem Ausdruck „Methode“ bezeichnete Pestalozzi damals seine Erziehungslehre.)
Auch in Yverdon, wo sein Institut zusehends aufblühte und die Aufmerksamkeit Europas auf sich zog, strebte er immer und immer wieder nach der Verbesserung der Situation der Armen. Im Jahre 1805 entstand eine ganze Reihe bedeutsamer Schriften über die Armut, so ‘Zweck und Plan einer Armenerziehungsanstalt’. Und 1807, auf der Höhe seines Ruhms, schrieb er an eine Mitarbeiterin: „Das, was ich hier (in Yverdon; AB) habe, ist nicht, was ich will: Ich suchte eine Armenanstalt und suche sie noch immer, und dahin allein lenkt sich mein Herz.“ (PSB 5, 250) Als er 1818 die Möglichkeit sah, seine gesammelten Schriften herauszugeben, verschenkte er 35’000 Franken vom erwarteten Erlös für die Eröffnung einer Armenanstalt, bevor er nur einen Franken in der Hand hatte. Noch im selben Jahr gründete er in der Nähe von Yverdon eine Armenanstalt und eine Armenschule. Einem Freunde schrieb er: „Mein Werk ist gerettet. Gott hat es gerettet. Es blüht in meiner Armenanstalt mit einer Kraft und mit einer Sicherheit auf, die mir jede Stunde meines jetzigen Lebens zum heitersten Segen machen. … Ich bin glücklich. So unglücklich als ich vorher war, so glücklich bin ich jetzt. Es gibt Augenblicke, in denen ich zu denken vermag, ich sei der glücklichste Mensch, der auf der Erde lebt.“ (PSB 11, 311) Als er 1826 auf sein Leben zurückblickte, schrieb er: „Nein, meine Anstalt, wie sie in Burgdorf gleichsam aus dem Chaos hervorging und in Iferten (Yverdon) in namenlosen Unförmlichkeiten gestaltete, ist nicht der Zweck meines Lebens.“ (PSW 28, 251) Und als er wegen des unseligen Streites der Lehrer um seine Nachfolge sein Institut als 79jähriger Greis verlassen musste, kehrte er auf seinen Neuhof zurück mit dem Ziel, zusammen mit seinem treuen Mitarbeiter Schmid eine Armenanstalt auf Industriebasis zu errichten und somit das wieder aufzubauen, was 45 Jahre zuvor zusammengebrochen war.
Versuchen wir uns kurz die Gründe zu vergegenwärtigen, weshalb zu Pestalozzis Zeit die Armut ein derart verbreitetes Phänomen war. Gewiss gibt es persönliche Gründe, weshalb ein Mensch in der Armut versinken kann, so etwa Mangel an Begabung, Mangel an Fleiss oder charakterliche Schwäche. Das war damals wohl kaum anders als heute. Darüber hinaus können Schicksalsschläge einen Menschen ins Elend werfen. Man bedenke, dass es zu Pestalozzis Zeit noch keinerlei Versicherungen gegen Brandunglück, Krankheiten und frühen Tod des Familien-Ernährers gab. Wer davon betroffen wurde, geriet zumeist ins Elend.
Die wichtigsten Gründe für die verbreitete Armut waren indessen gesellschaftlicher Natur. Da ist vorerst festzustellen, dass im Verlaufe der Jahrhunderte der Bauernstand immer stärker mit öffentlichen Abgaben belastet wurde, welche den Reinertrag des Bodens oft mehr als nur wegfrassen. Die Steuergesetzgebung war teilweise derart unsinnig, dass es sich für einen Bauern besser lohnte, seine Äcker unbebaut zu lassen, als darauf zu arbeiten. Eine jahrhundertealte Abgabe war der sogenannte ‘Zehnten’: ehedem eine Naturalsteuer (Vieh, Getreide, Früchte etc.), die ursprünglich den zehnten Teil des landwirtschaftlichen Ertrags betrug, teilweise aber beliebig erhöht worden war. In der Gegend von Zürich gab es zwei Dörfer, deren Bevölkerung in sichtbarem Wohlstand lebte, während alle andern völlig verarmt waren. Der einzige Grund bestand darin, dass diese beiden Dörfer aufgrund alter Rechte vom Zehnten befreit waren. Die destruktive Wirkung des Zehnten lag somit vor aller Augen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Pestalozzi im Zuge der Revolution vehement für die Abschaffung des Zehnten einsetzte und darüber zwei grundlegende Abhandlungen schrieb, welche intimste Vertrautheit mit den historischen, rechtlichen und ökonomischen Aspekten dieser Steuer-Frage verraten.
Ferner gilt es zu bedenken, dass bei der allmählich zunehmenden Bevölkerung der landwirtschaftlich nutzbare Boden allgemein knapp wurde. Die Kinder von Bauern waren genötigt, sich anderweitige Erwerbsquellen zu suchen, und fanden sie damals in der aufkommenden Textilindustrie. Aus landlosen Bauern wurden allmählich Fabrik-Arbeiter. Aber die industrielle Produktion verursachte durchaus nicht einen allgemeinen Wohlstand, denn er schwächte das angestammte Handwerk und Gewerbe und beutete die arbeitslos gewordenen Bauern und Handwerker oft bedenkenlos aus. Zwar floss gerade in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Industrie-Arbeit gelegentlich recht viel Geld in die Dörfer der Schweiz, aber Pestalozzi musste erkennen, dass die der Armut gewohnten Leute damit nicht umgehen konnten und dass sie damit jene inflationären Tendenzen unterstützten, welche allmählich aus dem Besitzer von Geld einen armen Mann machen. Mit andern Worten: Da der relative Reichtum nicht mehr in ertragreichem Grundbesitz verwurzelt war, sondern im monetären Kapital, war er all jenen irrationalen Schwankungen und Zerstörungen ausgesetzt, welche das monetäre System periodisch erschüttern.
Wenden wir uns nun dem Wesen der Armut zu, wie es Pestalozzi verstand. Vordergründig liesse sich die Armut rein ökonomisch definieren: als Mangel an Kapital zwecks Befriedigung elementarer oder auch weiterführender Bedürfnisse. Ihr abzuhelfen, wäre dann ebenfalls eine rein ökonomische Massnahme. Pestalozzi sieht die Armut indessen viel differenzierter. Da unterscheidet er zuerst einmal einen an sich zumutbaren Grad von Armut, den wir heute als ‘bescheidene Verhältnisse’ bezeichnen würden, von einem Grad totaler Verarmung, in dem der Mensch Hunger leidet, friert, in der Krankheit keine Hilfe und Pflege erfährt und sich einem äusserst belastenden Dasein vollkommen ausgeliefert fühlt. Diese Form der Armut bezeichnet Pestalozzi meistens mit dem Wort ‘Elend’.
Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als Pestalozzi die erste Form der Armut – die bescheidenen Lebensverhältnisse – grundsätzlich nicht als negativ, ja sogar als positiv betrachtet.
Die grundsätzlich positive Bewertung der Armut wurzelt vorerst einmal in Pestalozzis Überzeugung, dass es nicht der Sinn unseres Daseins ist und sein kann, immer mehr zu besitzen. Sind einmal die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt, kann sich der Mensch seinen wesentlichen Lebensaufgaben widmen: der Entwicklung des eigenen Menschseins im Sinne der Versittlichung und des Dienstes an der Gemeinschaft. Pestalozzi selbst hat hierin ein Beispiel gegeben, und es ist auch altes, in der Bibel verankertes Denken des Christentums. Jesus war arm und kümmerte sich nicht um den morgigen Tag, und es hat in den zweitausend Jahren der christlichen Geschichte Tausende und Abertausende von Menschen gegeben, die in freiwilliger Armut lebten, um unbelastet von der Sorge um das Eigentum ein der christlichen Liebe geweihtes Leben zu führen.
Ferner ist dieses Leben in bescheidenen Verhältnissen grundsätzlich positiv, weil es den einzelnen Menschen nötigt, seine Kräfte anzustrengen und sie durch diese Anstrengung auszubilden. Es ist ja auch tatsächlich eine alte Lebenserfahrung, dass sich Menschen, die sich aus eigener Kraft aus ihren bescheidenen Lebensverhältnissen herausarbeiteten oder einfach in ihnen zu bestehen lernten, durch entwickelte Kraft und besonders fruchtbares Wirken auszuzeichnen vermögen. Insofern gilt die Armut für Pestalozzi als eine wirkliche Chance, und es kann nicht der Sinn sein, diese Chance zu beseitigen, sondern bloss, sie nutzbar zu machen. Armenerziehung ist darum für Pestalozzi nicht Erziehung ‘aus der Armut heraus in den Wohlstand’, sondern immer ‘Erziehung zur Armut’. Für viele Sozial-Politiker ist Pestalozzis Satz ‘Der Arme muss zur Armut auferzogen werden’ ein Skandal, und man wirft ihm vor, er wolle damit bloss die Vorrechte und den Besitzstand der Reichen sicherstellen. Nichts kann falscher sein als das. Gewiss steckt in diesem Satz auch ein Schuss Realismus: Pestalozzi wusste nur zu gut, dass die Kinder, die er von der Strasse und aus dem Bettel holte, nach dem Aufenthalt in seiner Anstalt wieder zurückzukehren hatten in sehr ärmliche Verhältnisse und dass ihnen darum nicht echt geholfen wäre, wenn sie in der Anstalt zu einem ruhsamen Wohlleben verwöhnt worden wären. Den Armen zur Armut auferziehen heisst aber noch mehr; es heisst, dem Armen zu helfen, die in der Armut liegende Chance zu nutzen und die ärmlichen Lebensverhältnisse als Mittel benutzen zu lernen, um die inneren Kräfte und Anlagen zu entfalten und damit zu einem wahrhaft menschlichen, sittlichen Dasein und nicht bloss zum Wohlstand zu kommen. Armenerziehung ist daher für Pestalozzi immer Erziehung zur Selbsthilfe: Der Arme soll einerseits lernen, seine Lebensverhältnisse selbst zu bemeistern, und er soll anderseits lernen, die Bedingungen der Armut als wirkliche Lebenschance zu erkennen und zu nutzen.
Pestalozzi hat indessen immer wieder betont, dass die Armut an sich den Menschen nicht sittlich macht, sondern dass im Gegenteil in ihr viele Reize zur Unsittlichkeit und inneren Verwahrlosung liegen. Die Armut ist lediglich eine Chance, aber kein Wert an sich. Sie wird erst wertvoll, wenn sie benutzt wird durch den Willen des sittlichen Erziehers.
Hat indessen die Armut die Gestalt des Elends angenommen, lebt also der Mensch in Schmutz und Hunger, so bietet auch diese Lebensbedingung keine Chance mehr, um die Menschlichkeit entfalten zu können. Pestalozzi spricht es in klaren Worten aus: „Im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch!“ (PSW 3, 223) Es ist daher die Sache der Politik und des Staates, das Elend durch direkte ökonomische Hilfe zu beseitigen. Der Elende ist nämlich so tief gesunken, dass er sich selbst nicht mehr helfen kann.
Fragen wir uns nun, mit welchen Mitteln Pestalozzi die Erziehung des Armen zur Armut erreichen wollte, so steht im Vordergrund die Eingewöhnung des Kindes in zwar ärmliche, aber saubere und geordnete Lebensverhältnisse, in welchen Sparsamkeit, umsichtige Tätigkeit und geregelte fachmännische Arbeit zum Erwerb des täglichen Brots zur Selbstverständlichkeit gehörten. Dabei erkannte Pestalozzi sehr klar, dass die Zeit der ausschliesslich oder vorwiegend agrarischen Lebensweise vorbei war und dass darum der Mensch die neuen Produktionsweisen der Industrie grundsätzlich annehmen und mit ihnen leben lernen musste. Insbesondere der landlose Arme konnte nicht mehr damit rechnen, seinen Lebensunterhalt einmal als Bauer verdienen zu können. Sein Schicksal war die Fabrik-Arbeit, und er konnte allenfalls auf einem kleinen Acker einen Teil der Nahrung für sich und seine Familie selber produzieren. Pestalozzi verband daher auf dem Neuhof seine Armenanstalt einerseits mit einer kleinen Fabrik, in welcher die Kinder spinnen und weben lernten, und anderseits mit seinem angestammten Bauernbetrieb, auf welchem sie die intensive Bebauung eines kleinen Ackers erlernten. Auch in allen späteren Armenerziehungsplänen spielte die praktische, produktive Tätigkeit eine zentrale Rolle.
Praktisch hiess dies: Kinderarbeit. Zu Pestalozzis Zeit war sie selbstverständlich, und es wäre ihm kaum in den Sinn gekommen, arbeitsfähige Kinder nur darum grundsätzlich von der Mitarbeit auf dem häuslichen Betrieb oder auch in der Heim-Industrie auszuschliessen, weil sie noch nicht ein bestimmtes Alter – z.B. 15 Jahre – erreicht hatten. Nach seiner Erfahrung war es nicht die Arbeit, welche die Kinder verdarb, sondern der Müssiggang. Entscheidend indessen war, aus welchen Motiven man Kinder arbeiten liess: um sie zum Arbeitenkönnen und zu Menschen zu erziehen oder um sich durch billige Arbeitskräfte zu bereichern. Der Gedanke an einen solch verwerflichen Missbrauch des jungen Menschen trieb Pestalozzi die Wut ins Herz: „Nein der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloss um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt – Nein! Nein! dafür ist er nicht da! Missbrauch der Menschheit – wie empört sich mein Herz! – Dass doch mein letzter Atem in jedem Menschen meinen Bruder noch sehe und keine Erfahrung von Bosheit und Unwürdigkeit das Wonnegefühl der Liebe mir schwäche!“ (PSW 1, 159)
Die Erziehung zur Arbeit und durch die Arbeit stand also im Vordergrund. Aber da Pestalozzi die Armut nie bloss als eine ökonomische Mangelerscheinung betrachtete und da er die Kinder auch nicht bloss zu einem reibungslosen gesellschaftlichen Funktionieren führen wollte, konnte und wollte er dabei nicht stehen bleiben. Die Erziehung zur Arbeit sollte vielmehr eingebettet sein in eine ganzheitliche menschliche Bildung. Nicht bloss die Hand, auch der Kopf und das Herz sollten gebildet werden. Pestalozzi lehrte darum die Bettelkinder auch ihre Sinne gebrauchen, er lehrte sie denken, lesen, schreiben, rechnen, und er leitete sie an, die Welt kennen und verstehen zu lernen. In jüngeren Jahren versuchte Pestalozzi, die produktive Arbeit mit dem schulischen Lernen zu verbinden: Die Kinder sollten im Spinnen und Weben so geschickt werden, dass sie diese Tätigkeit ohne grosse Aufmerksamkeit automatisch beherrschten und deshalb gleichzeitig dem Lehrer zuhören, Rechnungsaufgaben lösen und das Sprechen üben konnten. Später hat Pestalozzi dann diesen Gedanken fallen lassen und das Arbeiten vom schulischen Lernen auch zeitlich getrennt.
Aber über all dem stand im Zentrum die Herzensbildung, die sittlich-religiöse Bildung. Für Pestalozzi war klar, dass diese nicht durch wörtliche Belehrung zu erreichen war. So schrieb er in ‘Lienhard und Gertrud’: „Es ist vergebens, dass du zum Armen sagst: Es ist ein Gott, wenn du für ihn kein Mensch bist; und zum Armen und zum Waislein: Du hast einen Vater im Himmel; nur, wenn du machst, dass dein Armer vor dir wie ein Mensch leben kann, nur wenn du das Waislein erziehest, dass es ist, als wenn es einen Vater hätte, nur insoweit zeigst du ihm einen Gott und einen Vater im Himmel.“ (PSW 4, 426) Pestalozzi wurde nie müde zu betonen: Nur durch das Herz kann das Herz eines andern Menschen geleitet werden, und das liebende Herz offenbart sich in der liebenden Tat. Für das Gelingen der sittlichen Erziehung war es daher entscheidend, dass die Kinder das Tun des Armenerziehers selbst als ein Tun der Liebe erfahren konnten. Die Kinder sollten all die Anstrengungen und Einschränkungen, die ihnen zugemutet wurden, eingebettet sehen in eine Liebesbeziehung, welche die Erzieher mit ihnen verband.
Damit wird deutlich, dass die Armen-Erziehung keine besondere Abteilung der Erziehung darstellt, sondern dass sie identisch ist mit der allgemeinen Menschenbildung. Pestalozzi suchte zwar zuerst nach der richtigen Armen-Erziehung, aber da er im Armen den Menschen achtete und den Menschen heranbilden wollte, fand er jene Erziehung, welche dem Menschen ganz allgemein angemessen ist. So schrieb er 1806: „Ihre ersten Resultate (d.h.: die ersten Resultate meiner Erziehungsversuche) entkeimten aus Mitleid für den Armen im Lande, für den ich Handbietung und Hilfe suchte, aber sie sind nicht in dem engen Kreis der besonderen Bedürfnisse dieser Klasse stehengeblieben. Meine Bemühungen, die Mittel, dem Armen Handbietung zu leisten, aus dem Wesen der Menschennatur herauszuheben, führten mich bald auf Resultate, die mir unwiderstehlich bewiesen, dass das, was immer für den Armen und Elenden als wahrhaft bildend angesehen werden kann, dieses nur darum ist, weil es sich für das Wesen der Menschennatur und ohne Rücksicht auf seinen Stand und seine Verhältnisse allgemein als bildend erprobt. Ich sah bald, dass Armut und Reichtum auf die Bildung des Menschen keinen sie in ihrem Wesen ändernden Einfluss weder haben können noch haben sollen, dass im Gegenteil hierin das ewig Gleiche und Unveränderliche in der Menschennatur, in jedem Fall notwendig, unabhängend und getrennt von allem Zufälligen und Äusseren, ins Auge gefasst werden müsse. Es lebte die innerste Überzeugung in mir, der Mensch, der in Rücksicht auf dieses Letzte kraftvoll gebildet ist, lenke und leite das Zufällige seiner äusseren Lage, sie möge sein, welche sie wolle, immer in Übereinstimmung mit dieser in ihm entwickelten Kraft; nicht nur das, er brauche und benutze dieses Äussere zur Stärkung seiner inneren Kraft und ihrer Anwendung und erhebe sich selbst dann, wenn die Grenzen seiner Kraft, seiner Einwirkung auf das Äussere seiner Lage Schranken setzen, über dieses Äussere empor und lebe in Armut und Leiden in sich selbst ebenso befriedigt, als er es im Glück und Wohlstand nur immer sein könnte.“ (PSW 19, 29)
Damit stossen wir in bezug auf den Begriff der Armut in eine neue Dimension vor. Wem es an finanziellen Mitteln gebricht, der ist bloss äusserlich arm; ist er aber durch seine Armut und in seiner Armut als Mensch harmonisch in all seinen Kräften gebildet, so ist er innerlich reich. Und auf diesen inneren Reichtum kommt zuletzt alles an. Und immer wieder stellt Pestalozzi – gewiss nicht überraschend – fest, dass die äussere Armut (nicht das Elend!) für die Heranbildung von innerem Reichtum grundsätzlich die bessere Voraussetzung ist als der äussere Reichtum. Darum will er, wenn er den Armen bildet, ihn nicht aus der äusseren Armut heraus in den äusseren Wohlstand hineinführen, sondern er will die äussere Armut benutzen, um im Armen den inneren Reichtum zu entfalten.
Damit ist ganz allgemein Pestalozzis Erziehungsidee in den Blick gekommen.
(Siehe Pestalozzis Erziehungslehre.)