Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Pestalozzis Erziehungslehre

(Zitiert wird aus der Kritischen Ausgabe: PSW = sämtliche Werke, PSB = sämtliche Briefe)

Naturgemässheit

Erziehung ist ein Werk des Menschen am Menschen, sei dies nun an einem Mitmenschen oder an sich selbst, und somit ein Eingreifen in ein natürliches Geschehen, das zu andern Resultaten führen würde, wenn es ohne diese Einwirkung bliebe. Pestalozzi bezeichnet die Einwirkung des Menschen auf den Menschen oft ganz einfach als ‚Kunst‘ und stellt sie insofern der ‚Natur‘ gegenüber.

Diese erzieherische Einwirkung ist etwas spezifisch Menschliches – im Tierreich findet keine Erziehung statt –, und deren Notwendigkeit ergibt sich aus der Tatsache und Erfahrung, dass der Mensch ohne sie das eigentlich Menschliche nicht erreicht. So stellt denn Pestalozzi am Schluss der ‚Nachforschungen‘ fest: „Die Natur hat ihr Werk ganz getan, Mensch, tue auch du das deine!“ (PSW 12, 125) Mit andern Worten: Die Natur entlässt den Menschen unvollendet, das heisst als bloss natürliches Wesen, und es ist die Aufgabe des Menschen, die erkannte Vollendung – in der Erziehung und in der Selbsterziehung – selbst zu verwirklichen und auf diese Weise ‚Werk seiner selbst‘ zu werden.

Die Berechtigung und Notwendigkeit der Erziehung beruht somit auf der Spannung zwischen einem naturgegeben Ausgangspunkt und einem als Ideal erkannten Ziel. Pestalozzi unterscheidet sich nun von vielen andern Bildungstheoretikern durch seine Überzeugung, dass das zu erstrebende Ideal nicht ausserhalb des Menschen liegt und ihm darum nicht beliebig vorgesetzt werden darf, sondern dass es in der Natur des Menschen selbst liegt. Es sind dies all jene Möglichkeiten, die dem menschlichen Dasein seinen letzten Sinn geben und im Menschen damit das Gefühl des wahren Glücks und der Erfüllung seiner Wesensbestimmung erzeugen, nämlich: Belebung der Liebe, mitmenschliche Beziehungen im Geiste des Vertrauens, der Anteilnahme und der gegenseitigen Hilfe, Suche nach Wahrheit, Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit, Gebrauch der Kräfte zu einer schöpferischen Lebensgestaltung, Horchen auf die Stimme des Gewissens und liebende Verehrung des Schöpfers. Alle diese Möglichkeiten sind dem Menschen ‚von Natur aus‘ gegeben, allerdings nicht kraft seiner tierischen Natur, welche bloss nach Selbsterhaltung und Selbstgenuss strebt, sondern kraft seiner ‚höheren Natur‘. Die Erziehung darf daher dem jungen Menschen keine beliebigen und einer bestimmten Gesellschaft gerade genehmen Ziele vorsetzen, sondern muss ihn zu dem erziehen, wozu ihn seine höhere Natur selbst bestimmt hat. Dies ist der grundlegende Gedanke der Naturgemässheit. Die Idee der Naturgemässheit erfordert daher konsequent die Unterwerfung der ‚Kunst‘ unter die ‚Natur‘: Alle äusseren erzieherischen Einwirkungen müssen an der tierischen Natur des Menschen anknüpfen und die in ihr schlummernden Anlagen der höheren Natur zur Entfaltung bringen.

Die Überzeugung, dass sich das Wesen, das Ziel und die Mittel der Erziehung aus der Natur des Menschen ableiten, veranlasst denn auch Pestalozzi immer wieder zur Feststellung, dass er nicht der Erfinder seiner Erziehungsmethode – er nennt sie oft einfach ‚Methode‘, später ‚Idee der Elementarbildung‘ – ist, weil sie überhaupt nicht erfunden, sondern bloss gefunden werden kann. Pestalozzi ist davon überzeugt, dass jeder wahrheitsliebende Mensch, der die Natur des Menschen ohne vorgefasste philosophische Ansicht ins Auge fasst, grundsätzlich zu denselben Ergebnissen kommt wie er. Dies erklärt, weshalb viele pädagogische Gedanken Pestalozzis durchaus nicht originell sind, sondern sich bei grossen Denkern der verflossenen Jahrhunderte und Jahrtausende in gleicher oder ähnlicher Weise finden. Aber diese grossen Gedanken sind zumeist wieder verdrängt worden durch Erziehungstheorien und Erziehungspraktiken, welche nicht auf dem unveränderlichen Fundament der menschlichen Natur aufbauen, sondern auf den wandelbaren gesellschaftlichen Verhältnissen und Wertvorstellungen.

Damit soll nicht behauptet sein, Pestalozzis Ansichten wären völlig voraussetzungslos; im Gegenteil: Auch er geht von klaren Voraussetzungen aus, aber er gewinnt sie nicht durch den Glauben an eine religiöse, philosophische oder politische Doktrin, sondern durch seine eigene unmittelbare und auf jede neue Erkenntnis hin offene Erfahrung.

Fassen wir diese Voraussetzungen kurz zusammen: Für Pestalozzi ist es aufgrund der Erfahrung in sich selbst und ausser sich selbst absolut evident, dass der Mensch ein Geschöpf einer höheren Intelligenz und insofern auf sie hingeordnet ist, dass demzufolge das Dasein des Menschen einen Sinn hat, dass weiter das Individuum als Geistperson seinen physischen Tod überlebt und dass demzufolge das Leben des Individuums nicht bloss sinnvoll ist in bezug auf die Gesellschaft, sondern ebenso sehr in bezug auf sich selber. Es war ihm ferner vollkommen evident, dass in jedem Menschen die Anlagen zum Menschsein von Natur aus gegeben sind und dass es daher die Aufgabe des Menschen ist, seine Menschlichkeit zu entwickeln und zu verwirklichen. Aufbauend auf diesem Erkenntnisfundament, ergeben sich eigentlich alle weiteren Erkenntnisse von selbst, weshalb jeder Mensch durch eigenes Beobachten und Nachdenken zu denselben Einsichten kommen kann wie Pestalozzi.

Vom Standpunkt der ‚Nachforschungen‘ aus, wo Pestalozzi die Entwicklung der höheren Natur aus der tierischen heraus in der dreifachen Stufenfolge ‚Naturzustand‘, ‚gesellschaftlicher Zustand‘ und ’sittlicher Zustand‘ beschreibt, bedeutet die Forderung nach einer naturgemässen Erziehung folgendes: Aufbauend auf den Gegebenheiten des Naturzustands und unter Berücksichtigung und Benutzung der gesellschaftlichen Verhältnisse muss die Erziehung am jungen Menschen so handeln, dass er in die Lage kommt, in sich selbst den sittlichen Zustand erzeugen zu können. Insofern sich nun die Vergesellschaftung des Menschen mit Notwendigkeit aus seiner Natur ergibt, ist auch der gesellschaftliche Zustand für die Erziehung wesentlich; nur darf sie keinesfalls dabei stehen bleiben, den Menschen bloss gesellschaftsfähig zu machen. Im Gehorsam gegenüber den gesellschaftlichen Pflichten bilden sich nämlich im Menschen ‚Überwindungs-Kräfte‘, um seine selbstsüchtigen Triebe im Zügel halten zu können. Diese Überwindungskräfte braucht er dann auch, um aus freiem Willen das tun zu können, was er kraft seines Gewissens als richtig und als seiner sittlichen Veredlung dienlich erkennt. 

Entwicklung von Kräften und Anlagen

Durch die Auffassung, dass das in der Erziehung zu erstrebende Ideal in der Natur des Menschen selber liegt, unterscheidet sich Pestalozzi von jenen Theoretikern, die den Menschen bei dessen Geburt sinnbildhaft als ‚völlig unbeschriebenes Blatt‘ begreifen und daher glauben, man könne aus dem Menschen nach Belieben alles machen, wozu einem gerade der Sinn steht. Für Pestalozzi ist es klar, dass die Erziehung nichts in den Menschen hineinzulegen, sondern vielmehr etwas aus ihm herauszuentwickeln hat: nämlich die dem einzelnen Individuum angemessene und mögliche Verwirklichung seiner Menschlichkeit, wie sie in ihm bereits bei der Geburt in schlummernden Kräften und Anlagen mitgegeben ist. Die grundsätzliche Aufgabe der Erziehung ist somit die Entfaltung von Kräften und Anlagen.

Wenn Pestalozzi von der ‚Entfaltung von Kräften und Anlagen spricht‘ – was er sehr oft tut –, so hat er allerdings erst in zweiter Linie die individuellen Erb-Anlagen, welche unterschiedliche Begabungen zu verursachen vermögen, im Auge; in erster Linie versteht er unter ‚Kräften und Anlagen‘ die allgemein menschlichen Möglichkeiten, welche dem Einzelnen die Wahrheitserkenntnis, das vernünftige Urteil, die aus dem Herzen kommende Liebe, den religiösen Glauben und die tatkräftige Behandlung all seiner Angelegenheiten gestatten. 

Entfaltung der Kräfte durch deren Gebrauch

Dabei stellt sich sofort die Frage, durch welches Mittel sich die menschlichen Kräfte entfalten lassen. Pestalozzis Antwort ist einfach und durch die Praxis allseits belegt: Kräfte entfalten sich nur durch deren Gebrauch. Kräfte, die nicht zur Tätigkeit angeregt werden, verkümmern.

Damit kommt der Übung in der ganzen Pädagogik Pestalozzis eine zentrale Stellung zu. So betrachtet er denn auch jene Lebensverhältnisse als die besten, in denen dem Menschen der Gebrauch der Kräfte durch das Leben selbst abgefordert wird. Immer wieder betont er: „Das Leben bildet.“ (PSW 6, 471) Gewiss kann dies kein Leben in Überfluss und Reichtum sein, denn dieses erheischt nicht den allseitigen Gebrauch der Kräfte und Anlagen. Das ist denn auch der Grund, weshalb Pestalozzi durchaus nicht die Armut abschaffen wollte. Vielmehr sollte der Mensch in der Auseinandersetzung mit seinen bescheidenen Lebensverhältnissen die Möglichkeit haben, seine Kräfte zu entwickeln und die Sittlichkeit zu verwirklichen.

Aber auch die Schule, in welcher die Kräfte des Menschen systematisch geschult werden, muss die Übung ins Zentrum ihres Bemühens stellen. Keinesfalls darf sie dem jungen Menschen einfach den Kopf mit einer Menge unverarbeiteten Wissens füllen, sondern sie muss bei all ihrem Tun stets auf das Können abzielen. Für Pestalozzi ist ein Mensch missgestaltet, der viel weiss und wenig kann. Erstrebenswert ist für ihn, dass man das Notwendige weiss und vieles wirklich vollenden kann.

In West-Europa sind heute pädagogische Strömungen zu erkennen, die dem Kind kaum mehr eine Leistung abverlangen möchten. Dies ist durchaus nicht im Sinne Pestalozzis. Hingegen wandte er sich dagegen, die Leistungen der Schüler durch falsche Mittel erwirken zu wollen, nämlich durch Anstachelung des Ehrgeizes oder durch Einschüchterung. Die Mittel, um das Kind zum Gebrauch seiner Kräfte zu bewegen, sind vielmehr Vorbild, Liebe, Anerkennung, Ermutigung und Anteilnahme an seiner Tätigkeit.

Strebkraft

Pestalozzi ist durch alltägliche Erfahrung mit Kindern davon überzeugt, dass die Kräfte zur Entfaltung drängen. So schreibt er etwa im ‚Schwanengesang‘: „Auch wird der Mensch durch die Natur jeder dieser Kräfte in sich selbst angetrieben, sie zu gebrauchen. Das Auge will sehen, das Ohr will hören, der Fuss will gehen und die Hand will greifen. Aber ebenso will das Herz glauben und lieben. Der Geist will denken. Es liegt in jeder Anlage der Menschennatur ein Trieb, sich aus dem Zustande ihrer Unbelebtheit und Ungewandtheit zur ausgebildeten Kraft zu erheben, die unausgebildet nur als ein Keim der Kraft und nicht als die Kraft selbst in uns liegt.“ (PSW 28, 61) Pestalozzi bezeichnet diesen in jeder Anlage liegenden Entfaltungstrieb auch als ‚Strebkraft‘. Für den Erzieher geht es somit darum, dem Streben der zur Entfaltung drängenden Kräfte zu Hilfe zu kommen, bildhaft gesagt: ihnen die Hand zu reichen.

Ein Lehrer, der diese Strebkräfte zu entdecken und zu benutzen vermag, unterrichtet natürlich ganz anders als einer, der glaubt, man müsse den Schülern alles gegen ihren Willen aufnötigen. Eine Schulstube, in welcher nach Pestalozzi unterrichtet wird, ist darum erfüllt mit freudigem Leben. Der Lehrer redet nicht einfach auf die Schüler ein, sondern entwickelt die Erkenntnisse im Gespräch, er hört auf die Gedanken der Kinder, er lässt sie selber beobachten und forschen, er geht auf ihre Lernbedürfnisse ein, er ermutigt sie zu eigener Phantasie und Kreativität, und er lässt es insbesondere zu, ja er fördert es immer wieder, dass nicht alle dasselbe tun, sondern dass jedes Kind gemäss seinem eigenen Entwicklungsstand zum Lernen kommen kann. 

Kopf, Herz und Hand

Nun spricht Pestalozzi nicht bloss allgemein von Kräften und Anlagen, sondern er teilt sie in Anlehnung an die bereits aus dem Altertum stammende Einteilung des Seelenlebens in Denken, Fühlen und Wollen (Handeln) in drei grosse Bereiche ein. Diese ‚Grundkräfte‘ sind die intellektuellen, die sittlichen und die physischen Kräfte. Symbolisch findet diese Dreiheit ihr Abbild in den Organen Kopf, Herz und Hand. In der Schweiz ist Pestalozzis Forderung nach harmonischer Bildung von Kopf, Herz und Hand zu einer allgemein bekannten, griffigen Formel, ja zu einem eigentlichen Schlagwort geworden, das kaum noch in seiner ganzen Tiefe erfasst wird.

Am ehesten darf der Fachmann noch hoffen, dass verstanden wird, was Pestalozzi unter ‚Kopf‘ meinte und oft als ‚Geist‘, als ‚geistige‘ oder ‚intellektuelle‘ Kräfte bezeichnete: nämlich alle seelisch-geistigen Funktionen, die den Menschen zur Erkenntnis der Welt und zu einem vernünftigen Urteil über die Dinge führen. Dazu gehören Wahrnehmung, Gedächtnis, Vorstellung, Denken und Sprache.

Schon schwieriger ist Pestalozzis Begriff des ‚Herzens‘. Er meint damit nicht bloss den gesamten Gefühlsbereich, der alle unsere Wahrnehmungen und Gedanken begleitet, sondern vorerst einmal die sittlichen Grundgefühle der Liebe, des Glaubens, des Vertrauens und der Dankbarkeit, dann aber auch alle Äusserungen jenes ‚inneren Sinns‘, aufgrund dessen wir die Welt nicht bloss sinnenhaft, sondern eben auch sinnhaft erfahren können: die Tätigkeit des Gewissens, das Erahnen-Können, das Werten.

Sehr komplex ist auch der Bereich der ‚Hand‘. Statt von ‚physischen Kräften‘ spricht Pestalozzi oft auch von ‚handwerklichen Kräften‘, von ‚Kunst-Kräften‘, von ‚Berufs-Kräften‘, von ‚häuslichen Kräften‘ oder sogar von ‚gesellschaftlichen‘ Kräften. Alle diese Bezeichnungen zeigen, dass Pestalozzi, wenn er von ‚Hand‘ spricht, das praktische Handeln des Menschen im Auge hat, in welchem sich Handgeschicklichkeit und Körperkraft mit gesundem Menschenverstand und Willen zur fruchtbaren Tat verbinden. 

Allseitige, harmonische Kräftebildung

Anknüpfend an diese Dreiteilung ergeben sich nun zwei grundlegende Forderungen:

  • Erstens soll jede der drei Grundkräfte an sich selbst zur grösstmöglichen Entfaltung gebracht werden;
  • und zweitens sollen die drei Grundkräfte in Harmonie miteinander entwickelt werden.

Diese Harmonie aber ergibt sich dadurch, dass sich die Kräfte des Kopfs und der Hand den gebildeten Kräften des Herzens unterordnen. Mit andern Worten: Liebe, Glaube, Sittlichkeit sollen das Denken und Handeln des Menschen durchdringen. Darum sagt Pestalozzi: „Der Mensch muss sich geistig und physisch im Dienst des Glaubens und der Liebe entfalten und ausbilden, wenn ihn seine Ausbildung veredeln und befriedigen soll.“ (PSW 6, 471) Diese Unterordnung von Denken und Handeln unter den sittlichen Willen und unter die Liebe erzeugt dann die wesenhafte Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst. Solange sich nämlich das Denken verselbständigt und auch das Handeln mit dem Fühlen und Werten nicht übereinstimmt, ist der Mensch in sich gespalten. 

Gemeinkraft

Pestalozzi ist indessen davon überzeugt, dass auch diese Übereinstimmung in der Natur des Menschen vorgegeben ist, das heisst: dass in ihm eine Kraft am Werke ist, welche die Identität mit sich selbst – die Vereinigung aller Kräfte – anstrebt und ermöglicht. Er nennt diese Kraft ‚Gemeinkraft‘. Bei näherem Betrachten entpuppt sich dann diese Gemeinkraft als die Liebe. Sie ist jene Kraft, die den Menschen nicht nur mit seinem Schöpfer, mit seinen Mitmenschen und mit der Welt verbindet, sondern eben auch mit sich selbst und mit allen Fähigkeiten des eigenen Wesens. 

Entfaltung und Anwendung

Pestalozzi unterscheidet bei der Tätigkeit der Kräfte zwischen Entfaltung und Anwendung; da es aber das Leben selbst ist, das bildet, fallen im praktischen Lebensvollzug Entfaltung und Anwendung oft zusammen. Das bedeutet, dass für beide dieselben Anforderungen gelten: dass sich sowohl in der Entfaltung wie auch in der Anwendung die intellektuellen und die physischen Kräfte den gebildeten Herzenskräften unterordnen müssen.

Dies hat natürlich gewaltige soziale Konsequenzen, denn wenn die erzogenen Menschen allgemein dahin gebracht werden können, dass sie auch in der Anwendung ihrer Kräfte der Stimme ihres Herzens – dem Gewissen – und der tätigen Liebe den Vorrang einräumen, so werden sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ganz allgemein zum Guten wenden. Pestalozzi ist sich bei seinen Forderungen allerdings stets bewusst, dass es sich dabei um eine Idee handelt, das heisst: um Zielvorstellungen, die nie vollkommen erreicht, sondern stets nur angestrebt werden können. Reine Sittlichkeit ist dem Menschen eben nicht möglich. 

Gemütsbildung

Die Unterordnung des intellektuellen und körperlichen Bereichs unter den Herzensbereich bedeutet im Schulunterricht, dass bei allem, was zum Lernen unternommen wird, das Gemüt der Kinder angesprochen und ergriffen werden soll. Das beginnt vorerst damit, dass die Kinder immer wieder zum richtigen Staunen kommen sollen: einem Ahnen ihres Herzens, dass Grosses und Erhabenes ein wenig den Schleier öffnet und Ehrfurcht gebietet. Pestalozzi betont immer wieder, dass die Kinder in diesem Staunen auch den Schöpfer erahnen und lieben lernen sollen. Dann sollen sie all ihr Tun als ein Tätigsein in Freude erfahren können. Die Freude entsteht insbesondere, wenn Kinder ihre eigene Stärke wirklich spüren und die gesteckten Ziele erreichen. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich vom Lehrer und von den Mitschülern angenommen und geliebt fühlen. Bei allem, was sie tun, soll auch immer wieder das Schöne zum Ausdruck kommen und von ihnen empfunden werden können. Es ist darum wichtig, dass die Kinder z.B. nicht bloss schreiben, sondern auch schön schreiben. Dieses gemüthafte Lernen, in dem sich Ehrfurcht, Freude, Freundschaft und Schönheit verbinden, vermag dann im Kind auch die Liebe zur Sache zu wecken, woraus die Liebe zur Welt gedeiht. Werden die Kräfte des Kopfes und der Hand mit den Herzenskräften verbunden und ihnen untergeordnet, so wird jede Tätigkeit des Kindes zu einem liebevollen und anmutigen Tun. 

Entwicklungsgesetze

Die Dreiteilung der menschlichen Kräfte in Kopf, Herz und Hand hat für Pestalozzi eine sehr praktische Bedeutung, denn „die Gesetze, nach welchen sich das fühlende Herz, der denkende Geist und die Sinnen und Glieder des menschlichen Körpers entfalten, sind bei einer jeden dieser drei Urkräfte von den Gesetzen, nach welchen sich die zwei anderen in ihm entfalten, wesentlich verschieden“.(PSW 6, 468) Daraus erwächst dem Erzieher die Aufgabe, diese unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten aufzuspüren und die Kräfteentfaltung darauf zu gründen. 

Die Stufen der sittlichen Entwicklung

Als erstes hat Pestalozzi die Gesetzmässigkeit der sittlichen Entwicklung erforscht und beschrieben: Der ‚Stanserbrief‘ legt davon Zeugnis ab. Wesentlich ist, dass Pestalozzi bei der sittlich-religiösen Bildung nicht mit der üblichen moralischen Belehrung anfängt. Die Herzensbildung muss nämlich bereits in einem Alter grundgelegt werden, in welchem das Kind noch keine Möglichkeit hat, moralische Belehrungen zu erfassen.

Die sittliche Elementarbildung durchläuft nach Pestalozzi einen Weg in drei Stufen. Die erste Stufe ist die Weckung einer sittlichen Gemütsstimmung. Dies geschieht dadurch, dass die Mutter dem Kinde die physischen Bedürfnisse befriedigt und sich in Liebe mit seinem Herzen verbindet. In ‚Wie Gertrud ihre Kinder lehrt‘ (und noch in verschiedenen andern Werken) hat dann Pestalozzi diese sittliche Gemütsstimmung noch näher beschrieben und gezeigt, wie im Zuge der Bedürfnisbefriedigung die sittlichen Grundgefühle der Liebe, des Vertrauens und Glaubens sowie der Dankbarkeit entstehen. Diese Gefühlsanlagen können indessen nur darum durch das Gefühlsleben der Mutter erregt werden, weil im Kind die Bereitschaft zu diesen Gefühlen von Natur aus vorhanden ist.

Damit hat Pestalozzi einen Vorgang in der Beziehung von Mensch zu Mensch gesehen und ins Zentrum der Betrachtung gerückt, dessen Bedeutung für die Erziehung und das menschliche Zusammenleben nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es handelt sich um die allgemeine Erkenntnis, dass sittliches Leben in einem andern Menschen immer nur durch die gelebte Sittlichkeit der Mitmenschen – im besonderen der Erzieher – geweckt und gefördert werden kann. Im Bereiche des Kopfs und der Hand mögen Druck, Zwang und Nötigung noch gewisse Fortschritte erwirken, obwohl eine solche Kräfte-Anregung auch hier im allgemeinen nicht wünschenswert ist; aber im Bereiche des Herzens versagen alle Versuche, einen Entwicklungsfortschritt durch äusseren Druck erzwingen zu wollen. Man kann keinem Menschen mit wirklichem Erfolg befehlen, er solle sich endlich öffnen, sich am Guten und Schönen erfreuen, seinen Mitbruder lieben, Vertrauen und Dankbarkeit entwickeln, Ehrfurcht vor dem Verehrungswürdigen zeigen und in seinem Herzen das Wirken des Schöpfers spüren und darauf antworten. Man wird im schlimmsten Fall einen Menschen damit zum Heuchler abrichten, der sich aus Angst nach aussen hin sittlich gebärdet.

Mit andern Worten: Sittliches Leben lässt sich nur durch Resonanz entwickeln. So wie in der Musik eine schwingende Saite eine andere Saite nur dadurch zum Klingen bringen kann, dass sie selbst schwingt, so können die Erzieher seelisch-geistige Kräfte im Kinde nur durch ihr eigenes Innenleben erwecken. Liebe erregt Liebe, Vertrauen schafft Vertrauensbereitschaft, Ehrfurcht fördert den Respekt, eigene Offenheit öffnet Seele und Geist, eigene Verantwortlichkeit regt an zu verantwortungsbewusstem Handeln, eigene Bindung an Werte ermutigt zu werthaftem Tun. In dem Masse, wie der Erzieher seelisch-geistiges Leben in sich selbst erweckt hat und es in ihm lebendig bleibt, in dem Masse vermag es die entsprechenden Kräfte in den ihm anvertrauten jungen Menschen anzuregen. Sittliches Leben wird somit ausschliesslich in mitmenschlicher Verbundenheit entwickelt. Pestalozzi: „Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich“. (PSW 24A, 19)

Es sind also nicht die Dinge der Natur, die den Menschen erziehen, wie dies Rousseau für die ersten 15 Lebensjahre betonte, und es sind auch nicht elektronische Apparate, wie heute von vielen geglaubt wird. Einzig der Mensch – und zwar der um Sittlichkeit bemühte Mensch – vermag den Menschen zu erziehen, und dies gelingt ihm nur, wenn er sich mit dem Geist und der Seele der ihm anvertrauten jungen Menschen verbindet und ihnen als wahrer Mitmensch begegnet. Darum vermag auch das Eintauchen ins Kollektiv nicht wahrhaft zu bilden, sondern höchstens abzurichten und die tierischen Triebe aufzupeitschen. Pestalozzi wird nicht müde zu betonen: „Das Individuum, wie es dasteht vor Gott, vor seinem Nächsten und vor sich selber, von Wahrheit und Liebe in sich selber gegen Gott und den Nächsten ergriffen, ist die einzige reine Basis der wahren Veredlung der Menschennatur und der sie bezweckenden wahren Nationalkultur.“ (PSW 24A, 106) 

Exkurs: Die Bedeutung der Mutter

Da Pestalozzi stets von der Natur ausgeht und die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung in den ersten Lebensmonaten für die sittliche Entwicklung des Kindes erkannt hat, kann er gar nicht anders, als die Mutter als die erste und bedeutsamste Erzieherin des Kindes zu erkennen. Es gibt wohl kaum einen Pädagogen und Philosophen, der die Bedeutung der Mutter für das Kind derart tief gesehen und betont hat wie Pestalozzi. Grundlegend ist seine Überzeugung, dass die Mutter ihr Kind kraft ihres Instinkts lieben muss, aber dass darüber hinaus diese rein animalische Liebe zur Sittlichkeit emporgebildet werden muss, wenn die Mutter segensreich soll wirken können. Darum betrachtet es Pestalozzi als die vornehmste Aufgabe eines Erziehers, sich um die Erziehung der Mütter zu kümmern. In der guten Mutter haben die tierische und die höhere Natur bereits ein richtiges Verhältnis zueinander gefunden – ihre instinktive, triebhafte Liebe zum Kind ist geläutert und veredelt zur wahrhaft ‚sehenden‘ Liebe.

Was Pestalozzi konkret unter ‘sehender Liebe’ versteht, hat er in seinem grossen Roman ‚Lienhard und Gertrud‘ gezeigt. Der Verfasser erzählt darin in kräftigen Bildern das bewegte Leben eines Dorfes, welches wegen der unweisen Regierung des früheren Dorfherrn sittlich und wirtschaftlich tief ins Elend versunken ist, sich aber allmählich zu äusserem Wohlstand und wirklicher Sittlichkeit erhebt durch das Wirken einiger guter Menschen. Im Zentrum stehen die Mutter ‚Gertrud‘ und der neue Dorfherr ‚Arner‘, welcher als guter Vater des Dorfes wirkt und mit Weitsicht und Stärke für Recht und Gerechtigkeit sorgt. Bedeutsam ist, dass Gertrud nicht nur vorbildlich in ihrer Wohnstube als Mutter von sieben Kindern wirkt, sondern auch den Anstoss zur Verbesserung der sozialen Situation des ganzen Dorfes gibt. Sie drängt dabei nicht nach oben, nach politischer Macht, sondern wirkt segensreich im Stillen. Pestalozzi scheut nicht davor zurück, sie mit der Sonne zu vergleichen: „So geht die Sonne Gottes vom Morgen bis am Abend ihre Bahn; dein Auge bemerkt keinen ihrer Schritte, und dein Ohr hört ihren Lauf nicht. Aber bei ihrem Untergang weisst du, dass sie wieder aufsteht und fortwirkt, die Erde zu wärmen, bis ihre Früchte reif sind. Leser! Es ist viel, was ich sage, aber ich scheue mich nicht, es zu sagen: Dieses Bild der grossen Mutter, die über der Erde brütet, ist das Bild der Gertrud und eines jeden Weibs, das seine Wohnstube zum Heiligtum Gottes erhebt und ob Mann und Kindern den Himmel verdient.“ (PSW2, 280)

Fortsetzung: Die sittliche Entwicklung

Zurück zur Gesetzmässigkeit der sittlichen Entwicklung: Die zweite Stufe besteht in der Einübung und Angewöhnung in das sittliche Tun. Die Grundlage dazu ist der Gehorsam. Dieser ist zu Beginn bloss passiv: Das Kind muss lernen, die Bedürfnisbefriedigung in Geduld abzuwarten. Später ist er aktiv: Das Kind muss lernen, den Willen des Erziehers zu erfüllen. Nach Pestalozzi darf dieser aber Gehorsam nur fordern, insofern er selbst als sittliches Wesen handelt, insofern er also den Gehorsam des Kindes nicht für sich und seinen eigenen Vorteil will, sondern für das Kind selber. Auf dieser Stufe wird deutlich, dass die im inneren Leben des Erziehers wurzelnde Autorität und die Angewöhnung des Kindes an gutes Tun in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sind.

Erst auf der dritten Stufe kommt das Nachdenken und Reden über Sittlichkeit, das bewusste Aussprechen sittlicher Begriffe. Jetzt hat das Kind auch jene Erfahrungen des Gefühls und des Handelns gemacht, die es ihm gestatten, derart über Sittlichkeit zu reden, dass es auch weiss, wovon es spricht.

In diesem dreistufigen Gang wird deutlich, was Pestalozzi meint, wenn er die Verbindung von Kopf, Herz und Hand fordert: Zwar geht es hier grundsätzlich um die Entfaltung der Herzenskräfte, weshalb auch die reine Herzenstätigkeit am Anfang steht, aber bereits auf der zweiten Stufe wird diese mit der Hand (Tun, Handeln, Wille) und auf der dritten Stufe schliesslich mit dem Kopf verbunden. Deutlich wird auch, dass sich die Herzenskräfte nur durch deren Gebrauch, durch deren Tätigkeit bilden: Auf der ersten Stufe begleitet die Gefühlstätigkeit vorerst das, was das Kind als Wirken der Mutter an sich selbst erfährt. Auf der zweiten Stufe ist die Gefühlstätigkeit verbunden mit dem eigenen Handeln und bildet dessen Grundlage. Auf der dritten Stufe ist dann die Gefühlstätigkeit die Grundlage für die Erkenntnis der Wahrheit. 

Entwicklung der intellektuellen Kräfte

Pestalozzis Gedankengänge machen deutlich, dass das Bestreben, die sittliche Bildung durch moralische Belehrung zu erreichen, nicht naturgemäss ist. Dieselbe Verkehrtheit und Fundamentlosigkeit musste er auch im Bereiche der intellektuellen Kräfte feststellen: Da lernten Schüler in Hunderten von Schulen über Jahre hinweg mühselig das Lesen anhand von Schriften, deren Sinn ihnen grossenteils verborgen bleiben musste, und sie schwatzten über Dinge, die sie weder selbst erfahren hatten noch in ihrem Wesen verstehen konnten. Pestalozzi führte einen unablässigen Kampf gegen dieses sinnentleerte Wortwesen. Ihm war klar: Bevor man lesen kann, muss man sprechen können, und sprechen kann man nur, wenn man das Gesprochene auch wahrhaftig denkt; das Denken aber beruht auf deutlichen Begriffen, und diese wiederum fussen letztlich auf der realen Anschauung der Dinge. Darum kommt Pestalozzi zu seiner These, „dass die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis sei.“ (PSW 13, 309)

Die ‚Kräfte des Kopfes entfalten‘ bedeutet nach Pestalozzi somit zuerst, die Dinge real erfahren, sie in der Anschauung erfassen. Die Grundlage der Erkenntnis ist somit die physische Tätigkeit unserer Sinnesorgane: Sehen, hören, betasten, riechen, schmecken usf. Dadurch kommt vorerst – auf der ersten Stufe – eine Anschauung zustande, wie sie auch dem Tier möglich ist. Pestalozzi nennt sie darum ‚tierische‘, ‚dunkle‘ oder ‚verwirrte‘ Anschauung und meint damit das blosse Vor-den-Sinnen-Stehen eines Gegenstandes.

Aber im Gegensatz zum Tier starrt der Mensch die Dinge nicht bloss an, sondern er erfasst, ergreift sie mit seinem Verstand, ordnet sie, deutet und benennt sie. Nach Pestalozzi besteht die grundlegende Erfassung eines Gegenstandes darin, dass man sich dessen Form bewusst wird, dass man ihn auch hinsichtlich seiner Anzahl erfasst und dass man ihn schliesslich sprachlich benennt. Sprache, Form und Zahl werden damit zu den drei grundlegenden Elementarmitteln, um eine sinnliche Anschauung zu bestimmen. Aus der dunklen, verwirrten Anschauung wird dadurch auf der zweiten Stufe eine bestimmte Anschauung. Damit ist die Anschauung bereits aus dem Bereiche des bloss Tierischen herausgehoben. Der Mensch ist dazu in der Lage, weil er über entsprechende Kräfte seines Geistes verfügt: über die Kraft der Form-Erfassung, über die Kraft der zahlenmässigen Erfassung und über die Kraft der sprachlichen Benennung. Formkraft, Zahlkraft und Sprachkraft bilden somit die drei Elementarkräfte. Daraus leiten sich grundlegende Schulfächer ab, eben die Elementarfächer: Zeichnen und Schreiben, Mathematik, Gesang und Sprachunterricht.

Auf der dritten Stufe der Anschauung geht es um eine weitere Differenzierung: Unter Beteiligung möglichst aller Sinnesorgane sollen möglichst viele weitere Eigenschaften geklärt werden, so z.B. die Oberflächenbeschaffenheit, die Farbe, die Temperatur, der Klang, der Geschmack, der Geruch, das Gewicht, die Konsistenz. Damit wird aus der bestimmten Anschauung eine klare Anschauung. Entscheidend dabei ist, dass diese Klärung immer verbunden ist mit der sprachlichen Benennung. Die Schüler können auf dieser Stufe somit nicht nur den Gegenstand an sich benennen, sondern finden auch die zutreffenden Ausdrücke für dessen Eigenschaften. Dies ist indessen nur möglich auf der Grundlage einer intensiven Sinnesschulung, wobei zu beachten ist, dass Schulung der Sinne, Anschauung konkreter Gegenstände und sprachliche Verarbeitung immer Hand in Hand gehen. Hier eröffnet sich der Schule ein weites Feld.

Auf der vierten und letzten Stufe geht es darum, den Gegenstand in einen weiteren Zusammenhang hineinzustellen, der im Augenblick sinnlich nicht unmittelbar erfassbar ist. Dazu kommt das Kind nur ausnahmsweise durch eigenes Erforschen, in der Regel aber durch Belehrung des Erziehers. So erfährt es z.B. über irgend einen Gegenstand, wozu er gebraucht wird, wer ihn erzeugt hat, wie er vielleicht im Verlaufe der Geschichte entwickelt wurde, mit welchen andern Gegenständen er in einem inneren Zusammenhang steht, welchen Wert er hat, welche Gefahren er in sich birgt usf. Indem das Kind dieses Wissen erwirbt, wird dann aus der klaren Anschauung eine deutliche Anschauung oder – wie Pestalozzi oft zutreffender sagt – ein deutlicher Begriff. Da nun das Wissen über irgend einen beliebigen Gegenstand grundsätzlich beliebig ausgedehnt werden kann, ist auch der deutliche Begriff nichts endgültig Abgeschlossenes, sondern lässt im Verlaufe des Lebens immer weitere Verdeutlichungen zu.

Mit dem Erwerb deutlicher Begriffe – was eigentlich eine Lebensaufgabe darstellt und auch eine zentrale Aufgabe der Schule im Bereiche der intellektuellen Bildung ist – kommt das Kind allmählich in den Besitz jener Elemente, die es zum angemessenen Denken und Sprechen befähigen. Denkerziehung ist immer zugleich Spracherziehung, und Spracherziehung ist immer zugleich Denkerziehung. In der praktischen Erziehertätigkeit Pestalozzis in Burgdorf und Yverdon nahm die Spracherziehung im Rahmen der intellektuellen Bildung eine Vorrangstellung ein. Pestalozzi sah auch sehr deutlich den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Eigenständigkeit und der Fähigkeit, sich ausdrücken zu können. Ihm war klar: Nur der Mensch, der wirklich der Sprache mächtig ist, kann von allen andern als gleichwertig empfunden und gesellschaftlich ernst genommen werden; nur der sprachfähige Mensch ist auch in der Lage, sein ihm zustehendes gesellschaftliches Recht zu fordern. Pestalozzi betrachtet daher die Vernachlässigung der Spracherziehung durch ungerechte Staatsgewalten als ein Mittel zur Unterdrückung.

Das gereifte Denken mündet beim mündigen Menschen aus in sachgerechtes Urteilen. Beruht das Denken auf wirklicher Anschauung, so sind die darauf ruhenden Urteile von wahrer Sachkenntnis getragen und kein blosses Nachschwatzen unverdauter Erkenntnisse anderer Menschen. Mit andern Worten: Der heranwachsende Mensch findet in einer solchen auf der Anschauung ruhenden Bildung zur Wahrheit. Das Leben in der Wahrheit und für das Recht ist somit das letzte Ziel der intellektuellen Bildung.

Selbstverständlich erfordert eine solche Entwicklung Zeit. Das Urteilen ist daher keine Sache für kleine Kinder, sondern reift erst spät heran. Pestalozzi sagt unmissverständlich: „Ich glaube, der Zeitpunkt des Lernens ist nicht der Zeitpunkt des Urteilens; der Zeitpunkt des Urteilens geht mit der Vollendung des Lernens, er geht mit der Reifung der Ursachen, um derentwillen man urteilt und urteilen darf, an; und ich glaube, jedes Urteil, das bei dem Individuum, das es ausspricht, innere Wahrheit haben soll, müsse aus einer umfassenden Kenntnis dieser Ursachen so reif und vollendet herausfallen, als der gereifte Kern vollendet, frei und gewaltlos von selbst aus der Schale herausfällt.“( PSW 13, 206) Und an anderer Stelle betont er, er „sei gar nicht dafür, das Urteil der Kinder über irgendeinen Gegenstand vor der Zeit scheinreif zu machen, sondern vielmehr dasselbe solange als möglich zurückzuhalten, bis sie jeden Gegenstand, über den sie sich äussern sollten, von allen Seiten und unter vielen Umständen ins Auge gefasst, und mit den Worten, die das Wesen und die Eigenschaften derselben bezeichnen, unbedingt bekannt seien.“  (PSW 13, 217) 

Das Prinzip der Nähe

Nun ist zu fragen, welche Gegenstände und Inhalte denn der Anschauung der Kinder vorgesetzt werden sollen. Pestalozzi geht auch in der Beantwortung dieser Frage wieder von der Natur aus. Für die Qualität der Tätigkeit unserer Sinnesorgane ist in jedem Fall die örtliche Entfernung von ausschlaggebender Bedeutung: Je näher ein Gegenstand unseren Sinnen liegt, desto wahrer ist die aus der Anschauung gewonnene Erkenntnis. Diese Tatsache macht jeden Menschen zum Zentrum seiner eigenen Welt. Die Schulung der intellektuellen Kräfte muss somit anhand jener Gegenstände und Sachverhalte beginnen, die in der Nähe des Kindes liegen. Pestalozzi ist davon überzeugt, dass grundsätzlich jede Umwelt geeignet ist, im Kinde die Sinnestätigkeit, das Anschauen, Denken und Urteilen anzuregen und zu beleben, vorausgesetzt allerdings, dass diese Umwelt entsprechend benutzt wird. Die Bildung in den nächsten Verhältnissen führt den Menschen darüber hinaus zu einer solchen Verbindung mit seiner eigenen Lebenswelt, dass er sich für sie verantwortlich zu fühlen, sich darin zu bewähren und sie zu bemeistern fähig wird. 

Formale und materiale Bildung

Um diesen Gedanken Pestalozzis noch besser zu verstehen, erweist sich die Unterscheidung von formaler und materialer Bildung als hilfreich: Die formale Bildung bezweckt die allgemeine Entfaltung aller menschlichen Kräfte, die materiale den Erwerb ganz bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten.

Nach Pestalozzi ist der Anspruch nach formaler Bildung zu allen Zeiten und in allen geographischen Orten gleich: Stets geht es – im Bereiche der intellektuellen Entwicklung – um die Entfaltung des Denkvermögens, der Vorstellungskraft, des Gedächtnisses, der Urteilskraft, der Sprachfertigkeit. Aber die materialen Inhalte der Bildung – die bestimmten Kenntnisse und Fertigkeiten – sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und von Ort zu Ort verschieden. Durch die Bildung in den nächsten Verhältnissen kann somit beides erreicht werden: Es lassen sich die menschlichen Kräfte und Anlagen nach unveränderlichen Gesetzmässigkeiten bei allen Menschen gleich entfalten, aber anhand von konkreten Anschauungs-Gegenständen und Lebensverhältnissen, die dem einzelnen Individuum angemessen sind. Oder mit andern Worten: Das Einmalige, Unverwechselbare der individuellen Lebenslage wird zum Mittel, um das Allgemeine und bei allen Menschen Gleiche zu entwickeln. Vermag man in den materialen Inhalten der konkreten Lebensverhältnisse die Wirkung des gesellschaftlichen Zustands und in den gebildeten Kräften die Voraussetzung für den sittlichen Zustand zu erkennen, so offenbart sich hier die typisch Pestalozzische Denkfigur, dass der gesellschaftliche Zustand ein Mittel ist, um den sittlichen Zustand erreichen zu können.

Selbstverständlich ist Pestalozzi nicht der Ansicht, dass die Bildung bei der Auseinandersetzung mit den nächsten Verhältnissen stehen bleiben soll. Aber die individuelle Lebenswelt jedes Menschen muss der Ausgangspunkt seiner Bildung sein und lange bleiben, damit die Erweiterung seines Gesichtskreises ein tragfähiges Fundament erhält.

In gewissen Ländern West-Europas hat in den letzten Jahrzehnten eine Bildungsreform stattgefunden, welche sich zum Ziele setzte, die kleinen Dorf-Schulen aufzuheben und die Kinder mit Autobussen in grössere Schulzentren – bis zu 4000 Schülern – zu führen. Dahinter stand die Absicht, allen Schülern eine gleiche und gleich gute Ausbildung ermöglichen zu können. Von Pestalozzis Erziehungslehre aus betrachtet, ist diese Tendenz ein Fehlgriff, denn der heranwachsende Mensch wird dadurch entwurzelt, und die Bildung in den nächsten Verhältnissen wird verunmöglicht. Zudem ist es in so grossen Schulen nicht mehr in gleicher Weise möglich, auf jedes einzelne Kind einzugehen und es ganz in seiner Individualität zu erfassen, wie dies Pestalozzi fordert. Man strebte bei diesen Reformen offensichtlich nach dem Ideal der Gleichheit, aber man hatte – aus der Sicht Pestalozzis – zu wenig erkannt, dass das allen Menschen Gleiche nicht in den konkreten Unterrichts-Stoffen, die bearbeitet werden, liegen muss, sondern in der harmonischen Bildung aller menschlichen Kräfte und Anlagen. Dass sich aber die Natur des Menschen immer wieder ihr Recht zu verschaffen versteht, erkennt man darin, dass heute in einzelnen Ländern die kleinen Dorfschulen teilweise wieder neu eingerichtet werden. 

Äussere und innere Anschauung

Zurück zum Problem der Anschauung: Der Entwicklungsgang über die vier Stufen von der dunklen Anschauung zum deutlichen Begriff beruht auf der Tätigkeit der äusseren Sinne und betrifft demzufolge die äussere Anschauung. Nun ist es aber Pestalozzis Überzeugung, dass der Mensch auch über einen ‚inneren Sinn‘, gewissermassen ein Sinnesorgan des Herzens verfügt. Dieser innere Sinn versetzt uns in die Lage, die Welt nicht nur in ihrem ungewerteten So-Sein zu erfahren, sondern alles auf den Sollens-Anspruch einer als vollkommen erahnten Schöpfungsordnung hin zu beziehen. Der innere Sinn eröffnet uns die Innen-Erfahrung der Welt, er hilft uns, die Erfahrung des bloss Sinnlichen zu übersteigen und Sinn zu finden. Kurz gesagt: Dieser innere Sinn ermöglicht dem Menschen die innere Anschauung. Sie dient nicht wie die äussere Anschauung der Entwicklung der Kräfte des Kopfes, sondern vielmehr der Entwicklung der Kräfte des Herzens. Sie ist jene seelische Tätigkeit, die aller Sittlichkeit zu Grunde liegt und welche schliesslich dazu führt, dass das wertfreie Erkennen zu einem sittlichen Urteil und das selbstbezogene Handeln zu einem sittlichen, d. h. du- und gemeinschaftsbezogenen Handeln wird.

Die Auseinandersetzung mit der inneren Anschauung gehört somit grundsätzlich nicht in den Bereich der Entwicklung des Kopfs, sondern in den Bereich des Herzens. Tatsächlich kann man auch die erste Stufe der sittlichen Entwicklung – die Weckung einer sittlichen Gemütsstimmung auf der Grundlage der Bedürfnisbefriedigung und der Resonanz – als innere Anschauung bezeichnen. Aber so, wie Pestalozzi bei der sittlichen Entwicklung zuerst mit den reinen sittlichen Gefühlen begann und sie schliesslich mit dem Denken verband, ebenso beginnt er nun im Bereiche der intellektuellen Entwicklung zuerst mit der reinen Begriffsbildung und fordert schliesslich die Verbindung der äusseren Anschauung mit der inneren. Da aber das Wesen der äusseren Anschauung im Zusammenwirken der Sinnestätigkeit mit der Sprache besteht und das Wesen der inneren Anschauung die Liebe ist, fordert Pestalozzi – vereinfachend – die Verbindung von Anschauung, Sprache und Liebe: „Sprache ohne Anschauung ist nicht denkbar, Anschauung in der Natur ohne Sprache nicht fruchtbar, und Anschauung und Sprache ohne Liebe führt in der Natur nicht zu dem, was die Ausbildung unseres Geschlechts menschlich macht.“ (PSW 16, 331) Und an anderer Stelle betont er, seine Methode lehre „das Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken.“ (PSW 18, 37) 

Entwicklung handwerklicher Kräfte

Wenden wir uns nun jenen Gesetzmässigkeiten zu, welche bei der Entwicklung der physischen Kräfte, der ‚Hand‘, am Werke sind. Pestalozzis Anschauungen sind auf diesem Gebiet am wenigsten ausgereift, und er hält den Gegenstandsbereich der ‚Hand‘ theoretisch auch nicht immer sauber durch, wie dies die schwankenden Bezeichnungen ‚Bildung der physischen Kräfte‘, ‚Körperbildung‘, ‚Kunst-Bildung‘, ‚Bildung der Hand‘, ‚handwerkliche Bildung‘, ‚Berufs-Bildung‘, ‚Bildung der häuslichen Kräfte‘, ‚Bildung der Erwerbskräfte‘ belegen. Er hat somit recht Unterschiedliches im Blick: Sinnesschulung (was dann wieder für die Entwicklung der intellektuellen Kräfte grundlegend ist), Bildung allgemeiner körperlicher Kraft und Gewandtheit, Bildung ganz bestimmter körperlicher Fertigkeiten, Bildung zu bestimmten Berufen mit all ihren gesellschaftlichen Bedingtheiten und schliesslich Bildung zu jeder Form eines Könnens, was Pestalozzi oft als ‚Kunst‘ bezeichnet.

Deutlich erkennbar ist, dass Pestalozzi dies alles eingebettet sehen will in die allgemeine Menschenbildung, dass also jede Kunst-Fertigkeit verbunden ist mit den intellektuellen und den sittlichen Kräften. Weiter betont er immer wieder, dass das Allgemeine vor dem Speziellen Vorrang hat. Es geht somit im frühen Alter nicht darum, das Kind Tanzen oder Fechten oder Reiten zu lehren, sondern seine allgemeine körperliche Kraft und Gewandtheit zu schulen. Das führt dann z. B. in der Schule zu einem Turnunterricht, in dem nicht einzelne Sportarten im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die reine Bewegung und Kraftanstrengung, wie sie in allgemeinen gymnastischen Übungen zum Ausdruck kommen. Dabei beruft sich Pestalozzi auf den ursprünglichen Bewegungstrieb und die allgemeine Entwicklung der Körperkräfte und der körperlichen Gewandtheit beim Kinde sowie auf den Instinkt von Mutter und Vater, welche jede körperliche Regung des Kindes aufgreifen und spielerisch durch erhöhte Anforderungen weiterentwickeln. Pestalozzi möchte die körperliche Bildung somit auf natürliche Bewegungen wie Schreiten, Laufen, Springen, Werfen, Schlagen, Schwingen, Drücken, Stossen, Ziehen, Klettern usf. aufbauen und den Körper nicht durch zu frühe Spezialisierung auf einzelne Tätigkeiten verunstalten oder für das Nötige unbrauchbar machen.

Eine derart natürliche Körperbildung setzt voraus, dass dem kindlichen Bewegungs- und Spieltrieb genügend Freiraum gewährt wird. Pestalozzi spricht sich daher gegen einen Schulbetrieb aus, in welchem die Kinder – dazu noch in schlechter Luft – stundenlang unnatürlich still sitzen müssen. Das hindert ihn – wie der ‚Stanserbrief‘ zeigt – aber nicht daran, auch die im guten Sinne disziplinierende Wirkung des Stillsitzens anzuerkennen und zu schätzen. Überhaupt geht es ihm in allem – und somit auch im Bereiche der Körperbildung – darum, jede Tätigkeit des Menschen in ihrem Bezug zu seiner Versittlichung zu sehen. So begrüsst er es z.B., wenn ein Mädchen seine Puppe weglegt und hinfort, statt mit ihr zu spielen, sein jüngeres Geschwister besorgt: Während es zuvor der Puppe die Schuhe band, die Puppe ins Bettchen legte und der Puppe auf spielerische Weise das Essen reichte, bindet es jetzt dem jüngeren Brüderchen die Schuhe, legt es ins Bett und löffelt ihm das Essen ein. Damit stellt das Kind seinen Bewegungs- und Spieltrieb in den Dienst der Gemeinschaft: seine Naturtriebe veredeln sich zur Sittlichkeit.

Beim Erwerb einer bestimmten Fertigkeit, eines klar umrissenen Könnens, sieht Pestalozzi einen Entwicklungsgang in vier Stufen vor. Dabei ist zu bedenken, dass das Kind sich grundsätzlich etwas aneignen muss, das gesellschaftlich vorgegeben ist und in dem sich die gesellschaftliche Erfahrung von Jahren oder Jahrhunderten angesammelt hat. Deshalb kann keinesfalls seine Freiheit am Anfang stehen, sondern es muss den ganzen Bewegungsablauf und den Gebrauch von Hilfsmitteln zuerst erkenntnismässig erfassen. Am Anfang steht also auch hier die Anschauung. Pestalozzi nennt diese erste Stufe ‚Aufmerksamkeit auf Richtigkeit‘. Der Erzieher macht somit den richtigen Bewegungsablauf vor und macht das Kind sprachlich auf die entscheidenden Einzelheiten aufmerksam. Auf der zweiten Stufe geht es darum, dass das Kind nachahmt und selber probiert. Sehr oft muss es hier vor allem die physische Kraft erwerben, die den richtigen Bewegungsablauf überhaupt erst ermöglicht. Auf der dritten Stufe geht es weniger um Kraft als um Gewandtheit, Geschicklichkeit, Leichtigkeit und Zartheit der Bewegung. Es findet somit zunehmend eine Verbindung der gesellschaftlich tradierten Fertigkeit mit dem Wesen des Kindes statt. Es erfährt sich in seiner Bewegung selbst und hat zunehmend damit Erfolg. Es findet somit auf der zweiten und dritten Stufe auch eine Art Anschauung statt, in welcher aber nicht die bekannten fünf Sinne im Vordergrund stehen, sondern in erster Linie das Gefühl für die richtige Bewegung. Auf der vierten Stufe schliesslich ist der Lernende selbständig und frei. Da er die Erfahrungen der Gesellschaft getreu in sich aufgenommen hat und gewandt über sie verfügt, ist er jetzt auch berechtigt, frei damit umzugehen und die erworbene Fertigkeit allenfalls eigenständig weiterzuentwickeln. Diese vierte Stufe ist somit die Stufe der wirklichen Kreativität.

Es ist zu beachten, dass es sich bei dieser Stufenfolge in erster Linie um einen logischen Ablauf und erst in zweiter Linie um ein zeitliches Geschehen handelt. In der Praxis verbinden und überlagern sich diese Stufen oft auf vielfältige Weise; insbesondere meldet sich die Kreativität des Kindes schon früh. Es ist dann das Geschick des Erziehers, die kreativen Impulse des Schülers aufzugreifen und sie mit den technischen Erfordernissen der überlieferten Fertigkeit so weit wie möglich und wie sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen. 

Die Bedeutung der Arbeit

In der europäischen Gesellschaft des Überflusses ist es üblich geworden, dass die Schüler im Schulfach ‚Werken‘, wo diese Gedanken Pestalozzis am ehesten zum Tragen kommen, allerlei zwar schönes, aber zumeist unnützes Zeug herstellen. Das ist jedoch nicht im Sinne Pestalozzis, denn er möchte durch die handwerkliche Bildung das Kind zur Arbeit erziehen. Bekanntlich schwebte ihm lebenslang die Schaffung einer Armenanstalt vor, in welcher die allseitige, harmonische Bildung der Kräfte verwoben sein sollte mit dem Erlernen grundlegender Berufe und sogar mit eigentlicher ertragreicher Produktion zur Erhaltung der Anstalt. Er betrachtete die Notwendigkeiten, die sich aus der Sachstruktur einer ernsten Aufgabe ergeben und denen sich der Arbeitende folglich im Interesse des Erfolgs zu fügen hat, gewissermassen als heilsamen Zwang, die Kräfte allseitig anzustrengen, wodurch sie dann auf eine naturgemässe, folglich harmonische Weise entwickelt würden. Im Hinblick auf die Verwahrlosung grosser Teile der Jugend in Wohlstandsgebieten scheint sich Pestalozzis Sichtweise sehr zu bestätigen. 

Das Prinzip der Lückenlosigkeit

Der Nachweis Pestalozzis, dass sich die drei Grundkräfte nach eigenen Gesetzmässigkeiten entfalten, darf die Tatsache nicht verdecken, dass es daneben auch Gesetzmässigkeiten gibt, welche in allen Bereichen gleichermassen gültig sind. Erwähnt wurde bereits die Bildung in den nächsten Verhältnissen. Diese Forderung gilt selbstverständlich nicht bloss für die intellektuelle, sondern für die gesamte Menschenbildung. Eine weitere Forderung lässt sich als Prinzip der Lückenlosigkeit beschreiben. Es handelt sich um die Erkenntnis, dass die Bildung nur insofern naturgemäss ist, als sich alles Neue auf überzeugende Weise an das bisherige Fundament anschliesst. Pestalozzi verwendet dazu das Bild des Baumes: Aus der Wurzel hebt sich der Stamm empor, aus ihm entfalten sich die Äste, aus ihnen spriessen die Zweige und aus ihnen Blätter, Blüten und Früchte. Ebenso sollte der gesamte Bildungsbestand eines Menschen einen in sich geschlossenen, aber nach aussen hin offenen Organismus bilden. Eins sollte sich organisch ans andere anschliessen. So wie auch ein junger Baum immer ein ganzes Wesen ist und nie ein halber Baum, ebenso muss auch ein junger Mensch auf jeder Stufe seiner Entwicklung vollendet und nicht erst ein halber Mensch sein. Und so wie die Natur selbst keine Sprünge macht, ebenso sollten in der Bildung des Menschen keine Lücken entstehen. Das darf auf keinen Fall als Forderung nach einem lückenlosen Wissen missverstanden werden. Niemand wäre vehementer dagegen gewesen als Pestalozzi. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Beachtung der hier beschriebenen Stufengänge und um die grundlegenden methodischen Forderungen, dass man vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplizierten, vom Nahen zum Fernen, vom Konkreten zum Abstrakten und von der Entfaltung zur Anwendung der Kräfte schreiten muss, wenn wirkliche Bildung stattfinden soll. Dies alles erfordert, dass man dem Kind als Lehrer für jeden Entwicklungsschritt Zeit zum Verweilen lässt, dass es in Musse lernen kann. Nichts ist schädlicher, als in kurzer Zeit viel erreichen zu wollen. Pestalozzi hat klar erkannt, dass dann stets Lücken entstehen und das Wissen und Können oberflächlich bleibt. 

Individualisieren

Blicken wir nun auf die Entwicklungsgesetzmässigkeiten der drei Grundkräfte zurück, so wird in allen drei Bereichen das Zusammenspiel zwischen Gegebenheiten der Natur – Kräften und Anlagen im Kinde – und Einwirkungen durch den Menschendie ‚Kunst‘ – deutlich. Im sittlichen Bereich ist es vor allem das sittliche Leben des Erziehers selbst, im intellektuellen Bereich ist es vorwiegend seine Führung durch die Sprache, und im handwerklichen Bereich ist es das vorbildhafte Vormachen bestimmter Techniken, womit der erziehende Mensch dem Bestreben der kindlichen Kräfte nach ihrer Entwicklung entgegenkommt. In jedem Falle ist ein Mensch gefordert, der bereit und fähig ist, ganz auf die Individualität des Kindes einzugehen. Pestalozzi übersieht nämlich durchaus nicht, wenn er in jedem Menschen das allgemein Menschliche zur Entfaltung bringen will, dass dieses allgemein Menschliche in jedem Individuum in einer einmaligen, unverwechselbaren Weise zum Ausdruck gebracht wird und werden soll. Mit andern Worten: Die Erziehung hat die Aufgabe, die Individualität des Kindes – verstanden als unwiederholbare Einmaligkeit – zu erkennen und zu entwickeln.

Pestalozzi lehnt darum jeden Vergleich eines Kindes mit einem andern ab. Keines soll sich in seiner Entwicklungsanstrengung an einem andern, sondern immer nur an seinen eigenen Möglichkeiten messen. Die Gaben der Natur sind unterschiedlich verteilt – Pestalozzi hätte sich niemals einer Theorie angeschlossen, die glauben machen will, von Natur aus seien alle Menschen gleich begabt –, und jeder Mensch hat die innere Verpflichtung, seine Anlagen auszuschöpfen und sie dadurch der Gemeinschaft dienstbar zu machen. Das bedeutet für die Erziehung, „dass in dem Menschen, dem viel gegeben, auch viel geweckt, und in dem, dem wenig gegeben, weniger erweckt werden muss.“ (PSW 6, 490) Für Pestalozzi war das keinesfalls blosse Theorie. In seinen Instituten forderte er, dass ein Kind, wenn es etwas gelernt oder den andern etwas voraus hatte, dies einem andern Kinde weitergeben und beibringen musste. Die Kinder sollten erfahren, dass es im Bereiche des Geistes keinen Privatbesitz gibt, sondern dass das Mehrwissen und Mehrkönnen den Menschen verantwortlich macht. Gerade dies beweist, dass das hier entwickelte Prinzip des Individualisierens nicht dem egoistischen Individualismus Vorschub leistet, sondern im Gegenteil eine Voraussetzung ist, dass der Einzelne wirklich seinen Beitrag an die Gemeinschaft leisten kann. 

Die Bedeutung der Familie

Für Pestalozzi ist es klar, dass es – wie bereits erwähnt – in erster Linie die Eltern (insbesondere die Mütter) sind, die ihr eigenes Kind als Individualität ins Auge fassen und dementsprechend in ganz individueller Weise auf es eingehen können. Darum sind nach seiner Ansicht vorerst die Mütter, später auch Väter, die ersten und wichtigsten Lehrer des Kindes. Die Wohnstube – das gesamte Leben in der Familie versinnbildlichend – ist der Ort, in dem sich vom ersten Lebensaugenblick an die Kräfte des Kindes auf naturgemässe Weise harmonisch zu entfalten vermögen, wo es zur Sittlichkeit erzogen und zum gesellschaftlichen Leben gebildet wird. Über viele Jahre schwebte Pestalozzi sogar vor, die Schulen mit der Zeit ganz abschaffen zu können und die Bildung ganz in die Hände der Eltern, insbesondere der Mütter, zu legen. Später hat er dann die Notwendigkeit der Schulen anerkannt, aber sie gegenüber der Wohnstube immer noch als einen ‚tief untergeordneten Zweig der Pädagogik‘ betrachtet. Die Wohnstuben, die erfüllt sind vom Geist und Leben der nach Sittlichkeit trachtenden Menschen, sind für Pestalozzi die wirklichen Gotteshäuser. Er scheut sich nicht, vom ‚Heiligtum‘ der Wohnstube zu sprechen. Es ist daher nach seiner Überzeugung eine der dringendsten Pflichten des Staates, alles daran zu setzen, dass das gesunde Leben in der Familie erhalten bleibt. Ihm schwebte damals noch vor, es könnte im Zuge einer massvollen Industrialisierung auch die ursprüngliche Einheit von Wohnstätte und Produktionsstätte erhalten bleiben. Damit hätten die Kinder einen natürlichen Kontakt zur Arbeitswelt und würden ganz natürlich in die Probleme und auch die Verantwortlichkeit der Berufsausübung hineinwachsen. Die gesellschaftliche Entwicklung hat freilich einen andern Gang genommen und vielerorts das Leben in der Familie geschwächt und sogar zerstört. An den verheerenden sozialen Folgen – Entwurzelung, Hang zu Süchtigkeiten jeder Art und zur Kriminalität, schwindendes Verantwortungsgefühl für sich selbst und für das Ganze, schwindende religiöse Gesinnung – ist zu erkennen, dass Pestalozzis Überzeugung von der segensreichen Wirkung einer guten Familie durch eine verhängnisvolle gesellschaftliche Entwicklung nicht an Wahrheit verliert. 

Die Stellung des Lehrers

Obwohl Pestalozzi weiss, dass auch der beste Lehrer nicht in die Rechte und Pflichten und auch nicht in die Liebe der Eltern eintreten kann, fordert er trotzdem auch von ihm den oben beschriebenen Blick für das Einzigartige jedes Kindes. Der Lehrer darf nicht wie ein Politiker übers Grosse blicken und Massen bewegen wollen, sondern er muss auf jedes einzelne Kind mit liebendem Verständnis eingehen. In der dritten Fassung seines Romans ‚Lienhard und Gertrud‘ (1820) schildert er einen Lehrer namens ‚Glülphi‘, der ganz vom Wesen seiner Erzieheraufgabe durchdrungen ist. In einer schlaflosen Nacht hat er sich viele allgemeine pädagogische Theorien vergegenwärtigt, aber am Morgen, wenn er wieder vor den Kindern steht, fasst er jedes Einzelne als Individualität ins Auge. Doch lasst uns Pestalozzi selbst zu Worte kommen; die Überschrift über dieses Kapitel lautet: „Er stieg durch sein Herz und nicht durch seinen Kopf auf die Höhen seiner Menschlichkeit.“ (PSW 6, 515)

„Er (Glülphi) vergass schon morgen, sobald er in seine Schule hineintrat, seinen Traum, die Welt und alles Dichten und Trachten nach Welt- und Volksverbesserung. Er war ganz wieder mit Leib und Seele der Schulmeister, der nur den Augenblick vor sich sah, indem er jetzt als Vater und Lehrer in der Mitte seiner Kinder dastand. Er lebte ganz in diesem Augenblick der Gegenwart. Die Vergangenheit war gleichsam eben wie der Traum der Zukunft, der die Nacht vorher seine ganze Seele erfüllte, verschwunden. Er sah jetzt wieder nur seine Kinder. Ihr Dasein verschlang ihn jetzt in diesen Pflichtstunden seines Lebens, wie wenn ausser seinen Kindern neben ihm keine Welt wäre. O, könnte ich doch die Kraft seines jetzigen Schulmeisterlebens schildern, wie sie wirklich war! Sie bestand wesentlich im wachsenden Festhalten seiner Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Kind, und zwischen hinein werfe ich noch das Wort: Wahre Menschensorge ist individuell; Götter mögen das Ganze, Götter mögen die Welt besorgen; der Menschen Sorge für den Menschen ist Individualsorge, und das Christentum ist Heiligung dieser Individualsorge, indem es den einzelnen Menschen als einzelnen, ohne alles Begleit und ohne Zugabe, in die Arme seines Vaters hinführt und dem Herzen seines Erlösers nahe bringt. – Glülphi sah jetzt nicht mehr den Haufen seiner Kinder. Dieser Haufen, sowie er zusammen dastand, war jetzt nichts mehr für ihn. Jedes Kind stand einzeln vor ihm, und er lebte, wenn er’s erblickte oder wenn er nur an dasselbe dachte, so ganz in ihm, wie wenn sonst kein anderes neben ihm da wäre. Aber es war auch kein einziges, das er nicht also ins Auge fasste, wenn er es erblickte oder an es dachte.

So weit hatte sich der Mann in seinem Schulmeisterdienst zu der Mutterkraft erhoben, mit welcher das edelste Weib in dem Augenblick, wenn es seinen Säugling an die Brust legt, nicht denkt, dass es noch ein anderes Kind habe, aber dann hinwieder, wenn sein Bruder auch nur mit einem kleinen Schmerz am Finger zu ihr hinspringt, den Säugling beiseits legt und nicht mehr an ihn denkt, bis es den Finger des Bruders mit mütterlicher Zartheit verbunden und er dankend und zufrieden wieder von ihr wegspringt. – Also trug er die Kinder seiner Schule alle in seinem Herzen. Dadurch aber kam er auch dahin, dass er Tag für Tag die Stufe, auf der jedes derselben in seinem Unterricht stand, genau kannte. Er sah mit jedem Tag tiefer in das Herz eines jeden, und kannte mit jedem Tag mehr all ihr Dichten und Trachten …“. (PSW 6, 515)

 

Ferner das Buch Menschen bilden, das in die folgenden Sprachen übersetzt ist: Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Estnisch, Polnisch, Chinesisch.

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