Arthur Brühlmeier

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Pestalozzis religiöse Anschauungen

Pestalozzi hat in seinem Elternhaus eine strenge religiöse Erziehung genossen und auch manchen religiösen Impuls von seinem Grossvater erhalten, der in einer Nachbargemeinde Zürichs Pfarrer war. Auch die öffentliche Erziehung in den Stadtschulen Zürichs war zu jener Zeit noch deutlich religiös geprägt. So kann es nicht verwundern, dass sich Pestalozzi als junger Mensch mit dem Gedanken trug, Pfarrer zu werden. Er hat diese Absicht dann zwar aufgegeben, aber es blieb ihm absolut selbstverständlich, das eigene Leben als ein Leben und Ringen mit Gott zu betrachten. Auch Pestalozzis Gemahlin stammte aus einer sehr religiösen Familie und wurde zu grosser Frömmigkeit erzogen, und es wäre für Pestalozzi undenkbar gewesen, eine Frau zu ehelichen, die seine tiefen religiösen Gefühle und seine religiös begründete Lebensführung nicht hätte teilen können. Zeitlebens hat er auch immer wieder über das Wesen der Religion und die Bedeutung des religiösen Lebens nachgedacht und diese Gedanken in seine philosophischen Erwägungen einbezogen. Zwar können wir in den Jahren seiner grossen Lebenskrise – so zwischen 1785 und 1798 – eine gewisse Erkaltung seiner religiösen Gefühle feststellen, doch erwachten diese wieder, als er 1799 in Stans als Vater der Armen wirken konnte, und sie vertieften sich in seinen drei letzten Lebensjahrzehnten wiederum zunehmend und erreichten im Alter eine geradezu mystische Tiefe.

Damit Pestalozzis religiöse Anschauungen im Rahmen des Christentums verstanden werden können, seien hier zu Beginn einige Sachverhalte dargelegt, die wohl vielen chinesischen Lesern nicht ohne weiteres geläufig sind:

Die westliche Zeitrechnung beginnt mit der Geburt von Jesus Christus, einem jüdischen Wanderlehrer im Gebiete des heutigen Staates Israel, der laut den in der Bibel gesammelten Quellen gegenüber dem überlieferten gesetzestreuen Judentum eine in mancher Hinsicht neue Lehre verkündete. Er predigte insbesondere die Liebe, die Barmherzigkeit, das Verzeihen, das innere Leben mit dem göttlichen Vater, das Kommen des Reiches Gottes und das ewige Leben und erregte grosses Aufsehen, indem er auf wundertätige Weise Kranke heilte, böse Geister austrieb, Wasser in Wein verwandelte, Brot vermehrte, dem Wind und Sturm gebot, über das Wasser schritt und sogar Tote auferweckte. Schliesslich wurde er – nachdem die religiöse und politische Führung der Juden die römische Obrigkeit veranlasst hatte, ihn zum Tode zu verurteilen – gekreuzigt, er stand aber nach drei Tagen wieder aus dem Grabe auf und erschien seinen Anhängern mehrmals wieder, um sie weiter zu belehren, bis er nach 40 Tagen endgültig in den Himmel auffuhr. So wollen es die heiligen Schriften – zusammengefasst und vereinigt mit einer Reihe von Schriften aus dem Judentum in der Bibel –, und so will es auch der Glaube der Christen. Diese sehen in Christus den Mensch gewordenen Sohn Gottes und ihren Erlöser und erhoffen sich vom Glauben an ihn und an seine Worte das Kommen des Gottesreiches und das Leben in ewiger Glückseligkeit.

Die Nachfolger von Jesus Christus nahmen sich insbesondere der Armen, Aussätzigen und Sklaven an und nahmen sie durch die Taufe in ihre Gemeinschaft auf. Trotz ihres wohltätigen Wirkens wurden sie von den Römern verfolgt und zu Tausenden getötet, da sie deren religiöse Ansichten – insbesondere die Überzeugung, dass vor Gott alle Menschen gleich seien – ablehnten. Trotzdem hatte sich schon wenige Jahrzehnte nach dem Tode von Jesus Christus seine Lehre weit verbreitet und hatten sich viele christliche Gemeinschaften gebildet. Und 325 Jahre nach seiner Geburt erhob der damalige Kaiser des Römerreiches, Konstantin, die Lehre der Christen zur Staatsreligion.

In der Gemeinschaft der Christen – der Kirche – gab es grundsätzlich Priester und Laien. Eine grössere Anzahl Priester unterstand mit ihren Gemeinden einem Bischof, und die Bischöfe anerkannten als ihren obersten Hirten den Bischof von Rom, den Papst. Der Papst verstand sich als Nachfolger von Petrus, des von Christus selbst bestimmten Leiters der Kirche.

Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich eine Unzahl von religiösen Gebräuchen und Formen des Gebets, des Gottesdienstes und der spezifisch religiösen Lebensführung heraus. Eine wesentliche Komponente davon war die Verehrung von Heiligen, das heisst von Menschen, deren gottgefälliges Leben den Glauben rechtfertigte, sie seien nach dem Tode in den Himmel eingegangen und könnten von da aus den Menschen auf der Erde in ihrem Ringen um das Gute beistehen. Eine andere wichtige Komponente war das Mönchstum, das heisst: das ganz Gott geweihte Leben in Armut, Gehorsam und Keuschheit (sexuelle Enthaltsamkeit und Verzicht auf Ehe) in einer Klostergemeinschaft.

Schon kurz nach dem Tode von Jesus wurden seine Gedanken aufgegriffen und durch kunstvolle Gedankengänge, die sich vorwiegend auf die Bibel und die Beschlüsse der Konzilien stützten, weitergeführt, wodurch sich die christliche Theologie (die Gotteslehre) herausbildete. Sie wurde bereichert durch das Leben und die Schauungen vieler Heiliger. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs die christliche Theologie zu einem kaum mehr überblickbaren gewaltigen Gebäude aus. Wer Priester werden wollte, musste zuerst Theologie studieren. Die unterschiedlichen Auffassungen über die richtige Lehre des Meisters und die richtige Form der Gottesverehrung führten in all den folgenden Jahrhunderten immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die Versammlung der Bischöfe (Konzil) entschied jeweils über die Reinheit der Lehre, was aber nicht verhüten konnte, dass sich einzelne Gemeinschaften, ja ganze Länder von der Kirche abspalteten und dass die Vertreter der verschiedenen christlichen Konfessionen einander sogar mit Waffengewalt bekämpften.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde die christliche Religion in Europa zur allgemeinen Grundlage des Fühlens, Denkens und Handelns. Praktisch jedermann war getauft und wurde in der christlichen Lehre unterrichtet. Baukünstler, Bildhauer, Maler, Dichter und Musiker stellten sich in den Dienst der christlichen Verkündigung. So ist denn die abendländische Kultur in hohem Masse geprägt und durchdrungen durch das Christentum. Herrliche Bauwerke aus vielen Jahrhunderten legen Zeugnis davon ab, dass der Gottesdienst das Zentrum im Leben der Menschen bedeutete und auch heute noch bedeutet.

Im Laufe der Zeit verband sich die kirchliche Priesterschaft immer mehr mit der weltlichen Macht und übernahm vielerorts eigentliche staatliche Funktionen. Der Papst selbst herrschte über einen eigenen Staat und zog zeitweise wie irgend ein weltlicher Herr in den Krieg. Die Kirche nahm sich auf der einen Seite der Armen und Kranken an, sorgte für die Bildung des Volks und förderte die Kultur, entwürdigte sich aber anderseits immer mehr durch das Streben nach Reichtum, Macht und äusserem Prunk.

Ein bedeutender Markstein für das europäische Christentum war das Jahr 1517, als ein Priester – Martin Luther – die damaligen Missstände in der Kirche anprangerte und im geistlichen Leben zu einer Neubesinnung aufrief. Er schrieb seine Gedanken in 95 Thesen auf und schlug sie an der Türe einer Kirche an. Dies löste in Europa die Reformation aus, eine äusserst leidenschaftliche und auch kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Luthers (und anderer in seinem Sinne wirkender Reformatoren) und der bestehenden (römischen) Kirche, was schliesslich zu einer Abspaltung der Neugläubigen von der römischen Kirche führte. Die Zeit war aber offensichtlich noch nicht reif, dass der Entscheid, welcher Glaubensrichtung man angehören wollte, dem einzelnen Menschen überlassen worden wäre; im Gegenteil: Die weltlichen Landesherren bestimmten, welcher der beiden Konfessionen ihre Untertanen künftig anzugehören hätten. Seit jener Zeit gibt es in Europa katholische und reformierte Gebiete. In Zürich, dem Geburtsort Pestalozzis, führte der Stadtrat im Jahre 1523 unter dem Einfluss ihres Reformators Ulrich Zwingli den neuen Glauben ein. In der ganzen Schweiz blieb etwa die Hälfte des Gebiets beim alten Glauben, was noch nach über 300 Jahren zu Bürgerkriegen um der Glaubensüberzeugung willen führte.

Der Grundgedanke der Reformatoren war, dass künftig nur noch die Bibel als göttliche Offenbarung und damit als Richtschnur für das Leben und den christlichen Glauben gelten sollte. In der Absicht, sich in ihrem Glauben einzig und allein auf die Bibel zu stützen, lehnten die Reformatoren alles ab, was im Laufe der Jahrhunderte durch die Konzilien und die Päpste als wahr, gültig und gottgefällig erklärt worden war. Um alle Menschen an die einzig noch anerkannte Quelle, das geoffenbarte Wort Gottes, heranführen zu können, übersetzte Martin Luther die Bibel, die bis anhin nur in den gelehrten Sprachen der Wissenschafter und Theologen vorlag, in die Volkssprache. Jeder Mensch sollte das ‘Wort Gottes’ selber lesen und sich an keine Interpretationen der Theologen oder der Konzilien mehr halten. Das führte zu einer radikalen Ablehnung von allem, was sich nicht unmittelbar aus der Bibel herleiten liess: Der Papst und die Hierarchie der Priester, aber auch das Priesteramt, wurden abgelehnt, das Mönchtum wurde abgeschafft, die Klöster wurden aufgehoben oder angezündet, die kunstvollen Bilder und Statuen wurden vielerorts zerschmettert oder verbrannt, der farbenprächtige Gottesdienst – ein Sinnenfest mit prunkvollen Gewändern, Weihrauch, Kerzen, vorgeschriebenen lateinischen Gebeten und Gesängen und vielen bedeutungsvollen Zeremonien und Gebärden – wurde abgeschafft und die Heiligenverehrung als Götzendienst bezeichnet und verboten. Die ehemals bunten Kirchenräume wurden weiss getüncht, damit sich der Gläubige ausschliesslich dem Worte Gottes hingebe und durch nichts anderes abgelenkt werde. Einzig die Musik liess Luther im Gottesdienst gelten, weil die Bibel berichtet, dass die Engel des Himmels Gott durch Musik und Gesang loben und preisen.

Die Ablehnung des Lehramtes durch Konzil und Papst führte innerhalb des ‘Protestantismus’ – wie die neue Konfession insgesamt bezeichnet wird – zu einer unüberblickbaren Vielzahl von Glaubensrichtungen und Glaubensgemeinschaften (viele von ihnen – aber längst nicht alle – sind heute im Ökumenischen Weltrat der Kirchen mit Sitz in Genf zusammengeschlossen). Das ist in unserem Zusammenhang insofern von Bedeutung, als zu Pestalozzis Zeit die theologischen Diskussionen über den wahren Glauben auch unter den reformierten Laien mit grosser Leidenschaft gepflegt wurden und vielerorts zu einer zänkischen Atmosphäre der Rechthaberei führten.

Pestalozzi selbst war als Zürcher selbstverständlich reformiert, aber er wurde in einer besonderen Richtung des Protestantismus erzogen, die von Deutschland her ihren Weg nach Zürich gefunden hatte: im Pietismus. Die Pietisten lehnten insbesondere alle rationalistischen Auseinandersetzungen über die biblischen Texte ab und nahmen auch gegenüber der Kultur und den schönen Künsten eine distanzierte Haltung ein. Sie betrachteten die Religion als eine Sache des Herzens und nicht des Kopfs, sie strebten nach einfacher Frömmigkeit, nach einem einfachen, auf Luxus verzichtenden Leben aus dem Geiste der Bibel im Dienste des Bruders. Die Zugehörigkeit zu einer alle Christen umfassenden Kirche war ihnen unwichtig, wesentlich für sie war das von Liebe geprägte Zusammenleben in überschaubaren, personalen Gemeinschaften, in welchen für sie die ‘Wiedergeburt aus dem Glauben’ zu einem fühlbaren Erlebnis wurde.

Die pietistische Erziehung bildete das Fundament für Pestalozzis religiöses Leben und Erleben und bestimmte ihn auch wesentlich in seinen theologischen Anschauungen. Diese wurden indessen auch beeinflusst durch Rousseau, von dem sich Pestalozzi in seiner Jugendzeit hatte begeistern lassen. Rousseau war kein Atheist wie viele Mitstreiter der europäischen Aufklärung, aber er stützte seinen Glauben weder auf die Autorität der Kirche noch auf die biblische Offenbarung. Seine religiösen Überzeugungen wurzelten vielmehr in der eigenen Gefühlsgewissheit und im eigenen vernünftigen Denken. Rousseau stellte also der Offenbarungs-Religion die natürliche Religion entgegen.

Pestalozzi ist Rousseaus Gedankengängen in seinem berühmtem Erziehungsroman ‘Emil’ begegnet. Rousseau lässt dort seine grundlegenden philosophischen und theologischen Anschauungen durch einen ehemaligen Priester der katholischen Kirche darlegen. Seine wichtigsten Glaubenssätze sind – zusammengefasst – die folgenden: Es existiert ein intelligenter Wille, der das Universum bewegt und die Natur belebt, und diesen Willen nenne ich Gott. Damit verbinde ich die Vorstellung von Intelligenz, Macht, Willen und Güte. An sich kenne ich dieses Wesen nicht, aber ich weiss, dass es existiert und dass meine eigene Existenz der seinigen untergeordnet ist. Darum bete ich dieses Wesen demütig an und diene ihm aus dem Grunde meines Herzens. Ich nehme Gott in all seinen Werken wahr und fühle ihn in mir selber. In der Natur des Menschen erkenne ich zwei deutlich voneinander unterschiedene Prinzipien: das eine erhebt ihn zum Forschen nach den ewigen Wahrheiten, zur Liebe, zur Gerechtigkeit, zur Sittlichkeit und in die Regionen des Geistes, das andere zieht ihn hinab zu sich selbst in die Herrschaft der Sinne und der Leidenschaften. Der Mensch ist frei in seinen Handlungen und als freies Wesen von einer nicht materiellen Substanz belebt, welche den physischen Tod überlebt. Die Erinnerung an das vergangene Leben ist dann entweder die Glückseligkeit der Guten oder die Qual der Bösen. Das Böse kommt nicht von Gott, sondern vom Menschen. Gott will nicht das Böse, aber er hindert den Menschen auch nicht, es zu tun, weil er seine Freiheit nicht beschränken will. Gott schuf den Menschen als freies Wesen, damit er aus freier Wahl nicht das Böse, sondern das Gute tue. Das Gewissen ist ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend und sagt dem Menschen unfehlbar, was das Gute ist. Was die Bibel betrifft: Die Erhabenheit der Heiligen Schrift spricht zu meinem Herzen, aber ich anerkenne sie nicht als verpflichtende Offenbarung.

Dieses Gedankengut verband sich in Pestalozzi mit dem angestammten pietistischen Christentum. In beiden Lehren wird dem Herzen der Vorrang gegenüber dem Verstand gegeben, beide Lehren betonen die Einfachheit des Glaubens, beide gehen in Distanz zu ausgeklügelten theologischen Gedankengebäuden. Diese drei Punkte durchziehen denn auch Pestalozzis religiöse Anschauungen während seines ganzen Lebens.

Viele Äusserungen Pestalozzis über religiöse Fragen, in denen Rousseau’sches Denken aufscheint, lassen die oft aufgeworfene Frage als berechtigt erscheinen, ob er zu Recht als eigentlicher Christ bezeichnet werden dürfe. Stellt man diese Frage im Hinblick auf seine eigene Lebensführung, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er die Lehren Jesu Christi mit einer solchen Konsequenz beherzigte, wie dies wohl nur wenigen Menschen möglich wurde. Gewisse Pestalozzi-Verehrer gingen sogar so weit, ihn als einzigen Menschen zu betrachten, der zu Recht den Namen eines Christen tragen dürfe. Stellt man aber die Frage hinsichtlich Pestalozzis theologischen Ansichten, so lässt sich zumindest nicht übersehen, dass er sein tätiges Christentum abseits der Kirche verwirklichte und dass er sich auch weigerte, sich auf gewisse zentrale Lehrsätze der christlichen Theologie festlegen zu lassen. In mancher Hinsicht steht Pestalozzi Rousseaus natürlicher Religion näher als dem angestammten Protestantismus. Das Wesentlichste war wohl, dass er sich nie dazu bereit fand, die Bibel als letzte, den Glauben begründende Offenbarung anzuerkennen. Pestalozzi war davon überzeugt, dass der Annahme des Offenbarungsglaubens ein Akt des natürlichen Glaubens vorausgehe. So musste man zumindest im voraus natürlicherweise annehmen, Gott sei gut, da er ja sonst den Menschen durch die Offenbarung betrügen könnte.

Die Ablehnung des biblischen Wortes als letztes Fundament des Glaubens hinderte Pestalozzi indessen nicht daran, mit der Bibel täglich – insbesondere in jungen Jahren und dann wieder in seinen letzten Lebensjahrzehnten – auf sehr intime Weise umzugehen und sich von ihren Texten innerlich bereichern zu lassen. Er empfand dabei keinerlei Bedürfnis, sie theologisch auszuwerten und aus ihnen alle möglichen Erkenntnis-Schlüsse zu ziehen, sondern er liess sich im Gefühl seines Herzens ansprechen und versuchte, aus diesem Herzens-Verständnis heraus zu handeln. Aber gewiss handelte er nie einzig deshalb, weil sich in der Bibel ein entsprechender Appell vorfand, sondern er erhielt durch die Lektüre der Bibel vielmehr eine Kraft, die sich mit der in seinem Herzen lebendigen Kraft, die zur Liebe und zur Wahrheit drängte, aufs Innigste verband.

Mit Rousseau teilte Pestalozzi auch die einfache Gefühlsgewissheit, dass der Mensch nach dem Tode in einer nichtmateriellen Welt weiterlebt und dass diese nachtodliche Existenz in einem kausalen Zusammenhang zur diesseitigen Lebensführung steht. Diese Überzeugung ist zwar ebenso grundlegend für das christliche Denken, aber Pestalozzi begründete sie nicht durch Bezugnahme auf die Bibel, sondern – eben wie Rousseau – durch sein Vertrauen auf sein eigenes Denken und Fühlen. Und wie Rousseau weigerte sich auch Pestalozzi, sich über dieses nachtodliche Leben weitere Gedanken zu machen oder es durch irgendwelche Vorstellungen konkretisieren zu wollen. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben sollte dem Menschen vor allem Kraft geben, seine irdische Existenz gemäss seiner innersten Bestimmung zu leben.

Überhaupt war Pestalozzi zeitlebens bestrebt, die Unterscheidung zwischen geistlichem und profanem Leben zu überwinden. Die Religiosität sollte sich ganz mit dem Auftrag des Menschen in der Welt verbinden und sich in jedem Fall im sittlichen Handeln und in Taten der Liebe als wirksam erweisen. Pestalozzi hielt gar nichts von einer religiösen Praxis, die das Interesse des Menschen für die irdischen Angelegenheiten lähmte oder ihn gar ganz für sich in Anspruch nahm, indem sie ihn der Welt entfremdete.

Im Gegensatz zu gewissen christlichen Theologen versagte es sich auch Pestalozzi, irgend etwas anderes über das Wesen Gottes aussagen zu wollen, als etwa: Er ist gut, er ist gerecht, er ist die Liebe, er ist Vater. Alle Vernünfteleien von Philosophen und Theologen über das innere Sein Gottes betrachtete er als wirkliche und anmassende Hirngespinste. Er fühle Gott als seinen Vater und sich selbst damit als Kind Gottes. In der starken Betonung der Gottes-Kindschaft des Menschen kam wiederum stärker sein angestammtes Christentum zum Ausdruck.

Pestalozzi war auch – hier in Übereinstimmung sowohl mit Rousseau als auch der traditionellen christlichen Auffassung – davon überzeugt, dass es letztlich doch stets der wirklich tief im Herzen gefühlte Glaube an Gott ist, der den Menschen davon abhält, seinen ungehemmten Lebensgenuss auf Kosten der Mitmenschen zu suchen, dass also der religiöse Glaube das wohl einzige Mittel ist, um den Egoismus in sich selbst überwinden zu wollen und zu können. Darum steht bei Pestalozzi die sittliche Erziehung in engstem Zusammenhang mit der religiösen Erziehung, was sich schon darin zeigt, dass er oft – beides umgreifend – von der sittlich-religiösen Erziehung als einer untrennbaren Einheit spricht. Pestalozzis Erziehungsidee lässt sich daher nur verkürzt verwirklichen, wenn man sich zur Ausklammerung der religiösen Erziehung entschliesst.

Ein Problem, das die Theologen immer wieder beschäftigte, ist die Frage, ob Gott als ein Wesen zu verstehen ist, das unabhängig vom Menschen in einem Jenseits – in der Transzendenz – lebt, oder ob er als ein im Innersten der menschlichen Wesenheit wirkendes Prinzip verstanden werden soll. Es ist nun typisch für Pestalozzi, dass er diese beiden Gottesverständnisse – das transzendente und das immanente – nicht gegeneinander ausspielte, sondern sie mit grosser Selbstverständlichkeit miteinander verband. So spricht er ebenso unbefangen vom ‘Vater im Himmel’ wie von ‘Gott im Innersten meiner Natur’. Mit zunehmendem Alter neigte er sich allerdings mehr dem immanenten Gottesverständnis zu und betonte immer stärker das göttliche Sein und Wirken in der höheren Natur des Menschen, ohne sich allerdings gegen ein transzendentes Gottesverständnis auszusprechen.

Wie im ersten Kapitel dieser Abhandlung dargelegt wurde, hat Pestalozzi in den ‘Nachforschungen’ aufgezeigt, dass letztlich jedes wesentliche Phänomen des menschlichen Lebens unter drei verschiedenen Blickwinkeln verstanden werden will, nämlich als natürliches, als gesellschaftliches oder als sittliches Geschehen. Diese Sichtweise gibt nun Pestalozzi die Möglichkeit, die Religion als solche zu differenzieren und ihren anthropologischen Stellenwert aufzuweisen:

Im unverdorbenen Naturzustand besitzt der Mensch keine Religion, denn tierische Unschuld opfert, segnet und verflucht nicht. Im verdorbenen Naturzustand ist die Religion Aberglauben: Der Mensch betet die Kräfte und Erscheinungen der unerklärlichen Natur als Gott an, er stellt sich einen Gott vor, der deutlich seine eigenen Züge trägt, und macht sich ein Bild der Glückseligkeit, das seine natürlichen Neigungen und Instinkte befriedigt.

Im gesellschaftlichen Zustand ist die Religion ratgebend, helfend und kunsterfindend, aber sie wird je nach den Bedürfnissen und Vorteilen eines Staates rasch selbstsüchtig, feindselig und rachgierig. Die Religion des gesellschaftlichen Menschen wird leicht zur Dienerin der Staatsmacht und dadurch ebenso leicht zum Betrug. Der Gott des gesellschaftlichen Menschen kämpft für diejenigen, die ihn anbeten und verehren, und belohnt sie für diese Anbetung und Verehrung.

Erst im sittlichen Zustand ist dem Menschen wahre Religion möglich und hilft ihm, nach dem Edelsten zu streben, das er zu erkennen vermag. Sie ist, wie die Sittlichkeit, ganz individuell: ein wortloses und in Taten der Liebe ausfliessendes Gewahrwerden der göttlichen Wirklichkeit im Innersten des Herzens.

Pestalozzi bezeichnet die Religiosität des Menschen im Naturzustand und im gesellschaftlichen Zustand als bloss gottesdienstlich, die Religiosität im sittlichen Zustand indessen als göttlich.

Es ist nun bezeichnend für Pestalozzi, dass diese Gedankengänge ihn nicht dazu verleiten, die bloss gottesdienstliche Religion des Natur- oder des gesellschaftlichen Menschen abzulehnen. Beide sind dem Menschen als Hilfeleistung, als ‘sinnliche Handbietung ins Gebiet der Sittlichkeit’ notwendig. Gefordert werden muss allerdings, dass das Gottesdienstliche der Religion – das heisst: alles äusserlich Sichtbare, alles Bildhafte, alles Kirchlich-Gesellschaftliche – das wesentlich Göttliche nicht überwuchert oder gar verhindert, da dadurch das Mittel den Zweck auffressen würde.

Diese Überlegungen ermöglichen Pestalozzi auch eine Antwort auf die Frage nach der besten Religion. Er sagt: Es ist diejenige, die in ihrem inneren Wesen am meisten göttlich, in ihrer Form aber am wenigsten und doch genügend gottesdienstlich ist, um dem Menschen eine ausreichende Hilfe gegen den tierischen Sinn seiner Natur sein zu können. Nach Pestalozzis Ansicht erfüllt das Christentum diese Bedingung am besten, denn er ist überzeugt: Das Christentum ist ganz Sittlichkeit und darum auch ganz die Sache der Individualität des einzelnen Menschen. Bedeutsam ist, dass Pestalozzi dieses Bekenntnis zum Christentum ausgerechnet in einer Zeit niederlegte, in der er seiner angestammten Religion gefühlsmässig vielleicht am fernsten stand. Die in Stans wieder möglich gewordene soziale Tätigkeit belebte auch wieder seine religiöse Innenwelt. Mit zunehmendem Alter vertiefte sich insbesondere seine geistige Beziehung zur Person von Jesus. Er sah in ihm den göttlich vollkommenen Menschen, in welchem die Göttlichkeit ganz zur Vollendung gekommen war, und verstand die Nachfolge des göttlichen Meisters als die Erlösung des Menschen aus aller Lieblosigkeit und Verstricktheit. Aber Jesus war ihm nicht bloss Vorbild und göttlicher Erlöser, sondern eine Geist-Person, die er im Tiefsten seines Herzens liebte. Zwar wollte sich Pestalozzi nie auf irgendwelche Lehrsätze (Dogmen) der christlichen Theologie festlegen lassen, doch zeigt dieses mystische Einswerden mit der Gestalt Jesu, dass Pestalozzi in seinem religiösen Leben geistige Dimensionen erreichte, welche die bloss natürliche Religion eines Rousseau weit übersteigen. So zeigt es sich denn, dass dieser gewiss Pestalozzis theologisches Denken in jungen Jahren mit beeinflusste, dass aber Pestalozzi in seinem Leben eine Frömmigkeit entfaltete, welche tief im Christentum wurzelte und als reinste Ausprägung christlicher Lebensgestaltung gelten darf.

Die Überzeugung, das Christentum sei die beste Religion, hinderte indessen Pestalozzi nicht daran, im Zusammenleben mit den Mitmenschen äusserste religiöse Toleranz zu üben. Nie hätte er es über sein Herz gebracht, einem Menschen, der in ehrlicher Gesinnung an seinen religiösen Ansichten hing, diese ausreden oder widerlegen zu wollen, auch wenn er sie selbst nicht teilte. Seine Toleranz fand allerdings dort ein Ende, wo der zynische Heuchler in der Maske des frommen Mannes auftrat, um seine Mitmenschen auszubeuten oder zu unterdrücken. Dann erhob er seine Stimme und rückte die Wahrheit ans Licht.

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