Unterrichten im Geiste Pestalozzis
Einleitung
Im Spätherbst des Jahres 2005 kam ich in Kontakt mit PestalozziWorld, einer Gruppe von Institutionen, die sich für pädagogische Entwicklungshilfe im Sinne der Grundsätze Pestalozzis einsetzt. Ich wurde gebeten, einen Grundlagentext für die praktische Umsetzung von Pestalozzis Ideen im Unterricht zu erarbeiten.
Diese Arbeit liegt hier vor. Dabei lege ich hier nicht dar, wie Pestalozzi oder seine Mitarbeiter seinerzeit unterrichtet haben, sondern ich versuche zu zeigen, wie der heutige Schulunterricht aussieht, wenn man ihn im Geiste Pestalozzis gestaltet. Denn was uns heute an Pestalozzi interessiert und was man auch heute noch in die Praxis umsetzen kann, ist ja nicht exakt das, was in Pestalozzis Schulen (in Burgdorf oder Yverdon) gemacht wurde, sondern es sind seine allgemeinen Erziehungs- und Bildungsgrundsätze. Pestalozzi bezeichnete sie zuerst ganz einfach als „Methode“, später – was wohl deutlicher und verständlicher ist – als „Idee der Elementarbildung“.
Weil nun diese Grundsätze verhältnismässig allgemein formuliert und dementsprechend weit gefasst sind, gibt es in der konkreten Unterrichts- und Erziehungssituation wohl auch immer verschiedene Möglichkeiten der Anwendung dieser Prinzipien. Wie diese Anwendung aussieht, hängt somit auch von jener Person ab, welche die Entscheidung zu treffen hat, ist also ein Stück weit subjektiv. Ich entwickle meine Gedanken auf der Grundlage meiner 43 Jahre dauernden Lehrtätigkeit. In den ersten 17 Jahren führte ich eine kleine Landschule mit allen 8 Volksschulklassen im selben Schulzimmer. Im Anschluss daran studierte ich an der Universität Zürich Pädagogik und Psychologie, spezialisierte mich auf Pestalozzi und wirkte in der Folge in der Lehrerbildung.
1. Pestalozzis grundlegende pädagogische Ideen
1. 1. Das Grundprinzip: Naturgemässheit
Wer das Wesen des Menschen kennen lernen will, gewinnt schon dadurch eine Reihe von Erkenntnissen, dass er den Menschen mit dem Tier vergleicht. Betrachten wir z.B. die Honigbiene, so stellen wir fest, dass sich ihr Leben im Bienenstaat heute noch genau so abspielt wie vor zweitausend Jahren, und es wird auch in zweitausend Jahren noch so sein. Es genügt daher, einen einzigen Bienenstock zu studieren, um zu wissen, wie die Biene lebt, was also die Natur der Biene ist. Ganz anders beim Menschen: Erstens unterscheidet sich das Leben jedes Individuums von jenem der andern, und zweitens leben und lebten Menschen in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsformen, und diese werden sich auch künftig verändern. Das könnte zur Annahme verleiten, es gebe beim Menschen nichts Feststehendes, alles sei veränderbar, je nach den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen.
Einer solchen Ansicht tritt Pestalozzi mit jener Menschen-Lehre entgegen, die ich im Rahmen der „Grundgedanken Pestalozzis“ ausführlich dargelegt habe. Er ist überzeugt, dass es trotz der vielen individuellen Unterschiede und trotz des ständigen Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse beim Menschen etwas Unveränderliches, Ewiges gibt, das im Leben jedes Individuums und bei allem gesellschaftlichen Wandel seine Gültigkeit behält. So hat jeder, wo, wann und wie er auch immer lebt, seine physischen und seelischen Bedürfnisse, jeder ist mit physischen und geistigen Kräften und Anlagen ausgestattet, jeder hat sich mit seiner Selbstsucht auseinanderzusetzen, jeder leidet an Einschränkungen durch die Gesellschaft, solange er sich nicht zur Sittlichkeit erhoben hat, und jeder erreicht ein wahrhaft erfülltes Leben erst durch seine Versittlichung. Jeder ist, ohne eine Ausnahme, mit einer höheren Natur begabt, die sich durch ein Leben in Wahrheit und Liebe entfaltet und dann das menschliche Dasein als sinnvoll erleben lässt. Pestalozzi bezeichnet dieses Unveränderliche, Ewige als Menschennatur, oft ganz einfach als Natur.
Nun ist nach Pestalozzis Überzeugung die menschliche Natur so geartet, dass der Einzelne seine wahre Bestimmung, die Menschlichkeit, nicht erreichen kann ohne Erziehung, d.h. ohne Einwirkung von Mitmenschen und von gesellschaftlichen Erfordernissen. Würde man den heranwachsenden Menschen einfach sich selbst überlassen, würde er verwildern und verwahrlosen. Das Insgesamt dessen, was die jeweiligen Erziehungsmächte ersinnen, um auf das Kind einzuwirken, bezeichnet Pestalozzi oft als Erziehungskunst, meist aber nur kurz als Kunst. Das Wort „Kunst“ hat natürlich heute eine ganz andere Bedeutung, und so kommt es, dass Pestalozzi von vielen missverstanden wird, die nur ein paar Sätze von ihm lesen und den genauen Sinn seiner Worte nicht kennen.
So stehen denn bei der Entwicklung jedes Menschen zwei „Mächte“ einander gegenüber: Auf der einen Seite ist es die unveränderliche Menschennatur in ihrer jeweils individuellen Ausprägung, auf der andern Seite ist es Kunst, die je nach gesellschaftlicher Situation veränderbar ist.
Nun erhebt sich die Frage, welcher der beiden Mächte, der Natur oder der Kunst, das Vorrecht zusteht. Für Pestalozzi ist hier kein Zweifel möglich: Der Natur gehört vor der Kunst der unbedingte Vorrang. Das ist eigentlich nur logisch, denn wenn die Natur unveränderlich, die Kunst aber veränderbar ist, muss sich die Kunst nach der Natur richten. So fordert denn Pestalozzi, die Kunst müsse sich der Natur unterwerfen, die Erziehung und die Bildung müssten also naturgemäss sein, wenn der Mensch sein Ziel, die Menschlichkeit, erreichen solle. Die Forderung nach Naturgemässheit in der Erziehung ist in Pestalozzis Erziehungslehre das absolute Fundament, und jede weitere Forderung ist nichts anderes als das Verdeutlichen und Konkretisieren dieser ersten Grundforderung. Alles, was man vom Kind verlangt, das gegen seine Natur gerichtet ist, also nicht naturgemäss ist, verbildet es und führt es weg vom letzten Ziel von Erziehung und Bildung: von der Menschlichkeit.
So ist es denn für einen Lehrer, der im Geiste Pestalozzis unterrichten und erziehen will, das allererste Gebot, dass er sich zu jeder Zeit und bei allem, was er tut, die Frage vorlegt: Entspricht das, was ich beabsichtige, was ich tue, was ich von den Kindern verlange, was ich ihnen verbiete, der Natur des Menschen, entspricht es der Natur der Kinder, ist es wirklich naturgemäss?
Da stellt sich der Praktiker natürlich sogleich eine neue Frage: Woran erkenne ich, dass das, was ich mit den Schülern unternehme, naturgemäss ist? Der erfahrene Lehrer, der sich in die Ideen und das Denken Pestalozzis eingearbeitet hat, weiss dies in der Regel schon im Voraus, weil er die Schüler kennt, weil er sich in sie einfühlen kann und weil er die Zusammenhänge verstanden hat. Aber für den weniger Erfahrenen gibt es eine einfache Regel: Wenn sich die Schüler bei einem Stoff oder bei der Anwendung einer bestimmten Lehrmethode oder innerhalb einer bestimmten Situation als lernunwillig, unmotiviert, ablehnend, zerstreut gebärden, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass der Unterricht nicht naturgemäss ist. Wenn sie hingegen mit Freude bei der Sache sind, dann darf der Lehrer die Gewissheit haben, dass sein Unterricht naturgemäss ist. Dann treten auch kaum Konflikte zwischen den Schülern oder zwischen Schülern und dem Lehrer auf.
Nun hat „Naturgemässheit“ ziemlich viele verschiedene Aspekte, und es gibt daher oft ganz verschiedene oder auch mehrere Gründe, weshalb die Schüler im einen Fall mit Freude mitmachen, im andern aber mit Lernunlust reagieren. Ich kann aber an dieser Stelle nicht alle Verstösse gegen die Naturgemässheit aufzählen, da ich ja in den folgenden Kapiteln eigentlich nichts anderes mache, als meine Gedanken über naturgemässes Unterrichten zu entwickeln. So beschränke ich mich denn hier auf ein einziges Beispiel eines Verstosses gegen die Naturgemässheit, der leider in unseren Schulen nur zu oft beobachtet werden muss: Das Nichtbeachten des angemessenen Alters der Schüler für die Wahl eines Stoffes oder einer Lehrmethode. Sehr oft nämlich muten unsere Lehrpläne und Lehrmittel oder die unkundigen Lehrer ihren Schülern solche Stoffe zu, zu denen sie noch keinen Zugang haben oder für die sie kein echtes Interesse aufbringen können. Je jünger die Kinder sind, desto konkreter, sinnenfälliger, greifbarer muss ein Stoff sein. So lässt sich leider immer wieder feststellen, dass Schulanfänger im Rahmen der Mathematik viel zu früh zum Hinschreiben abstrakter Formeln angeleitet werden, ohne ihren Bezug zu praktisch nachvollziehbaren Handlungen zu erkennen. Oder im Sprachunterricht behelligt man Kinder in einem zu frühen Alter mit sprachtheoretischen Gedankengängen, statt in ihnen durch kind- und altersgemässe Übungen die Freude am Reichtum der Sprache, am richtigen Sprechen und freudvollen Schreiben zu wecken. Oder im Geschichtsunterricht konfrontiert man sie mit gesellschaftstheoretischen und politischen Gedankengängen und erwartet man von ihnen alle möglichen eigenen Forschungsergebnisse, anstatt sie durch spannende, anschauliche Erzählungen ins Leben der Menschen vergangener Zeiten hineinzuführen. Und in der Geographie sollen sie statistische Tabellen interpretieren oder global auftretende Naturphänomene erklären, statt dass man sie mit der Vielfalt von Landschaften und der in ihnen lebenden Menschen durch Bilder, durch Erzählungen oder – wenn es möglich ist – durch Ausflüge oder Reisen vertraut macht. In der Biologie ist oft in einem Alter von Molekularbiologie, von Genetik und Systematik die Rede, in welchem die Schüler zuerst einmal ein Blume anschauen, die häufigsten Pflanzen kennen lernen oder ein Tier beobachten und mit ihm Umgang pflegen sollten. Bei uns ging man einmal so weit, dass man den Kindern ein Lesebuch in die Hände gab, in welchem man ihnen die Relativitätstheorie von Albert Einstein erklären wollte. Das mutete man Schülern zu, die nicht die geringsten physikalischen Grundkenntnisse hatten, also z.B. nicht einmal das Hebelgesetz, das Fallgesetz oder den Energiesatz kannten. Glücklicherweise ist dieses Schulbuch wieder vom Markt verschwunden.
1. 2. Entwicklung von Kräften und Anlagen
Wie im letzten Kapitel dargelegt, gebührt der Natur des Menschen das unbedingte Vorrecht gegenüber der Kunst, also gegenüber dem, was von aussen an den jungen Menschen herangetragen wird. Diese Entscheidung beruht unter anderem auf der Überzeugung, dass das in der Erziehung zu erstrebende Ideal, nämlich die Menschlichkeit, gewissermassen als noch unentwickelter Keim in der Natur des Menschen selber liegt. Damit unterscheidet sich Pestalozzi von jenen Theoretikern, die den Menschen bei dessen Geburt sinnbildhaft als Tabula rasa, als völlig unbeschriebenes Blatt begreifen und daher glauben, man könne aus dem Menschen nach Belieben alles machen, wozu einem gerade der Sinn steht. Nach Pestalozzi soll die Erziehung nichts in den Menschen hineinlegen, sondern sie muss vielmehr etwas aus ihm herausentwickeln, eben die Menschlichkeit. Die naturgemässe Voraussetzung dafür besteht darin, dass jedem Menschen Kräfte und Anlagen mitgegeben sind, die bei der Geburt noch schlummern. Die grundsätzliche Aufgabe von Bildung und Erziehung ist somit die Entfaltung von Kräften und Anlagen.
Wenn Pestalozzi von der „Entfaltung von Kräften und Anlagen“ spricht – was er sehr oft tut –, so hat er allerdings erst in zweiter Linie die individuellen Erbanlagen, welche unterschiedliche Begabungen zu verursachen vermögen, im Auge; in erster Linie versteht er unter „Kräften und Anlagen“ die allgemeinen menschlichen Möglichkeiten, welche dem Einzelnen die Wahrheitserkenntnis, das vernünftige Urteil, die aus dem Herzen kommende Liebe, den religiösen Glauben, die tatkräftige Behandlung all seiner Angelegenheiten und noch vieles andere – eben die Menschlichkeit – gestatten. Aber diese Kräfte sind eben doch bei jedem Individuum wieder in einer etwas anderen Ausprägung gegeben, und deshalb soll jeder das Ziel, die Menschlichkeit, auf seine eigene Weise in seinem Leben verwirklichen.
1. 3. Das Prinzip der Selbsttätigkeit
Nun stellt sich die Frage, durch welches Mittel sich die menschlichen Kräfte entfalten lassen. Pestalozzis Antwort ist einfach und durch die Praxis allseits belegt: Kräfte entfalten sich nur durch deren Gebrauch. Nur wenn das Kind in irgendeiner Weise – äusserlich sichtbar oder im Innern verborgen – selber tätig ist, wenn also seine Kräfte gebraucht und diese damit in Tätigkeit sind, findet Bildung statt. Pestalozzi formuliert diese Erkenntnis als das Prinzip der Selbsttätigkeit. Kräfte, die nicht zur Tätigkeit angeregt werden, verkümmern.
Für den Praktiker bedeutet dies, dass er sich in jedem Augenblick seiner Unterrichtstätigkeit die Frage stellt: „Sind jetzt kindliche Kräfte in Tätigkeit, und sind wirklich jene Kräfte in Tätigkeit, die ich entfalten will?“ Muss er die Frage verneinen, so ist sein Unterricht sinn- und zwecklos. So besteht denn eine der wichtigsten Fähigkeiten, die ein Lehrer haben muss, darin, sich so zu verhalten und den Unterricht so zu gestalten, dass bei allen Schülern die Kräfte in Tätigkeit kommen.
An dieser Stelle möchte ich auf eine Unterscheidung zu sprechen kommen, die für Pestalozzi sehr wichtig ist: Wissen und Können. Für ihn ist klar: Wer viel weiss, aber nichts kann, der ist im Leben unbrauchbar, er ist als Mensch missgestaltet. Das Wissen allein nützt dem Menschen nichts, auch wenn er damit seinen ganzen Kopf voll stopft. Was wirklich ins Leben hinein wirkt, ist das Können. Blosses Wissen kann rasch vergessen werden, aber entwickeltes Können erweist sich immer aufs Neue als hilfreich und nützlich. Darum legt Pestalozzi das Schwergewicht eindeutig auf das Können, und das Wissen soll im Dienste des Könnens stehen. Keinesfalls darf die Schule dem jungen Menschen einfach den Kopf mit einer Menge unverarbeiteten Wissens füllen, sondern sie muss bei all ihrem Tun stets auf das Können, auf das Beherrschen von Fertigkeiten abzielen.
Das lässt sich am Beispiel der Grammatik im Bereiche des Spracherwerbs aufzeigen. So ist es ohne weiteres möglich, dass ein Schüler alle grammatikalischen Regeln, die innerhalb einer Sprache gelten, kennt, aber trotzdem nicht gewandt und korrekt formulieren kann, sich auch mündlich nicht ausdrücken kann und über einen mageren Wortschatz verfügt. Es fehlt ihm also all das, worauf es im Leben wirklich ankommt, nämlich das Beherrschen der Sprache in Wort und Schrift. Kein Mensch wird sich für sein umfassendes grammatikalisches Wissen interessieren. Umgekehrt ist es aber möglich, dass jemand eine Sprache sehr gewandt beherrscht und dabei bloss die wichtigsten Regeln kennt. Vielleicht entdeckt er einmal, dass ihm die Erweiterung seines grammatikalischen Wissens zu einer Verbesserung seiner Sprachfähigkeit hilft, und dann steht dieser Wissenserwerb im rechten Verhältnis zum Können: er steht im Dienste des Könnens.
Was hier im Bereich der Sprache gezeigt wurde, gilt in allen Fächern. Am offensichtlichsten ist es im Bereich körperlicher und handwerklicher Fertigkeiten. Zu wissen, wie man strickt, wie man hobelt, wie man einen Ball behandelt usf. mag interessant sein, aber nützen tut es dem Menschen erst, wenn er dies alles auch kann, und das lässt sich bekanntlich nur erreichen durch das Tun, durch das Üben – eben durch den Gebrauch der Kräfte.
So wird sich denn der gemäss Pestalozzis Einsichten unterrichtende Lehrer immer wieder fragen: Habe ich bloss Wissen vermittelt, das bald wieder vergessen wird, oder haben die Schüler ihr Können verbessert? Zum Beispiel in der Mathematik: Wissen sie jetzt einfach den Weg, wie man eine Division durchführt, oder können sie es jetzt auch bzw. können sie es jetzt besser als zuvor. Oder in der Geometrie: Wissen sie jetzt einfach, dass bei einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der über den beiden kleineren Seiten errichteten Quadrate gleich gross ist wie das über der längsten Seite errichtete Quadrat, oder können sie dies beweisen und können sie es auch im Leben anwenden, z.B. wenn es darum geht, mittels einer langen Schnur im Felde exakt einen rechten Winkel zu konstruieren? Oder in der Physik: Wissen sie einfach die Formel des Fallgesetzes auswendig, oder können sie damit die Fallbewegung eines Steines mathematisch beschreiben? Oder: Wissen sie, dass sich bei einem Hebel das Verhältnis zwischen Lastarm und Kraftarm dem Verhältnis zwischen Last und Kraft entspricht, oder können sie dies bei einer Schubkarre anwenden? Oder in der Geographie: Wissen sie einfach, wie man das Bodenrelief auf einer Landkarte darstellt, oder können sie sich die Landschaft aufgrund einer Landkarte vorstellen und sie beschreiben? Oder ganz simpel: Wissen sie, wie eine saubere, leserliche Schrift aussähe, oder können sie wirklich schön, leserlich und gewandt schreiben? Die Beispiele liessen sich beliebig vermehren.
Da stellt sich natürlich die einfache Frage, wie denn wirkliches Können zustande kommt, und die Antwort ist ebenso simpel: einzig und allein durch beharrliches Üben, das heisst durch erneute und phantasievoll variierte Wiederholung, bis die Fertigkeit (das Können) erworben ist. Der Unterrichtserfolg hängt eigentlich – übers Ganze gesehen – von zwei didaktischen Massnahmen ab: Auf der einen Seite von der kindgemässen anschaulichen, erlebnisbetonten Behandlung von Wissensstoffen, auf der andern Seite vom beharrlichen, kindgemässen Üben aller Fertigkeiten. (Von beiden soll später noch die Rede sein.) Wer diese beiden Grundpfeiler einer guten Schulführung vernachlässigt, wird immer hinter dem zurückbleiben, was in der Schule erreicht werden könnte.
In der Schweiz und in andern europäischen Ländern sind heute pädagogische Strömungen zu erkennen, die dem Kind kaum mehr eine Leistung abverlangen möchten. Viele finden es nicht kindgemäss, wenn es sich anstrengen oder länger bei einer Sache verweilen soll. Dies ist durchaus nicht im Sinne Pestalozzis, da er ja überzeugt war, dass wirkliche Bildung nur dadurch zustande kommt, dass das Kind selber tätig ist. Das ist aber nichts anderes als Leistung. Nur wenn das Kind etwas leistet, kommt es vorwärts. Aber Pestalozzi wandte sich dagegen, die Leistungen der Schüler durch falsche Mittel erwirken zu wollen, nämlich durch Anstachelung des Ehrgeizes oder durch Einschüchterung. Das heute auf der ganzen Welt übliche System der Schulnoten, das es in Ansätzen schon zu Pestalozzis Zeit gab, lehnte er bewusst ab. Die noch erhaltenen Dokumente aus Burgdorf und Yverdon zeigen, dass Pestalozzis Schüler sehr gute Schulleistungen erbringen konnten ohne die Anwendung irgendeines Notensystems.
Ich möchte an dieser Stelle ein wenig von meinen Erfahrungen in meiner Eigenschaft als Lehrerbildner erzählen, um noch deutlicher zu machen, woran der Praktiker erkennt, dass die Kräfte und Anlagen der Schüler in Tätigkeit sind. Wenn ich jeweils in vielen Schulklassen auf Besuch war, konnte ich dies nämlich sehr leicht feststellen: Waren die Schüler nicht bei der Sache, trieben sie mit dem Tischnachbarn allerlei Allotria, arbeiteten sie unsorgfältig und schnell, um möglichst rasch fertig zu sein, fand keine Kräftebildung im Pestalozzischen Sinne statt. Sind die kindlichen Kräfte wirklich in Tätigkeit, sieht dies ganz anders aus: Dann sind alle auf ihre Arbeit konzentriert, es herrscht eine ruhige Atmosphäre, es wird nur das geredet, was zum Thema und zur Aufgabe gehört, die Kinder wollen auch nicht gestört und von ihrer Arbeit abgelenkt werden (auch nicht durch den Lehrer), und wenn der Lehrer aus irgend einem Grunde den Raum verlässt, so bricht nicht etwa ein Chaos aus, sondern es ist genauso still im Raum wir zuvor, und die Kinder arbeiten, als wäre nichts Besonderes geschehen. Oft habe ich auch beobachtet, dass die Kinder rote Wangen und glänzende Augen bekommen, und sie reagieren ärgerlich, wenn die Schulglocke tönt und sie nun ihre Arbeit abbrechen sollten.
Mancher wird sich fragen: Wie schaffe ich es, dass auch meine Schüler in dieser erfreulichen Weise an der Arbeit sind? Die erste Antwort lautet natürlich: durch die Beachtung aller Prinzipien, die Pestalozzi erkannt und formuliert hat, das heisst durch eine Unterrichtsgestaltung, die mit der Seelenlage und den seelischen Bedürfnissen der jeweiligen Kinder übereinstimmt. Das gilt immer. Aber hier muss auch die Frage beantwortet werden, welche Erziehungsmittel und welche Verhaltensweisen des Lehrers diesen Erfolg ermöglichen. Gewiss ist: Eine solche Lernatmosphäre lässt sich keinesfalls mit Druck, Drohen und Bestrafen erreichen. Die tauglichen Mittel, um das Kind dazu zu bewegen, sich anzustrengen und dadurch seine Kräfte zu gebrauchen und zu entwickeln, sind in erster Linie das Vorbild, die Liebe zum Kind, die Anerkennung seiner Individualität, die Ermutigung sowie die Anteilnahme an seiner Tätigkeit. Ich werde später nochmals auf diesen Punkt zurückkommen.
Man sollte aber nicht meinen, die Schüler zu einem so erfreulichen Lernverhalten zu motivieren, sei besonders schwierig. Der Grund liegt darin, dass die Kinder von Natur aus lernen wollen. Das hat schon Pestalozzi beobachtet und daher immer wieder betont: Das Kind selber will tätig sein, die Kräfte drängen zu ihrer Entwicklung. So schreibt er etwa im ‚Schwanengesang“, seinem letzten grossen Werk (1825): „Auch wird der Mensch durch die Natur jeder dieser Kräfte in sich selbst angetrieben, sie zu gebrauchen. Das Auge will sehen, das Ohr will hören, der Fuss will gehen und die Hand will greifen. Aber ebenso will das Herz glauben und lieben. Der Geist will denken. Es liegt in jeder Anlage der Menschennatur ein Trieb, sich aus dem Zustande ihrer Unbelebtheit und Ungewandtheit zur ausgebildeten Kraft zu erheben, die unausgebildet nur als ein Keim der Kraft und nicht als die Kraft selbst in uns liegt.“ (PSW 28, S. 61) Pestalozzi bezeichnet diesen in jeder Anlage liegenden Entfaltungstrieb auch als „Strebkraft“.
Jeder, der mit Kindern zusammen lebt oder arbeitet und sie aufmerksam beobachtet, kann das Wirken dieser Strebkraft täglich selber feststellen. (Eben in dem Moment, wo ich dies schreibe, kommt meine neunjährige Enkelin zu mir und führt mir mit grosser Freude und sichtlichem Stolz vor, welche Gegenstände sie schon in englischer Sprache benennen kann, dies, nachdem ihr die Grossmutter während einer guten Stunde aus reinem Spass während der Hausarbeit die erste Englischlektion erteilt hat). Für den Lehrer und Erzieher geht es somit darum, diesem Streben der zur Entfaltung drängenden Kräfte zu Hilfe zu kommen, bildhaft gesagt: ihnen die Hand zu reichen. (Das hat z.B. meine Frau gegenüber der Enkelin getan. Sie hat gespürt, dass diese jetzt für eine solche Tätigkeit bereit und reif war, und darum fiel ihr Vorschlag, mit ihr Englisch zu lernen, auf fruchtbaren Boden. Meine Frau hat sich dabei – nebenbei bemerkt – genauso verhalten, wie Pestalozzi dies von Müttern und Vätern erwartet: dass sie nämlich, da sie ihre Kinder kennen und mit ihnen in einem engen Kontakt stehen, in ganz gewöhnlichen Alltagssituationen jede Gelegenheit benutzen, um in den Kindern Kräfte zu entfalten. Die Kraft, die sich bei meiner Enkelin manifestiert hat, bezeichnet Pestalozzi als Sprachkraft.)
Der Schulerfolg in allen unsern Schulen wäre ungleich besser, als er wirklich ist, wenn man als Lehrer in erster Linie jene Tätigkeiten aufgreifen und weiterentwickeln würde, die die Schüler von sich aus tun wollen. Das würde dann natürlich dazu führen, dass man nicht mehr glaubt, alle Schüler müssten stets dasselbe tun und gleichzeitig dieselben Lernziele erreichen. Und trotzdem würde man mit Sicherheit alle grundlegenden Ziele (Lesen, Schreiben, Rechnen usf.) erreichen, weil sich die Schüler in einer Atmosphäre, wo sie sich in ihrem Lerneifer ernst genommen fühlen, einander gegenseitig anregen und beistehen und sich auch willig vom Lehrer anregen lassen.
Eine Schulstube, in der nach Pestalozzi unterrichtet wird, ist darum erfüllt mit freudigem Leben. Der Lehrer redet nicht einfach auf die Schüler ein, sondern entwickelt die Erkenntnisse im Gespräch, er hört auf die Gedanken der Kinder, er lässt sie selber beobachten und forschen, er geht auf ihre Lernbedürfnisse ein, er ermutigt sie zu eigener Phantasie und Kreativität, und er lässt es insbesondere zu, ja er fördert es immer wieder, dass nicht alle dasselbe tun, sondern dass jedes Kind gemäss seinem eigenen Entwicklungsstand zum Lernen kommen kann. Wenn daher Kinder nicht lernen wollen, so zeigt dies entweder, dass die Lernstoffe oder die Art, wie etwas gelernt werden soll, der kindlichen Natur nicht entsprechen, oder es handelt sich um ein Kinder, die durch sehr negative Umweltbedingungen verbildet und verwahrlost wurden.
1. 4. Harmonische Entwicklung der drei Grundkräfte
Ganz offensichtlich verfügen wir Menschen über sehr viele und sehr unterschiedliche Kräfte und Anlagen, um unser Leben zu gestalten. Pestalozzi hat daher den Versuch unternommen, sie in drei grosse Gruppen einzuteilen. Er tut dies in Anlehnung an die bereits aus dem Altertum stammende Einteilung des Seelenlebens in Denken, Fühlen und Wollen (Handeln) und teilt die Kräfte in drei grosse Bereiche ein. Diese „Grundkräfte“ sind die intellektuellen, die sittlichen und die physischen Kräfte. Symbolisch findet diese Dreiheit ihr Abbild in den Organen Kopf, Herz und Hand.
- Am einfachsten zu verstehen ist das, was Pestalozzi mit Kopf bezeichnet. Er meint damit alle seelisch-geistigen Funktionen, die den Menschen zur Erkenntnis der Welt und zu einem vernünftigen Urteil über die Dinge führen. Dazu gehören Wahrnehmung, Gedächtnis, Vorstellung, Denken und Sprache. Pestalozzi bezeichnet diese Kräfte oft auch als „Geist“, als „geistige“ oder „intellektuelle“ Kräfte.
- Schon schwieriger ist Pestalozzis Begriff des Herzens. Er meint damit nicht bloss den gesamten Gefühlsbereich, der alle unsere Wahrnehmungen und Gedanken begleitet, sondern vorerst einmal die sittlichen Grundgefühle der Liebe, des Glaubens, des Vertrauens und der Dankbarkeit, dann aber auch die Tätigkeit des Gewissens, das Erspüren des Schönen und Guten, das sich Ausrichten nach moralischen Werten.
- Sehr komplex ist auch der Bereich der „Hand“. Statt von „physischen Kräften“ spricht Pestalozzi oft auch von „handwerklichen Kräften“, von „Kunst-Kräften“, von „Berufs-Kräften“, von „häuslichen Kräften“ oder sogar von „gesellschaftlichen Kräften“. Alle diese Bezeichnungen zeigen, dass Pestalozzi, wenn er von „Hand“ spricht, das praktische Handeln des Menschen im Auge hat, in welchem sich Handgeschicklichkeit und Körperkraft mit gesundem Menschenverstand und Willen zur fruchtbaren Tat verbinden.
An diese berühmte Einteilung der Kräfte in Kopf, Herz und Hand knüpft Pestalozzi die allbekannte Forderung, dass keine dieser Kräfte vernachlässigt werden darf und dass folglich alle optimal entwickelt werden sollen.
1. 5. Primat der Herzensbildung
Und trotzdem hält Pestalozzi nicht alle drei Kräftegruppen für gleichwertig. Wirklich bedingungslos wertvoll sind seiner Ansicht nach die Herzenskräfte, denn nur diese ermöglichen dem Menschen, sein wahres Ziel zu erreichen: die Menschlichkeit. Zwar müssen auch die Kräfte des Kopfs und der Hand so weit wie möglich entfaltet werden, aber sie gereichen nach Pestalozzis Überzeugung dem Menschen nur dann zum Heil, wenn sie durchdrungen sind durch die entwickelten Herzenskräfte, das heisst: wenn sie im Dienste des Herzens stehen. So kann ein Mensch noch so intelligent oder körperlich gewandt sein – wenn er seine Intelligenz und seine Gewandtheit nicht mit seiner Liebe und seinem Willen zum Guten verbindet, wird er ein Unmensch, der sich selber und seine Mitmenschen unglücklich macht.
Die Forderung nach harmonischer Bildung, das heisst nach Ausbildung aller drei Kräftegruppen, ist für den Lehrer, der im Geiste Pestalozzis unterrichten will, fundamental. Zwar ist es nicht möglich, in jeder Minute stets alle drei Kräftegruppen anzusprechen, denn in gewissen Fächern (wie z.B. in der Mathematik) steht der Kopf und in andern (wie z.B. im Werken oder in der Gymnastik) steht die Hand im Zentrum. Aber in jedem Fall ist es möglich, die Herzenskräfte gleichzeitig in Tätigkeit zu bringen. Wer mit Freude, mit Begeisterung, aber auch mit Rücksichtnahme auf seine Mitschüler bei der Sache ist, ist immer auch mit dem Herzen dabei. Darum gilt für den Pestalozzischen Lehrer: In allem das Herz! Nur, wenn alle – Lehrer und Schüler – mit dem Herzen beim Lehren und Lernen sind, findet wirkliche Menschenbildung im Sinne Pestalozzis statt.
In der deutschen Sprache wird die Bildung des Herzens oft auch als „Gemütsbildung“ bezeichnet. Das Wort „Gemüt“ ist aber schwer in andere Sprachen zu übertragen. Meistens wird es mit dem Begriff „Gefühl“ (Engl. und Franz.: Emotion) übersetzt. Aber nicht jedes Gefühl ist Teil des Gemüts. Wut, Zorn, Hass, Langeweile, Unlust, Schmerz, Bedrückung – das sind auch Gefühle, aber sie sind nicht das Wesentlich dessen, was man unter „Gemüt“ versteht. Erst wenn sich in einem Menschen die Kräfte des Fühlens mit moralischen und ästhetischen Werten verbunden haben, kann von „Gemüt“ gesprochen werden. Darum fordert Pestalozzi die „Veredelung“ der Gefühle. Ein gefühlvoller Mensch hat erst dann wirklich Gemüt, wenn in seinen Gefühlen die „sittlichen Gefühle“ wie Mitgefühl, Liebe, Freude, Dankbarkeit, Ehrfurcht die tragenden Elemente sind. Ein gemüthafter Mensch ist darum immer ein guter Mensch. Er hat ein reiches Innenleben. Er ist feinfühlig, empfindsam und erlebnisstark. Er hat Sinn für alles Feine und alles Schöne. Er liebt unbedingt die Wahrheit und verschmäht darum keineswegs das glasklare Denken. Er ist ein Mensch mit wirklicher Vernunft und verwechselt sie nicht mit kaltem Intellekt. Seine Religiosität ist ihm eine Herzensangelegenheit, und er geht darum theologischen Rechthabereien lieber aus dem Weg.
In der Schule bedeutet dies, dass bei allem, was zum Lernen unternommen wird, das Gemüt der Kinder angesprochen und ergriffen werden soll. Das beginnt vorerst damit, dass die Kinder immer wieder zum richtigen Staunen kommen sollen. Das Gemüt zeigt sich auch darin, ob jemand angesichts des wirklich Grossen und Erhabenen Ehrfurcht empfinden kann. Pestalozzi betont immer wieder, dass die Kinder in diesem Staunen auch den Schöpfer erahnen und lieben lernen sollen. Dann sollen sie all ihr Tun als ein Tätigsein in Freude erfahren können. Die Freude entsteht insbesondere, wenn Kinder ihre eigene Stärke wirklich spüren und die gesteckten Ziele erreichen. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich vom Lehrer und von den Mitschülern angenommen und geliebt fühlen. Bei allem, was sie tun, soll auch immer wieder das Schöne zum Ausdruck kommen und von ihnen empfunden werden können. Es ist darum wichtig, dass die Kinder z.B. nicht bloss schreiben, sondern auch schön schreiben. Dieses gemüthafte Lernen, in dem sich Ehrfurcht, Freude, Freundschaft und Schönheit verbinden, vermag dann im Kind auch die Liebe zur Sache zu wecken, woraus die Liebe zur Welt gedeiht. Werden die Kräfte des Kopfes und der Hand mit den Herzenskräften verbunden und ihnen untergeordnet, so wird jede Tätigkeit des Kindes zu einem liebevollen und anmutigen Tun.
Für den Schulunterricht hat die Bestrebung, alle Kräfte harmonisch zu bilden und den Herzenskräften den Vorrang zu geben, weit reichende Konsequenzen. Immer, wenn es gelingt, sich diesem Pestalozzischen Ideal zu nähern, entsteht im Unterricht das, was man treffend als ‚Erleben’ oder ‚Erlebnis’ bezeichnet. Kommt dies zustande, wird aus echtem Interesse gelernt und man hört auf, nach einer guten Nute zu streben, sondern gibt sich mit Kopf, Herz und Hand ganz der Aufgabe hin. Der Weg, der zum Lernergebnis führt, wird auch nicht mehr als lästig empfunden, sondern gerade dieser Weg ist spannend und erfüllend. Die Schüler arbeiten fleissig und engagiert, und es bleiben auch jene Konflikte zwischen Schülern und Schülern oder zwischen Lehrern und Schülern weitgehend aus, die bei nicht naturgemässem Unterrichten immer wieder störend zutage treten.
1. 6. Entwicklungsgesetze
Man kann sich fragen, weshalb Pestalozzi die Kräfte des Menschen überhaupt in die drei Hauptgebiete Kopf, Herz und Hand einteilt. Er tut dies, weil er erkannt hat, dass sich diese drei Grundkräfte nach je eigenen Gesetzen entfalten. Daraus erwächst dem Lehrer und jedem Erzieher die Aufgabe, diese unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten aufzuspüren und die Kräfteentfaltung darauf zu gründen.
1. 6. 1. Die Stufen der sittlichen Entwicklung
Als erstes hat Pestalozzi die Gesetzmässigkeit der sittlichen Entwicklung erforscht und beschrieben. Wesentlich ist, dass man bei der sittlich-religiösen Bildung nicht mit den üblichen moralischen Belehrungen anfängt. Die Herzensbildung muss nämlich bereits in einem Alter grundgelegt werden, in welchem das Kind noch keine Möglichkeit hat, moralische Belehrungen zu erfassen.
Die sittliche Elementarbildung durchläuft nach Pestalozzi einen Weg in drei Stufen. Die erste Stufe ist die Weckung einer sittlichen Gemütsstimmung. Dies geschieht dadurch, dass die Mutter dem Kinde die physischen Bedürfnisse befriedigt und sich in Liebe mit seinem Herzen verbindet. Dabei entfalten sich die sittlichen Grundgefühle der Liebe, des Vertrauens und Glaubens sowie der Dankbarkeit. Diese Gefühlsanlagen können indessen nur darum entfaltet werden, weil im Kind die Bereitschaft zu diesen Gefühlen von Natur aus vorhanden ist. Entscheidend ist aber, dass sie sich nur dann naturgemäss entfalten, wenn diese Gefühle auch bei der Mutter lebendig sind.
Damit hat Pestalozzi einen Vorgang in der Beziehung von Mensch zu Mensch gesehen und ins Zentrum der Betrachtung gerückt, dessen Bedeutung für die Erziehung und das menschliche Zusammenleben nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es handelt sich um die allgemeine Erkenntnis, dass sittliches Leben in einem andern Menschen immer nur durch die gelebte Sittlichkeit der Mitmenschen – im besonderen der Erzieher – geweckt und gefördert werden kann. Im Bereiche des Kopfs und der Hand mögen Druck, Zwang und Nötigung noch gewisse Fortschritte erwirken, obwohl eine solche Kräfte-Anregung auch hier im allgemeinen nicht wünschenswert ist; aber im Bereiche des Herzens versagen alle Versuche, einen Entwicklungsfortschritt durch äusseren Druck erzwingen zu wollen. Man kann keinem Menschen mit wirklichem Erfolg befehlen, er solle sein öffnen, sich am Guten und Schönen erfreuen, seinen Mitbruder lieben, Vertrauen und Dankbarkeit entwickeln, Ehrfurcht vor dem Verehrungswürdigen zeigen und in seinem Herzen das Wirken des Schöpfers spüren und darauf antworten. Man wird im schlimmsten Fall einen Menschen damit zum Heuchler abrichten, der sich aus Angst nach aussen hin sittlich gebärdet.
Dieser Gedanke ist mir so wichtig, dass ich ihn noch etwas verdeutlichen möchte durch einen Vergleich mit der Viola d’amore. Dieses barocke Streichinstrument ist zumeist mit 14 Saiten bespannt, nämlich mit 7 Streich- und (etwas tiefer liegend) 7 Resonanz-Saiten. Die Resonanz-Saiten können nicht mit dem Bogen bestrichen werden, sondern beginnen nur zu klingen, wenn auf den Streich-Saiten der entsprechende Ton erzeugt wird. Dies kommt zustande durch das physikalische Gesetz der Resonanz, und verleiht dem Instrument einen eigenartigen, lieblichen Klang. Diese Gesetzmässigkeit lässt sich auf die Möglichkeiten des Erziehers im Bereich der Herzensbildung übertragen: Die anzustreichenden Saiten mögen nun die sittlichen Lebensmöglichkeiten des Erziehers symbolisieren, die Resonanz-Saiten diejenigen der Kinder. So wie nun eine Streich-Saite keine andere Möglichkeit hat, die Resonanz-Saiten zum Schwingen zu bringen, als dadurch, dass sie selbst zu klingen beginnt, genauso können wir Erzieher seelisch-geistige Kräfte im Kinde nur durch unser eigenes Innenleben erwecken.
Mit andern Worten: Sittliches Leben lässt sich nur durch Resonanz entwickeln. Liebe erregt Liebe, Vertrauen schafft Vertrauensbereitschaft, Ehrfurcht fördert den Respekt, eigene Offenheit öffnet Seele und Geist, eigene Verantwortlichkeit regt an zu verantwortungsbewusstem Handeln, eigene Bindung an Werte ermutigt zu werthaftem Tun. In dem Masse, wie der Erzieher seelisch-geistiges Leben in sich selbst erweckt hat und es in ihm lebendig bleibt, in dem Masse vermag es die entsprechenden Kräfte in den ihm anvertrauten jungen Menschen anzuregen. Sittliches Leben wird somit ausschliesslich in mitmenschlicher Verbundenheit entwickelt. Pestalozzi: „Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich“ (PSW 24 A, 19). Für Pestalozzi ist es somit für die sittliche Entwicklung des Kindes von ausschlaggebender Bedeutung, ob es in seiner frühen Kindheit eingebettet ist in ein Familienleben, das geprägt ist durch Liebe, Vertrauen, Rücksichtnahme und Verständnis. Dieses Leben ist an sich bildend, es bietet dem Kind die Möglichkeit einer direkten Anschauung, und zwar einer Anschauung nicht nur für die äusseren Sinne (das nennt Pestalozzi „äussere Anschauung“, die der Entwicklung der geistigen Kräfte dient), sondern einer Anschauung für den „inneren Sinn“, also eine eigentliche Herzensanschauung, die „innere Anschauung“. Ganz in Übereinstimmung mit dieser Einsicht Pestalozzis lässt der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry in seinem Buch über den kleinen Prinzen den Fuchs den berühmten Satz sprechen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Für Pestalozzi ist die innere Anschauung die Grundlage für die Herzensbildung.
Es sind also nicht die Dinge der Natur, die den Menschen erziehen, wie dies Rousseau für die ersten 15 Lebensjahre annahm, und es sind auch nicht elektronische Apparate, wie heute von vielen geglaubt wird. Einzig der Mensch – und zwar der um Sittlichkeit bemühte Mensch – vermag den Menschen zu erziehen, und dies gelingt ihm nur, wenn er sich mit dem Geist und der Seele der ihm anvertrauten jungen Menschen verbindet und ihnen als wahrer Mitmensch begegnet. Dann lebt das kleine Kind in der inneren Anschauung, dann werden seine sittlichen Kräfte durch Resonanz zur Eigentätigkeit angeregt.
Das hat natürlich für den Lehrer, der nicht bloss Wissensstoff vermitteln, sondern durch seinen Unterricht auch zur Menschlichkeit erziehen will, schwerwiegende Konsequenzen: Er muss sich bewusst werden, dass seine eigene Lebensgestaltung und sein eigenes Bemühen um das Gute eine wesentliche Bedingung darstellen für seinen Erziehungserfolg. Daher betrachtet ein nach Pestalozzis Grundsätzen wirkender Lehrer seinen eigenen Entwicklungsweg, hin zum Ziel der Menschlichkeit, als eine ebenso wichtige Aufgabe wie die gewissenhafte Vorbereitung und Durchführung seiner Unterrichtslektionen.
Und nun wieder zurück zu Pestalozzis dreistufigem Entwicklungsgang der Kräfte des Herzens: Die erste Stufe, die Erweckung einer sittlichen Gemütsstimmung, wird somit in der Schule verwirklicht durch das sittliche Leben des Lehrers auf der Grundlage des Gesetzes der Resonanz.
Als zweite Stufe betrachtet Pestalozzi das Tun des Guten auf der Grundlage des Gehorsams. So hat er selber – als Beispiel – die Kinder im Waisenhaus in Stans ermutigt, ihr Brot mit hungernden Kindern in einem benachbarten Tal zu teilen. Damit liess er sie die Erfahrung machen, wie sich eine solche Tat auf der einen Seite bei denjenigen auswirkt, die in ihren Genuss kommen, und was auf der andern Seite denjenigen erleben, die das Gute selber tun.
Ein Lehrer, der sich bemüht, diese Erkenntnis Pestalozzis in seinen Unterricht einzubeziehen, sucht immer wieder nach Möglichkeiten, wie er das schulische Lernen mit moralischem Handeln verbinden kann. Als Beispiel möchte ich jenen Lehrer nennen, der mit seinen Schülern alle zwei Jahre in einem grösseren Projekt einen Jahreskalender, bestehend aus 26 Blättern für jeweils zwei Wochen, gestaltet. Die didaktische Grundlage ist die intensive Auseinandersetzung mit einem Stoffthema, das im menschlichen Leben und auch im Erleben der Schüler von grosser Bedeutung ist, z.B. Wasser, Wald, Haus, Verkehr, Grenzen überschreiten u.a. Jeder Schüler gestaltet dabei eines der Blätter, indem er seine Ideen und Erkenntnisse auf ansprechende und originelle Art zeichnerisch und mit kurzen Worten darstellt. Am Schluss werden die Wochenblätter vervielfältigt, zu Wand-Kalendern gebunden und öffentlich verkauft. Der Verkaufserlös wird dann eingesetzt für ein Projekt in irgendeinem Entwicklungsland. War z.B. das Kalenderthema „Wasser“, so wird mit dem Geld irgendwo in Afrika die Errichtung eines Brunnens finanziert. Die Schüler lernen so nicht bloss die weit reichende Bedeutung des Wassers kennen, sondern engagieren sich bei der Gestaltung des Kalenders stets im Gefühl, durch ihre Arbeit notleidenden Menschen im fernen Afrika zu helfen.
Es ist selbstverständlich, dass man nicht jeden Schulstoff, der zu lernen ist, mit solchen moralischen Handlungen verbinden kann, aber wer im Geiste Pestalozzis unterrichten will, sucht immer wieder nach Möglichkeiten, wie er diesem Anspruch gerecht werden kann.
Als dritte Stufe der moralischen Erziehung betrachtet Pestalozzi schliesslich das Nachdenken und Diskutieren über das Gute. Er ist überzeugt, dass die Schüler erst dann reif sind, über moralische Gesetzmässigkeiten zu reden, wenn sie selber das Gute in sich fühlen und auch die Erfahrung gemacht haben, was es bedeutet, das Gute zu tun.
Im Schulunterricht gibt es sehr viele Möglichkeiten, miteinander im Gespräch die Handlungsmotive von Menschen zu beleuchten und zu klären, inwiefern sie als ethisch wertvoll oder moralisch verwerflich zu gelten haben. Im Vordergrund steht der Geschichtsunterricht. Hier begegnen die Schüler immer wieder den Handlungen besonders hervorragender Menschen, die entweder besonders skrupellos oder aber in herausragender Weise moralisch handelten. Dasselbe gilt für den Lese- bzw. Literaturunterricht. Jede gute Geschichte lebt davon, dass sie den Menschen zeigt, wie er immer wieder zu entscheiden hat zwischen dem, was er als gut erkennt, und dem, womit er den andern schadet. Schliesslich können auch die konkreten Konflikte, die in jeder Schulklasse vorkommen, im Zuge ihrer Bewältigung zum Anlass werden, über das Wesen des moralischen Handelns nachzudenken.
1. 6. 2. Die Stufen der geistigen Entwicklung
Pestalozzis Gedankengänge machen deutlich, dass das Bestreben, die sittliche Bildung durch moralische Belehrung zu erreichen, nicht naturgemäss ist, da ihnen das Fundament fehlt, nämlich die innere Beteiligung durch das Gemüt und die eigene Erfahrung des moralischen Handelns.
Aber nicht nur im Bereiche der moralischen Kräfte (Herz), sondern auch im Bereiche der intellektuellen Kräfte (Kopf) stellte sich Pestalozzi gegen die damals herrschende Art des Schulunterrichts: Da lernten nämlich die Schüler über Jahre hinweg mühselig das Lesen anhand von Schriften, die sie nicht verstanden, und sie schwatzten über Dinge, die sie weder selbst erfahren hatten noch in ihrem Wesen verstehen konnten. Pestalozzi führte einen unablässigen Kampf gegen diesen Gebrauch von leeren Worten. Ihm war klar: Bevor man lesen kann, muss man sprechen können, und sprechen kann man nur, wenn man das Gesprochene auch wahrhaftig denkt; das Denken aber beruht auf deutlichen Begriffen, und diese wiederum fussen letztlich auf der realen Anschauung der Dinge. Darum kommt Pestalozzi zu seiner These, „dass die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis sei.“ (PSW 13, 309)
Ein Lehrer, der bei den Schülern die Kräfte des Kopfs naturgemäss entfalten will, muss daher immer wieder dafür sorgen, dass sie die wirklichen Dinge mit allen Sinnen erfassen. Er schult daher bei jeder Gelegenheit den bewussten und exakten Gebrauch der Sinnesorgane: Sehen, hören, betasten, riechen, schmecken usf., d.h. er benutzt die Anschauung als das Fundament, worauf er alles weitere Nachdenken und Reden über einen Unterrichtsgegenstand baut.
Theoretisch unterscheidet Pestalozzi zwischen vier Stufen der Anschauung:
- Auf der ersten Stufe, der „dunkeln Anschauung“, wirken einfache Reize auf die Sinnesorgane, so wie das bei Tieren auch möglich ist. Pestalozzi bezeichnet daher diese Art der Wahrnehmung oft auch als „tierische“ Anschauung.
- Aber bereits die zweite Stufe der Anschauung ist nur noch dem Menschen möglich, denn hier wird er sich der genauen Form bewusst, ist sich auch über die Anzahl im Klaren und kann den Gegenstand oder die Gegenstände insbesondere auch sprachlich benennen. Pestalozzi bezeichnet diese Stufe der Anschauung als „bestimmte Anschauung“.
- Auf der dritten Stufe der Anschauung sollen unter Beteiligung möglichst aller Sinnesorgane möglichst viele weitere Eigenschaften geklärt werden, so z.B. die Oberflächenbeschaffenheit, die Farbe, die Temperatur, der Klang, der Geschmack, der Geruch, das Gewicht, die Konsistenz. Damit wird aus der bestimmten Anschauung eine „klare Anschauung“. Entscheidend dabei ist, dass diese Klärung immer verbunden ist mit der sprachlichen Benennung. Die Schüler können auf dieser Stufe somit nicht nur den Gegenstand an sich benennen, sondern finden auch die zutreffenden Ausdrücke für dessen Eigenschaften. Dies ist indessen nur möglich auf der Grundlage einer intensiven Sinnesschulung, wobei zu beachten ist, dass die Schulung der Sinne, die Anschauung konkreter Gegenstände und die sprachliche Verarbeitung immer Hand in Hand gehen.
- Auf der vierten Stufe geht es darum, den Gegenstand in einen weiteren Zusammenhang hineinzustellen, der im Augenblick mit den Sinnen nicht unmittelbar erfassbar ist. Dazu kommt das Kind nur ausnahmsweise durch eigenes Erforschen, in der Regel aber durch Belehrung des Erziehers. So erfährt es z.B. über irgend einen Gegenstand, wozu er gebraucht wird, wer ihn erzeugt hat, wie er im Verlaufe der Geschichte entwickelt wurde, mit welchen andern Gegenständen er in einem inneren Zusammenhang steht, welchen Wert er hat, welche Gefahren er in sich birgt usf. Indem das Kind dieses Wissen erwirbt, wird dann aus der klaren Anschauung ein „deutlicher Begriff“. Da nun das Wissen über irgendeinen beliebigen Gegenstand grundsätzlich beliebig ausgedehnt werden kann, ist auch der deutliche Begriff nichts endgültig Abgeschlossenes, sondern lässt im Verlaufe des Lebens immer weitere Verdeutlichungen zu.
Im praktischen Schulalltag lassen sich diese vier Stufen nicht sauber trennen, weshalb der Lehrer wissen muss, worauf es wirklich ankommt, nämlich:
- Wo immer möglich, geht man von realen Gegenständen aus.
- Es sollen möglichst alle Sinne angesprochen werden.
- Alles, was wahrgenommen wird, soll klar und verständlich ausgesprochen (sprachlich erfasst) werden. Dadurch erweitert sich der Wortschatz, und die Schüler lernen, nur solche Wörter zu verwenden, unter denen sie sich das Richtige vorstellen können.
- Der Lehrer soll zu dem, was die Schüler selber wahrnehmen können, immer auch ein Stück zusätzliches, aber für die Schüler verständliches Wissen zufügen. Darauf beruht die Begriffsbildung.
- Der Lehrer muss wissen, dass jeder Begriff immer weiter und weiter differenziert werden kann. So haben z. B. Kinder bereits einen einfachen Begriff von dem, was man als „Dach“ bezeichnet, wenn sie einige wenige gesehen und deren Aufgabe, vor Wind und Wetter zu schützen, begriffen haben. Aber über „Dächer“ kann man sehr viel mehr wissen, und je länger und intensiver man sich mit diesem Phänomen befasst, desto differenzierter ist der Begriff. Diese Gesetzmässigkeit gilt ausnahmslos für sämtliche Begriffe. Daher lässt sich letztlich jede Wissensvermittlung als Begriffsbildung und Begriffserweiterung verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die bewusste Begriffsbildung im Bereiche der Kräfte des Kopfs die zentrale Aufgabe der Schule. Ein Lehrer, dem dies bewusst ist und der verstanden hat, wie sich Begriffe bilden und erweitern, unterrichtet viel effizienter und erfolgreicher als einer, dem diese Zusammenhänge zu wenig klar sind.
Mit dem Erwerb von deutlichen Begriffen ist die Grundlage gelegt für zwei der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, die miteinander in innigstem Zusammenhang stehen: Denken und Sprache. Doch damit ist noch nicht das höchste Ziel der geistigen Entwicklung des Schülers erreicht, denn das gereifte Denken mündet beim mündigen Menschen aus in sachgerechtes Urteilen. Beruht das Denken auf wirklicher Anschauung, so sind die darauf ruhenden Urteile von wahrer Sachkenntnis getragen und kein blosses Nachschwatzen unverdauter Erkenntnisse anderer Menschen. Mit andern Worten: Der heranwachsende Mensch findet in einer solchen auf der Anschauung ruhenden Bildung zur Wahrheit. Das Leben in der Wahrheit ist somit das letzte Ziel der intellektuellen Bildung.
Selbstverständlich erfordert eine solche Entwicklung Zeit. Das Urteilen ist daher keine Sache für kleine Kinder, sondern reift erst spät heran. Pestalozzi sagt unmissverständlich: „Ich glaube, der Zeitpunkt des Lernens ist nicht der Zeitpunkt des Urteilens; der Zeitpunkt des Urteilens geht mit der Vollendung des Lernens, er geht mit der Reifung der Ursachen, um derentwillen man urteilt und urteilen darf, an; und ich glaube, jedes Urteil, das bei dem Individuum, das es ausspricht, innere Wahrheit haben soll, müsse aus einer umfassenden Kenntnis dieser Ursachen so reif und vollendet herausfallen, als der gereifte Kern vollendet, frei und gewaltlos von selbst aus der Schale herausfällt.“ (PSW 13, 206) Und an anderer Stelle betont er, er „sei gar nicht dafür, das Urteil der Kinder über irgendeinen Gegenstand vor der Zeit scheinreif zu machen, sondern vielmehr dasselbe solange als möglich zurückzuhalten, bis sie jeden Gegenstand, über den sie sich äussern sollten, von allen Seiten und unter vielen Umständen ins Auge gefasst, und mit den Worten, die das Wesen und die Eigenschaften derselben bezeichnen, unbedingt bekannt seien.“ (PSW 13, 217)
Was es bedeuten kann, erst zu lernen, bevor man urteilt, möchte ich mit einem eigenen Erlebnis illustrieren: Während fast zwanzig Jahren habe ich den Lehrer-Studenten der ersten Klasse (16jährige Burschen) den Sinn und das Verständnis für die klassische Musik zu erschliessen versucht. Im Rahmen eines speziellen pädagogischen Projekts waren mir alle Stunden von Deutsch, Geschichte, Religion und Didaktik zugeteilt, und diese wurden auf einen einzigen Wochentag angesetzt, so dass ich mit den Schülern jeder Woche einen ganzen Tag von morgens halb acht bis abends fünf arbeiten konnte, ohne mich an eine vorgegebene Stundeneinteilung halten zu müssen. Im Sinne einer ganzheitlichen Bildung nach Pestalozzis Grundsätzen habe ich die Auseinandersetzung mit Kunstwerken jeglicher Art (literarische Werke, Musikstücke, Bilder etc.) mit Anliegen des Deutsch-, Geschichts- und Religionsunterrichts verbunden. Beim Anhören klassischer Musikstücke ging es mir vorerst einmal darum, dass die Studenten ihre Vorurteile ablegten und sich auf Klänge einliessen, die den allermeisten nicht vertraut waren, die aber immerhin einen wesentlichen Bestandteil der abendländischen Kultur ausmachen. Mir schien oft, als sei das vorschnelle Beurteilen und damit das abschliessende Abschieben von etwas Neuem anstelle des offenen Hinhörens und vorurteilslos Auf-sich-wirken-Lassens geradezu eingeübt. Einmal legte ich bereits in der ersten Stunde (es war also für die neu eingetretenen Studenten praktisch die erste Lernerfahrung im Lehrerseminar) die Aria aus Bachs Goldberg-Variationen, gespielt von Glenn Gould, auf den Plattenteller und forderte die Schüler auf, sich zum Gehörten zu äussern. Die Aussagen waren einhellig negativ: „Der Spieler ist offensichtlich ein Anfänger, es handelt sich wahrscheinlich um eine Aufnahme nach den ersten paar Klavierstunden.” – „Nein, gerade schlecht gespielt ist es nicht, aber da und dort müsste es etwas lauter und etwas schneller sein.” – „Das Stück hat zu wenig Rasse, keinen Takt.” – „Das Stück müsste auf der Geige gespielt werden, dann klänge es nicht schlecht.” – „Das Stück ist zu lang.” – „Warum singt hier niemand?” – „Machen wir’s kurz: Mit diesem Komponisten ist es nicht weit her.” Nach dieser Aussage konnte ich es nicht lassen, die Studenten ein wenig zu erschrecken, indem ich sagte: „Was glaubt ihr eigentlich? Das ist eine Komposition eines der grössten Genies, das es je gab, und der Pianist ist einer der bedeutendsten Künstler unseres Jahrhunderts. Es geht nicht darum, dass ihr Urteile fällt, sondern dass ihr genau hinhört, was geschieht, und darauf achtet, was in eurem Inneren vorgeht. Die Frage ist auch nicht, ob euch die Komposition gefällt, sondern wie weit wir alle in der Lage sind, ihr etwas abzugewinnen und sie allenfalls zu verstehen.” Ich spielte dann das Stück ein weiteres Mal ab, und siehe da: Die Aussagen der Schüler bezogen sich auf wirklich Gehörtes oder waren Kundgaben dessen, was sich in ihnen während des Hörens ereignete.
An diese Erfahrung knüpfte ich Pestalozzis Gedanken, dass allem Urteilen zuerst ein genaues Kennenlernen vorangehen muss, wenn man nicht in blossen Vor-Urteilen stecken bleiben will. Man kann ja eigentlich erst dann richtig lernen, wenn man grundsätzlich bereit ist, auf das Beurteilen so lange zu verzichten, bis man den Sachverhalt mit einiger Gründlichkeit zur Kenntnis genommen hat. Diese Grundhaltung des lernenden Menschen lässt sich am besten als Offenheit bezeichnen. „Bildung“ bedeutet ja immer irgendeine Art der Veränderung der Person, und verändern kann sich nur ein Mensch, der sich auf Neues hin öffnet. Wer durchaus der bleiben will, der er schon immer war, ist nicht bildungsfähig. Bildung ist daher stets auch ein Wagnis, ein Sprung ins Unerprobte, Ungewisse. Geist und Seele des Lernenden müssen sich bereit finden und den Willen aufbringen, sich auf Neues einzulassen.
Das beschriebene Ereignis gab mir Gelegenheit, mit den Studenten über die Haltung der Offenheit zu sprechen, und erfreulicherweise war ihnen rasch klar, welcher Anspruch erhoben werden muss, wenn Bildung zustande kommen soll. Diese Haltung der Offenheit liesse sich etwa so ausformulieren: „Ich sehe die Gefahr und erkenne es als Lernhindernis, wenn ich gegenüber neuen Gehalten grundsätzlich skeptisch und abwehrend eingestellt bin und deshalb ein Urteil fälle, das nicht auf Sachkenntnis beruht. Darum bin ich bereit, alle Vorurteile abzulegen und das, womit ich mich auseinandersetzen soll, gelassen entgegenzunehmen und auf mich wirken zu lassen. Wie weit das Neue zu mir passt und in welcher Weise ich es in alles, was schon in mir ist, einordnen kann und soll, wird sich durch die ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Gehalt von selbst allmählich ergeben.”
Für uns Lehrer stellt sich nun natürlich die Frage, wie wir diese offene Haltung beim Schüler erwirken können. Aus Erfahrung kann ich sagen: Es ist nur möglich durch die echte Autorität, was gleichbedeutend ist mit Glaubwürdigkeit. Hätte ich seinerzeit nicht gespürt, dass ich von der Klasse grundsätzlich akzeptiert war und somit mein Wort etwas gelten konnte, so hätte ich mit meinem entschlossenen Eingreifen in die Diskussion mit Sicherheit das genaue Gegenteil des Erwünschten erreicht. Das Sich-Einlassen auf etwas Neues ist in jedem Fall ein Wagnis, und das Vertrauen, das echte Autorität erzeugt, ermutigt den Schüler dazu, dieses Wagnis einzugehen.
1. 6. 3. Die Entwicklung handwerklicher Kräfte
Wenden wir uns nun jenen Gesetzmässigkeiten zu, welche bei der Entwicklung der physischen Kräfte, der „Hand“, am Werke sind. Wie bereits vermerkt, verwendet Pestalozzi sehr unterschiedliche Ausdrücke, um das zu bezeichnen, was er unter „Hand“ versteht. So lesen wir etwa, wenn er die Bildung der Hand meint, von „Bildung der physischen Kräfte“, von „Körperbildung“, von „Kunst-Bildung“, von „handwerklicher Bildung“, von „Berufs-Bildung“, von „Bildung der häuslichen Kräfte“ oder von „Bildung der Erwerbskräfte“. Bei der Entwicklung der Hand geht es somit um die Entfaltung allgemeiner körperlicher Kraft und Gewandtheit, auch um die Bildung ganz bestimmter körperlicher Fertigkeiten, ebenso um das Lernen bestimmter Berufe und schliesslich um den Erwerb irgendeines Könnens, was er oft als „Kunst“ bezeichnet.
Aus Pestalozzis Sicht sind bei der Entwicklung der „Hand“ die folgenden Grundsätze zu beachten:
- Die handwerkliche Bildung muss eingebettet sein in die allgemeine Menschenbildung. Jede Kunst-Fertigkeit muss folglich verbunden sein mit den intellektuellen und den sittlichen Kräften. Darum begrüsst es – als Beispiel – Pestalozzi, wenn ein Mädchen seine Puppe weglegt und hinfort, statt mit ihr zu spielen, sein jüngeres Geschwister besorgt: Während es zuvor der Puppe die Schuhe band, die Puppe ins Bettchen legte und der Puppe auf spielerische Weise das Essen reichte (bei alledem also seine handwerklichen Kräfte entfaltete), bindet es jetzt dem jüngeren Brüderchen die Schuhe, legt es ins Bett und löffelt ihm das Essen ein. Damit stellt das Kind seinen Bewegungs- und Spieltrieb in den Dienst der Gemeinschaft: seine Naturtriebe veredeln sich zur Sittlichkeit.
- Eine naturgemässe Körperbildung verlangt, dass dem kindlichen Bewegungs- und Spieltrieb genügend Freiraum gewährt wird. Ein Schulbetrieb, in welchem die Kinder stundenlang unnatürlich still sitzen müssen, ist daher nicht naturgemäss. Das hindert Pestalozzi allerdings nicht daran, auch die im guten Sinne disziplinierende und damit moralische Wirkung des Stillsitzens anzuerkennen und zu schätzen.
- Bei der Entfaltung der Körperkraft muss das Allgemeine dem Speziellen vorausgehen. So soll das Kind nicht in erster Linie eine bestimmte Sportart wie z.B. Tanzen, Fechten, Reiten usw. erlernen, sondern seine allgemeine körperliche Kraft und Gewandtheit entwickeln. Die natürlichen Bewegungen, die sich aus dem kindlichen Bewegungstrieb ergeben, nämlich Schreiten, Laufen, Springen, Werfen, Schlagen, Schwingen, Drücken, Stossen, Ziehen, Klettern usf., sind die Grundlage. Darauf lassen sich dann spezielle Fertigkeiten aufbauen.
Dass dieser Grundsatz auch heute noch von Spezialisten des Sports anerkannt wird, zeigt die Tatsache, dass z.B. ein Speerwerfer nicht bloss das Werfen und Laufen trainiert, sondern sich in vielen andern Disziplinen betätigt, um zu einem möglichst guten Erfolg zu kommen.
Persönlich meine ich aber, dass man diesen Grundsatz von Pestalozzi nicht allzu einseitig anwenden sollte. Wenn z.B. ein Kind reiten lernt, so erwirbt es ja nicht bloss die spezifische Reittechnik, sondern erstarkt am ganzen Körper und gewinnt an Gewandtheit und Geschicklichkeit. Pestalozzis Anliegen ist also besser verstanden, wenn man beim Erwerb einer bestimmten Fertigkeit immer auf das Ganze blickt und Einseitigkeiten durch andere Tätigkeiten ausgleicht.
Beim Erwerb einer bestimmten Fertigkeit, eines klar umrissenen Könnens, sieht Pestalozzi einen Entwicklungsgang in vier Stufen vor:
- Am Anfang steht auch hier die Anschauung. Pestalozzi nennt diese erste Stufe „Aufmerksamkeit auf Richtigkeit“. Dem Kind soll zuerst genau bewusst gemacht werden, worauf es ankommt und welche Bewegung und welche Art des Gebrauchs eines Werkzeuges richtig ist.
Ich begegne immer wieder Lehrern, die den Schülern bereits auf dieser frühen Stufe eine mehr oder weniger unbeschränkte Freiheit einräumen wollen. Das führt aber in aller Regel dazu, dass sich die Schüler falsche Bewegungen und falsche Handhabungen von Werkzeugen angewöhnen und dann später, wenn sie es zu grösserer Fertigkeit bringen wollen oder müssen, mit grosser Mühe umlernen müssen. Der Irrtum beruht darauf, dass sich diese Lehrer zu wenig bewusst sind, dass jede Fertigkeit (z.B. Schreiben, Stricken, Weben, Nähen, ein Musikinstrument spielen, eine bestimmte Sportart ausüben, bestimmte Werkzeuge im Beruf verwenden usw.) im Verlaufe von Jahren oder Jahrhunderten von Fachleuten entwickelt wurde und dass deshalb jede Technik ein gesellschaftliches Gut darstellt, dessen Beachtung grundsätzlich den Erfolg garantiert. Selbstverständlich lassen sich auch handwerkliche und körperliche Techniken weiterentwickeln, aber das ist dann Sache der Könner und nicht der Anfänger. So kann ein Musiklehrer seinen Geigen-Schüler den Bogen nicht einfach mit der Faust ergreifen lassen und dann seinen Unterricht darauf aufbauen. Er würde sehr bald feststellen, dass der Schüler auf diese Weise nicht mehr weiter kommt. Ist dann aber später aus dem Geigenschüler ein Meister geworden, ist er berechtigt, nach neuen technischen Möglichkeiten zu suchen. Die Freiheit im Rahmen von handwerklichen Techniken gehört daher nicht an den Anfang, sondern ist das Ziel der ganzen Entwicklung. Der Schüler muss den ganzen Bewegungsablauf und den Gebrauch von Hilfsmitteln zuerst erkenntnismässig erfassen. Der Erzieher macht somit den richtigen Bewegungsablauf vor und macht das Kind sprachlich auf die entscheidenden Einzelheiten aufmerksam. - Auf der zweiten Stufe geht es darum, dass das Kind nachahmt und selber probiert. Sehr oft muss es hier vor allem die physische Kraft erwerben, die den richtigen Bewegungsablauf überhaupt erst ermöglicht.
Es ist gut, wenn man als Lehrer die Kinder in dieser Phase des Erwerbs einer Fertigkeit gut im Auge behält und sie auf fehlerhafte Nachahmung des Erwünschten aufmerksam macht. So ist es z.B. im Rahmen des Instrumentalunterrichts ratsam, das Kind in den ersten Anfängen noch nicht allein üben zu lassen, sondern mit ihm gemeinsam zu üben, bis man sich überzeugt hat, dass es bei erneuten Wiederholungen keine Fehler einübt. - Auf der dritten Stufe geht es weniger um Kraft und um Ausprobieren als um Gewandtheit, Geschicklichkeit, Leichtigkeit und Zartheit der Bewegung. Damit verbindet sich das Kind zunehmend mit der zu erwerbenden Fertigkeit, es beginnt allmählich, die Bewegungsabläufe richtig zu machen, ohne daran denken zu müssen. Es erfährt sich in seiner Bewegung selbst und hat damit Erfolg.
Es findet somit auf der zweiten und dritten Stufe auch eine Art Anschauung statt, in welcher aber nicht die bekannten fünf Sinne im Vordergrund stehen, sondern in erster Linie das Gefühl für die richtige Bewegung. Es gibt ja nicht bloss die Erfahrungen der fünf klassischen Sinne – auch der Bewegungssinn bedarf zu seiner Entwicklung der Erfahrung. Nach Pestalozzi gehört jede Sinneserfahrung zu seinem Begriff der „Anschauung“.
Die dritte Stufe ist auch die Stufe des geduldigen, beharrlichen Übens. Und Üben bedeutet in jedem Fall Wiederholen, und zwar aufmerksames Wiederholen. Es gehört daher zur Kunst des Lehrers, in den Schülern das Verständnis für die Notwendigkeit des Wiederholens zu wecken und die Übungslektionen so zu gestalten, dass den Schülern das Wiederholen Freude macht. - Auf der vierten Stufe schliesslich ist der Lernende selbständig und frei. Er hat gewissermassen die Meisterschaft erreicht, was man natürlich im Rahmen des Schulunterrichts bei jungen Menschen nicht allzu wörtlich nehmen sollte. Jedenfalls hat er durch den Erwerb einer Technik oder Fertigkeit die Erfahrungen der Gesellschaft getreu in sich aufgenommen und ist nun im Gebrauch dieser Fertigkeit geübt und gewandt, was ihn jetzt auch berechtigt, frei damit umzugehen. Das bedeutet zweierlei: Erstens kann er nun die erworbene Fertigkeit in den Dienst jener Inhalte stellen, die er selber wählt, weil er sie liebt oder weil sie ihm aus andern Gründen wichtig sind. Hat er beispielsweise ein Musikinstrument spielen gelernt, entscheidet er nun selber, was er spielen will; hat er die Techniken der Holzbearbeitung erlernt, entscheidet er, welche Gegenstände er nun herstellen will usf. Und zweitens bedeutet diese Meisterschaft, dass er – sofern er das Bedürfnis hat – auch die Technik in seinem Sinne weiterentwickeln kann. Diese vierte Stufe ist somit die Stufe der wirklichen Kreativität.
Es ist allerdings zu beachten, dass es sich bei dieser Stufenfolge um einen logischen Ablauf handelt, der viele praktische Varianten zulässt. In der Praxis verbinden und überlagern sich diese Stufen oft auf vielfältige Weise; insbesondere meldet sich die Kreativität des Kindes schon früh. Es ist dann das Geschick des Erziehers, die kreativen Impulse des Schülers aufzugreifen und sie mit den technischen Erfordernissen der überlieferten Fertigkeit so weit wie möglich und wie sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen.
Ist von der Entfaltung handwerklicher Kräfte im Sinne Pestalozzis die Rede, darf nicht übersehen werden, dass es ihm dabei letztlich immer darum geht, den jungen Menschen zum Arbeiten zu befähigen, um seinen Lebensunterhalt selber bestreiten zu können. In Übereinstimmung mit Pestalozzis Ideen lernten z.B. in der Schweiz die Mädchen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein die grundlegenden Techniken des Nähens, Flickens, Strickens usf. in einer speziellen Schule, die man „Arbeitsschule“ nannte. Und in der „Haushaltsschule“ lernten sie nicht nur kochen, sondern auch all das, was zur Führung eines Haushaltes notwendig war. Diese Schulen wurden im 19. Jahrhundert errichtet im Hinblick auf die damaligen Bedürfnisse der künftigen Mütter und Hausfrauen. Ebenso lernten die Knaben die Bearbeitung von Holz und damit die grundlegenden Techniken eines Schreiners. So wurden sie befähigt, einfachere Möbel selber herstellen zu können. Auch war es möglich, in der Schule die Betreuung eines Gemüsegartens zu erlernen.
Der allgemeine Wohlstand und die weit vorangetriebene Industrialisierung haben in unserem Land nun dazu geführt, dass diese Arbeiten nicht mehr nötig sind. Kleider und andere Gebrauchsgegenstände werden kaum mehr geflickt oder selber hergestellt, und für vieles, das man früher in mühsamer Handarbeit herstellte, gibt es heute Maschinen. Deshalb gibt es kaum mehr eine wirtschaftliche Notwendigkeit, den Kindern die alten Arbeitstechniken beizubringen. Man hat daher die Arbeitsschulen abgeschafft, den Haushaltunterricht reduziert und insbesondere den Erwerb irgendwelcher handwerklichen Techniken für Knaben und Mädchen vereinheitlicht.
Geblieben ist ein als „Werken“ benanntes Schulfach. Hier haben es die Lehrer nicht leicht, die Schüler zum Erwerb einer Technik zu bewegen, für die es im Leben des Erwachsenen keine Notwendigkeit gibt. So kann man heute – um ein Beispiel zu machen – ohne weiteres durchs Leben kommen, ohne stricken oder hobeln zu können. Wenn daher heute Knaben und Mädchen dies im Werken lernen, so lernen sie eigentlich nur das Prinzip kennen und erreichen nur gerade die allerersten Fertigkeiten. Man hat ja auch nicht genügend Zeit für wirkliche Gründlichkeit, denn es sollen eben auch noch viele andere Techniken kennen gelernt werden.
So hat sich die ehemalige Arbeitsschule, die eine wirkliche Grundlage zur Arbeit war, in ein Schulfach „Werken“ verwandelt, wo aber zumeist unnütze Dinge hergestellt werden. Eines der Hauptziele dieses Faches ist die Entfaltung von Kreativität, was an sich erfreulich ist, aber die Entwicklung handwerklicher Kräfte kommt deshalb zu kurz, weil eigentlich keine einzige Technik in ausreichender Gründlichkeit erworben wird.
Dies alles ist jedoch nicht im Sinne Pestalozzis, denn er möchte durch die handwerkliche Bildung das Kind zur Arbeit erziehen. Er betrachtete die Notwendigkeiten, die sich aus der Sachstruktur einer ernsten Aufgabe ergeben und denen sich der Arbeitende folglich im Interesse des Erfolgs zu fügen hat, gewissermassen als heilsamen Zwang, die Kräfte allseitig anzustrengen, wodurch sie dann auf eine naturgemässe, folglich harmonische Weise entwickelt würden. So fragt es sich denn, was ein Lehrer tun soll, wenn er im Geiste Pestalozzis auch die handwerklichen Fertigkeiten entfalten will.
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Einerseits gibt es glücklicherweise in den ärmeren Ländern immer noch ausreichend viele handwerkliche Arbeiten, die den Lebensunterhalt erleichtern, wenn man sie beherrscht. Es ist daher ratsam, genau diese Arbeiten ins Bildungsprogramm aufzunehmen und im Erlernen dieser Arbeiten die handwerklichen Kräfte der Kinder zu entfalten. Und andererseits können durchaus auch Fertigkeiten ins Unterrichtsprogramm aufgenommen werden, die es den Schülern beispielsweise ermöglichen, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. In diesem Fall ist es aber wichtig, dass man sich auf wenige Fertigkeiten beschränkt, diese aber dafür so gründlich übt, dass eine gewisse Meisterschaft erreicht werden kann und dass damit die Schüler an einen Punkt geführt werden, wo sie die Fertigkeit mit Freude und aus freiem Entschluss auch anwenden können.
1. 7. Das Prinzip der Nähe
Bei der Entwicklung der geistigen, aber auch der sittlichen Kräfte wurde gezeigt, dass in jedem Fall die Anschauung als Grundlage der Bildung zu gelten hat, d.h. die reale Erfahrung von Gegenständen oder Verhältnissen, die den Sinnen des Kindes zugänglich sind. Nun stellt sich Pestalozzi auch der Frage, welche Gegenstände und Inhalte denn der Anschauung der Kinder vorgesetzt werden sollen. Bei der Beantwortung dieser Frage geht er wieder von der Natur, d.h. von der natürlichen Wahrnehmung aus und stellt fest – was ja wohl nicht zu bezweifeln ist –, dass wir alle Gegenstände mit unseren Sinnen umso besser erfassen können, je näher sie den Sinnesorganen liegen. Für die Qualität der Sinnestätigkeit ist in jedem Fall die örtliche Entfernung von ausschlaggebender Bedeutung. Diese Tatsache macht jeden Menschen zum Mittelpunkt seiner eigenen Welt. Pestalozzi zieht daraus den Schluss, dass die Schulung aller Kräfte und Anlagen somit anhand jener Gegenstände, Sachverhalte und Lebensverhältnisse zu beginnen hat, die in der Nähe des Kindes liegen. Denn Pestalozzi ist überzeugt, dass grundsätzlich jede Umwelt geeignet ist, im Kinde die Sinnestätigkeit, das Anschauen, Denken und Urteilen anzuregen und zu beleben, aber auch seine physischen und sittlichen Kräfte herauszufordern. Dabei ist es allerdings die Aufgabe der Erzieher – Eltern und Lehrer –, die jeweilige Umwelt, in der das Kind lebt, für die physische, intellektuelle und moralische Entwicklung bewusst zu nutzen. Geschieht dies, dann führt diese Bildung in den nächsten Verhältnissen den jungen Menschen schliesslich zu einer solchen Verbindung mit seiner eigenen Lebenswelt, dass er sich für sie verantwortlich fühlt und auch fähig wird, sich darin bei der Bewältigung der anfallenden Aufgaben zu bewähren.
Um diesen Gedanken Pestalozzis noch besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich den Unterschied zwischen formaler Bildung und materialer Bildung zu vergegenwärtigen:
- Bei der formalen Bildung geht es um die allgemeine Entwicklung der menschlichen Fertigkeiten: denken können, sich etwas merken können, beobachten können, sich ausdrücken können, sich bewegen können, die Körperkraft angemessen einsetzen können, sich in einer neuen Situation zurechtfinden können, Konflikte lösen können usw.
- Bei der materialen Bildung geht es um den Erwerb von ganz bestimmtem Wissen und ganz bestimmten Fertigkeiten. Es hat keinen Sinn, diese hier aufzuzählen, denn das würde Bücher füllen. Im Allgemeinen sind die Ziele der materialen Bildung in den Lehrplänen aufgeführt.
Nach Pestalozzi ist der Anspruch nach formaler Bildung zu allen Zeiten und in allen geographischen Orten gleich: Im Bereiche der intellektuellen Entwicklung geht es stets um die Entfaltung des Denkvermögens, der Vorstellungskraft, des Gedächtnisses, der Urteilskraft und der Sprachfertigkeit. Im Bereiche der sittlichen Entwicklung geht es immer um die Entfaltung der grundlegenden Herzenskräfte, und im Bereich der physischen Entwicklung ist das Ziel immer die Entfaltung von physischer Kraft, Geschicklichkeit und Gewandtheit.
Aber die materialen Inhalte der Bildung – die bestimmten Kenntnisse und Fertigkeiten – sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und daher von Ort zu Ort, aber auch von Zeit zu Zeit verschieden.
Mit Pestalozzis Forderung nach einer Bildung in den nächsten Verhältnissen kann somit beides erreicht werden: Es lassen sich die menschlichen Kräfte und Anlagen nach unveränderlichen Gesetzmässigkeiten bei allen Menschen gleich entfalten, aber dies geschieht anhand von konkreten Anschauungs-Gegenständen und Lebensverhältnissen, die dem einzelnen Individuum angemessen sind. Oder mit andern Worten: Das Einmalige, Unverwechselbare der individuellen Lebenslage wird zum Mittel, um das Allgemeine und bei allen Menschen Gleiche zu entwickeln. Oder anders gesagt: Die materiale Bildung steht im Dienste der formalen Bildung.
Ein Lehrer, der diesen Zusammenhang verstanden hat, unterrichtet vollständig anders als einer, dem Pestalozzis Anliegen fremd geblieben ist. Man sieht sofort, ob ein Lehrer bloss das Erreichen eines im Lehrplan festgelegten Lernzieles anstrebt und sich dann zufrieden gibt, wenn z.B. ein bestimmtes Wissen gedächtnismässig erworben wurde, oder ob er sich in jeder Sekunde bewusst ist, dass der Stoff, womit sich die Schüler gerade befassen, immer dem höheren Zweck der Entfaltung der Menschlichkeit dient. In diesem Falle ist ihm nicht bloss das messbare Lernergebnis wichtig – wichtiger ist ihm der Weg, auf dem es erreicht wurde. Er nimmt die Fragen der Schüler, die während der Behandlung eines Themas entstehen, ernst und geht mit Einfühlung darauf ein. Er achtet bei allem auf Sorgfalt, auf Klarheit im Denken, auf gegenseitige Rücksichtnahme, auf ästhetische Gestaltung. Er ergreift jede Gelegenheit, den Stoff so zu behandeln, dass die Grundkräfte in einer allgemein bildenden Weise in Tätigkeit sind. Geschieht dies, so macht es ihn auch nicht mutlos, wenn er feststellen muss, dass die Schüler zumeist alles konkrete Wissen, das sie einmal erworben haben, allmählich wieder vergessen. Die Kräfte, die beim Erwerb des Wissens entfaltet wurden, bleiben entwickelt und stehen anderen Aufgaben in gestärkter Weise zur Verfügung. Dieser Zusammenhang findet in einem geflügelten Wort seinen prägnanten Ausdruck, nämlich:
Bildung ist das, was bleibt, wenn man alles vergessen hat.
Selbstverständlich ist Pestalozzi nicht der Ansicht, dass die Bildung bei der Auseinandersetzung mit den nächsten Verhältnissen stehen bleiben soll. Aber die individuelle Lebenswelt jedes Menschen muss der Ausgangspunkt seiner Bildung sein und lange bleiben, damit die Erweiterung seines Gesichtskreises ein tragfähiges Fundament erhält.
In gewissen Ländern West-Europas hat in den letzten Jahrzehnten eine Bildungsreform stattgefunden, die sich zum Ziele setzte, die kleinen Dorf-Schulen aufzuheben und die Kinder mit Autobussen in grössere Schulzentren – bis zu 4000 Schülern – zu führen. Dahinter stand die Absicht, allen Schülern eine gleiche und gleich gute Ausbildung ermöglichen zu können. Von Pestalozzis Erziehungslehre aus betrachtet, ist diese Tendenz ein Fehlgriff, denn der heranwachsende Mensch wird dadurch entwurzelt, und die Bildung in den nächsten Verhältnissen wird verunmöglicht. Zudem ist es in so grossen Schulen nicht mehr in gleicher Weise möglich, auf jedes einzelne Kind einzugehen und es ganz in seiner Individualität zu erfassen, wie dies Pestalozzi fordert. Man strebte bei diesen Reformen offensichtlich nach dem Ideal der Gleichheit, aber man hatte zu wenig erkannt, dass das allen Menschen Gleiche nicht in den konkreten Unterrichts-Stoffen, die bearbeitet werden, liegen muss, sondern in der harmonischen Bildung aller menschlichen Kräfte und Anlagen. Dass sich aber die Natur des Menschen immer wieder ihr Recht zu verschaffen versteht, erkennt man darin, dass heute in einzelnen Ländern die kleinen Dorfschulen teilweise wieder neu eingerichtet werden.
1. 8. Das Prinzip der Lückenlosigkeit
Wie gezeigt, entwickeln sich die drei Grundkräfte nach eigenen Gesetzmässigkeiten. Das darf aber die Tatsache nicht verdecken, dass es daneben auch Gesetzmässigkeiten gibt, die in allen drei Bereichen gleichermassen gültig sind. Erwähnt wurde bereits die Bildung in den nächsten Verhältnissen, eine Forderung, die für die Entwicklung aller Grundkräfte (Kopf, Herz, Hand) gültig ist.
Auch das Prinzip der Lückenlosigkeit gilt in allen drei Bereichen. Mit der Forderung nach Lückenlosigkeit in der Bildung drückt Pestalozzi seine Überzeugung aus, dass die Bildung nur insofern naturgemäss ist, als sich alles Neue auf überzeugende Weise an das bisherige Fundament anschliesst. Pestalozzi verwendet dazu das Bild des Baumes: Aus der Wurzel hebt sich der Stamm empor, aus ihm entfalten sich die Äste, aus ihnen spriessen die Zweige und aus ihnen Blätter, Blüten und Früchte. Ebenso soll der gesamte Bildungsbestand eines Menschen einen in sich geschlossenen, aber nach aussen hin offenen Organismus bilden. Eins soll sich organisch ans andere anschliessen. So wie auch ein junger Baum immer ein ganzes Wesen ist und nie ein halber Baum, ebenso muss auch ein junger Mensch auf jeder Stufe seiner Entwicklung vollendet und nicht erst ein halber Mensch sein. Und so wie die Natur selbst keine Sprünge macht, ebenso sollen in der Bildung des Menschen keine Lücken entstehen. Jede neue Erfahrung, jede neue Erkenntnis, jede neue Fertigkeit soll sich mit dem, was schon vom Kind erfasst und begriffen worden ist, organisch verbinden.
Ich verdeutliche diesen Gedanken anhand eines Beispiels, wo gegen das Prinzip der Lückenlosigkeit sehr massiv verstossen wurde: Im Juli 1969 (die Schüler waren in den Sommerferien) landeten amerikanische Astronauten auf dem Mond. Einzelne meiner Schüler hatten das am Bildschirm des Fernsehens verfolgt, und am ersten Tag nach den Ferien erzählten sie mit Begeisterung von diesem gewaltigen Ereignis. Der Zweitklässler Konrad wusste davon zu berichten, wie die Astronauten aus ihrer Fähre ausstiegen, eigenartige Sprünge vollführten und ihre Fussabdrücke in der staubigen Mondlandschaft hinterliessen. In einer der nächsten Stunden (Fach: Sachunterricht) wählte ich als Thema den Mond und liess die Schüler zuerst erzählen, was sie vom Mond wissen und wie sie ihn sich vorstellen. Als ich Konrad fragte, wie gross der Mond wohl sei, zeigte er es mit den Händen und bestätigte mir, der Mond sei etwa so gross wie ein Fussball. Gefragt, wie weit weg er von uns wohl sei, nannte er die Strecke bis zu einem etwa 1 km weit entfernten Gehöft. Seine Antworten entsprachen den Vorstellungen, wie man sie oft bei Kindern im Kindergartenalter antrifft, Konrad war also in seiner Entwicklung leicht zurückgeblieben. Und nun also verfolgte er am Bildschirm die Landung von Menschen auf dem Mond. Was er da sah und auch im Unterricht erzählte, hatte folglich nicht das Geringste zu tun mit seinen Vorstellungen vom Mond, d.h. er konnte die neue Erfahrung nicht mit seinen Vorstellungen vom Mond in Übereinstimmung bringen. Zwei Realitäten standen in seinem Erleben unverbunden nebeneinander.
Um Pestalozzis Anliegen einer lückenlosen Bildung verständlich zu machen, werfen wir am besten kurz einen Blick in die Denkpsychologie. Sie kann nachweisen, dass die Begriffe nur dann ein sachgemässes Denken und Sprechen ermöglichen, wenn sie nicht in einem beliebigen, unsystematischen Nebeneinander in unserem Inneren bereit liegen, sondern miteinander in sinnvoller Weise zu einem komplexen Geflecht verbunden sind. Dieses Geflecht widerspiegelt mögliche Verwandtschaften, Gegensätze, Abhängigkeiten, logische Verknüpfungen jener Sachverhalte, die in den jeweiligen Begriffen enthalten sind. Was sachlich in irgendeiner Weise zusammengehört, ist auch in unserem Bewusstsein in entsprechender Weise verknüpft und gruppiert. Eine Gruppe von Begriffen, die in sich einen sinnvollen Zusammenhang bilden, bezeichnet man als kognitive Struktur. Wenn nun Pestalozzi Lückenlosigkeit in der Bildung fordert, so geht es – modern ausgedrückt – darum, dass sich der Lehrer um einen sachgemässen Aufbau von kognitiven Strukturen im Bewusstsein der Schüler bemüht.
Was bedeutet dies ganz praktisch für den Schulunterricht? Am einfachsten lässt es sich aufzeigen im Bereiche der Mathematik. Wer nicht über gefestigte Zahlbegriffe verfügt, wird in der Arithmetik auf jeder Stufe scheitern. Wer die Addition nicht begriffen hat, wird die Multiplikation nicht verstehen. Wer das Potenzieren nicht beherrscht, wird nicht Wurzeln ziehen können. Das sind natürlich sehr grobschlächtige Beispiele. Aber der aufmerksame Lehrer sieht solche Zusammenhänge in jeder Mathematiklektion und ist entsprechend dafür besorgt, dass das mathematische Können solide aufgebaut wird, so wie man bei einem Hausbau von der Errichtung eines starken Fundaments ausgeht und ein oberes Stockwerk nur aufbaut, wenn man sich vergewissert hat, dass es die unteren zu tragen vermögen. Es dürfte weltweit nicht nur Hunderttausende, sondern Millionen von Schülern geben, die nur darum in den höheren Klassenstufen in der Mathematik versagen, weil sie auf tieferen Stufen gewisse Zusammenhänge nicht verstanden und gewisse Fertigkeiten nicht erworben haben. Viele von ihnen haben den berühmten Satz des Lehrers in den Ohren: „Ich kann nicht auf dich warten, ich habe eine ganze Klasse zu unterrichten und muss weiterfahren.“
Selbstverständlich muss auf Lückenlosigkeit nicht bloss in der Mathematik, sondern in jedem Schulfach geachtet werden. Die Devise lautet: Vom Einfachen zum Schwierigeren, vom Nahen zum Fernen, vom Konkreten (Anschaulichen) zum Abstrakten (Gedachten).
Besonders schwierig einzulösen ist die Forderung nach Lückenlosigkeit im Geschichtsunterricht, weil man eigentlich keinen geschichtlichen Vorgang richtig verstehen kann, wenn man nicht auch die vorausgehende Situation kennt. Aus diesem Grund beginnt in vielen Schulen der systematische Geschichtsunterricht mit der Urgeschichte, mit dem Resultat, dass die Schüler – wegen Zeitmangel – schliesslich von neuerer Geschichte kaum mehr etwas hören. Man kommt daher im Geschichtsunterricht nicht darum herum, gewisse Epochen sehr summarisch zu behandeln und nur gerade jene Fakten darzustellen, die zum Verständnis späterer Epochen nötig sind.
Gerade die Problematik des Geschichtsunterrichts zeigt, dass man Pestalozzis Forderung nach Lückenlosigkeit gründlich missverstehen könnte: nämlich als Forderung, in allen Fächern ein lückenloses Wissen aufzubauen. Dies ist nicht nur unmöglich erreichbar, sondern es ist auch nicht wünschbar. Niemand wäre vehementer gegen ein sinnloses Anhäufen von Wissen gewesen als Pestalozzi. Beim Prinzip der Lückenlosigkeit geht es nicht um Stoff-Fülle, es geht vielmehr um die grundsätzliche Beachtung der hier beschriebenen Stufengänge und um die grundlegenden methodischen Forderungen, dass man vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplizierten, vom Nahen zum Fernen, vom Konkreten zum Abstrakten und von der Entfaltung der Kräfte zur Anwendung der Kräfte schreiten muss, wenn wirkliche Bildung stattfinden soll. Dies alles erfordert, dass man dem Kind als Lehrer für jeden Entwicklungsschritt Zeit zum Verweilen lässt, dass es in Musse lernen kann. Nichts ist schädlicher, als in kurzer Zeit viel erreichen zu wollen. Pestalozzi hat klar erkannt, dass eben gerade dadurch Lücken entstehen und damit das Wissen und Können oberflächlich bleibt.
1. 9. Individualisieren
Blicken wir nun auf die Entwicklungsgesetzmässigkeiten der drei Grundkräfte zurück, so wird in allen drei Bereichen deutlich, dass sich ein Bildungserfolg nur einstellt durch das Zusammenspiel zwischen dem, was im Kind gegeben ist (Kräfte und Anlagen), und den Einwirkungen des Lehrers. Im sittlichen Bereich ist es vor allem das sittliche Leben des Erziehers selbst, im intellektuellen Bereich ist es vorwiegend seine Führung durch die Sprache, und im handwerklichen Bereich ist es das vorbildhafte Vormachen und die Kenntnis bestimmter Techniken, womit der erziehende Mensch dem Bestreben der kindlichen Kräfte nach ihrer Entwicklung entgegenkommt.
Nun gibt es aber für den Erzieher nicht nur das Kind an sich, sondern immer auch das ganz bestimmte Kind, das sich von den andern Kindern in mancherlei Hinsicht unterscheidet. Zwar ist das letzte Ziel der Erziehung für alle Menschen gleich – nämlich die Ausbildung der Menschlichkeit –, aber im konkreten Lebensvollzug ist dies doch wieder bei jedem Menschen anders. Der Lehrer darf daher nicht bloss das Wesentliche des allgemeinen Menschseins erfassen, sondern er muss immer auch jedes Kind in seiner unverwechselbaren Eigenart erkennen und entsprechend fördern, d.h. er muss fähig und bereit sein, ganz auf die Individualität des Kindes einzugehen. Dementsprechend fordert Pestalozzi, „dass in dem Menschen, dem viel gegeben, auch viel geweckt, und in dem, dem wenig gegeben, weniger erweckt werden muss.“ (PSW 6, 490) Konsequenterweise lehnt er es denn auch ab, ein Kind mit einem anderen zu vergleichen. Keines soll sich in seiner Entwicklungsanstrengung an einem andern, sondern immer nur an seinen eigenen Möglichkeiten messen. Der Lehrer soll die Tatsache anerkennen, dass die Gaben der Natur unterschiedlich verteilt sind und daher jeder Mensch verpflichtet ist, seine Anlagen gemäss seinen Möglichkeiten auszuschöpfen und sie dadurch der Gemeinschaft dienstbar zu machen.
Es ist ganz offensichtlich, dass zwei Merkmale des modernen Bildungswesens diesen Grundsätzen widersprechen: erstens die Forderung, dass alle Kinder eines Jahrgangs dieselben Lernziele zu erreichen haben, und zweitens die Leistungsmessung mittels des Notensystems, das zum Vergleichen der Schüler mit den andern zwingt, überdies die schwächeren Schüler zu dauernden Versagern stempelt und schliesslich in den leistungsstarken Schülern die Illusion nährt, sie könnten die Hände in den Schoss legen, sobald sie die am Durchschnitt orientierten Leistungsanforderungen erfüllt haben. Da stellt sich natürlich dem Lehrer, der im Geiste Pestalozzis unterrichten möchte, die Frage, wie er mit diesen beiden Gegebenheiten zurechtkommt.
Was das Notensystem betrifft, so sind die Vorschriften immerhin von Land zu Land verschieden, und so gilt es denn den noch möglichen Freiraum so weit es geht auszunützen. Eine gute Möglichkeit besteht darin, die Noten im Gespräch zwischen Lehrer und Schüler festzulegen und dabei das wirkliche Können und Wissen ins Auge zu fassen und nicht einfach einen Durchschnitt aus ein paar wenigen Leistungstests zu errechnen. Am besten dran sind natürlich private Schulen, die das gängige Notensystem durch etwas ersetzen können, das allen Schülern gerecht wird und nicht die Lernmotivation verfälscht, wie dies beim traditionellen Notensystem geschieht. Bewährt haben sich hier verschiedene Formen von Selbstbeurteilungen, wobei auch dies gelernt werden muss.
Beim zweiten Punkt geht es darum, das Diktat der einheitlichen Lehrplanforderungen aufzuweichen. Das geschieht in zwei Richtungen: Einerseits sollen den schwächeren immer solche Aufgaben gestellt werden, die sie bei gutem Willen noch lösen können. Es ist nicht naturgemäss, ja unmenschlich, einem Kind gegenüber, das eine Sache unmöglich bewältigen kann, unerfüllbare Forderungen zu erheben, nur weil sie in einem Lehrplan oder Lehrbuch festgeschrieben sind. Der Respekt vor dem Kind soll in jedem Fall dem Respekt gegenüber einer Vorschrift weichen, die so oder so nicht zu erfüllen ist.
Einfacher ist es, dafür zu sorgen, dass die leistungsstarken Schüler ihrer Begabung gemäss gefordert und gefördert werden. Es gibt kein einziges Stoffthema, wo nicht vertiefende und erweiternde Aufgaben gestellt werden können. Natürlich sind da Schulen besser dran, die über eine reiche Fachbibliothek verfügen oder ans Internet angeschlossen sind.
Es ist keine Frage: Beide Formen der Rücksichtnahme auf die Individualitäten der Schüler erfordern ein erhöhtes Engagement des Lehrers. Er wird dafür aber auch belohnt durch eine angenehme Lernatmosphäre und lernwillige Schüler. Insgesamt geht es darum, einen individualisierenden Unterricht zu gestalten. Didaktisch wird dies umgesetzt durch sog. innere Differenzierung, was bedeutet:
- nicht von allen Schülern dasselbe verlangen
- individuelles Lerntempo ermöglichen
- in Kleingruppen und mit einzelnen Schülern üben
- individuelle Interessen aufgreifen und im Unterricht berücksichtigen
- bei der Notengebung auf die Begabung des Schülers Rücksicht nehmen
- Mitbestimmungsrecht der Schüler bei der Wahl von Stoffen und Lehrmitteln
- Ergänzung der Notenzeugnisse durch ausführliche schriftliche Berichte
2. Die Voraussetzungen beim Lehrer
Wer mit den Problemen des Schulunterrichts vertraut ist, kommt nicht um die Einsicht herum, dass schliesslich die Qualität der Bildung sehr zentral vom einzelnen Lehrer abhängt. Das ist eine ernüchternde Tatsache, die viele Bildungswissenschafter und Bildungspolitiker irritiert. Man versucht, diesem Problem dadurch zu begegnen (und damit den Bildungserfolg zu garantieren), dass auf der einen Seite die Bildungsverwaltung möglichst klare Bildungsziele vorgibt, die Lehrmittel bereit stellt und die Methoden vorschreibt und auf der andern Seite die Lehrer zunehmend stärker kontrolliert. Es ist nicht zu bestreiten, dass damit gewisse beschränkte Erfolge erzielt werden können, aber eine fundamentale Steigerung der Bildungsqualität ist mit diesen Massnahmen nicht möglich. Damit in einem Klassenzimmer eine wirklich förderliche Lernatmosphäre aufkommen kann, muss sich der Lehrer selber frei von Zwängen fühlen und das gesamte Bildungsgeschehen als selbstverantwortlicher Gestalter bestimmen können. Nur freie Menschen können jenen Geist aufleben lassen, der wahre Bildung ermöglicht, und nur freie Menschen sind in der Lage, in der erforderlichen Weise auf die Individualitäten der jeweiligen Schüler einzugehen und den Erfordernissen des jeweiligen Augenblicks gerecht zu werden.
Damit kommt man aber auch nicht um die Feststellung herum, dass nicht alle Menschen geeignet sind, den Beruf des Lehrers auszuüben. In den europäischen Ländern scheint sich die Bildungspolitik darin einig zu sein, dass unter der Voraussetzung einer mindestens durchschnittlichen Intelligenz jedem Menschen in einem Bildungsgang an einer Fachhochschule das nötige Rüstzeug vermittelt werden kann, um ihn zur Ausübung des Lehrberufes zu befähigen. Ich teile diese Ansicht nicht. Meines Erachtens sind wesentliche Eigenschaften, über die ein Lehrer verfügen muss und die ihn auch befähigen, seinen Freiraum verantwortungsbewusst zu nutzen, als blosser Wissensstoff, wie ihn die heutigen Fachhochschulen vermitteln, nicht zu erwerben. So braucht es zum Beispiel, um wirklich gut zu unterrichten und nachhaltig zu erziehen, seitens des Lehrers eine gehörige Dosis Idealismus, d.h. eine ethische Gesinnung, die in jedem Fall das übersteigt, was eine Fachhochschule als Wissen vermitteln und eine vorgesetzte Stelle in einem Pflichtenheft von einem Angestellten verlangen und nachprüfen kann. Darüber hinaus gibt es unzweifelhaft gewisse Charaktereigenschaften, deren Vorhandensein den Berufserfolg entweder begünstigt oder aber hindert. Dementsprechend wäre die Bildungsverwaltung eines Landes gut beraten, wenn sie auf die Auswahl der Lehrkräfte ebenso viel Sorgfalt verwenden würde wie auf die Konzipierung von Ausbildungsprogrammen.
Ich versuche in diesem Kapitel jene Voraussetzungen beim Lehrer zu beschreiben, die es ihm optimal ermöglichen, einen Unterricht im Geiste Pestalozzis zu verwirklichen. Dabei ist mir klar bewusst, dass kein Mensch diese Erfordernisse in einem vollkommenen Masse erfüllen kann. So kann man durchaus ein guter Lehrer sein, wenn man in einer oder mehreren der erwähnten Sparten deutliche Schwächen erkennt. Entscheidend ist, dass man sich der Erfordernisse bewusst ist und immer wieder nach einer Verbesserung der erwähnten Voraussetzungen strebt.
2. 1. Liebe zum Kind
Die moderne Erziehungswissenschaft ist wenig geneigt, diese Grundlage für ein fruchtbares Wirken als Lehrer und Erzieher zu thematisieren. Fast scheint es, als betrachte man die Liebe zum Kind bei allen Menschen als selbstverständlich gegeben oder aber als für den Bildungserfolg nicht von Bedeutung. Zwar werden Auswirkungen der Liebe zum Kind wie etwa „auf das Kind eingehen“ oder „höflicher Umgangston“ zur Forderung erhoben, aber dies sind Verhaltensweisen, die sich zur Not einüben lassen, ohne dass im Lehrer dieses geheimnisvolle Etwas – eben die Liebe zum Kind – lebendig ist. Doch von Pestalozzis Menschenverständnis her lässt sich die Liebe als Grundlage zur Entwicklung sittlicher Kräfte nicht auf moralische Verhaltensweisen reduzieren. Sie ist vielmehr eine seelisch-geistige Gegebenheit, die jenseits jeder aktuellen Situation liegt, also auch lebendig bleibt, wenn im Moment kein zwischenmenschlicher Kontakt vorhanden ist. Die Liebe nährt jederzeit das Verantwortungsbewusstsein, das Einfühlungsvermögen, den Arbeitswillen, die Selbstkritik sowie die Bereitschaft, Schwierigkeiten anzugehen und zu überwinden.
Dabei sind zwei Ausprägungen der Liebe zu unterscheiden: die Liebe zum Kind bzw. zu Kindern schlechthin einerseits und die Liebe zum einzelnen Kind andererseits.
Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Die Liebe zu den Kindern, die hier diskutiert werden soll, hat nichts mit Erotik zu tun. Es geht vielmehr darum, dass der Lehrer als Mensch sich offen fühlt für das kindliche Wesen an sich. Dies ist vergleichbar mit der Haltung eines Menschen, der sich faszinieren lässt durch das Blühen einer Feldblume und dabei staunend und sinnend stehen bleibt, wogegen andere achtlos vorübergehen. Der kinderliebende Lehrer lässt sich ergreifen von der Spontaneität des aufbrechenden Lebens in einem Kinde, von seiner Phantasie und Kreativität, die sich immer wieder überraschend zeigen, vom Walten einer geheimnisvollen Entwicklungskraft, ja vom Geheimnis des Lebens selbst, das sich in jedem Kind auf immer neue Weise offenbart. Kinder können daher einen solchen Lehrer auch nie langweilen. Im tiefsten fühlt er sich mit dem kindlichen Wesen verwandt, und darum stellt er sich denn auch immer auf die Seite des Kindes, wenn die Kindlichkeit Gefahr läuft, durch rauhe Wirklichkeiten erdrückt zu werden.
Gerade diese Liebe zum Kind macht dann aus dem Lehrer auch einen Kenner der kindlichen Schwächen und Gefährdungen. Seine Liebe ist nicht sentimental, sondern – um mit Pestalozzi zu sprechen – ‚sehend’. Diese sehende Liebe vermag sehr wohl zu unterscheiden zwischen echter kindlicher Naivität und raffinierter Koketterie. Sie kennt den Unterschied zwischen Eigensinn, der immer dort in Erscheinung tritt, wo jemand etwas Erforderliches verweigern oder sich einen Vorteil auf Kosten der andern ergattern will, und Eigenständigkeit oder Eigenwille, der ein Ausdruck des Wesenskerns eines Menschen ist. Ein liebender Lehrer hält die Überreiztheit der Schüler nicht für Lebendigkeit, und Bluff, Pfusch und billige Nachahmung nicht für Kreativität. Ebenso wenig verwechselt er vorlautes Wesen, Geltungsdrang und Altklugheit mit Selbstbewusstsein und gesundem Selbstwertgefühl. Und schliesslich deutet er Frechheit und ungehobeltes Wesen nicht fälschlich als Ehrlichkeit und Offenheit und die Angst, sich auf etwas Neues einzulassen, nicht als Charakterstärke.
Wie bereits erwähnt, lebt im erfolgreichen Lehrer nicht bloss diese Liebe zum Kind im Allgemeinen, sondern wird immer auch konkret als Liebe zum jeweils einzelnen Kind. Daraus erwachsen im Lehrer das Bedürfnis und die Fähigkeit, das Kind als Individualität, d.h. als einmalige, unwiederholbare Persönlichkeit zu verstehen. Zwar ist es notwendig, sich für die Leistungen jedes Kindes zu interessieren, aber der liebende Lehrer bleibt dabei nicht stehen, sondern er will jeden Schüler als Person wahrnehmen und lernen, ihn so zu sehen, wie er wirklich ist. Das gelingt nur dann, wenn man ihn als Menschen annimmt und liebt und sich für seine Eigenart, seine Lebensverhältnisse, seine Interessen und Neigungen, seine Begabungen, seinen Entwicklungsstand, sein Denken und Fühlen, seine Schwächen und Schwierigkeiten interessiert. Dies alles gehört zu dem, was Pestalozzi mit ‚sehender Liebe’ meint. Diese umfassende Wahrnehmung des Kindes befähigt den Lehrer, sich ins Kind einzufühlen, ihm mit Verständnis zu begegnen und ihm bei seinen Schwierigkeiten helfend beizustehen anstatt – wie dies leider zu oft geschieht – ihm strafend entgegenzutreten.
In diesem Zusammenhang wird oft eingewendet, es sei einem Lehrer unmöglich zuzumuten, alle Schüler gleich gern zu haben, da auch er den Gefühlen von Sympathie und Antipathie unterworfen sei. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen, denn wir sind keine Übermenschen. Erfahrungsgemäss treten aber die Gefühle von Sympathie und Antipathie dann stark in den Hintergrund, wenn es gelingt, einen Menschen – so wie er einem gerade entgegentritt – wirklich zu verstehen. Zu fragen ist allerdings, was geschehen soll, damit das Verständnis für einen Menschen wächst. Ich bin überzeugt, dass das offene Gespräch eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür ist. Insofern ist die Kunst der Gesprächsführung, wie sie uns zum Beispiel Thomas Gordon lehrt (siehe das spätere Kapitel über Konfliktlösung), für einen Lehrer von grosser Bedeutung. Wer es wirklich versteht, einfühlend zuzuhören, wird spüren, dass auch die Zuneigung zu dem Menschen wächst, der sich ihm öffnet.
In der Regel wird Liebe erwidert. Ein Lehrer, der seine Schüler liebt, wird von ihnen geliebt. Je jünger die Kinder sind, desto eher sind sie bereit, sich dem Lehrer zuliebe anzustrengen. Natürlich ist es nicht das Ziel, dass die Schüler dem Lehrer zuliebe gut lernen; sie sollen sich schliesslich für etwas einsetzen, weil sie aus Einsicht richtig finden oder einfach darum, weil sie es selber lohnend und interessant finden. Aber bei jüngeren Kindern ist es eine sehr menschliche Lernmotivation, wenn sie mit ihrem Fleiss und ihrer Anstrengung die Liebe des Lehrers gewinnen oder – noch besser – erwidern wollen. Dabei erwerben sie viele gute Gewohnheiten, sie entwickeln Interesse am Stoff und Liebe zur sorgfältigen Arbeit, und all dies bleibt auch später, wenn sie dies alles nicht mehr ihrem Lehrer zuliebe, sondern aus eigenständigen Motiven heraus tun.
Zum Abschluss dieses Kapitels über die Liebe des Lehrers zum Kinde gestatte ich mir, Pestalozzi zu zitieren. Die Textpassage stammt aus der letzten Fassung seines Romans ‚Lienhard und Gertrud’, wo er den Lehrer Glülphi charakterisiert, nachdem dieser das Wesen des naturgemässen Unterrichtens bei der Mutter Gertrud kennen gelernt hat: „Er vergass schon morgen, sobald er in seine Schule hineintrat, seinen Traum, die Welt und alles Dichten und Trachten nach Welt- und Volksverbesserung. Er war ganz wieder mit Leib und Seele der Schulmeister, der nur den Augenblick vor sich sah, indem er jetzt als Vater und Lehrer in der Mitte seiner Kinder dastand. Er lebte ganz in diesem Augenblick der Gegenwart. Die Vergangenheit war gleichsam eben wie der Traum der Zukunft, der die Nacht vorher seine ganze Seele erfüllte, verschwunden. Er sah jetzt wieder nur seine Kinder. Ihr Dasein verschlang ihn jetzt in diesen Pflichtstunden seines Lebens, wie wenn ausser seinen Kindern neben ihm keine Welt wäre. O, könnte ich doch die Kraft seines jetzigen Schulmeisterlebens schildern, wie sie wirklich war! Sie bestand wesentlich im wachsenden Festhalten seiner Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Kind, und zwischen hinein werfe ich noch das Wort: Wahre Menschensorge ist individuell; Götter mögen das Ganze, Götter mögen die Welt besorgen; der Menschen Sorge für den Menschen ist Individualsorge, und das Christentum ist Heiligung dieser Individualsorge, indem es den einzelnen Menschen als einzelnen, ohne alles Begleit und ohne Zugabe, in die Arme seines Vaters hinführt und dem Herzen seines Erlösers nahe bringt. – Glülphi sah jetzt nicht mehr den Haufen seiner Kinder. Dieser Haufen, sowie er zusammen dastand, war jetzt nichts mehr für ihn. Jedes Kind stand einzeln vor ihm, und er lebte, wenn er’s erblickte oder wenn er nur an dasselbe dachte, so ganz in ihm, wie wenn sonst kein anderes neben ihm da wäre. Aber es war auch kein einziges, das er nicht also ins Auge fasste, wenn er es erblickte oder an es dachte.
So weit hatte sich der Mann in seinem Schulmeisterdienst zu der Mutterkraft erhoben, mit welcher das edelste Weib in dem Augenblick, wenn es seinen Säugling an die Brust legt, nicht denkt, dass es noch ein anderes Kind habe, aber dann hinwieder, wenn sein Bruder auch nur mit einem kleinen Schmerz am Finger zu ihr hinspringt, den Säugling beiseits legt und nicht mehr an ihn denkt, bis es den Finger des Bruders mit mütterlicher Zartheit verbunden und er dankend und zufrieden wieder von ihr wegspringt. – Also trug er die Kinder seiner Schule alle in seinem Herzen. Dadurch aber kam er auch dahin, dass er Tag für Tag die Stufe, auf der jedes derselben in seinem Unterricht stand, genau kannte. Er sah mit jedem Tag tiefer in das Herz eines jeden, und kannte mit jedem Tag mehr all ihr Dichten und Trachten …“ (PSW 6, 515).
2. 2. Vertrautheit mit dem Weltbild des Kindes
Wer sich in die Denk- und Anschauungsweise von Kindern einlässt, wird bald bemerken, dass sich diese wesentlich von jenen der Erwachsenen unterscheidet. Dieser Sachverhalt wird breit abgehandelt in zahllosen entwicklungspsychologischen Publikationen, weshalb ich mich hier mit ein paar wenigen Feststellungen, die mir in besonderer Weise für die Schulpraxis von Bedeutung scheinen, begnüge.
Je jünger Kinder sind, desto mehr leben sie in einer magischen Bilderwelt. Ganz kleine Kinder können mit der Unterscheidung ‚lebendig – tot’ nur wenig anfangen, denn eigentlich halten sie alles für belebt. Sie sprechen daher auch ganz selbstverständlich zu den Dingen, im Glauben, von ihnen verstanden zu werden. Ohne Mühe folgen sie der Erzählung von Märchen, in denen Dinge und Lebewesen verzaubert und verwandelt und in denen Raum und Zeit mühelos überwunden werden, und die Existenz von geheimnisvollen Zauberwelten, von Gnomen, Elfen, Feen und andern Wunderwesen wird ganz selbstverständlich akzeptiert. Der einfühlsame Lehrer von Kindergarten- und Unterstufen-Schülern kommt diesem Erleben entgegen, indem er diese Märchen- und Bilderwelt in seinen Sprach-, Zeichen- und Werkunterricht einbezieht und gut ausgewählte (oder selber geschriebene) Geschichten immer wieder dazu benutzt, um durch diese Symbolwelt grundlegende moralische Werte bildhaft zu vermitteln.
Auf besonders eindrückliche Weise unterscheidet sich das Naturverständnis der Kinder von jenem der Erwachsenen. Der Erwachsene versucht in der Regel die natürlichen Vorgänge zu verstehen, indem er nach den wirkenden Ursachen sucht. Fragt man einen Erwachsenen, weshalb es regnet, erinnert er an die Kondensation von Wasser, beruhend auf feuchter Luft, die sich abkühlt. Das heisst: Das Regnen ist die Wirkung, die Kondensation die Ursache – das Phänomen ist kausal erklärt.
Anders das Unterstufenkind. Es hat noch keinen Sinn für Kausalität. Gefragt, weshalb es regne oder weshalb der Mond zu Zeiten bloss halb voll sei, sucht es nicht nach den Ursachen, sondern nach dem Sinn und Zweck. Es versteht die Frage „warum“ im Sinne von „wozu“, es denkt nicht kausal, sondern final. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Antworten auf Fragen, die einer meiner Lehrer-Studenten einigen Erstklässlern über verschiedene Naturerscheinungen vorgelegt hat:
Manuela wird gefragt, weshalb es wohl Voll- und Halbmond gibt, und antwortet: „Vielleicht wegen des Wetters. Wenn es schön ist, dann gibt es einen Vollmond, und wenn es nicht so schön ist, dann gibt es einen Halbmond.“ Das ist kindliche Logik, denn das Schöne ist Ausdruck des Vollkommenen, und das Wüste gehört zur Halbheit. Der Mond ist zudem nichts Fremdes in weiter Ferne, sondern ein Spielball, dessen Grösse sich leicht mit den Händen angeben lässt, und die Sonne ist, weil sie eben heller scheint, etwas grösser.
Die Frage, die manchen Erwachsenen verlegen machen könnte, nämlich, weshalb der Himmel blau sei, ist vom fragenden Studenten kausal verstanden: Ihn interessieren die Ursachen. Das Kind indessen hat dafür kein Verständnis und grübelt dem Sinn und Zweck dieser Erscheinung nach: „Es ist eigentlich so schön. Wenn das Gras grün ist, sollte eigentlich der Himmel nicht auch noch grün sein. Es ist doch schöner, wenn er blau ist.“ Sibylles Antwort auf dieselbe Frage ist nicht weniger einleuchtend: „Wegen dem Wasser, weil nachher das Wasser herabkommt vom Himmel.“ Und wenn der Erwachsene glaubt, er löse beim Kind auf seine Frage, weshalb es regne, eine physikalische Überlegung aus, täuscht er sich. Das Kind denkt mit aller Selbstverständlichkeit final: „Damit das Zeug wachsen kann, oder so, wenn es gar nie regnen würde, könnte das Zeug ja nicht wachsen, dann könnten wir verhungern.“
Das Wissen um diese entwicklungspsychologischen Zusammenhänge gehört somit zu den Voraussetzungen, die ein Lehrer mitbringen muss, damit er die Kinder – insbesondere die jüngeren – nicht mit seinem wissenschaftlich geschulten Denken überfährt. Man kann dieses Wissen durch das Studium geeigneter Lektüre erwerben, reizvoller und spannender ist es allerdings, wenn man diese Einsichten gewinnt durch die eigenen Erfahrungen, indem man den Kindern immer wieder zuerst zuhört, bevor man sie belehrt.
Der Übergang vom magisch-mythischen Denken zum naturwissenschaftlich orientierten Denken vollzieht sich einerseits nicht bei jedem Kind zur selben Zeit und andererseits auch nicht bei jedem gleich schnell. Dabei kann man oft eine Zwischenstufe zwischen den erwähnten finalen Denken und der streng wissenschaftlichen Kausalität feststellen. Diese Zwischenstufe – oder Vorstufe der Kausalität – besteht in sog. ‚Wenn-dann-Erklärungen’. Beispiele: Wenn es im Frühling wärmer wird, dann beginnen die Pflanzen zu spriessen. Wenn sich warme und feuchte Luft abkühlt, dann beginnt es zu regnen. Wenn bei Sonnenuntergang der Mond im Süden steht, dann ist Halbmond. Wenn die Wassertemperatur unter null sinkt, dann gibt es Eis.
Auf welcher Stufe ein Kind steht, kann man nicht in Büchern nachlesen, sondern man findet es nur heraus durch genaue Beobachtung des Kindes und insbesondere durch aufmerksames Hinhören, wenn es den Versuch macht, sich über Naturphänomene zu äussern. Der in Pestalozzischem Geist unterrichtende Lehrer kann dadurch faszinierende Einblicke in die Welt des Kindes gewinnen und erhält immer neue Gelegenheiten zum Staunen über das Erwachen des Geistes in einem Kind.
2. 3. Autorität, Führungsfähigkeit
Zwei Menschen können vor einer Schulklasse stehen und ihr mit denselben Worten eine Anweisung erteilen, und es ist möglich, dass die Schüler im einen Fall ganz selbstverständlich gehorchen, während sie im andern tun, als hätten sie nichts gehört. Es liegt folglich nicht an den Worten, die gesprochen werden, sondern an der Kraft, die in jenen liegt und von jenen ausgeht, die sie ausgesprochen haben. Diese Kraft, die bewirkt, dass das, was man wünscht und will, auch beachtet und ausgeführt wird, bezeichnen wir als Autorität. Ein Lehrer muss über eine gehörige Dosis Autorität verfügen, wenn er seine Ziele mit der Schulklasse erreichen können will. Ein Mensch ohne oder mit bloss schwacher Autorität ist zur Ausübung des Lehrberufes ungeeignet.
Die Autorität ist zweifellos eine Form von Macht. Nicht selten wird heute die Ansicht vertreten, die Macht sei an sich etwas Böses, und jede Form von Machtausübung sei verwerflich. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Auftrag der Schule, mit den Schülern vorgegebene Lehrplanziele zu erreichen, grundsätzlich voraussetzt, dass sich die Schüler den Anordnungen des Lehrers zu fügen haben und der Lehrer nicht bloss das Recht, sondern auch die Pflicht hat, seinen Willen den Schülern gegenüber kundzutun, um die erforderlichen Zielsetzungen zu erfüllen.
Es kann sich folglich nicht darum handeln, die Autorität des Lehrers und die mit ihr verbundenen Willensäusserungen gegenüber den Schülern abzuwerten, sondern gefordert werden muss viel mehr, dass der Lehrer seine Autorität verantwortungsbewusst im Interesse der Schüler und mit Augenmass einsetzt. Ich möchte an dieser Stelle klar betonen, dass es zwei verschiedene Erscheinungsformen von Autorität gibt: Die für die Bildungs- und Erziehungsarbeit erforderliche Autorität – die echte Autorität – äussert sich in Klarheit, Festigkeit und Glaubwürdigkeit und ist immer gepaart mit Verständnis und Liebe zu den Kindern. Darum fühlen sich die Schüler durch diese Form der Autorität nicht unterdrückt, sondern gestützt und geführt. Diese echte Autorität entsteht nur, wenn der Lehrer über ein gesundes Mass von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen verfügt. Demgegenüber verführt der Mangel an Selbstwertgefühl einen Menschen in der Regel dazu, die fehlende echte Autorität durch tyrannisches Gebaren auszugleichen. Diese unechte, erzwungene Autorität, zeigt sich dann in einem als ‚autoritär’ bezeichneten Verhalten, das die Schüler als Unterdrückung erleben und das daher als Grundlage für die Bildung und Erziehung ungeeignet ist.
Jenen Lehrern, die immer wieder feststellen müssen, dass ihnen einzelne Schüler oder gar ganze Schulklassen entgleiten, stellt sich natürlich die Frage, wie Autorität überhaupt entsteht und wie sie gesteigert werden kann. Grundsätzlich lässt es sich wohl nicht bestreiten, dass der Grad von natürlicher Autorität ein Stück weit eine angeborene Begabung ist. Aber eben bloss ein Stück weit. Das heisst: Mit geeigneten Verhaltensweisen lässt sich die Autorität bewusst entwickeln. Dabei sind die folgenden Punkte zu beachten:
Grundlegend ist, dass ein Lehrer überhaupt akzeptiert, dass er über Autorität verfügen muss und dass er sie auch ohne schlechtes Gewissen einzusetzen hat. Bei jungen Lehrern – insbesondere bei solchen, die unter der Autorität ihrer Eltern litten und sich ihr zu widersetzen begannen – konnte ich oft beobachten, dass sie sich davor fürchteten, ihre eigene Autorität in der erforderlichen Weise einzusetzen, womit natürlich die Berufsausübung in Frage gestellt ist.
Da die echte Autorität Selbstvertrauen und ein gesundes Selbstwertgefühl voraussetzt, ist es erforderlich, dass sich ein solcher Lehrer um die entsprechende Selbstentwicklung im Sinne einer eigenen Lebensaufgabe bemüht.
Darüber hinaus gibt es auch eine Reihe von autoritätsfördernden Verhaltensweisen, auf die man bewusst achten und die man bewusst einüben kann: Der Lehrer fasst beim Sprechen grundsätzlich alle Schüler ins Auge und spricht nicht weiter, solange sie unaufmerksam sind und sich miteinander unterhalten. Er bemüht sich um eine klare, verständliche Sprache und bringt durch Haltung und Mimik seinen Autoritätsanspruch zum Ausdruck. Auch lässt er grundsätzlich keinen Angriff auf seine Autorität unwidersprochen und ungeahndet zu.
2. 4. Die Fähigkeit, Konflikte zu lösen
Jeder Mensch ist bestrebt, sein Leben nach seinen eigenen Ansichten und Absichten zu gestalten, was logischerweise dazu führt, dass diese Ansichten oder Absichten mit jenen anderer Menschen zusammenprallen. Mit andern Worten: Es entstehen Konflikte. In der Regel werden Konflikte von den beteiligten Menschen als belastend erlebt, weshalb sie in irgendeiner Weise versuchen, diese Konflikte zu beseitigen. Leider entstehen Konflikte wie von selbst, ungerufen und oft überraschend, aber die Bewältigung von Konflikten erfordert Wissen, Können und guten Willen. Den meisten Menschen fehlt dieses Wissen und Können, oft auch der gute Wille, weshalb sie versuchen, den Konflikt mit untauglichen Mitteln zu bekämpfen. Diese untauglichen Mittel sind alle Formen von Macht und Gewalt, denn der Einsatz von Macht bewirkt in der Regel die Verstärkung des Konflikts.
Diese Unkenntnis im Umgang mit Konflikten wirkt sich im Bereich des Schulunterrichts besonders nachteilig aus, denn der unüberlegte Einsatz von Macht oder gar Gewalt – Schüler gegen Schüler oder Lehrer gegen Schüler – zerstört jene menschliche Atmosphäre, die ein Lernen im Sinne Pestalozzis erst ermöglicht. Ein Lehrer, der im Geiste Pestalozzis unterrichten will, muss daher über die Fertigkeit verfügen, Konflikte mit den Schülern oder unter den Schülern ohne Einsatz der ungeeigneten Machtmittel so zu lösen, dass sie für die Erziehung der Kinder fruchtbar werden. Der amerikanische Psychologe Thomas Gordon hat auf der Grundlage von Alfred Adlers Individualpsychologie die sog. ‚niederlagelose Konfliktlösungsmethode’ systematisiert und in zahlreichen Büchern den Praktikern verfügbar gemacht. Es empfiehlt sich daher für jeden Lehrer, diese Methode zu studieren und sich in deren korrekte Handhabung sorgfältig einzuüben.
Wer Gordons „niederlagelose Konfliktlösungs-Methode“ anwenden will, muss im Wesentlichen über fünf Fertigkeiten verfügen:
a) Guten Willen mobilisieren können
Aus Pestalozzis Sicht ist die Anwendung der Methode Gordons nichts anderes als der Wille, Konflikte statt auf der natürlichen bzw. gesellschaftlichen auf der sittlichen Ebene auszutragen. Dies macht deutlich, dass man niemanden nötigen oder gar zwingen kann, nach Gordons Methode zu handeln, denn Sittlichkeit beruht auf Freiheit und ist letztlich wiederum nichts anderes als der gute Wille.
Das ist logisch rasch erkannt, aber der praktische Vollzug im Leben ist – mindestens für viele Menschen – oft sehr schwer. Es ist wesentlich leichter, seine ganze Energie auf die Durchsetzung eigener Interessen zu konzentrieren, als sich immer und immer wieder zu fragen, ob es einem mit dem Entschluss ernst ist, sich so zu verhalten, dass schlicht und einfach das Gute geschieht, ganz gleich, ob sich dies mit dem eigenen Egoismus verträgt. Der gute Wille ist ja nichts anderes als die Entschlossenheit, das Gute ohne Rücksicht auf eigene Vor- oder Nachteile zu wollen.
b) Du-Botschaften vermeiden
Unter einer Du-Botschaft versteht Gordon eine Aussage, die den Konflikt-Partner direkt aufs Korn nimmt, sei es durch eine simple Frage, eine Kritik, einen Befehl, eine Drohung, eine Klassifizierung bzw. Abstempelung oder durch eine Verletzung (Beschimpfung, Blossstellung usf.). Es gibt Du-Botschaften, die unter allen Umständen zu meiden sind (Beispiel: Verletzung), und es gibt solche, die in konfliktfreien Kommunikationen durchaus zulässig sind (z.B. Frage, Befehl). Im Rahmen der Bewältigung eines Konflikts gilt die Regel: Keine Du-Botschaften! Wer sich daran hält, tut dies natürlich nicht, um eine Vorschrift zu befolgen, sondern im eigenen Interesse: Die Erfahrung zeigt nämlich immer wieder, dass Du-Botschaften in Konflikt-Gesprächen den Partner behindern, sich zu öffnen, und darum die Konfliktlösung erschweren oder gar unmöglich machen.
c) Eigen- von Fremdkonflikten unterscheiden
‚Eigen-Konflikte’ sind Konflikte, die uns selber betreffen (z.B. Ehe-Konflikte, Auseinandersetzung mit den Schülern, mit Vorgesetzten oder mit Mitarbeitern). Demgegenüber handelt es sich bei ‚Fremd-Konflikten¨ um Konflikte, die uns zwar belasten, die wir aber eher als Zuschauer erleben (z. B. Kinder untereinander). Eigen-Konflikte sind leicht zu erkennen, sobald man sich angewöhnt, auf die eigenen Gefühle zu achten. Sind diese aus Anlass des Verhaltens der andern verstört, so liegt stets ein Eigen-Konflikt vor. Fremd-Konflikte betreffen uns nie direkt und können darum bei uns auf der Gefühlsebene höchstens Mitgefühl, Mitleid auslösen, aber nie etwa Verärgerung, Angst, Verletztheit, Wut usf. Je nachdem, welche Konfliktart vorliegt, ist eine andere Reaktion angezeigt.
d) Bei Eigen-Konflikten: Ich-Botschaften senden
Die psychologisch angemessene Verhaltensweise bei Eigen-Konflikten besteht darin, dem Konfliktpartner mitzuteilen, wie man sich in der Konfliktsituation selbst fühlt. Gordon bezeichnet solche Aussagen als ‘Ich-Botschaften’. Eine Ich-Botschaft kann man erst dann formulieren, wenn man gelernt hat, auf seine eigenen Gefühle zu achten. Echte Gefühlsäusserungen tönen etwa so: „Ich mag fast nicht mehr. Ich fühle mich abgelehnt. Ich bin verärgert. Ich bin wütend. Ich möchte am liebsten davonlaufen. Deine Bemerkung tut mir weh.“
Wer eine Ich-Botschaft formuliert, deckt ein Stück seelischer Wahrheit auf. Er setzt sich damit aus, wird möglicherweise auch verletzbar, und das macht oft Angst. Es braucht darum einen gewissen Mut, seine verletzten und verstörten Gefühle einem andern – und ausgerechnet demjenigen, mit dem man ein Problem hat – mitzuteilen. Die Erfahrung zeigt aber, dass in der Regel durch eine Ich-Botschaft beim Konflikt-Partner die Bereitschaft erhöht wird, seinerseits von seiner Gefühlslage zu berichten.
In diesem Zusammenhang soll aber nicht verschwiegen werden, dass der masslose Gebrauch von Ich-Botschaften bei den andern unangebrachte Schuldgefühle und damit wiederum Abwehrreaktionen wecken kann. Der Fachmann kann auch sehr oft beobachten, dass psychisch wenig ausgeglichene Menschen die Ich-Botschaften als eigentliches Druck- und Machtmittel missbrauchen und damit ihre Umgebung tyrannisieren. Wer sich gedrängt fühlt, bei jedem nur erdenklichen Anlass Ich-Botschaften zu formulieren, sollte sich wohl fragen, was mit ihm los ist, dass seine Gefühlswelt so rasch aus dem Gleichgewicht geraten kann. Überhaupt möchte ich ganz allgemein raten, immer dann, wenn man sich veranlasst sah, zur Ich-Botschaft zu greifen, in sich zu gehen und seinen eigenen Anteil an der Verstörung seiner Gefühlswelt herauszufinden. Man dürfte wohl in den meisten Fällen fündig werden.
e) Bei Fremd-Konflikten: Aktiv zuhören können
Es dürfte eine alte Lebensweisheit sein, dass in einem Konflikt das Zuhören wichtiger ist als das Reden. Wenn ich jemandem wirklich zuhöre, beweise ich ihm, dass ich ihn ernst nehme und akzeptiere, und bloss schon durch dieses Verhalten leiste ich einen Beitrag zur Verständigung. „Ich will nichts hören“, dieser so häufig verwendete Satz hingegen demütigt, verletzt, entwertet und verschärft damit das Problem.
Um zu verstehen, was Gordon unter aktivem Zuhören versteht, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, dass jede Aussage einen sachlichen und einen gefühlsmässigen Gehalt hat. Wer das aktive Zuhören nicht gelernt hat, achtet zumeist ausschliesslich auf den sachlichen Inhalt einer Aussage. Wenn ich aber einen Mitmenschen wirklich verstehen will, muss ich darüber hinaus auf die in einer Aussage mitschwingenden Gefühle achten. In einem Konflikt, wo eben diese Gefühle verstört sind, ist dies besonders wichtig. Aktives Zuhören besteht nun darin, dass ich die Gefühle meines Gegenübers wahrzunehmen versuche und dies dann in der Form einer Vermutung oder vorsichtigen Feststellung ausspreche. Treffe ich es, was sehr oft der Fall ist, fühlt sich mein Partner wirklich verstanden und ist zumeist bereit, selbst auf seine Gefühle zu achten und sie auszusprechen. Aktives Zuhören ist darum so etwas wie Geburtshilfe für Ich-Botschaften beim andern. Dies erreiche ich selbst dann, wenn ich mit meiner Mutmassung teilweise oder sogar ganz daneben treffe, weil nämlich der Partner meine Bemühung erkennt, ihn wirklich verstehen zu wollen. Er ist es dann selbst, der mit seinen Ich-Botschaften sein Inneres öffnet.
Es liegt wohl auf der Hand, dass nur jemand zu dieser anspruchsvollen Form der Kommunikation fähig ist, der selbst gefühlsmässig hinlänglich ausgeglichen ist. Das aktive Zuhören ist darum in erster Linie bei der Lösung von Fremd-Konflikten am Platz. Leidet z.B. ein Jugendlicher an einem Beziehungsproblem (Freund, Freundin), so kann ich ihm durch aktives Zuhören und unter Verzicht auf Du-Botschaften helfen, selbst einen Ausweg zu finden.
Aktives Zuhören kann allerdings auch in Eigen-Konflikten zur Anwendung kommen, aber erst dann, wenn sich die Gesprächssituation durch die Formulierung von Ich-Botschaften beruhigt und damit die eigene Gefühlslage einigermassen geglättet hat. Der Wechsel vom Formulieren von Ich-Botschaften zum aktiven Zuhören (und zurück) ist schon recht schwierig und bedarf beharrlicher Übung.
2. 5. Qualitätsbewusstsein
Es gehört zur Eigenart von uns Menschen, dass wir jede unserer Verhaltensweisen verbessern können. Das liegt daran, dass in uns – mehr oder weniger bewusst – in Bezug auf jede Verhaltensweise die Vorstellung ihrer eigenen Vollkommenheit lebt. So können wir alle reden, um uns zu verständigen, aber die Art, wie wir formulieren und sprechen, lässt sich immer weiter verbessern. Oder: Wir können alle essen, aber man kann es den Schweinen ähnlich tun oder sich gesittet zu einem stilvollen Mahl versammeln. Wir können auch alle zu Musik tanzen, aber die einen geben sich mit einem hilflosen Hopsen zufrieden, während andere sich durch jahrelanges Training zu stauenswerten Spitzenleistungen aufschwingen. Wenn Pestalozzi die Entfaltung von Kräften und Anlagen fordert, so geht es darum, dass wir dem Schüler helfen, sich in allem, was er tut, dem jeweiligen Ideal anzunähern. Bei allem, was wir – Lehrer und Schüler – tun, haben wir die Möglichkeit und auch die Aufgabe, nach einer höheren Qualität dieses Tuns zu streben.
Nun ist dieses Bewusstsein der jeweils höheren Qualität bei vielen Menschen wenig ausgebildet, entweder weil sie sich mit dem absolut Nötigsten zufrieden geben oder weil sie von der betreffenden Verhaltensweise zu wenig oder nichts verstehen. Solche Menschen sind natürlich für die Ausübung des Lehrberufs nicht geeignet. Einem in Pestalozzischem Geiste unterrichtenden Lehrer darf die Qualität von all dem, was die Schüler zu lernen haben, nicht gleichgültig sein. Er darf sich nicht damit zufrieden geben, dass die Schüler irgendwie schreiben, sondern er muss auf sorgfältige Schrift und ansprechende Gestaltung von Textseiten achten. Er darf seine Schüler nicht irgendwie singen lassen, sondern er muss danach streben, dass sie rein und in angemessenem Ausdruck singen. Er darf nicht einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Schüler eine Seite voll geschrieben haben, sondern er muss sie dazu bringen, sich in einer korrekten und gepflegten Sprache auszudrücken. Dies alles kann er aber nur, wenn er in den entsprechenden Bereichen darüber im Bilde ist, worin jeweils die höhere Qualität besteht.
Grundsätzlich hat die Lehrerausbildung den Auftrag, im künftigen Lehrer dieses Qualitätsbewusstsein zu entwickeln. Aber dies ist nichts Endgültiges, das man ein für allemal erwerben kann, sondern es lässt sich im Laufe des Lebens immer mehr verfeinern, ausweiten und vervollkommnen. Das bedeutet für den Lehrer, dass er diese Perfektionierung des Qualitätsbewusstseins als eine nie vollendete Lebensaufgabe anerkennt. Damit wird er erleben, dass auch seine Lehrtätigkeit zunehmend an Qualität gewinnt, denn jede Steigerung seines Qualitätsbewusstseins hat wiederum Auswirkungen auf die Gestaltung seines Schulunterrichts.
2.6. Interesse am Stoff
Nach meinen Beobachtungen ist es leider beinahe der Normalfall, dass sich die Schüler – insbesondere der höheren Stufen – einen Stoff nur deshalb im Gedächtnis einprägen, um ein befriedigendes Prüfungsergebnis zu erreichen. Und leider gibt es sehr viele Lehrer, denen dies auch genügt. Ein im Pestalozzischen Geiste unterrichtender Lehrer hält wenig von einem Wissen, das bloss zur Erreichung einer guten Note erworben und dann ebenso schnell wieder vergessen wird. Er will vielmehr, dass die Schüler durch die Beschäftigung mit einem Stoff Neugier und Interesse entwickeln und das Gelernte als Bereicherung und als Grundlage für eine weitere und eigenständige Auseinandersetzung erleben. Das ist nur dadurch zu erreichen, dass dem Schüler der Schulunterricht im jeweiligen Fach zum Erlebnis wird. Und das ist wiederum nur dann der Fall, wenn er nicht bloss mit dem Kopf – rein gedanklich und gedächtnismässig – bei der Sache ist, sondern auch mit dem Herzen. Wie früher gezeigt, lassen sich aber Herzenskräfte immer nur durch Resonanz anregen, das heisst in diesem Zusammenhang: durch das lebendige Interesse des Lehrers am Stoff. Ein Lehrer, dem ein Schulstoff kein Herzensanliegen ist, sondern der ihn bloss deshalb im Unterricht behandelt, weil er im Lehrplan oder im Lehrbuch vorgesehen ist, wird die wahren Bildungsziele niemals erreichen.
Das bedeutet, dass zur Ausübung des Lehrberufs nur solche Menschen geeignet sind, die sich für das, was sie unterrichten, wirklich interessieren. Die erfolgreichsten Lehrer sind darum jene, die die Themen des Unterrichts zur eigenen Liebhaberei machen, die sie auch in ihrer Freizeit und in den Ferien aus eigenem Interesse pflegen und die sie auch pflegen würden, wenn sie keine Schüler hätten.
Nun wurde mir im Rahmen von Fortbildungskursen für Lehrer immer wieder entgegengehalten, schliesslich könne man nichts dafür, dass man an einer Sache kein Interesse habe. Das tönte jeweils so, als wäre das Interesse an einer Sache so etwas wie ein unbeeinflussbares Schicksal: entweder man hat’s oder man hat’s nicht. Menschen, die nicht von dieser Position abrücken wollen, sollten andere Berufe ergreifen, denn ein Lehrer muss die Fähigkeit haben, sich willentlich für eine Sache zu interessieren. Wenn man sich wirklich auf die Sache einlässt, gibt es grundsätzlich wohl nichts, das nicht interessant ist, zumindest aber trifft dies bei jenem Themen zu, die man als grundlegend für die Bildung der Jugend erklärt hat.
2.7. Phantasie und Kreativität
Jeder Mensch hat Phantasie. Das heisst: Jeder Mensch kann Dinge und Verhältnisse in seinem eigenen Innern ersinnen, die er keiner Kundgabe von aussen her verdankt. Und jeder Mensch ist kreativ. Das heisst: Jeder Mensch kann Werke schaffen, die ohne seine Schaffensimpulse nicht in der Welt wären. Es ist aber offensichtlich, dass diese beiden menschlichen Gaben nicht bei allen Menschen in gleicher Weise ausgeprägt sind. Und ebenso offensichtlich ist es, dass Lehrern, die über ein verhältnismässig hohes Mass an Phantasie und Kreativität verfügen, das erfolgreiche Unterrichten leichter fällt, ganz einfach darum, weil ihr Unterricht interessanter, vielfältiger und abwechslungsreicher ist und dies die Kinder gerne haben.
Dass das Ausmass an Phantasie und Kreativität zu einem grossen Teil von der angeborenen Begabung abhängt, lässt sich wohl schwer widerlegen. Das darf aber nicht zur Annahme verleiten, Phantasie und Kreativität seien so etwas wie fixe Grössen, die nicht zu entwickeln wären. Das Gegenteil ist der Fall: bei beiden handelt es sich – um Pestalozzis Ausdrucksweise zu verwenden – um ‚Kräfte und Anlagen’, und so können denn auch beide, wie andere Kräfte und Anlagen auch, gezielt entfaltet werden. Dies gilt aber nicht bloss für die Schüler – es gilt auch für den Lehrer. Es gibt zahlreiche Bücher, die ihm, sofern er will, dabei behilflich sind. Dabei sind zwei seelisch-geistige Eigenschaften besonders hilfreich: Mut und Selbstkritik. Der Mut motiviert einen Lehrer, bei der Behandlung eines Themas eigene Geschichten zu schreiben, eigene Übungen zu erfinden, eigene Wege zu beschreiten, ja auch eigene Lieder zu komponieren und eigene Gedichte zu verfassen – und die Selbstkritik hält ihn davon ab, sich zu überschätzen und gleich jedes Werk als hohe Kunst zu betrachten, und motiviert ihn, seine Schöpfungen immer wieder zu hinterfragen und an ihnen immer wieder zu feilen.
2.8. Die eigene Sprache kontrollieren, Abstraktes konkretisieren können
Wenn erwachsene Menschen miteinander reden, drücken sie sich – meistens unwillkürlich und unbewusst – sehr abstrakt aus. Sie reden von ‚multikultureller Gesellschaft’, von ‚Baisse an der Börse’, von ‚Infrastruktur’, von ‚boomender Wirtschaft’, von ‚schlechter Ertragslage’, von ‚gestörter Kommunikation’, von ‚ökologischen Rücksichten’, von ‚negativer Energiebilanz’ und von ‚eklatanten Bildungsdefiziten’ – um nur ein paar zusammenhanglose Beispiele zu nennen. Ein Lehrer darf solche Ausdrücke gegenüber seinen Schülern niemals brauchen, ehe er sich versichert hat, dass sie sich darunter genau das vorstellen, was der Ausdruck meint. Der Weg, den Schülern die richtigen Vorstellungen (Pestalozzi sagt: deutliche Begriffe) zu vermitteln, besteht darin, ihnen die komplizierten Zusammenhänge an sinnlich und vorstellungsmässig erfassbaren Beispielen zu erläutern. Wir bezeichnen dieses Umsetzen des Allgemeinen, Unanschaulichen, Regelhaften, Abstrakten in anschauliche Einzelbeispiele als Konkretisieren.
In jedem Fach gibt es täglich Gelegenheiten oder das Erfordernis, Ausdrücke zu konkretisieren, die dem Lehrer geläufig, aber für Kinder noch zu abstrakt sind. Der Lehrer kann dies nur in dem Masse, wie er überhaupt erkennt, welche Wörter für die Kinder zu abstrakt sind. Das führt aber auch dazu, dass er seine eigene Sprache kontrolliert. Da ich selber als junger Lehrer alle Schüler von acht Jahrgängen im selben Schulzimmer unterrichtete, hatte ich mich bei jedem Wechsel der Altersstufen in meiner Wortwahl und Satzbildung der jeweiligen Altersstufe anzupassen. Je jünger die Schüler waren, desto konkreter war meine Sprache und desto häufiger musste ich beim Auftauchen eines zu abstrakten Ausdrucks (z.B. in einem Text) diesen durch zwei oder drei Beispiele konkretisieren.
Die Fähigkeit, mit den Kindern auch über schwierige Probleme mit einer konkreten, anschaulichen Sprache zu sprechen, wird oft auch als Lehrtalent bezeichnet. Zweifellos verfügen die Menschen auch in diesem Bereich über unterschiedliche Begabungen, aber auch hier muss betont werden, dass das Kontrollieren der eigenen Sprache und das phantasiereiche Konkretisieren des Abstrakten sehr wohl auch bewusst geübt werden kann. In meiner Tätigkeit als Dozent an einer Lehrerbildungsstätte ist mir immer wieder aufgefallen, dass z.B. sechzehnjährige Burschen bei ihren ersten Lehrübungen mit etwa sechs Jahre jüngeren Schülern durch das unreflektierte Verwenden von abstrakten Ausdrücken oft ziemliche Verwirrung stifteten, obwohl ja eigentlich der Altersunterschied noch gering war. Es war ihnen gar nicht bewusst, dass sie über die Köpfe der Schüler hinweg redeten und nicht verstanden wurden.
2.9. Erzählen können
In engstem Zusammenhang mit der Fähigkeit, abstrakte Sachverhalte konkretisieren zu können, steht das Erzählenkönnen. Zwar wird in jüngerer Vergangenheit diese Form der Wissensvermittlung im Rahmen der Schulbildung von vielen Didaktikern nicht sonderlich geschätzt, dessen ungeachtet ist das Erzählen die elementarste Form der Wissensvermittlung. Die Schriftkultur ist eine verhältnismässig junge Errungenschaft, und zuvor haben über Jahrtausende die Menschen aller Völker der heranwachsenden Generation das überlieferte und als notwendig erachtete Wissen durch Erzählen weitergegeben. Es ist daher nicht zu verwundern, dass Kinder auf das Erzählen besonders gut ansprechen und zumeist jede andere Tätigkeit wegschieben, wenn sie einem Menschen zuhören dürfen, der kindgemäss und spannend erzählt.
In der Fähigkeit, gut zu erzählen, vereinigen sich eine ganze Reihe von Fertigkeiten, die wohl auf der einen Seite wiederum auf gewissen Begabungen beruht, auf der andern Seite aber durchaus auch bewusst entwickelt und geübt werden können.
Die Grundlage für gutes Erzählen besteht zuerst einmal darin, dass sich der Erzähler überhaupt im Klaren darüber ist, worin das Wesen einer guten Erzählung besteht. Der Kern der Erzählung ist die Episode, also ein Geschehnis, das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort abgespielt hat. Dabei wird dargestellt, wie bestimmte Wesen (meist Menschen) gehandelt haben oder durch Handlungen betroffen wurden. Die Erzählung ist daher stets charakterisiert durch Bewegung oder Veränderung. Eine Episode darf aber nicht verwechselt werden mit einem beliebigen, zufälligen Ausschnitt aus einem ungegliederten Handlungsablauf. Wenn ich einfach rapportiere, was bei mir zu Hause gestern zwischen zehn und elf geschehen ist, so ist dies in der Regel kaum eine erzählenswerte Episode. Eine Episode ist vielmehr gekennzeichnet durch eine gewisse Geschlossenheit: Das Ereignis bahnt sich an, spitzt sich zu und kommt zu einem gewissen Abschluss, der einen inneren Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen hat.
Ich möchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Im Alter von 16 Jahren hatten wir Lehrer-Studenten im Rahmen eines Schulprojektes während zwei Wochen einem Landwirt bei der Kirschenernte zu helfen. Ich hatte es schlecht getroffen, denn der Bauer machte sich einen Spass daraus, mich mit seinem bissigen Hund zu ängstigen. Einmal wollte ich vom Baum hinab steigen, um den gefüllten Korb zu leeren, doch unten an der Leiter wartete zähnefletschend der Hund. Es war auch niemand da, der ihn zurück gehalten hätte. In dieser Lage blieb mir nichts anderes übrig, als den Korb an jenes Seil zu binden, das ich jeweils für meine Sicherung verwendete, und ihn mit dessen Hilfe von der Leiter herab auf den Boden zu stellen. Damit konnte ich der Gefahr entrinnen.
Was ich da eben erzählt habe, ist ein Beispiel einer Episode. Das Geschehnis bahnt sich an durch die Beschreibung der Situation und meine Gefährdung durch einen bissigen Hund, es spitzt sich zu durch das Warten des Tieres unten an der Leiter und kommt dadurch zu einem gewissen Abschluss, dass ich durch einen Trick der Gefahr entrinnen konnte. Das Detail, dass ich den Korb an mein Sicherungsseil band, ist nur darum erzählenswert, weil es eben in einem inneren Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen steht.
Einem geübten und talentierten Erzähler kommt es natürlich nicht nur darauf an, diese Episode zu erzählen, sondern er möchte damit eine gewisse Spannung erzeugen. Sie kommt dadurch zustande, dass der Hörer aufgrund einer angebahnten Handlungsabfolge gewisse Konsequenzen erwartet oder befürchtet und gleichzeitig damit rechnet, dass diese Erwartungen oder Befürchtungen wahrscheinlich unberechtigt sind, weil das Geschehnis auf eine überraschende Weise ausgeht. Im obigen Beispiel befürchtet man, dass mich der Hund beisst, man hofft gleichzeitig, es möge mir gelingen, der Gefahr zu entkommen, und ist dann erleichtert und gleichzeitig ein wenig überrascht, wenn man erfährt, auf welche Weise es mir gelang, der Gefahr zu entkommen.
Ob nun die Erzählung einer einzelnen Episode oder einer grösseren Geschichte im Sinne einer logischen Abfolge von Episoden bei den Zuhörern auch gut ankommt, hängt nun eben nicht bloss von der Episode oder der Geschichte selber ab, sondern von der Art und Weise, wie erzählt wird, und auch davon, wer die Geschichte erzählt. In erster Linie muss man als Erzähler über die Fähigkeit verfügen, mit den Zuhörern einen seelischen Kontakt herzustellen, der bewirkt, dass die Aufmerksamkeit dem Erzähler und dem, was er zu erzählen hat, zugewendet wird. Im Rahmen des Schulunterrichts bedeutet dies, dass sofort eine gewisse gespannte Ruhe einkehrt. Alles ausser der erwarteten oder im Moment vorgetragenen Erzählung ist unwichtig. Die Fähigkeit, diese Erwartungshaltung und Bereitschaft zum Zuhören zu erzeugen, ist letztlich identisch mit dem, was ich bereits im Abschnitt über die Autorität gesagt habe. So fasst denn auch der erzählende Lehrer alle Schüler ins Auge und spricht nur, wenn er sicher ist, dass alle auch wirklich zuhören.
Dazu kommt ein gewisser technischer Aspekt: Der erfolgreiche Erzähler passt die Artikulation, das Tempo, die Lautstärke, den Sprechrhythmus, die Sprechmelodie und das Setzen von kleineren oder längeren Pausen dem zu erzählenden Inhalt an und nimmt gleichzeitig die entsprechende Wirkung bei den Zuhörern wahr, womit er die Möglichkeit hat, sich ihnen in seiner Sprachgestaltung in jedem Moment anzupassen. Damit ist der oben erwähnte Kontakt mit den Zuhörern nichts Einseitiges, sondern wird zu einer Wechselwirkung zwischen Erzähler und Zuhörer.
Ein ganz entscheidender Faktor ist natürlich die Wortwahl und die Satzgestaltung. Der erfolgreiche Erzähler ist ein Meister im Konkretisieren, er verfügt über einen farbigen Wortschatz und versteht es, in der Vorstellung der Zuhörer durch die Wahl anschaulicher Ausdrücke lebendige und starke Bilder aufleben zu lassen.
Das Entscheidende ist natürlich schliesslich der Inhalt seiner Erzählung. Es gehört zur Fähigkeit, gut erzählen zu können, dass man auch entscheiden kann, welche Inhalte erzählenswert und welche belanglos sind. Der kompetente Erzähler verfügt über die Fähigkeit, in jeder seiner Erzählungen etwas Grundlegendes, Allgemeingültiges, Werthaftes, Elementares, Wesentliches sichtbar zu machen.
Die Möglichkeit und auch Notwendigkeit zum Erzählen gibt es in jedem Schulfach. Der in Pestalozzischem Geiste unterrichtende Lehrer nimmt diese Gelegenheiten wahr und erzeugt damit auch eine jener Bedingungen, die den Schulunterricht für den Schüler interessant machen.
2.10. Geduld, Ausdauer, Zielstrebigkeit
Kinder können sich angesichts einer Denkaufgabe oder einer zu lernenden Fertigkeit ausserordentlich begriffsstutzig oder ungeschickt verhalten. Hier ist jeder Lehrer im Vorteil, der gelassen abwarten und eine Aufgabe oder Fertigkeit zum wiederholten Male erklären bzw. vormachen kann. Denn Ungeduld erschwert die Situation in jedem Fall und macht sowohl Lehrer wie auch Schüler noch hilfloser.
Auch Ausdauer als Charaktereigenschaft ist für einen Lehrer sehr hilfreich. Angesichts von Schwierigkeiten mit der Klasse oder einzelnen Schülern und auch angesichts erzieherischer Probleme gibt er nicht auf, sondern versucht es immer und immer wieder erneut, bis sich der erhoffte Erfolg allmählich einstellt.
Sind die beiden erwähnten Charaktereigenschaften – Geduld und Ausdauer – grosse Hilfen für ein erfolgreiches Unterrichten, so ist die Zielstrebigkeit ein absolutes Erfordernis. Der zielstrebige Lehrer weiss in jedem Augenblick, warum er das tut, was er gerade tut. Sein Blick ist auf längerfristige Ziele ausgerichtet, und jede einzelne Massnahme versteht er so zu arrangieren, dass sie zu diesen Zielen führt, und weiss er zu beurteilen, inwiefern sie seinen Zielen dient.
2.11. Motivieren können
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Kinder in der Schule Dinge tun und tun sollen, die sie – gäbe es keine Schule – von sich aus nicht täten. Es muss folglich ein fremder Wille auf sie einwirken, damit sie die erwünschten Leistungen vollbringen. Der Lehrer muss somit über die Fähigkeit verfügen, die Kinder zum Arbeiten zu veranlassen. Das ist nicht einfach, denn Lernen ist zumeist anstrengend und steht dem kindlichen Bedürfnis entgegen, nur gerade das zu tun, was Lust bereitet.
Die Grundlage, die Schüler zum Lernen zu bewegen, ist selbstverständlich die Autorität des Lehrers. Je sicherer er darüber verfügt, desto leichter bewältigt er dieses Problem. Abgesehen davon, gibt es aber eine Reihe von Verhaltensweisen des Lehrers, die entweder die Schüler in ihrem Arbeitseifer lähmen oder aber anspornen. Ich sehe die folgenden:
- Als erstes gilt es, den Schwierigkeitsgrad und das Ausmass einer Aufgabe so zu wählen, dass die Schüler nicht entmutigt, sondern ermutigt werden.
- Sodann sollen die Schüler daran gewöhnt werden, immer dann die Hilfe des Lehrers zu erbitten, wenn sie nicht mehr weiterkommen, und dann die Erfahrung machen dürfen, dass ihnen in jedem Fall wirklich geholfen wird. Der erfahrene Lehrer sieht sofort, wenn ein Schüler an seine Grenze kommt, und weiss ihm dann über die Schwierigkeit hinweg zu helfen und ihn zu weiterer Übung zu ermutigen.
- Das Wichtigste besteht darin, dass der Schüler zum Erfolg kommen kann und diesen Erfolg auch erlebt. Er braucht somit in jedem Falle Rückmeldungen vom Lehrer. So ist es z.B. sehr schädlich, wenn Lehrer den Schülern Aufgaben übertragen, die sie – angeblich wegen Zeitmangel – nicht kontrollieren, korrigieren oder kommentieren. Nun kann man beim Beurteilen von Schülerleistungen grundsätzlich das Augenmerk mehr auf das Negative oder mehr auf das Positive lenken. Wer immer zuerst die Fehler anmerkt und praktisch nur kritisiert, lähmt die Schüler in ihrer Arbeitsfreude, wer aber hauptsächlich das Positive sieht und dieses anerkennt und herausstreicht, steigert die Leistungsbereitschaft der Schüler. Ich erinnere mich, dass Schüler von auswärts in meine Schulklasse kamen, die eigentlich gar nichts mehr tun wollten, weil sie überzeugt waren, nichts zu können. Indem ich jeden kleinen Fortschritt feststellte und meine Freude darüber äusserte, gelang es, sie wieder zu normalem Arbeits- und Leistungsverhalten zu führen, ja, in ihnen wieder die wirkliche Leistungsfreude zu wecken. So ist es denn die wichtigste Verhaltensweise des Lehrers, um Schüler zum Arbeiten zu motivieren, dass sie ihre Erfolge sehen und ihrer Freude über jeden Fortschritt und jede geglückte Leistung Ausdruck geben. Nebenbei bemerkt: Ein Mensch, der sich nicht an den Fortschritten der Schüler freuen kann, sollte eben einen andern Beruf ausüben.
2.12. Sich richtig vorbereiten
Grundsätzlich hat der in Pestalozzischem Geist unterrichtende Lehrer drei Aspekte der Unterrichtsvorbereitung im Auge:
Vorerst ist ihm bewusst, dass letztlich sein ganzes Leben die Grundlage der Unterrichtsvorbereitung darstellt. Der erfolgreiche Lehrer ist nicht bloss Lehrer während der Schulstunden, er ist es auch in der Freizeit und in den Ferien. Alles, was er tut und sieht, befragt er unwillkürlich, ob und in welcher Weise es allenfalls in den Unterricht einfliessen kann. Undenkbar, dass ein Lehrer eine grössere Reise – sagen wir z.B. nach Ägypten – macht, und seine Schüler nicht davon profitieren lässt. So nimmt er am Reiseprogramm interessierten Anteil und sammelt Bild- und allenfalls auch Tonmaterial, um seine Schüler von seiner Reise profitieren zu lassen. Undenkbar auch, dass ein Lehrer in seiner Freizeit Bienen züchtet (oder sonst eine Liebhaberei pflegt), und seine Schüler an dieser wunderbaren Beschäftigung keinen Anteil nehmen lässt. Undenkbar, dass ein Lehrer ein Musikinstrument übt, und seine Fertigkeiten im Unterricht nicht fruchtbar werden lässt. Alles, was einem Lehrer als Menschen wichtig ist, fliesst ein in seine Schule. Auch wenn er einen Kurs besucht, um beispielsweise Konflikte zu lösen oder besser zu fotografieren, so wird auch dies in irgendeiner Form seinen Unterricht beeinflussen. So zeigt es sich denn auch von dieser Seite einmal mehr, wie sehr der Unterrichtserfolg von der persönlichen Lebensführung eines Lehrers abhängt.
Die nächste Stufe ist die spezifische Vorbereitung für ein Unterrichtsprojekt, das im Unterricht eine längere Zeit in Anspruch nimmt. So wird z.B. ein Lehrer, der Biologieunterricht (gleich auf welcher Stufe) erteilt und beabsichtigt, in nächster Zeit die Metamorphose von Schmetterlingen zu behandeln und die Schüler die wichtigsten Falter kennen zu lernen, sich über längere Zeit mit diesem Thema befassen, er wird Bücher studieren, das Internet beiziehen, Bilder und anderes Unterrichtsmaterial sammeln. Er tut dies alles, ohne bereits an die Gestaltung einer bestimmten Unterrichtsstunde zu denken, sondern einzig darum, um sich im geplanten Thema kompetent zu machen, damit er dann, wenn es um die didaktische Vermittlung geht, so richtig aus dem Vollen schöpfen kann.
Ich halte diese Stufe der Vorbereitung für ausserordentlich wichtig, denn ein lebendiger Unterricht, in welchem die Kinder Interesse an der Sache entfalten können, wird nicht möglich werden, wenn der Lehrer gewissermassen von der Hand in den Mund lebt und den Schülern nur gerade so viel voraushat, wie er sich am Vorabend angelesen hat.
Schliesslich mündet die Unterrichtsvorbereitung aus in die Detailplanung einer Lektionseinheit. Bei uns in der Schweiz gibt es Schulinspektoren, die von ihren Lehrern erwarten, dass sie jeweils eine Woche im Voraus für jede Stunde festlegen, was sie zu tun gedenken. Ich halte diese Art von Wochenplanung für falsch, denn sie rechnet nur mit der Hälfte des Unterrichts, nämlich mit dem, was der Lehrer einbringt, nicht aber mit der andern Hälfte, nämlich mit den Schwierigkeiten, Fragen und Beiträgen der Schüler, die ja im Voraus nicht planbar sind. So empfehle ich denn, den Unterricht von Tag zu Tag vorzubereiten, damit man in einer einzelnen Schulstunde nicht unter dem Zwang steht, eine vorbestimmte Stoffmenge durchzunehmen, und damit nicht in der Lage ist, in angemessener Weise auf die Klasse und die einzelnen Schüler einzugehen.
2.13. Sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein
Bekanntlich lernt der Mensch auf unterschiedliche Weise. Manche Verhaltensänderung kommt durch Konditionieren zustande, anderes wird gelernt durch Einsicht, aber eine grosse Rolle spielt auch die Nachahmung. Wer kleine Kinder aufmerksam beobachtet, kann sich täglich davon überzeugen, wie sie sich so verhalten, wie sie es bei älteren Kindern oder Erwachsenen abgeguckt haben. Diese Gesetzmässigkeit gilt auch in der Schule. Der Lehrer sollte sich daher stets seiner Vorbildfunktion bewusst sein.
Sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein ist allerdings nicht ganz dasselbe wie: ein gutes Vorbild sein wollen. Ein Vorbild ist man, ob man will oder nicht. Es ist daher problematisch, im Angesicht der Kinder etwas nur um des guten Vorbildes willen zu tun. Das kann leicht zum Theaterspiel ausarten. Ein Mensch sollte grundsätzlich das Gute nicht um der Wirkung auf die Mitmenschen willen tun, sondern um seiner selbst und um des Guten selbst willen.
Dessen ungeachtet gilt: Wenn ich als Lehrer etwas, auf das ich Wert lege, bei den Schülern erreichen will, muss ich es ich es selber tun. Das beginnt bei der Höflichkeit im Umgang mit den Menschen, geht weiter über die Sauberkeit und Ordnung in Körper, Kleidung und Arbeitsplatz bis hin in der Art und Weise, wie gewissenhaft und gründlich die anfallenden Arbeiten angenommen und bewältigt werden. Ein Lehrer, der sich für vieles interessiert, der den Dingen immer beharrlich auf den Grund geht, der auch alles freudvoll angeht und sorgfältig bearbeitet, wird daher seine Schüler ohne viele Worte zu ähnlichen Verhaltensweisen anregen. Dabei ist allerdings entscheidend, in welcher Beziehung ein Lehrer zu seinen Schülern steht: Ist die Beziehung emotional gut, sind die Schüler viel eher bereit, Verhaltensweisen des Lehrers nachzuahmen.
Ich erinnere mich, wie ich als junger Lehrer in meiner Schulstube in einer einfachen Holzkiste eine Schmetterlings-Zucht einrichtete. Ich verschloss die Vorderseite der Kiste mit einer Glastüre, die Rückseite mit einem Stück Gaze (für gute Durchlüftung), stellte in eine Blumenvase einen Büschel Bennnesseln und liess einige Hundert Raupen an diesen Blättern fressen. Jeden Tag sammelte ich die Raupen in ein Glas, entfernte den Unrat in der Kiste, stellte neues Futter in die Vase und liess dann die Raupen weiter fressen. Schon nach wenigen Tagen drängten sich die Schüler herbei und waren begierig darauf, mir diese Arbeit abzunehmen. Einige richteten sogar in ihrem Hause eigene Schmetterlingszuchten ein. Schliesslich verpuppten sich alle Raupen in der Kiste, und nach etwa drei Wochen schlüpften die Schmetterlinge aus, und so kam es, dass jedes Kind mit eigenen Augen mit ansehen konnte, wie sich das bunte Insekt aus der Puppe herausdrängte und seine herrlichen Flügel entfaltete. Von da an setzten sich die Schüler fast jeden Frühling für eine neue Schmetterlingszucht ein. Ich musste nie irgendeinem Kinde etwas befehlen; sie ahmten einfach das nach, was sie bei mir gesehen hatten.
3. Die Verwirklichung von Pestalozzis Prinzipien im Unterricht
Bereits bei der Darstellung von Pestalozzis Prinzipien habe ich immer wieder Hinweise gegeben, welche Auswirkungen die Beachtung dieser Grundsätze in der täglichen Schulpraxis haben oder haben sollen. In diesem zweiten Teil wende ich mich nun konsequent der Beschreibung der – aus Pestalozzis Sicht – erwünschten Gestaltung des Unterrichts zu, ohne im Einzelnen immer wieder an Pestalozzis Forderungen zu erinnern. Dabei wird es sich nicht vermeiden lassen, den einen oder andern Gedanken erneut auszusprechen, wobei ich mich bemühe, jeweils in einer umfassenderen Weise darauf einzugehen.
3.1. Raumgestaltung
Jeder Mensch steht in einer Wechselbeziehung zu den Räumen, die er bewohnt: Einerseits gestaltet er sie nach seinen Bedürfnissen und Vorlieben, andererseits beeinflusst das Antlitz dieser Räume die Seelenlage der Bewohner. Das kann man bei Schulzimmern sehr gut beobachten: Sie sind einerseits ein Abbild von Lehrern und Schülern, die sie bewohnen, und andererseits haben sie eine Ausstrahlung, die die Menschen beim Betreten in ihrer Gefühlslage beeinflussen.
Der Lehrer, der sich dieser Gesetzmässigkeit bewusst ist, sieht in der Raumgestaltung die in ihr liegenden pädagogischen Möglichkeiten. Dies beginnt schon damit, dass er die Schüler bei der Raumgestaltung aktiv mit einbezieht und ihnen so Anregungen gibt zur Ausgestaltung der eigenen Wohnräume. Insgesamt ist die praktische Umsetzung der für die Raumgestaltung wegleitenden Grundsätze selbstverständlich von der lokalen Kultur abhängig und teilweise auch von den finanziellen Mitteln. Trotzdem möchte ich hier ein paar Hinweise geben, die zu bedenken sich wohl lohnt:
- Der Schulraum sollte so gestaltet werden, dass für Aussenstehende die aktuellen Tätigkeiten der Schulklasse und einzelnen Schüler sichtbar werden. So ist es normal, dass in Räumen von Volksschulklassen die Wände mit Zeichnungen und Gemälden der Schüler geschmückt werden und dass Bilder zu sehen sind, die im Zusammenhang mit dem Unterricht (Naturkunde, Geographie, Geschichte usf.) stehen. Auch Gegenstände, die im Werkunterricht hergestellt wurden, sollen irgendwo ihren Platz bekommen. Es ist daran zu erinnern, dass ausgestellte Zeichnungen und Werkgegenstände für die betreffenden Schüler eine Erfolgsbestätigung darstellen, die im Allgemeinen für die weitere Bildungsarbeit motivierend wirkt.
- Nach meiner Erfahrung wird in der eben dargestellten Hinsicht oft übertrieben. Das heisst: Lehrer und Schüler sind nur darauf bedacht, jede freie Stelle an einer Wand, jede Ablage, jedes Gestell mit Schülerarbeiten zu besetzen, ohne daran zu denken, dass man diese auch wieder entfernen sollte. Ich habe Schulzimmer gesehen, in denen buchstäblich Hunderte von Schülerarbeiten ausgestellt waren, was natürlich dazu führt, dass man am Schluss keine mehr beachtet. Was gefordert werden muss, ist das richtige Mass. Eine Überzahl von Gegenständen und Bildern hat für die Schüler eine verwirrende, erdrückende und gelegentlich wohl auch entmutigende Wirkung. In einem Gemenge von Dingen, das an einen Trödlerladen erinnert, verliert das einzelne Ding seinen Wert. Es wird nicht mehr beachtet und belanglos. Es ist daher aus pädagogischer Sicht wesentlich, dass jeweils nur so viele Gegenstände (Bilder, Zeichnungen, Werkarbeiten) sichtbar sind, über die es sich auch lohnt, immer wieder zu sprechen.
- Was ich eben darlegte, hat auch etwas mit Ordnung zu tun. Es dürfte wohl eine der wesentlichen Aufgaben des Menschen ganz allgemein darstellen, dass er in seinem Leben ins rechte Verhältnis kommt zu dem, was man als ‚Ordnung’ bezeichnet. Es geht darum, seine Gedanken, seine Gefühle, seine Aktivitäten ins rechte Verhältnis zueinander zustellen und ihnen die jeweils angemessene Bedeutung zu geben. Ordnung bedeutet Mass, Übersicht, Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und inneren Halt. Das Gegenteil von Ordnung ist das Chaos, und chaotische Menschen sind selten glücklich und noch seltener ihren Mitmenschen eine Hilfe. Insofern ist es uns Lehrern möglich, mit dem Mittel der Raumgestaltung die uns anvertrauten Schüler zum Ordnunghalten und Ordnungmachen zu erziehen.
- Schülerarbeiten sind somit Gestaltungselemente, die immer wieder wechseln, so dass der Schulraum immer wieder etwas anders aussieht. Daneben sollte der Schüler auch erleben, dass es sich lohnt, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die über die Zeit hinweg bleiben und auch bewusst dazu ausgewählt wurden. Am besten eignen sich dazu wirkliche Kunstwerke. In der Schule werden dies in der Regel Reproduktionen sein, die sehr oft billig zu erwerben sind. In der Wahl der Kunstwerke, die ein Lehrer seinen Schülern über Monate oder Jahre ins Blickfeld rückt, ohne besonders viel darüber zu sprechen, legt er zugleich Zeugnis darüber ab, welche Kunsterzeugnisse und welche Künstler ihm wichtig sind, und offenbart so etwas von seiner Persönlichkeit.
- Jeder Raum gewinnt an Atmosphäre, wenn in ihm auch Platz da ist für lebende Pflanzen und allenfalls auch lebende Tiere. Einige Topfpflanzen gehören wohl in jede Schulstube, nicht zuletzt deshalb, weil die Schüler lernen können, sie gemäss ihren Bedürfnissen zu pflegen. Tiere im Schulzimmer zu halten, setzt eine spezifische Kompetenz des Lehrers voraus, ist aber im Allgemeinen sehr anregend und für das Wohlbefinden der Schulgemeinschaft förderlich. In Frage kommen in erster Linie Aquarien und Terrarien oder besondere Einrichtungen für Insekten und anderes Kleingetier.
3.2. Beruhigte Lernatmosphäre
Kinder brauchen immer wieder Momente, wo sie lärmen und schreien und sich austoben dürfen. Das hat etwas mit dem Fluss seelischer und auch körperlicher Energie zu tun. Der verständnisvolle Lehrer wird daher immer wieder dafür besorgt sein, dass die Schüler dazu kommen, ihrem Drang nach lautem Tun und starken Bewegungen Ausdruck zu geben.
Trotzdem: Irgendwie sind wir Menschen, wenn wir laut sind, nicht bei uns selbst, sondern ausser uns. Darum sagt man auch von einem Menschen, der seine Beherrschung verliert, er sei ‚ausser sich’ vor Zorn. ‚Bei sich selbst’ ist der Mensch vor allem in der Ruhe und der Stille. So sagt Pestalozzi wörtlich: „Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe“ (PSW 26, 63). Und in seinem „Stanserbrief“ lesen wir: „Ich habe meinen Kindern unendlich wenig erklärt; ich habe sie weder Moral noch Religion gelehrt; aber, wenn sie still waren, dass man eines jeden Atemzug hörte, dann fragte ich sie: `Werdet ihr nicht vernünftiger und braver, wenn ihr so seid, als wenn ihr lärmet?`“ (PSW 13, 15).Die Ansicht scheint mir berechtigt, dass wir Menschen dann, wenn wir still in uns hineinhören, uns still einer Sache hingeben oder still einem andern Menschen zuhören, tatsächlich „vernünftiger und braver“ sind, als wenn wir uns laut gebärden. Der in Pestalozzischem Geist unterrichtende Lehrer wird daher jeden Tag immer wieder Augenblicke der Ruhe und Besinnung schaffen, was dann den Ausgangspunkt darstellt für ein konzentriertes Lernen, in dem sich alle wohl fühlen können.
Die hier postulierte Ruhe und Stille als atmosphärische Voraussetzung für bildsamen Unterricht ist freilich nicht zu verwechseln mit einer rein äusserlichen Ruhe, die durch autoritären Druck des Lehrers erzwungen wird. Der Unterschied ist leicht festzustellen, wenn der Lehrer das Zimmer verlässt.
Wie ist nun diese echte Ruhe zu erreichen? Voraussetzung ist, dass der Lehrer selbst den Wert der Stille kennt und innerlich beruhigt vor die Klasse tritt. Das ist nicht immer möglich, hat aber letztlich mit Selbstwertgefühl und mit Gespür für den Lebenssinn zu tun. Wichtig ist auch, dass die Schüler die Ruhe immer wieder als erfüllend erfahren. Das tritt vor allem dann ein, wenn der Lehrer wirklich Wesentliches – seien es eigene Gedanken, interessante Tatbestände oder Gedanken und Geschichten anderer Menschen – in die Stille hinein zu tragen versteht.
3.3. Ganzheitlicher, fächerübergreifender Unterricht
Pestalozzi wird nicht müde zu betonen, dass letztlich „das Leben bildet“. Je mehr es dem Lehrer gelingt, dem Schulgeschehen seine Künstlichkeit zu nehmen und es für die Schüler als lohnendes, wirkliches Leben erfahrbar zu machen, desto mehr erfüllt es Pestalozzis Hauptforderung nach Naturgemässheit.
Eine der problematischsten Künstlichkeiten der Schule ist zweifellos die starre Aufteilung des Lehrgutes in Schulfächer. Wenn wir in die Welt reisen oder angeregte Gespräche führen, käme es uns nicht in den Sinn, hierbei zu trennen zwischen Geographie, Geschichte, Biologie, Kunstgeschichte, Philosophie usf. Im wirklichen Leben ist alles mit allem verbunden. Es gibt gewiss gute Gründe dafür, in der Schule die Lernprozesse nach gewissen Themen und Betrachtungsweisen zu ordnen und voneinander zu trennen, aber wenn wir diese Auffächerung zu pedantisch einhalten, gibt es viele Fragestellungen, die im Schulunterricht gar nie in den Blick kommen. Schon aus diesem Grunde ist es ratsam, die Fächergrenzen nicht allzu streng zu setzen. Es ist auch für die Schüler interessanter, wenn der Geographielehrer gewisse Phänomene in geschichtliche Zusammenhänge stellt, wenn der Mathematiklehrer einen Abstecher in die Musiktheorie macht, wenn im Deutschunterricht über bildende Kunst gesprochen wird und der Zeichenlehrer ein Gedicht vortragen kann.
Die erwähnten Beispiele mögen zufällig sein, aber es gibt eine Fächerverbindung, die aus Pestalozzis Sicht unbedingt einzuhalten ist, nämlich die Verbindung von Sprach- und Sachunterricht. Grundsätzlich lässt sich das Insgesamt dessen, was ein Schüler zu lernen hat, in drei grosse Gruppen einteilen: Erstens die formalen Fertigkeiten (verbunden mit dem entsprechenden theoretischen Wissen) im intellektuellen Bereich, d.h. Mathematik und Sprachen; zweitens die Kunstfertigkeiten wie Gymnastik, Sport, Handarbeit, Werken, Zeichnen, Musik usf.; drittens die Auseinandersetzung mit spezifischen Sachbereichen wie Landschaft, Menschheitsgeschichte, Natur, Religion, Gesellschaft usf. Diesen dritten Bereich bezeichne ich zusammenfassend als ‚Sachunterricht’.
Dass nun Pestalozzi die Verbindung von Sprach- und Sachunterricht fordert, ist keineswegs willkürlich, sondern ergibt sich aus einer inneren Logik. Nach Pestalozzi beruhen Denken und Sprechen auf deutlichen Begriffen, diese aber auf der Anschauung, d.h. der Auseinandersetzung mit der realen Welt. Letztlich geht es in allen Fächern des Sachunterrichts immer um die Bildung neuer und um die weitere Ausdifferenzierung bereits erworbener Begriffe auf der Basis der Anschauung. Es ist daher völlig logisch, dass aus Pestalozzis Sicht jeder Sprachunterricht ein Stück weit Sachunterricht, insbesondere aber jeder Sachunterricht immer auch Sprachunterricht sein muss. So ist es widersinnig, wenn ein Lehrer glaubt, die Sprachkompetenz seiner Schüler einzig in den im Stundenplan festgesetzten Sprachstunden fördern zu müssen oder zu können und den Sachunterricht nicht nutzt, um seine Schüler in sprachlicher Hinsicht weiterzubringen.
Dieser Zusammenhang ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb ich das Fachlehrersystem in der Volksschule (insbesondere in den unteren und mittleren Klassen) als verfehlt betrachte. Der Klassenlehrer, der sich für die gesamte Schulbildung seiner Schüler verantwortlich weiss, hat für die muttersprachliche Bildung seiner Schüler nicht bloss die wenigen Sprachstunden zur Verfügung, sondern im Prinzip sämtliche Schulstunden, insbesondere aber alle Lektionen des Sachunterrichts. Im praktischen Unterricht beginnt dies bereits damit, dass sich der Lehrer im Sachunterricht stets einer korrekten und für die Schüler verständlichen Sprache bedient. Des weitern wird er immer von der Anschauung ausgehen und dabei ganz bewusst die neuen Begriffe einführen. Ferner wird er seine Schüler die relevanten Beobachtungen und Schlussfolgerungen immer in einer korrekten Sprache ausformulieren lassen. Und schliesslich ist das schriftliche Festhalten der Lernergebnisse für die Schüler immer zugleich eine echte sprachliche Übung. Im Fachlehrersystem wird gegen dieses Prinzip oft in grober Weise verstossen, indem sich der Geographielehrer (als Beispiel) für sprachliche Probleme der Schüler als nicht zuständig erklärt und daher jede sprachlich fehlerhafte Leistung – sei’s mündlich oder schriftlich – unwidersprochen entgegennimmt. Die Schüler reagieren erfahrungsgemäss auf diese Voraussetzung so, dass sie sich die sprachliche Nachlässigkeit in allen Lektionen ausser den Sprachstunden angewöhnen und schliesslich nicht lernen, sich bei jeder Anwendung sprachlich korrekt auszudrücken.
Zu einem ‚ganzheitlichen’ Unterricht gehört indessen nicht bloss die möglichst weitgehende Überwindung der Fächergrenzen und die Verbindung von Sprach- und Sachunterricht, sondern der Einbezug dessen, was Pestalozzi unter dem Begriff ‚Kräfte des Herzens’ versteht. Das beginnt zuerst einmal damit, dass die Gefühle der Schüler ernst genommen werden. Das erlebt er nur, wenn er auch dazu stehen und sie ins Gespräch einbringen kann. Herzenskräfte sind aber immer auch nur dann aktiv, wenn der Schüler mit echtem Interesse bei der Sache ist, und das wiederum tritt nur dann ein, wenn man als Lehrer immer auf die Fragen, Vorschläge und Schwierigkeiten eingeht und diese so weit wie möglich im Unterricht berücksichtigt. Schliesslich gehört zur Bildung vom Herzenskräften immer auch die moralische Dimension, womit – wie früher gezeigt – das eigene seelisch-geistige Leben des Lehrers, seine eigene innere Anteilnahme am Stoff gefordert ist.
Auch wenn dies sehr oft nicht möglich ist, so sucht doch der um Ganzheitlichkeit bemühte Lehrer immer wieder auch nach Möglichkeiten, wie er das handwerkliche Tun in den Unterricht einbeziehen kann. Ein solcher Unterricht erweckt in den Schülern die Überzeugung, als ganze Menschen ernst genommen zu werden.
3.4.Kreativer Umgang mit Lehrplan, Stundenplan und Lektionspräparation
Unser Schulwesen ist hochgradig formalisiert und durchorganisiert, was weitgehend dem rationalen Denken und Planen des erfolgreichen modernen Menschen entspricht und darum von ihm im Allgemeinen auch hoch geschätzt wird. Alles ist geplant, die Unterrichtszeiten und Pausen, aber auch der Arbeitseinsatz des Lehrers sind bis auf die Minute festgelegt, der Lehrstoff ist in Lehrplänen und Lehrmitteln teilweise bis ins Detail fixiert, auf Altersstufen festgelegt und grossflächig koordiniert, und staatliche Kontrolleure wachen darüber, dass sie eingehalten werden. Die Leistungen der Schüler werden bis auf Hundertstelpunkte gemessen (z.B. Note 4,25), und der erreichte Durchschnittswert entscheidet über die künftige Bildungs- und Berufslaufbahn des Schülers. Hat er etwas dagegen einzuwenden, stehen ihm eine Stufenfolge von Instanzen zur Verfügung, bei denen er seine Notensetzung als Rechtsgut einklagen oder verteidigen kann. Und das ganze Schulleben ist durch bestens ausgearbeitete Gesetze und Verordnungen reglementiert.
Dies alles erinnert an eine gewaltige Maschinerie, die so sinnreich und perfekt ersonnen ist, dass niemand mehr durch das engmaschige Netz fallen und niemand neben den Weg treten kann, und die den Erfolg zu garantieren scheint. Mit andern Worten: Es war kein böser Dämon, der das Leben junger Menschen und die berufliche Arbeit von Lehrern über viele Jahre in Beschlag nimmt und steuert, so dass es schwer fällt, als freie Menschen gemeinsam fruchtbare Bildungsarbeit zu gestalten, sondern es ist eine Gesellschaft, die das Bestmögliche will und glaubt, dies zu erreichen, wenn sie sich der vollkommenen Planung des Bildungswesens und der weitestgehenden Steuerung von Lehrern und Schülern verschreibt.
Das war durchaus nicht immer so. Als ich als junger Mann im Jahr 1954 meine Dorfschule übernahm, fühlte ich mich zur Erfüllung meiner Aufgabe frei. Wohl hatte ich einen Lehrplan, aber das war ein weiter Rahmen, in dem Vieles weggelassen werden konnte und Vieles Platz hatte, das ich selber wählte. Wohl hatte ich Lehrmittel, aber ich betrachtete sie als Hilfen, und sie liessen mir in der Wahl meiner Methoden weitgehendste Freiheit. Und wenn sie mir unbrauchbar schienen, legte ich sie weg und ersetzte sie durch selber gemachte. Wohl hatte ich einen Stundenplan, aber ich musste ihn nicht als Tyrannen betrachten, dem ich zu dienen hätte, sondern er war mir eine Orientierungshilfe, um keiner Einseitigkeit zu verfallen. Wohl hatte ich eine vorgesetzte Behörde, aber wir sprachen miteinander, und man akzeptierte meine Argumente. Vieles entschied ich ganz selbstverständlich als Lehrer, worüber heute in der Schweiz hochgestellte Beamte oder Behörden entscheiden. Wohl hatte ich einen Inspektor, der ab und zu meine Schule besuchte, aber er war selber Lehrer, kannte also die Schwierigkeiten, und wenn er in meinem Unterricht auf Probleme stiess, machte er mich darauf aufmerksam und gab mir einen Rat. So habe ich niemals etwas in der Schule unternehmen müssen, das ich nicht selber als richtig betrachtete und nicht selber wollte. Ich durfte mich als freier Mensch fühlen.
Die Entwicklung des Schulwesens in unserem Land (und wohl auch in andern industrialisierten Ländern) in den letzten Jahrzehnten hat den freien Gestaltungsraum des für seine Klasse verantwortlichen Lehrers zunehmend und in einem Masse beschnitten, dass es immer schwieriger wurde, in jenem Geiste zu unterrichten, wie er in den pädagogischen Ideen Pestalozzis lebt. Daher geht es heute darum, dass jeder einzelne Lehrer an seinem Ort noch rettet, was zu retten ist, das heisst: den Freiraum verteidigt und nach Möglichkeit ausweitet, der nötig ist, damit er im Geiste Pestalozzis unterrichten kann. Letztlich ist nur ein Bildungsgeschehen fruchtbar, das von der Kreativität der Lehrer und Schüler geprägt ist und den dazu notwendigen Freiraum bietet, in der es dann auch möglich ist, dass auf die Individualität jedes einzelnen Kindes in der erforderlichen Weise eingegangen wird.
Viele Lehrpläne – glücklicherweise nicht alle – sind überladen und erschweren ein Unterrichten nach Pestalozzis Prinzipien. Man muss allerdings unterscheiden zwischen den jeweils geforderten Fertigkeiten in den formalen (Sprache, Mathematik) und den handwerklichen (Werken, Gymnastik/Sport, Zeichnen, Musik) Fächern und dem Sachunterricht. Hinsichtlich der mathematischen und sprachlichen Fertigkeiten, aber auch hinsichtlich der körperlichen Gewandtheit und der künstlerischen Fertigkeiten gibt es für den Pestalozzianisch unterrichtenden Lehrer keine obere Beschränkung, das heisst: er versucht mit jedem Schüler durch kindgemässes Üben, durch geeignetes Motivieren und durch den Einsatz geeigneter Methoden und Mittel im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit das im jeweiligen Augenblick Beste zu erreichen. So wird er beispielsweise bei einem leistungsstarken Schüler, der das Jahrgangsziel im schriftlichen Ausdruck in Muttersprache schon bald erreicht hat, in seinen Bemühungen um eine weitere Verbesserung der Leistungen dieses Schülers nicht nachlassen, denn das würde bedeuten, ihn in seiner Individualität nicht ernst zu nehmen und zu vernachlässigen.
Anders sieht es aus in den verschiedenen Fächern des Sachunterrichts. Hier stehen Lehrplaner wie Lehrer vor der Tatsache, dass in jedem Fach das Insgesamt des Wissbaren, aber auch das, was die heutige Gesellschaft als jeweils grundlegend betrachtet, ein ausserordentliches Ausmass angenommen hat und durch den Lauf der Zeit (z.B. in der Geschichte) und die Forschung (z.B. in der Biologie) noch jährlich wächst. Die Versuchung ist daher gross, sich bei der Lehrplanung Illusionen hinzugeben und auf dem Papier Stoffpläne zu entwickeln, die sich in der Praxis als überladen erweisen. Ist dies der Fall, so gilt es für den in Pestalozzischem Geiste unterrichtenden Lehrer seinen Freiraum auszuloten und sich hinsichtlich der Stoffmenge auf das Allernotwendigste und das Grundlegendste zu beschränken. Seine Devise lautet: Lieber weniger im Unterricht behandeln, dies aber dafür erlebnisreich und gründlich, so dass es eine nachhaltige Wirkung beim Schüler hat, anstatt einem unerreichbaren Ideal von Vielwisserei nachzueifern. Im Zeitalter des Internet (das hoffentlich bald auch der Bevölkerung von ärmeren Ländern zur Verfügung steht) ist es sinnlos, die Schüler blosses Stoffwissen sich gedächtnismässig einprägen zu lassen, das – da das wirkliche Interesse nicht geweckt wurde – sehr bald wieder vergessen wird und, wenn man es dann wirklich benötigt, sehr einfach im Internet abgerufen werden kann. Anstelle dieses sinnlosen gedächtnismässigen Drills soll die Schule vielmehr auf eine solche Weise mit dem Wenigen, das man behandeln kann, umgehen, dass der Schüler einerseits Freude und Interesse am Stoff entwickelt und andererseits immer wieder exemplarisch erlebt, was es bedeutet, sich mit einer Sache gründlich auseinanderzusetzen. Dabei soll er grundlegende Fertigkeiten ausbilden wie exaktes Beobachten, neue Fragen stellen, die Ergebnisse ordnen und sprachlich und gestalterisch angemessen darstellen.
Ein zweiter Bereich, wo es gilt, entweder die noch vorhandene Freiheit des Lehrers zu bewahren oder sie allmählich wieder zurück zu gewinnen, betrifft den Stundenplan. Bei uns in der Schweiz hat man ursprünglich den Tagesablauf in Lektionen von jeweils 60 Minuten eingeteilt. Diese Lektionsdauer wurde allmählich reduziert bis hinunter auf 40 Minuten und liegt heute meistenteils bei 45 Minuten. Nun sind die Lektionen der verschiedenen Fächer möglichst ausgeglichen auf die Wochentage verteilt, was dann dazu führt, dass in einer Klasse z.B. 45 Minuten Muttersprache, dann 45 Minuten Mathematik, 45 Minuten Sachunterricht und 45 Minuten Gymnastik betrieben wird. Diese Organisation verhindert, sich wirklich gründlich in ein Stoffgebiet oder eine Tätigkeit zu vertiefen und fördert die Oberflächlichkeit. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich für die Volksschule das Fachlehrersystem als ungeeignet halte, weil es eine spontane, kreative Zeiteinteilung verhindert. Ein Klassenlehrer, der alle oder doch die meisten Fächer erteilt, hat die Möglichkeit, an einem Thema zu bleiben, auch wenn auf dem Stundenplan ein anderes Fach vorgesehen ist. Er kann dann die ‚ausgefallene’ Lektion später kompensieren. Insofern stellt für ihn der Stundenplan eine Orientierungshilfe dar, um kein Fach zu vernachlässigen und keiner Einseitigkeit zu verfallen.
Schliesslich trete ich auch dafür ein, dass ein Lehrer lernt und auch den Mut dazu hat, sich nicht sklavisch an seine Präparation zu halten. Seine schriftlich fixierte Vorbereitung ist immer bloss eine Absicht, eine Lektion in einer bestimmten Weise zu gestalten, aber bei der Durchführung der Lektion gibt es immer wieder viele Gründe, den vorgesehenen Weg zu verlassen und auf den Augenblick zu reagieren. Da kann z.B. etwas Aussergewöhnliches geschehen (es verirrt sich z.B. ein Vogel ins Schulzimmer), das eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt, um kindgemäss darauf zu reagieren oder es für pädagogische oder didaktische Ziele zu nutzen. Oder es tauchen unerwartete Probleme auf, die man zuerst meistern muss, bevor man weiterfahren kann (siehe das Kapitel über die Lückenlosigkeit). Oder ein Schüler stellt ungeplante Fragen, die man nicht einfach beiseite schieben kann und aus deren Beantwortung eine interessante Diskussion entsteht. Oder es gibt zwischen den Schülern einen Konflikt, der – solange er nicht gelöst ist – das ganze Unterrichtsgeschehen stört und deshalb zur Behandlung Vorrang hat.
Bei all diesen Ermutigungen, sich im Interesse der Sache Freiräume zu verschaffen, möchte ich mich dagegen verwahren, ich träte für Chaos und Ziellosigkeit ein. Grundsätzlich muss ein Lehrer in jedem Augenblick wissen, was er will. Da er aber immer auch übergeordnete Ziele verfolgt, die über die einzelne Lektion hinweg gelten, muss er immer abwägen, welchem der verschiedenen Ziele er in einem bestimmten Augenblick den Vorrang geben will. Um ein Beispiel zu machen: Ein Lehrer tritt wohl vorbereitet ins Klassenzimmer und erfährt dann, dass einer der Schüler fehlt, weil sich in seinem Haus ein Todesfall ereignet hat. Obwohl er zuvor an nichts dergleichen dachte, treten jetzt ganz andere Ziele in den Vordergrund, z.B. die Auseinandersetzung mit den Gefühlen der Mitschüler, möglicherweise sogar mit dem Phänomen des Todes selbst. Da kann er seine Präparation in Mathematik und Chemie ruhig in der Aktentasche lassen.
3.5. Verweilen, Qualität statt Quantität
Die Forderung nach mehr Gestaltungsfreiheit ist somit kein Luxus für anspruchsvolle Lehrer, sondern steht im Dienste einer besseren Bildung. Grundsätzlich gibt es in der Bildung keine Quantität ohne grundlegende Qualität. Qualität bedeutet: Das Bildungsgut hat den lernenden Menschen betroffen gemacht, hat ihn verändert, hat ihn seelisch-geistig in seiner Entwicklung weiter gebracht und hat seinen Dienst, die Kräfte des Lernenden allseitig zu entfalten, geleistet. Nur unter dieser Voraussetzung hat Quantität einen Sinn, und die ist in jedem Fall abhängig von der Fassungskraft des Individuums, von seiner Interessenlage und von seinem Lerneifer. Die Frage nach der Quantität stellt sich daher für den Lehrer immer nur auf der Grundlage der Tatsache, dass primär sein ganzer Unterricht echte Bildungsqualität anstrebt und weitgehend auch erreicht.
In unserer Industriegesellschaft haben es sich viele – wohl ohne, dass sie es bemerkten – angewöhnt, all das, was sich in Technik und Wirtschaft bewährt, unreflektiert in den Bereich der Bildung und Erziehung zu übertragen. So erweisen sich in der Wirtschaft Normierung, Konzentration und Koordination als erfolgreiche Handlungskonzepte, aber wer mit den Eigenheiten des Bildungsprozesses eng vertraut ist, weiss genau, dass diese Konzepte im Gebiet von Bildung und Erziehung wenig hilfreich sind, ja meistens sogar Schaden anrichten. Eine weitere Massnahme, die in der Wirtschaft und in der Technik den Erfolg garantiert, ist die Temposteigerung. Die Maschinen laufen immer schneller, die Informationen werden immer schneller ausgetauscht, und der Markt reagiert immer schneller auf veränderte Voraussetzungen. Leider wird auch dieses Erfolgsrezept immer wieder in den Bereich der Bildung übertragen. Im Kanton, in dem ich wohne, ist man eben daran, die Schulzeit bis zur Maturität (Abitur) nicht bloss um ein Jahr zu verkürzen, sondern den ganzen Lernstoff um ein Jahr vorzuverlegen, so dass die Schüler zwei Jahre früher ein Hochschulstudium antreten können. Auch dieses wurde neulich so durchorganisiert, dass man mit einer minimalen Zahl von Semestern zu einem Abschluss kommt, d.h. mit einem Papier nachweisen kann, dass man das Bildungssystem erfolgreich durchlaufen hat. Alle Massnahmen gehorchen der Devise: Früher und schneller. Man scheint den jungen Menschen als eine Maschine zu betrachten, die man nach Belieben schneller laufen lassen kann.
Ein im Pestalozzischen Geiste unterrichtender Lehrer setzt dieser Tendenz seinen Widerstand entgegen, da er weiss, dass der Mensch keine Maschine, sondern ein Organismus ist, dessen Entwicklung Zeit erfordert und seinen eigenen Entwicklungsrhythmen gehorcht. Auf den Unterricht übertragen, bedeutet dies: Das Kind hat sein eigenes Lern- und Arbeitstempo, das durch Motivation zwar ein Stück weit gesteigert werden kann, dann aber dem drängelnden Lehrer eine unübersteigbare Grenze setzt. Da nützt alles Schelten und Drohen nichts, im Gegenteil: man verwirrt das Kind und nötigt es schliesslich, bloss so zu tun, als hätte es gelernt. Der Lehrer muss daher die Freiheit haben, den Schülern für das erfolgreiche Lernen ausreichend Zeit einzuräumen. Oft genug ist gegenüber einem Kind, das eine Sache nicht oder nicht so schnell begreift oder beherrscht, die einzig fruchtbare Massnahme, dass man geduldig wartet. Letztlich ist der Mensch hinsichtlich seiner Bildung einem pflanzlichen Organismus vergleichbar, dessen Wachstum auch nicht beliebig beschleunigt werden kann. Man gestatte mir, an dieser Stelle Pestalozzi zu Worte kommen zu lassen: „Die Mittel meiner Erziehungsweise lenken im Ganzen und Allgemeinen gar nicht auf schnellen Erfolg und versprechen ihn auch nicht. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das die Natur langsam erzieht; auch wir müssen es tun; alle ihre Mittel verbannen allen Schein unreifer Resultate, und fordern langes vertrauensvolles Warten in scheinlosen Elementarübungen.“ (PSW 21/80)
So sind denn im Unterricht alle Eile und alles Hetzen nur von Übel. Der grundlegende Umgang mit der Zeit heisst: Verweilen! Das deutsche Wort ‚Schule’ (bzw. das englische Wort school) leitet sich ab vom griechischen Wort ‚scholé’, und dies heisst ‚Musse’. Musse ist nicht Müssiggang, sondern Musse heisst: sich Zeit nehmen zu dürfen für das, was jetzt wichtig ist, sich ohne Blick auf die Uhr ganz einer Sache hinzugeben, sich voll auf etwas zu konzentrieren, weil man spürt, dass es bereichert und Freude macht. So müsste jeglicher Schulunterricht sein.
Nicht nur die Schüler haben ihre eigenen Rhythmen, sondern auch jede Lernsituation. Sie setzt ein, baut sich auf, entfaltet sich, breitet sich aus, erlebt einen Spannungshöhepunkt, klingt allmählich ab und kommt zu einem natürlichen Abschluss. Durch den im Nacken der Lehrer lastenden Stoffdruck, insbesondere aber durch die Künstlichkeit der 45-Minuten-Lektionen kommen viele Schüler (und leider auch Lehrer) überhaupt nicht mehr zu diesem Erlebnis, denn es ist nur möglich durch das konsequente Verweilen bei einer Aufgabe und durch die Freiheit von Lehrern und Schülern, sich dieser im Voraus nicht berechenbaren Spannungsentwicklung einer Lernsituation jeweils unabhängig von äusseren Vorgaben auszusetzen. Würde man dies probehalber mit einer Schulklasse (z.B. im Gymnasium mit 16jährigen Schülern) eine Woche lang tun, würde es sich herausstellen, dass Lehrer und Schüler pro Tag vielleicht 4 oder 5 Lerneinheiten auf diese fruchtbare Weise würden bewältigen können, und der Vergleich mit den Stundenplänen, die nicht selten im Tag bis zu 10 verschiedene Lektionen vorsehen, würde an den Tag bringen, in welchem Ausmass unsere Bildungsorganisation wirkliche Bildung verhindert.
3.6. Üben, Wiederholung, Leistung
Geht es um den sicheren Erwerb einer Fertigkeit, nehmen wir uns am besten einen Berufsmusiker oder Berufssportler als Vorbild. Es ist offensichtlich, dass sie den ausgezeichneten Grad ihres Könnens nur erreichen durch systematisches, engagiertes und ausdauerndes Üben, was letztlich immer wieder bedeutet: durch geduldiges Wiederholen irgendeines Bewegungsablaufs, und dies nicht bloss zwei-, dreimal, sondern Hunderte, ja Tausende von Malen. Es ist absolut nicht einzusehen, weshalb für jene Fertigkeiten, die im Schulunterricht im Zentrum stehen, andere Gesetzmässigkeiten gelten sollten. Daher besteht der Unterricht eigentlich grundsätzlich aus zwei Teilen: einerseits wird durch angemessene Präsentation, durch Gespräche, durch Lektüre oder eigenes Forschen neues Wissen aufgebaut, und andererseits werden durch Üben grundlegende oder neue Fertigkeiten verbessert oder neu erworben. Wissenserwerb und Üben müssen daher an jedem Schultag in ein ausgewogenes Verhältnis miteinander gebracht werden. Dabei muss dem Schüler klar sein oder klar gemacht werden, dass Üben grundsätzlich Wiederholen bedeutet und dass dies so lange geschehen muss, bis eben die Fertigkeit erworben ist.
Es ist verständlich, dass der Wissenserwerb bzw. die Wissensvermittlung von Lehrern und Schülern im Allgemeinen mehr geschätzt wird als das Festigen einer Fertigkeit durch das Üben. Im Kennenlernen neuer Wissensgehalte liegt immer ein gewisser Reiz der Neuheit, und versteht es der Lehrer, spannend zu erzählen, interessant vorzutragen oder erlebnisreiche Lernsituationen zu gestalten, so fühlen sich die Schüler im Allgemeinen gut unterhalten. Irgendwie kommt dieser Teil ihrem Bedürfnis nach Lustgewinn entgegen.
Das ist im Übungsteil zuerst einmal nicht so. Üben kann als langweilig empfunden werden, sicher aber als anstrengend und ermüdend. Viele Lehrer hierzulande haben daher die Tendenz, den Übungsteil eher zurückzudrängen oder dann aber das Üben durch irgendwelche Beigaben zu versüssen. So tut man beispielsweise beim Kopfrechnen so, als handle es sich um ein Fussballspiel, und wer das richtige Resultat als erster ruft, hat für seine Partei ein Tor geschossen. Hinter einer solchen Massnahme steht die Überzeugung, dass man den Schülern das einfache Üben – hier: schlicht und einfach rechnen – nicht zumuten dürfe und sie daher, um doch zum Ziel zu kommen, mit etwas, das sie lieber tun, überlisten müsse.
Ich halte wenig bis nichts von solchen didaktischen Tricks, da sie natürlich im Schüler die Überzeugung verstärken, Rechnen an sich (um bei unserem Beispiel zu bleiben) sei grundsätzlich uninteressant und langweilig. Wir müssen vielmehr danach trachten, immer beim Wesen dessen, was geübt werden muss, zu bleiben und das Üben auf eine solche Weise zu gestalten, dass der Schüler zum grundlegenden Erlebnis vorstösst, dass das Üben an sich etwas Lohnendes, etwas Erfüllendes ist. Denn das Üben, das Wiederholen, ist eine tief in der menschlichen Natur liegende Neigung. Man kann das schon beim Säugling beobachten, wie er jede neue Bewegung, die er entdeckt und entwickelt hat, Hunderte und Tausende von Malen wiederholt, und diese Beobachtung kann man auch beim Kinde und später auch beim Erwachsenen machen. So wirft z.B ein Kind einen Ball gegen eine Wand und versucht ihn wieder aufzufangen, und wenn es gelingt, beginnt es zu zählen, und jedes Mal, wenn es dann Ball nicht fangen konnte, beginnt es von vorne zu zählen. Irgendeinmal hört es auf, meldet vielleicht der Mutter einen neuen Rekord und macht am nächsten Tag womöglich wieder dasselbe. Es täte es nicht, läge nicht in dieser Wiederholung, aber auch im Erlebnis, dass es zunehmend besser geht, ein besonderer Reiz. Genau an diesem Punkt setzt der erfolgreiche Lehrer ein: Er schlägt den Schülern Übungsformen vor, die in sich – gerade durch das Wiederholen und auch durch das Erfolgserlebnis – einen gewissen Reiz haben. Häufig bedeutet dies, dass nicht alle Schüler dasselbe oder in derselben Art üben, und dass man dem Schüler selber die Entscheidung überlässt, wann er dem Spiel für diesmal ein Ende setzen will.
Ist von Übung die Rede, möchte ich doch auch den grundsätzlichen Hinweis auf gewisse Meditationspraktiken – insbesondere im östlichen Kulturkreis – nicht unterlassen. Hier suchen die Meditierenden durch Wiederholung immer derselben Übungen und Bewegungen in ihre eigene Tiefe vorzudringen, und da erweist es sich dann, dass dieses rhythmische Wiederholen nicht in öde Langeweile führt, sondern einen Weg darstellt, um sich selbst zu finden. Natürlich wird man durch das Üben in der Schule höchstens ansatzweise die Ahnung dieser Dimension des Übens streifen können, aber wenn der Lehrer um diese möglichen Übungssinn weiss, so ist ihm auch klar, in welche Richtung er sich beim Üben jeder Fertigkeit bewegen soll.
Schliesslich soll im Zusammenhang mit der Übung nochmals von der Leistung die Rede sein. Genaues Nachdenken über diesen Begriff zeigt, dass wir damit eigentlich zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte meinen:
- Einerseits verstehen wir unter ‚Leistung’ einen Vorgang. Wenn jemand etwas tut – also Kräfte und Anlagen in Tätigkeit sind – erbringt er durch diese Tätigkeit im Moment eine Leistung. Das ist der prozessorientierte Leistungsbegriff, und der Gewinn der Anstrengung liegt auf der Seite des tätigen Subjekts.
- Andererseits verstehen wir aber unter ‚Leistung’ auch das, was als Resultat einer Anstrengung am Schluss herausschaut. Das ist der der produktorientierte Leistungsbegriff, und der Gewinn der Anstrengung ist nicht subjektiv, sondern objektiv, d.h. er kommt jenem zugute, der über das erarbeitete Produkt verfügt.
Der produktorientierte Leistungsbegriff hat in der Wirtschaft seine Berechtigung. Ein Arbeitgeber kann sich niemals damit zufrieden geben, dass seine Leute in Tätigkeit sind, ohne dass ein verwertbares Produkt herausschaut. Fatal ist es aber, wenn wir diesen Leistungsbegriff in den Bereich der Bildung übertragen, denn hier geht es nicht darum, etwas Verkäufliches zu produzieren, sondern durch die Kräfteanstrengung (die prozessorientierte Leistung) den tätigen Menschen selber im Sinne der Bildungsziele zu verändern. Zwar entstehen auch im Bildungsprozess sichtbare Ergebnisse, aber diese haben im Prinzip keinen objektiven, sondern einen subjektiven Wert, insofern sie die ganze Tätigkeit motivieren, disziplinieren und steuern. Im Rahmen des Wirtschaftprozesses ist das Resultat der eigentliche Zweck der Anstrengung, aber in der Bildung ist der Zweck der Anstrengung nicht das Resultat, sondern die durch die Leistung ermöglichte Veränderung des tätigen Menschen.
Man gestatte dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ich habe mit meinen Schülern oft geübt, aus Ton irgendwelche Gefässe zu modellieren. Diese wurden gebrannt, aber es kam gelegentlich vor, dass irgendetwas schief ging und die Töpfe im Ofen zerbrachen. Passiert dies einem professionellen Töpfer, der mit seinen modellierten Gefässen sein Brot verdienen muss, kann er zu Recht sagen, dass sein Tun zwecklos war. Anders bei den Schülern: Trotz des Missgeschicks war ihr Tun sinnvoll und hat den erstrebten Zweck erreicht. Ihre Handfertigkeit wurde gebildet, ihr Formensinn verfeinert, sie übten sich in Geduld und Ausdauer – ihre Kräfte wurden entfaltet. Bezeichnenderweise konnte ich erfahren, dass die Schüler an ihren Produkten oft gar kein besonderes Interesse mehr hatten und es darum gelassen hinnahmen, wenn ein Missgeschick passierte. Sie hatten offensichtlich gespürt, dass es eben nicht um Produzieren, sondern um Kräfteentfaltung ging.
So möchte ich denn jeden Lehrer ermutigen, seinen Leistungsvorstellungen und Leistungsforderungen nicht den produktorientierten, sondern den prozessorientierten Leistungsbegriff zu unterlegen.
3.7. Phänomene statt Papier
In unseren modernen Schulen gewinnen die Schüler in den meisten Fällen ihr Wissen aus zweiter Hand: Sie prägen sich das ein, was andere erforscht und herausgefunden haben. Das ist selbstverständlich über weite Strecken unvermeidlich und auch berechtigt. Problematisch wird dieses Prinzip dann, wenn es das eigene Beobachten und das eigenständige Gewinnen von Erkenntnissen praktisch verunmöglicht und wenn selbst in jenen Gebieten, wo dies möglich wäre, der bequem scheinende, aber nicht besonders bildende Weg der sekundären Erkenntnisgewinnung beschritten wird. Schulorganisatorisch zeigt sich dies in einer penetranten Dominanz von Papier und Elektronik.
Dieser Tendenz muss aus Pestalozzis Sicht die Forderung erhoben werden: Zurück zu den Phänomenen! Im richtigen didaktischen Umgang mit den Phänomenen zeigt sich der Meister des Lehrberufs. Ihm ist klar, welche Fertigkeiten er in der direkten Auseinandersetzung mit den Phänomenen bei den Schülern entwickeln, welche wesentlichen Grundbegriffe er jeweils vermitteln und welche didaktischen Vorteile er nutzen kann:
- Grundsätzlich sind Schüler, im Vergleich zum Studium von vorgegebenen Texten und Bildern, leichter zu begeistern für eine Beschäftigung mit einem Gegenstand oder einem Sachverhalt des praktisch erfahrbaren Lebens.
- Ein noch nicht textlich oder didaktisch aufbereitetes Phänomen ist hinsichtlich einer möglichen Behandlung mit der Klasse immer offener im Vergleich zu irgendwelchen didaktischen Vorgaben. Das gibt dem Lehrer die Möglichkeit, in den Schülern den Sinn dafür zu entwickeln, wie man angesichts eines Phänomens vorgeht, um eigene Erkenntnis zu gewinnen. Mit andern Worten: Der Lehrer entwickelt dadurch in den Schülern die grundlegenden Forschungstechniken.
- Ein wesentlicher Aspekt dieses Erforschens besteht im Einsatz aller jeweils relevanten Sinne. Dementsprechend ist eigentliche Sinnesschulung und darauf beruhende Sinneskultur nur zu entwickeln in der direkten Anschauung eines Phänomens, d.h. in dem, was Pestalozzi als ‚Realerfahrung’ bezeichnet.
- Gerade, weil das reine, didaktisch noch nicht aufbereitete Phänomen letztlich auf alles hin offen ist, erweist sich dieses für das Erlernen von erhellendem Fragen als besonders geeignet und fruchtbar. Der Schüler soll lernen und erfahren, dass sich Bildung letztlich nicht nur im Wissen richtiger Antworten äussert, sondern mindestens ebenso sehr im Stellen von Fragen.
- Verbinden sich Sinneswahrnehmung und Fragestellung, so kommt das zustande, was wir als ‚Beobachtung’ bezeichnen. Indem die Schüler richtig beobachten lernen, erwerben sie eine wesentliche Grundlage für die Bewältigung von Problemen und erwerben auch ein Mittel für die Bereicherung ihres Innenlebens.
- Richtiges Fragen, der Einsatz der Sinne, genaues Bebachten und logisches Überlegen führen schliesslich zu neuen Erkenntnissen, die der Schüler – gemeinsam mit dem Lehrer und der Schulklasse – selber gewonnen hat. Die Erfahrung hat gezeigt, dass solcherart gewonnene Erkenntnisse kaum mehr vergessen werden.
- Und schliesslich lernt der Schüler, die Ergebnisse seines Forschens selber sprachlich zu fassen und sie durch Text und selbst geschaffene bildliche Darstellungen gefällig und sachgerecht zu präsentieren.
Auf die Notwendigkeit, Lernergebnisse durch eigenes Ausformulieren schriftlich festzuhalten, habe ich bereits im Zusammenhang mit der Verbindung von Sach- und Sprachunterricht hingewiesen. Diese Vorgehensweise, die – ist sie dem Schüler einmal zur Gewohnheit geworden – didaktisch äusserst ertragreich ist, erfordert allerdings ausreichend Zeit, und da die Schule heute weit herum so organisiert ist, dass man diese Zeit nicht zu haben glaubt, wird versucht, sie durch ‚rationellere Mittel’ einzusparen. Die Lösung scheint gefunden in dem, was heute unsere Didaktik beinahe zwanghaft beherrscht. im sog. Arbeitsblatt. Es handelt sich dabei zumeist um ein dem Schüler zu Beginn einer Lektion abgegebenes, teilweise bedrucktes Blatt Papier, auf dem ihm kurze Informationen vermittelt, allenfalls auch Bilder angeboten und/oder kleine Aufträge erteilt werden und wo er auf vorgedruckten Linien oder in Textlücken irgendwelche Fachausdrücke festzuhalten, Fragen zu beantworten, allenfalls eine Erkenntnis in einem kurzen Satz festzuhalten hat. Die Vorteile des Einsatzes solcher Arbeitsblätter werden darin gesehen, dass die Schüler während der Lektion aktiv sind, dass sie gleichzeitig die Lernergebnisse als Grundlage für die Repetition und den folgenden Leistungstest festhalten und dass dies ‚rationell’ vor sich geht, d.h. dass dabei – verglichen mit dem Ausformulieren des Gelernten durch den Schüler im Anschluss an eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema – Zeit eingespart werden kann.
Geht man bei Gelegenheit einmal so vor, so mag das seinen Sinn haben. Aber hierzulande ist der Einsatz eines Arbeitsblattes beinahe zum didaktischen Dogma erhoben worden, weshalb es sich wohl lohnt, grundsätzlich über Sinn und Unsinn einer solchen Massnahme nachzudenken, nicht zuletzt deshalb, weil – wie jeder unbefangene Beobachter leicht feststellen kann – die Schüler diese Arbeitsblätter im Allgemeinen nicht schätzen. Das sieht man schon daran, dass sie sehr oft unsorgfältig behandelt und nicht oder wenig geordnet aufbewahrt werden.
Einer der Vorteile der vorfabrizierten (und leicht kopierbaren) Arbeitsblattes wird in der Rationalisierung des Lernprozesses gesehen, das heisst: es lenke den Lernprozess, indem es Lehrer und Schüler nötige, zielstrebig auf ein vorgefasstes Resultat hinzusteuern. Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden, aber dieses Anliegen darf nicht absolut gesetzt werden, denn ein durchrationalisierter Lernprozess erschwert das Eingehen auf die Klasse und auf einzelne Schüler, hemmt das Ausschöpfen des Themas in nicht eingeplante Richtungen, verhindert der Tendenz nach den Einbezug von neuen, erst im Unterricht auftauchenden Lernzielen und das Rhythmisieren aufgrund einer spontanen Wahrnehmung der psychischen Situation der Klasse.
Des weitern will man mit gedruckten Vorgaben dem Schüler die Arbeit in irgendeiner Weise erleichtern. Statt einen Vogel zu zeichnen, muss er ihn bloss ausmalen und beschriften, statt ganze Sätze zu bilden, muss er nur Ausdrücke auflisten oder Lücken ausfüllen, statt eine Seite selbst zu gestalten, bewegt er sich in den engen Grenzen der gedruckten Vorgaben. Nun ist aber die Anstrengung des Schülers identisch mit ‘Gebrauch von Kräften’ und somit die grundlegende Bedingung der Kräfte-Entfaltung. Im Hinblick auf diese Gesetzmässigkeit ist der Einsatz vorgefertigter Arbeitsblätter fragwürdig: Der Schüler spart Zeit und Energie, aber gerade dies bedeutet geringere Beanspruchung seiner Kräfte und damit eigentlichen Verlust an Bildung.
3.8. Das Elementare
Die hier vorgetragene Anliegen, die herrschende Dominanz von papiernen Vorgaben zurückzudrängen zu Gunsten einer offenen und kreativen Auseiandersetzung mit den Phänomenen selber, ist letztlich identisch mit Pestalozzis Forderung, der Unterricht müsse ‚elementar’ sind. In seiner Erziehungsphilosophie ist der Begriff des Elementaren grundlegend, ja er hat seine Erziehungslehre in den letzten rund 20 Jahren seines Lebens stereotyp als „Idee der Elementarbildung“ oder einfach als „Elementarbildung“ bezeichnet, und er begründet es so: „Wir haben dem Entscheidenden unseres Tuns den Namen Elementarbildung gegeben, weil unsere Bemühungen, die Erziehung zu vereinfachen und naturgemäß zu begründen, uns mit der Kraft gereifter Erfahrung überzeugt haben, dass die Basis aller wahren Erziehung einerseits von den Anfangspunkten der Anlagen und Kräfte der menschlichen Natur, andererseits von den Elementen jeder einzelnen Wissenschaft und Kunst ausgehen muss.“ (PSW 23, S. 187)
Es geht somit beim ‚Elementaren’ ums Grundlegende: einerseits im zu bildenden Menschen, andererseits im zu vermittelnden bzw. zu erarbeitenden Stoff. Ein Lehrer, der einerseits mit Blick auf die Schüler und andererseits hinsichtlich der zu wählenden Stoffthemen ein Gespür für das Elementare entwickelt und seine Arbeit danach ausrichtet, wird erfolgreicher sein und nachhaltiger wirken, als jemand, dem alles gleichwertig ist. Denn tatsächlich liegt im Anspruch, elementar zu unterrichten, eine Wertung, aus der etwa die folgenden Forderungen ableiten lassen:
- Schau, welche Fertigkeiten und welche Wissensstoffe grundlegend sind für das Leben des Kindes – jetzt und für die Zukunft!
- Wähle aus der unüberblickbaren Fülle des Wissbaren jene wenigen Ecksteine aus, auf denen später weitergebaut werden kann und die am besten geeignet sind, das Interesse des Schülers zu erregen und seinen Blick auf das Ganze zu weiten!
- Verdeutliche in allem, was in deinem Unterricht zur Sprache kommt, jene Aspekte, in denen Allgemeingültiges aufscheint! Lass die Schüler jene Erkenntnisse gewinnen, die sich auch in andern Bereichen als gültig erweisen!
- Entwickle alles von den logischen Grundlagen her, baue solide einen Stein auf den andern, beginne mit dem Einfachen und gehe erst dann zum Verwickelten. Und fahre erst weiter, wenn die Grundlagen wirklich gefestigt sind.
- Nutze jede Gelegenheit, um im Schüler die Begriffe zu differenzieren, denn im Bereich von Sprache und Denken sind tragfähige Begriffe das Elementare.
Diese Sätze nähren die Vermutung, das Elementare liesse sich in einer Stoffliste dingfest machen. Ein Stück weit stimmt dies, und daher existiert diese Stoffliste auch: Es ist der offizielle Lehrplan. Deren Erfinder liessen sich zweifellos von der Idee einer elementaren Bildung leiten. Nur: Betrachtet man das Elementare einseitig von den Lerninhalten her, türmt sich vor einem sehr bald eine nicht zu bewältigende Stoffmenge auf. Wer daher den meist zu optimistischen Lehrplanvorstellungen voll gerecht werden will, wird vermutlich eben gerade nicht elementar unterrichten. Dies kann man nur durch Gründlichkeit und geistige Strenge, und beides erfordert, dass man bei einer Sache lange verweilt. Und das wiederum geht nur, wenn man aus der angebotenen Fülle klug auswählt und Schwerpunkte setzt.
So stellt denn der Anspruch, elementar zu unterrichten, zuerst einmal ein Kriterium für die Stoffwahl dar. Angenommen, ich wähle als Thema auf der Unter- oder Mittelstufe die Ernährung des Menschen und möchte mich im Zuge dieses Projekt speziell mit einem bestimmten Nahrungsmittel befassen. Würde ich vor der Wahl stehen, mich mit der Klasse nun gründlich mit Brot oder mit Erdbeermarmelade zu beschäftigen, zögerte ich nicht einen Augenblick, mich für das Brot zu entscheiden. Rund um dieses Phänomen könnte ich bedeutend Gewichtigeres und für das Menschsein Wesentlicheres sichtbar machen als im andern Fall. Exkurse in die Geschichte, in das Brauchtum verschiedener Völker, in die Religion, in die Kunst (Literatur, Malerei) drängen sich beim Thema ‚Brot‘ wie von selbst auf.
Selbstverständlich kann man auch über Erdbeermarmelade elementar unterrichten, aber das Thema ‚Brot‘ wird dem hier diskutierten Anspruch eher, leichter, selbstverständlicher gerecht als das andere. Wenn ich somit aus verschiedenen Themen auszuwählen habe, fragt sich nicht „was ist elementar“, sondern „welches ist elementarer“.
Die Forderung, elementar zu unterrichten, gilt aber nicht bloss für die Wahl der Stoffe, sondern auch für die Art der Erkenntnisgewinnung. Dazu kennen wir grundsätzlich zwei Wege:
- Entweder beginnen wir beim Konkreten, Speziellen, beim sinnlich erfahrbaren Phänomen und schreiten fort zum Abstrakten, Allgemeinen, Begrifflichen. Dies ist der induktive Weg.
- Oder wir beschreiten den umgekehrten Weg: Wir gehen aus vom vorausgesetzten abstrakten Prinzip und leiten das Einzelne, Konkrete davon ab. Die ist der deduktive Weg.
Je älter die Schüler sind, desto mehr sind sie zur deduktiven Vorgehensweise fähig. Aber für Schüler der Volksschule sind die beiden Wege nicht in gleicher Weise elementar. Elementarer ist der induktive Weg. Daraus ergibt sich die Forderung, sich so viel und so gründlich wie möglich immer wieder der Sache selbst, dem lebendigen und sinnlich erfahrbaren Phänomen zuzuwenden, was ich im letzten Kapitel dargelegt habe. Wenn (wie ich es anlässlich eines Schulbesuchs wirklich beobachten konnte) achtjährige Kinder im Rahmen der Thematik ‚Huhn und Ei‘ als Haupttätigkeit Querschnitte durch Ei und Huhn und ein Knochenskelett auf vorgedruckten Arbeitsblättern beschriften und gescheite Begriffe wie ‚Keimscheibe’ und dergleichen auswendig lernen, so ist dies wirklich nicht elementar. Anders jener Lehrer, der im Brutkasten Küken schlüpfen und die Kinder die lebendigen Tiere wirklich erleben und das Erlebte sprachlich fassen und gestalterisch (z.B. im Zeichnen oder Werken) verarbeiten lässt.
3.9. Die Bedeutung der ästhetischen Dimension der Bildung
Vieles von dem, was wir Menschen tun, dient ganz einfach dazu, uns oder unsere Art zu erhalten. Die entsprechenden Handlungen sind rein zweckhaft: Wir führen uns Kalorien zu, wir bewegen uns vom Punkt A nach B, wir sprechen, um Informationen weiterzugeben, wir hören hin, um solche zu erhalten, wir errichten Wohnungen, um uns zu schützen, bauen fahrbare oder flugfähige Vehikel, um bequem voranzukommen, usf. Eine wesentliche Möglichkeit des Menschen besteht nun darin, dass er unter bestimmten Bedingungen seine zweckhaften Tätigkeiten hinaufheben kann auf eine neue Stufe, womit dieses Tun in sich selbst sinnvoll und für den Tätigen erfüllend wird. Diese höhere Stufe ist im weitesten Sinne das Ästhetische. So bewegt sich ein Mensch nicht bloss unter Einsatz der geringstmöglichen Energie von A nach B, sondern er verleiht seiner Gehbewegung eine neue Qualität, indem er tanzt und dadurch in sich oder auch im Betrachter ein seelisch-geistiges Erlebnis erzeugt, das nichts mehr mit dem blossen Überwinden einer Distanz zu tun hat. Oder wir essen und trinken nicht bloss, um Hunger und Durst zu stillen, sondern bereiten mit allem Drum und Dran ein Mahl, das auch Geist und Seele erfreut. Dieses Hinaufheben einer Verhaltensweise aus dem bloss Zweckhaften auf die Stufe des Ästhetischen ist eine besondere Art der menschlichen Kultur, und dieses Kultivieren garantiert dem Menschen im Allgemeinen das Erlebnis von wirklicher oder höherer Lebensqualität.
Die Unterscheidung einer Verhaltensweise als bloss zweckgerichtet oder ästhetisch kultiviert wirft auch ein Licht auf den Begriff ‚Bildung’. Man kann darunter ja vieles verstehen. Unter anderem lässt sich dieses Hinaufheben einer Tätigkeit auf die ästhetische Stufe wesensmässig als ‚Bildung’ erfassen, wogegen dann das Einüben in die bloss zweckhafte Tätigkeit als ‚Ausbildung’ zu bezeichnen wäre. Gewiss ist eine gute und gründliche Ausbildung nicht zu verachten, aber eine Schule, die sich im weitesten Sinne der Aufgabe der ‚Menschenbildung’ verpflichtet fühlt, darf dabei nicht stehen bleiben. Tut sie dies, leistet sie keinen konstruktiven Beitrag gegen die geistige Verarmung, die sich als Folge eines blossen Nützlichkeitsdenkens ergeben muss. Für einen Lehrer lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche von jenen Tätigkeiten, die seinen Unterricht ausmachen, kultiviert und damit dem Bereich des rein Zweckhaften enthoben werden können.
Ich möchte mein Anliegen am Beispiel der Sprache verdeutlichen. Ohne Zweifel ist schon viel erreicht, wenn unsere Schüler in ihrem Denken Informationen bereitstellen und diese mittels der Sprache angemessen übermitteln können. Wer darüber verfügt, ist ausgebildet, aber gebildet im Vollsinne ist er eben noch nicht. Wahrhafte Bildung erfordert eine Kultivierung von Sprechen und Sprache im Sinne eines Emporhebens auf die höhere Stufe des Ästhetischen. Das beginnt bereits bei der Artikulation. Natürlich dient auch das lautrichtige Sprechen zuerst einmal dem Zweck der besseren Verständlichkeit, aber dessen Sinn erschöpft sich nicht darin. In der korrekten und gepflegten Artikulation meldet sich bereits eine andere Dimension, nämlich die Musik, und damit eine neue Erlebnismöglichkeit – sowohl für Sprecher wie für Hörer – als ein Ausdruck des menschlichen Geistes. Letztlich geht es ja im Bilden immer darum, das Geistige zu spüren und zu fördern, und der bildungs- und qualitätsbewusste Lehrer nimmt diese Aufgabe bei jeder Gelegenheit wahr.
Zum kultivierten Sprechen gehört indessen nicht bloss die korrekte Artikulation, sondern gehören auch Atmung, Stimmführung, Modulation, Tempo, Pausen, Akzentsetzungen, Betonungen. Letztlich handelt es sich hierbei sowohl um eine Wissenschaft wie um eine Kunst, die professionelle Sprecher – etwa Schauspieler – beherrschen müssen. Im Moment möchte ich noch nicht auf didaktische Einzelheiten eingehen, sondern es beim Hinweis bewenden lassen, dass der gesamte Sprachunterricht und auch die Sprachpflege in allen andern Fächern eine völlig andere Qualität bekommen, wenn einem Lehrer die Bedeutung der ästhetischen Dimension bewusst ist und er entsprechende Ziele setzt. Ihm wird sofort auffallen, dass die gängige Definition von ‚Lesen’ (‚Lesen’ gleich Sinnentnahme) unter pädagogischem Aspekt zu kurz greift. ‚Lesen’ ist mehr, nämlich auch: Sinn vermitteln, Sprechen gestalten. Sind einem diese Zusammenhänge in ihrer wirklichen Bedeutung klar geworden, wird man sich niemals damit zufrieden geben, dass die Schüler z.B. ein Gedicht oder irgendeinen Prosatext verstanden haben. Vielmehr wird man erkennen, dass die eigentliche Hauptarbeit – die Sprech-Gestaltung – erst noch bevorsteht. Dabei ist das Kind in einer wesentlich anderen und intensiveren Art selbst tätig als beim bloss verstandesmässigen Aufnehmen eines durch den Text vermittelten Inhalts. Erst durch diese gestaltende Tätigkeit macht es sich dann den Text – das Gedicht, die Geschichte, die Schilderung – seelisch-geistig zu eigen. Und erst diese aktive Aneignung eines Werks verdient es, ‚Bildung’ genannt zu werden.
Was hier anhand der Sprache gezeigt wurde, findet seine Entsprechung bei der Pflege der Kommunikation, aber auch in Fächern wie Schreiben, Zeichnen, Musik, Gymnastik und ganz allgemein bei der schriftlichen und zeichnerischen Darstellung irgendeines Sachverhalts. In jedem Falle geht es darum, über das bloss Zweckhafte hinauszugehen und den Schüler in den Bereich der Kultur, auf die Ebene des Ästhetischen hinein- bzw. hinaufzuführen. In dem Masse, wie dies gelingt, gewinnt unsere Bildungsarbeit an Qualität.
3.10. Lernkontrollen und Bewertungen, Selbstbeurteilung
Wer lernt, hat das legitime Bedürfnis, feststellen zu können, ob das gelernte Wissen gefestigt und ob eine Fertigkeit richtig eingeübt ist. Daher sind Lernkontrollen ein unverzichtbarer Bestandteil des Lernprozesses. So weit, so gut.
In einem Grossteil unserer Schulen sind aber Lernkontrollen nicht ganz selbstverständliche Elemente des Lernprozesses, die genau so interessant und genau so beliebt sind wie der Erwerb des Wissens und das Üben einer Fertigkeit. Sie sind vielmehr Ereignisse, die vielen Schülern Angst einjagen, schlaflose Nächte verursachen und einen Schatten auf die Beziehung zum Lehrer, zu den Mitschülern, ja sogar zu den Eltern werfen. Der Grund liegt darin, dass mit Hilfe der Lernkontrolle nicht bloss der Stand des Wissens oder einer Fertigkeit überprüft wird, sondern dass das nachgewiesene Lernergebnis Folgen hat, die entweder als Belohnung oder als Bestrafung erlebt werden. Um dies zu ermöglichen, sieht unser heutiges System die Umwandlung einer qualitativen Beurteilung einer Leistung in eine quantitative Bewertung mittels einer Note (zumeist zwischen 1 und 6 liegend) vor. Ist der wert hoch, trägt dies zumindest ein höheres Ansehen ein, oft aber auch die Berechtigung für den Übertritt in eine höhere Klasse oder Schule. Ist der Wert tief, kommt dies einer sozialen Minderbewertung gleich, oft aber auch einer Rückversetzung in eine tiefere Klasse oder Schule. Da das Anrecht, eine höhere Schule besuchen zu dürfen, im Hinblick auf spätere Berufsmöglichkeiten als sehr wertvoll erlebt wird, erhalten die erzielten Notenwerte im Leben der Schüler eine emotional sehr hohe Bedeutung.
Sehr viele Menschen halten dieses System deshalb für wohltuend, weil es ihrer Ansicht nach gewährleiste, dass sich die Schüler im Hinblick auf eine gute Note anstrengen und somit zum Erfolg kommen. Mit andern Worten: Das Notensystem wird zum Druckmittel bzw. zur zentralen Motivation für das Lernen insgesamt.
Ich zähle mich zu den grundsätzlichen Kritikern dieses Systems und weiss mich darin einig mit Pestalozzi, der sich schon vor 200 Jahren dagegen gewendet hat. Die Gründe für meine ablehnende Haltung sind die folgenden:
- Es ist grundsätzlich fragwürdig, eine geistige Leistung, die immer etwas Qualitatives ist, durch einen exakten mathematischen Wert auszudrücken, also in etwas Quantitatives zu verwandeln.
- Dieses System verlagert das pädagogische Interesse einseitig auf Leistungen, die immerhin noch einigermassen als messbar gelten (wobei dies meiner Ansicht nach ebenfalls ein Irrtum ist), und vernachlässigt Bildungsunternehmungen, deren Ergebnisse als sehr schwer oder überhaupt nicht messbar betrachtet werden.
- Um Entscheide über die Schullaufbahn eines Schülers treffen zu können, werden nicht bloss verschiedene Leistungen innerhalb desselben Faches zu Durchschnitten verrechnet, sondern man verfährt auf dieselbe Weise mit den in den einzelnen Fächern errechneten Durchschnittswerten und erreicht damit eine Zahl, die mit ihren zwei, drei Stellen nach dem Komma mathematische Exaktheit vorgibt, inhaltlich aber überhaupt nicht mehr interpretierbar ist. Nicht der Blick auf das spezifische Lern- und Leistungsverhalten eines Schülers dient als Grundlage für die Entscheidung über sein Schicksal, sondern eine Zahl, von der niemand mehr sagen kann, was sie konkret bedeutet.
- Selbst wenn man die Benotung der Schulleistung im herkömmlichen System gutheisst, kommt man nicht um die Erkenntnis herum, dass mit den Noten sehr oft nicht das gemessen wird, was man vorgibt. Gerade gestern wurde ich von Eltern für eine Beratung herbeigezogen wegen den Schulproblemen ihres zehnjährigen Kindes, und da hörte ich, was kürzlich zu einer grossen Entmutigung des Schülers geführt hatte: Es wurde das Wissen über ein im Sachunterricht behandeltes Tier geprüft, und obwohl der Schüler, der am Thema durchaus interessiert war, über alles erforderliche Wissen verfügte, erhielt er eine ungenügende Note. Der Grund: Er leidet an einer feinmotorischen Störung, schreibt dementsprechend schlecht und langsam und wurde in der geforderten Zeit nicht fertig mit dem Beantworten der Fragen. Und da gab’s kein Pardon: Nicht beantwortete Fragen gelten als unbeantwortet. Und so wird er im Zeugnis im Sachunterricht eine ungenügende Note haben. Wer einwendet, das sei ein Einzelfall, kennt die wirklichen Verhältnisse nicht.
- Und selbst, wenn man mittels des Notensystems wirklich das bewertet, was angegeben wird, sind die Werte sehr unzuverlässig: Sie sind abhängig vom zufällig gewählten Schwierigkeitsgrad der Prüfung, vom zufällig gewählten Bewertungsmassstab. Auch divergieren die Notengebungen nicht nur von Lehrer zu Lehrer, sondern variieren auch – bei gleichen Leistungen – beim selben Lehrer. Alle diese hier aufgeführten Mängel sind in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen einwandfrei festgestellt worden.
- Aber auch dann, wenn Notenwerte objektive Abbilder der erbrachten Schülerleistungen wären, möchte ich das Notensystem lieber ersetzt haben, denn es verdirbt die Leistungsmotivation. Statt dass die Schüler aus echtem Interesse lernen und die Schulfächer schätzen, lernen sie bloss um der Note willen und beginnen oft genug das Fach, in welchem sie sich gequält fühlen, zu hassen. So lernen sie denn oft genug kein bisschen mehr als das, was gerade noch zu einer genügenden Note reicht. Mit wirklicher Bildung hat ein solcher Unterrichtsbetrieb wenig bis nichts zu tun.
Nun weiss ich sehr wohl, dass es mit dem blossen Abschaffen des Notensystems nicht getan ist. Dies wäre nur möglich, wenn die ganze Schulrealität gemäss den Pestalozzischen Grundsätzen, wie ich sie hier dargelegt habe, gestaltet wird, und das scheint im Moment im Rahmen des staatlichen Schulsystems kaum möglich. So ist denn zu fragen, was einem Lehrer, der im Geiste Pestalozzis zu unterrichten gewillt ist, zu tun bleibt. Ich sehe folgendes:
- Die heute herrschende Dominanz des Notensystems soll so weit wie möglich zurückgedrängt werden. Es sollen bloss so viele notenmässige Bewertungen vorgenommen werden, wie unbedingt erforderlich.
- Der Lehrer soll die Semesternote nach Möglichkeit nicht durch den Durchschnitt vereinzelter Ergebnisse von Leistungstest ermitteln, sondern durch eine Gesamtbeurteilung der Leistungen und Leistungsmöglichkeiten eines Schülers festlegen.
- Eine Zurückversetzung in eine tiefere Klasse oder Schule darf niemals als Bestrafung infolge ungenügender Leistungen angeordnet werden, sondern ist in jedem Falle eine Hilfe für einen wirklich überforderten Schüler. Daher soll sich der Entscheid, ob ein Schüler zurückversetzt wird, nicht aus dem Durchschnitt zufällig erbrachter Einzelleistungen ergeben, sondern ist im Hinblick auf seine Leistungsmöglichkeiten zu treffen. Die Notensetzung soll sich nach diesen Erfordernissen richten.
- Die Schüler sollen so weit wie möglich in die Beurteilung und Bewertung ihrer eigenen Leistungen einbezogen werden.
Mir ist klar, dass auch diese Vorschläge nicht unproblematisch und nicht einfach durchführbar sind, aber ich bin nicht in der Lage über die sinnvolle Handhabung eines Systems zu referieren, das ich grundsätzlich als widersinnig und schädlich erkannt habe.
Glücklich zu schätzen sind all jene, die die Möglichkeit haben, im Rahmen einer nicht-staatlichen Schule zu wirken, in welcher auf ein System verzichtet werden kann, das der Tendenz nach die Bildungsbemühungen im Sinne wahrer Menschenbildung untergräbt.
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich nochmals betonen, dass es sich bei meiner Kritik am Notensystem nicht darum handelt, etwas zu bekämpfen, das bei den Schülern gute Leistungen garantiert. Im Gegenteil: Das Notensystem erschwert und verhindert wirkliche Bildungsleistungen, und ich bin überzeugt, dass ein im Geiste Pestalozzis wirkender Lehrer mit seinen Schülern echtere, bessere und nachhaltiger wirkende Leistungen erzielt als jene, die glauben, den Schülern Schulleistungen mit einem System, das Druck, Angst und Frustration erzeugt, abringen zu müssen.
Schluss
Ich hoffe, es sei mir gelungen aufzuzeigen, welche Grundsätze bei der Lebensführung eines Lehrers und bei der Gestaltung seines Unterrichts wegleitend sein müssen, wenn er dem Anspruch, im Geiste Pestalozzi zu bilden und zu erziehen, gerecht werden will. Im Einzelnen mag vieles auf verschiedene Weise angepackt werden, aber in jedem Fall wird erlebbar sein, dass immer der Mensch – und zwar immer der konkrete Einzelne – im Zentrum des Interesses und Geschehens steht. Dieser Einzelne wird stets in seiner Ganzheit, d.h. im Denken, Fühlen und Handeln ernst genommen, wobei psychologische Gesetzmässigkeiten wie etwa der Ausgang von der sinnlichen Erfahrung und vom Nahen oder die lückenlose Stufenfolge geeigneter Übungen gebührend beachtet werden. Über und in allem aber wirkt die Liebe – die Liebe zu den Menschen, die Liebe zum eigenen Tun und die Liebe zur Welt.
März 2006