Arthur Brühlmeier

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Wenn Pestalozzi von „Kunst“ und „Künsten“ spricht

Pestalozzi – ein Kunstfachmann?

Das unverzichtbare Arbeitsinstrument, das es mir ermöglichte, diesen Essay schreiben zu können, ist die 1997 erschienene CD-ROM, auf welcher der grösste Teil von Pestalozzis Schrifttum recherchierbar erfasst ist. Die Tatsache, dass hier die einfachen Substantive ‚Kunst‘ oder ‚Künste‘ gegen 2’200 mal[1] erscheinen, würde wohl einen Laien zur Annahme verleiten, Pestalozzi sei entweder selber Künstler gewesen oder habe sich als Kunstsachverständiger sein Brot verdient. Und würde ihm gar Pestalozzis Satz „Der Mensch … wird nur durch die Kunst Mensch“ (W 13/244)[2] isoliert unter die Augen kommen, würde er den Mann wohl für einen intoleranten Kunstfanatiker halten.

Näher besehen, stellen wir freilich fest, dass Pestalozzi nur gelegentlich mit ‚Kunst‘ das meint, was der heute gängigen Bedeutung entspricht. Er selbst war bekanntlich auch ein eher amusischer Mensch. Seine ganze Leidenschaft galt der Verbesserung sozialer Zustände und der moralischen Stärkung des einzelnen Menschen. So legte er zwar in Yverdon grossen Wert auf den Musik- und Instrumentalunterricht, er selber hatte aber kaum eine besondere Beziehung zur Musik und betrachtete diese denn auch nicht in ihrer Eigengesetzlichkeit oder als Mittel zur Erhöhung von Lebensqualität, sondern insbesondere (und vielleicht einzig) als Mittel zur Versittlichung des Menschen.[3] Eine Musikkultur, wie sie damals in ‚gehobenen‘ Kreisen gepflegt wurde, war ihm suspekt und erinnerte ihn zu sehr an die Privilegien der Begüterten unter dem Ancien régime, und so konnte er 1818 schreiben „dass aus der Armut und Elend zu einem glücklichen selbständigen Menschenleben erhobene Dörfer mehr Ehre bringen, als Prachtsäle für Musik und Tanz“ (W 25/286 f.).

Was die Malerei betrifft, war Pestalozzi vermutlich das, was man heute abschätzig als Kunstbanause bezeichnet, und sie interessierte ihn eigentlich nur hinsichtlich ihrer pädagogischen Implikationen. Aus einem Entwurf zu einem Bericht an die Eltern im Jahre 1808 geht hervor, dass seiner Ansicht nach „Kunstkraft und Kunstgenie … ewig nie allgemein werden in der Malerei“ (W 21/19) und daher für die Bildung der grossen Mehrheit der Menschen lediglich „Linearzeichnung und Takt in Kunstansicht“ (W 21/19) realistische Zielsetzungen darstellen. Schon 8 Jahre zuvor hatte er sich, angeregt durch die Bemerkung Johann Kaspar Lavaters, „es mangle allgemein an psychologischen Anfangsgründen der Kunstbildung“ (B 4/50), Gedanken über die Grundsätze einer elementaren Kunstbildung gemacht und dabei insbesondere die Gemeinsamkeit zwischen geometrischen Grundformen und dem rezeptiven Erfassen und zeichnerischen Wiedergeben von Gegenständen betont.[4] In seinen Instituten in Burgdorf und Yverdon hat er entsprechend diesem Denkansatz sehr hohen Wert auf den Zeichenunterricht gelegt und bei den Schülern teilweise auch verblüffende Resultate erzielt. So finden sich denn in der 1809 publizierten ‚Lenzburger Rede‘[5] ausführliche Passagen hinsichtlich Zeichenkunst und Musik, wobei freilich der grössere Teil der betreffenden Erörterungen von seinem Mitarbeiter Johannes Niederer verfasst sein dürfte[6]. Im übrigen ist Pestalozzi auf dem Gebiet der bildenden Künste rasch mit Polemik zur Hand, so etwa, wenn er 1812 schreibt: „So würde die elementarische Zeichnungslehre, wenn sie den Grundsätzen, die sie wesentlich konstituieren müssen, getreu eingeführt würde, einerseits jedes wirklich malerische Genie zum Selbstgefühl seiner Kräfte und dahin führen, die Bahn zur höheren Kunst sich selbst zu brechen, anderseits die Welt von der Million Schmierer befreien, die, indem sie nichts zu tun wissen, malen, und indem sie malen, nicht wissen, was sie tun.“ (W 23/200) Fast ist zu befürchten, dass er seinen etwas jüngeren Zeitgenossen J.M.W. Turner auch den Schmierern zugerechnet hätte.

Die alltagssprachliche Bedeutung des Terminus ‚Kunst‘

Um es vorwegzunehmen: Grossenteils verwendet Pestalozzi den Begriff ‚Kunst‘ bewusst im Rahmen seines philosophischen und pädagogischen Systems. Daneben aber braucht er den Ausdruck ‚Kunst‘ auch in seiner umgangssprachlichen Bedeutung: nämlich als ein ‚Können‘ irgendeines Existenzvollzugs, mithin als Fertigkeit, Gewandtheit, indessen ohne seine Aussagen speziell auf diesen Begriff zu fokussieren. So spricht er etwa in ‚Agis‘ von der „Kunst, verfänglich zu fragen“ (W 1/16) oder in ‚Lienhard und Gertrud‘ von der „Kunst, am Faden kleiner Anfänge immer weiter zu schreiten“ (W 4/210). Oder wir lesen im selben Werk, dass es den Dorfpotentaten Hummel, nachdem er das Vertrauen seines Vorgesetzten Arner verspielt hatte, „wirklich sehr viel Kunst und Mühe kostete, sich bei ihm wieder in seinen alten Sattel zu setzen“ (W 5/337). Auch das schlichte Beherrschen eines Handwerks lässt sich ohne philosophischen Anspruch als ‚Kunst‘ bezeichnen. So stellt Pestalozzi beispielsweise in seiner Abhandlung ‚Über den Bauern‘ im Hinblick auf für das Bauern ungeeignete Orte fest: „An allen solchen Orten findet man im Anfang gute und wohlfeile Arbeiter, aber sie sind es nur so lange, bis sie die Kunst recht verstehen, …“ (W 8/52).

Diese alltagssprachliche Bedeutung von ‚Kunst‘ unterliegt natürlich oft auch jenen vielen Termini – grammatikalisch als zusammengesetzte Substantive –, die ein spezifisches Können griffig einfangen, so etwa, wenn Pestalozzi von ‚Arzneikunst‘, ‚Armenversorgungskunst‘ oder ‚Redekunst‘ spricht. So gesehen, lässt sich jede Tätigkeit, die mit einiger Perfektion beherrscht wird, als ‚Kunst‘ bezeichnen, und die 120 verschiedenen Wortschöpfungen Pestalozzis nach diesem Muster belegen denn auch, dass er von dieser Möglichkeit reichen Gebrauch macht.

‚Kunst‘ als Gegensatz zur ‚Natur‘

Neben den oben erwähnten gemeinsprachlichen Bedeutungen findet sich in Pestalozzis Schrifttum der Terminus ‚Kunst‘ sehr häufig in einem philosophisch strengen Sinn. Bereits in seiner ersten theoretischen Schrift, im ‚Tagebuch über die Erziehung seines Sohnes‘ 1774, erscheint der Begriff ‚Kunst‘ präzise als Gegenbegriff zu ‚Natur‘:  „Im freien Hörsaal der ganzen Natur wirst du deinen Sohn an deiner Hand führen, im Berg und Tal wirst du ihn lehren. In diesem freien Hörsaal wird sich sein Ohr auch den Absichten deiner Führung zur Kunst öffnen“ (W 1/124). Unschwer ist zu erkennen, dass der junge Pestalozzi hier noch ganz im Banne Rousseaus steht, wie denn auch das ganze Fragment[7] seine Absicht verrät, dessen Erziehungsgrundsätze in die Praxis umzusetzen. Allerdings geht er auch verschiedentlich auf Distanz zu seinem geistigen Ahnherrn, u.a. dadurch, dass er seinen Knaben nicht bloss Erfahrungen durch die Auseinandersetzung mit dem dinglich Gegebenen machen lassen, sondern ihn auch mit kanonisierten Lerninhalten vertraut machen will, konkret: mit Messkunst und Sprachlehre. Die beiden Beispiele zeigen, dass Pestalozzi hier unter ‚Kunst‘ Handlungskonzepte bzw. Theoreme versteht, die gesellschaftlich entstanden und vermittelt sind und deren Weitergabe er als sinnvoll und wünschbar erachtet. Dagegen ist ‚Natur‘ das selbstverständlich Gegebene: primär Dingliches, natürlich Entstandenes, mithin aber auch vieles, das gesellschaftlich erarbeitet wurde und als rein zufällig Zuhandenes die Sinne und das Interesse des jungen Menschen zu erregen vermag.

In der ‚Abendstunde eines Einsiedlers‘ fasst er nun beides – ‚Kunst‘ als das absichtsvoll Geschaffene und ‚Zufall‘ als das, was jedem ohne dessen Zutun zufällt – nicht mehr als Gegensätze, sondern als zwei Bedingungsfelder, die zusammen genommen der ‚Natur‘ gegenüberstehen, aber – und dies ist ein entscheidender Schritt – nicht der ‚Natur‘ als dem Insgesamt des äusserlich Gegebenen (was ja wiederum das Zufällige wäre), sondern der menschlichen Natur: „Alle reinen Segenskräfte der Menschheit sind nicht Gaben der Kunst und des Zufalls, im Innern der Natur aller Menschen liegen sie mit ihren Grundanlagen“ (W 1/269). ‚Kunst‘ – hier an der Seite des Zufalls – steht also wiederum im Gegensatz zur ‚Natur‘.

Auch in seinem philosophischen Hauptwerk, den ‚Nachforschungen‘[8], kreisen seine Gedanken verschiedentlich um die Frage des Verhältnisses zwischen Zufall und Kunst auf der einen und der Natur des Menschen auf der andern Seite. „Unwissend und ohne Kunde dessen, was ich, durch Zufall und Erfahrung geleitet, aus mir selber machen werde, und ebenso, ohne vorzügliche Sorgfalt für das, was die Kunst meines Geschlechts aus mir machen möchte, setzte mich die Natur mit einer vorzüglichen Kraft auf die Erde, mein tierisches Dasein allenthalben durch mich selbst, ohne Zutun der Kunst meines Geschlechts, sicherstellen zu können“ (W 12/60). Pestalozzi hat hier den Instinkt als die „ursprüngliche Grundkraft“ der menschlichen Natur im Auge, und er gelangt zur Einsicht, dass sich der Mensch „zum Herrn über (diesen) einfachen Führer (s)eines ungekünstelten und ungebildeten Daseins emporheben“ muss, sobald er „mehr sein will oder mehr sein muss, als die Natur allgemein aus meinem Geschlecht gemacht hat“ (W 12/60), eben nicht bloss Naturwesen, sondern als an der Gesellschaft partizipierender und nach Sittlichkeit strebender Mensch. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die bewusste Wortwahl Pestalozzis: Mit „Zufall und Erfahrung“ ist das konkrete dingliche Milieu, d.h. die äussere Natur gemeint, die jeden Menschen individuell beeinflusst, und unter „Kunst meines Geschlechts“ versteht er sämtliche Arrangements der Gesellschaft wie Brauchtum, Sitten, Gesetze, Sozial- und Kommunikationsformen, Herrschafts- und Wirtschaftssysteme, die ihn ebenfalls entsprechend formen. Diese gesellschaftlichen Phänomene und Institutionen – an anderer Stelle fasst er sie zusammen als „Kunst der Gesellschaft“ (W 12/101)  – sind es denn auch, die „den Menschen gerecht und teilnehmend“ machen, und nicht etwa – wie man gerne annehmen möchte – der ursprüngliche Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung: nämlich der Wunsch nach Behaglichkeit und erleichterter Bedürfnisbefriedigung. ‚Kunst‘ ist also auch hier verstanden als das gesellschaftliche Gegengewicht gegen natürliche Ansprüche jeglicher Art. Das trifft auch zu, wenn Pestalozzi im selben Satz von der „Kunst der Freiheit“ feststellt, dass sie es ist, die „beim Bürger Gemeingeist und Rechtlichkeit erzeugt“ (W 12/101), und nicht etwa der ursprüngliche Zweck der Freiheit: nämlich die Möglichkeit, tun und lassen zu können, was beliebt. Das wäre blosse ‚Naturfreiheit‘, und diese wäre nach Pestalozzis Worten „erschrecklich“ (W 12/97). Lebbar und dem Menschen bekömmlich wird Freiheit erst durch ‚Kunst‘, d.h. durch erzieherisch verantwortete Eingewöhnung und gesetzliche Freiräume und Schranken.

Nun ist offensichtlich, dass sich der hier verwendete Kunst-Begriff fundamental von jenem unterscheidet, der in der ersten Äusserung im Tagebuch 1774 erscheint, und zwar insofern, als Pestalozzi dort die Kunst als etwas zu Vermittelndes, hier aber als etwas Einwirkendes versteht. Und nur auf dem Hintergrund dieses Verständnisses erhellt sich denn auch der bereits zitierte Satz, der – aus dem Zusammenhang gerissen – Anlass zu krassem Missverständnis sein muss, nämlich: „Der Mensch … wird nur durch die Kunst Mensch“ (W 13/244), was besagt, dass wir ohne „diese Führerin unserer selbst, die wir uns selber erschaffen“ haben, ausserstande wären, das wesentlich Menschliche zu erreichen: gesellschaftliche Partizipation, Sittlichkeit im Sinne von Selbstvervollkommnung durch Überwindung des eigenen Egoismus in der Verwirklichung von Grundwerten wie etwa Wahrheit und Liebe.

Sind ‚Natur‘ als das primär Gegebene und ‚Kunst‘ als das gesellschaftlich Einwirkende die beiden grundlegenden Komponenten, die Menschsein und Entwicklung zum Menschsein bedingen, stellt sich die Frage nach der Hierarchie. Pestalozzis Antwort auf diese Frage ist der unerschütterliche Fels, auf dem sein ganzes pädagogisches Philosophieren und seine ganze Erziehungspraxis ruhen: „ … aber soweit sie (die Kunst) auch geht, so muss sie sich in ihrem ganzen Tun dennoch fest an den einfachen Gang der Natur anketten. Was sie immer leistet, und wie kühn sie uns aus dem Stand und selbst aus dem Recht unseres tierischen Daseins heraushebt, so ist sie doch nicht imstande, zu dem Wesen der Form, durch welche unser Geschlecht sich von verwirrten Anschauungen zu deutlichen Begriffen erhebt[9], auch nur ein Haar[10] hinzuzufügen. Sie soll es auch nicht. Sie erfüllt ihre Bestimmung zu unserer Veredelung wesentlich nur dadurch, dass sie uns in dieser und in keiner anderen Form entwickelt, und wirft uns, sobald sie es in irgendeiner anderen zu tun versucht, dadurch insoweit in jedem Fall in den nicht humanen Zustand zurück, aus dem sie uns herauszuheben von dem Schöpfer unserer Natur bestimmt ist“ (W 13/245 f.). Wir haben hier Pestalozzis grundlegendes Postulat der ’naturgemässen‘ Bildung und Erziehung vor uns. Diesem zu Grunde liegt seine Überzeugung, dass die menschliche Natur mit Kräften (Anlagen) ausgerüstet ist, die sich entfalten müssen und bei dieser Entfaltung natürlichen und damit unveränderlichen Gesetzen unterliegen. Den Primat der Natur anerkennen heisst, sich den Entwicklungsgesetzen, die der Natur selber abzulesen sind, zu „unterwerfen“[11]. Am entschiedensten spricht er dies aus im eingeschobenen Kapitel 71a des 4. Teiles der 3. Fassung von ‚Lienhard und Gertrud‘ (1820), wo er seine pädagogische Theorie auf vier Buchseiten ausformuliert: „Diese innere Einheit der Grundkräfte unserer Natur[12] steht deshalb auch durch ihr Wesen in selbständiger Erhabenheit ob aller menschlichen Kunst. Keine menschliche Kunst darf und soll es auch nur versuchen, weder das Wesen und die Eigenheit einer jeden dieser drei Urkräfte noch das heilige Band ihrer Vereinigung[13] unter sich selber durch seine Einmischung zu hemmen und zu stören; im Gegenteil jede Einmischung der menschlichen Kunst in die Entfaltung der Kräfte unserer Natur muss sich den Gesetzen, nach welchen die Menschennatur diese Kräfte selber entfaltet, und dem heiligen Band, das diese Gesetze untereinander verbindet, unbedingt unterwerfen. Alle Kunst des Menschengeschlechts in der Erziehung muss sich in allen drei Urfächern unserer Bildung an das reine, von keiner menschlichen Kunst abzuändernde Naturstreben zur Entfaltung unserer Kräfte anschliessen, von ihm ausgehen und in jedem seiner Vorschritte an ihn festhalten. Die Einmischung unserer Kunst in die Erziehung kann und muss also in ihrem Wesen in nichts anderem bestehen, als in der erleuchteten Sorgfalt unseres Geschlechts für die Entfaltung und Bildung des ganzen Umfangs der Kräfte unserer Natur, wie sie in unseren Kindern liegen, mit dem Gang der Natur in ihrer Entfaltungsweise unserer Kräfte in Übereinstimmung zu kommen und uns darin mit ihr in Übereinstimmung zu erhalten“ (W 6/469).

Verknüpfen wir nun das, was Pestalozzi unter ‚Kunst der Gesellschaft‘ versteht mit seinem Postulat, dass sich die ‚Kunst‘ den Gesetzen der menschlichen Natur zu unterziehen habe, wird sofort klar, wieviel Erneuerungskraft in seinem Denken steckt, leiten sich doch daraus nicht bloss pädagogische, sondern ebenso erhebliche politische Forderungen ab. Dieses Resultat deckt sich mit der Erkenntnis und Erfahrung, dass der Mensch nicht bloss gebildet und erzogen wird durch die bewusste ‚Erziehungskunst‘ der konkreten Erzieher, sondern ebenso durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu verstehen sind als Resultat der ‚Kunst der Gesellschaft‘: Sitten, Gesetze, soziale Systeme usf.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Die menschliche Natur ist so geartet, dass der heranwachsende Mensch seine letzte Bestimmung – die „Menschlichkeit“[14] – nur erreichen kann durch ‚Kunst‘, das heisst einerseits durch disziplinierende Vorgaben und Einflüsse der Gesellschaft und andererseits durch sittlich verantwortete mitmenschliche Einwirkungen. Und der Erfolg hinsichtlich des Ziels (‚Menschlichkeit‘) kann in dem Masse erwartet werden, als sich sowohl Gesellschaft als personale Erzieher in ihren Setzungen und Entscheidungen nach der menschlichen Natur und den unveränderlichen, natürlich gegebenen Entwicklungsgesetzen richten.

Die klassische Dreiheit: Herz, Geist und Kunst

„ Die Natur gibt das Kind als ein untrennbares Ganzes, als eine wesentliche organische Einheit mit vielseitigen Anlagen des Herzens, des Geistes und des Körpers“ (W 20/56). Auf dieser anthropologischen Basis ruht Pestalozzis Postulat der harmonischen Bildung von „Kopf, Herz und Hand“[15]. Diese klassisch gewordene Dreiteilung liegt praktisch allen seinen pädagogischen Schriften zu Grunde, wobei er allerdings die etikettierenden Bezeichnungen oft wechselt, sie neu variiert und in eine andere Reihenfolge stellt[16]. So lesen wir in ‚Geist und Herz in der Methode‘ 1805, die Elementarbildung setze sich „nicht weniger vor, als durch die Gesamtheit und Übereinstimmung all ihrer Mittel Herz, Geist und Hand zum Höchsten und Edelsten, dessen unsere Natur fähig ist, zu erheben“ (W 18/50), und 20 Jahre später schreibt er im ‚Schwanengesang‘ – inhaltlich identisch – die Idee der Elementarbildung sei „als die Idee der naturgemässen Entfaltung und Ausbildung der Kräfte und Anlagen des menschlichen Herzens, des menschlichen Geistes und der menschlichen Kunst anzusehen“ (W 28/58). Die beiden Zitate zeigen, dass Pestalozzi die Termini ‚Hand‘ und ‚Kunst‘ offensichtlich für einen identischen Sachverhalt verwendet.[17] ‚Kunst‘ ist somit bei Pestalozzi nicht bloss zu verstehen als Gegensatz zu ‚Natur‘, sondern – jeweils im Zusammenhang mit der Bildung der Grundkräfte – als das Ingesamt der Äus­serungen des physischen Bereichs, der begrifflich oft auch auf ‚Hand“ reduziert ist. Dementsprechend schreibt er im berühmten Kapitel 71a des 4. Teiles von ‚Lienhard und Gertrud‘ (3. Fassung, 1820): „Das zu erzielende Resultat unserer physischen Anlagen und Kräfte ist Veredlung und Befriedigung unserer Natur durch Arbeit und Kunst“ (W 6/470). Sich mit Pestalozzis Kunst-Begriff auseinanderzusetzen erfordert somit auch, sich mit der Bildung der physischen Kräfte zu befassen.

 Die folgende Tabelle ist der Versuch einer Übersicht über die im Zusammenhang mit der Bildung der drei Grundkräfte verwendeten Termini. Der Einfachheit halber verzichte ich auf die Quellenangaben und führe alle im Singular/Nominativ auf, obwohl Pestalozzi sehr oft den Plural wählt.

Kopf/Geist Herz Hand/Kunst
Kraft des Kopfes

geistige Kraft

Geisteskraft

intellektuelle Kraft

Verstandeskraft

Vernunftkraft

Erkenntniskraft

Denkkraft

Kraft des Herzens

sittliche Kraft

Sittlichkeitskraft

sittlich-religiöse Kraft

Herzenskraft

Gemütskraft

Gefühlskraft

Kraft des Körpers

handwerkliche Kraft

Handkraft

physische Kraft / Leibeskraft

körperliche Kraft / Körperkraft

Kunstkraft

Erwerbskraft /Gewerbskraft

Berufskraft

Eine analoge Tabelle liesse sich erstellen mit entsprechenden Adjektiven (geistig, gemütlich im Sinne von ‚gemüthaft‘ usf.) und Verbindungen mit andern Substantiva (Bildung des Geistes, Geistesbildung, Elementarbildung des Herzens, Gemütsbildung, Kunstbildung). Darüber hinaus gibt es viele sprachliche Fassungen des Drei-Kräfte-Modells wie z.B. „Geist- Herzens- und Ausübungshalber“ (W 6/349) oder „in sittlicher Hinsicht … geistiger Hinsicht … Kunst- und Berufshinsicht“ (W 6/516 f.), die nicht ohne Künstlichkeit durch eine Tabelle erfassbar wären.

Wägen wir nun die einzelnen Begriffe innerhalb eines Feldes der Tabelle gegeneinander ab, fällt auf, dass sie inhaltlich keinesfalls völlig deckungsgleich sind. Dieses Oszillieren der jeweiligen Begriffsgruppe deckt einerseits die Begrenztheit der Sprache hinsichtlich der exakten Widerspiegelung von Realität auf, macht aber andererseits auch die Fragwürdigkeit eines exakten Begriffsmodells für die Erhellung menschlicher Realität sichtbar. So ist es denn ratsam, bei der Lektüre von Pestalozzis Schrifttum und der damit verbundenen Reflexion seiner Theorien sich nicht bloss auf den einen, jeweils konkret gewählten Begriff abzustützen, sondern auch die an andern Orten, aber im selben Zusammenhang verwendeten Begriffe mitzudenken.

Vergleichen wir die Bedeutungsabweichungen der Termini innerhalb der einzelnen Gruppen, stellen wir unschwer fest, dass sie im dritten Bereich, jenem der ‚Hand‘, am grössten sind. Tatsächlich hat sich Pestalozzi auch in seiner Theorie in diesem Bereich am schwersten getan. In seiner ersten grösseren pädagogischen Schrift, dem ‚Stanser Brief‘, liegt das Schwergewicht der theoretischen Reflexion auf dem sittlichen Bereich, wo er zum Schluss kommt, dass bei der Entwicklung der Sittlichkeit die Reihenfolge ‚Erweckung einer sittlichen Gemütsstimmung‘, ’sittliches Tun durch Angewöhnung‘, ‚Reflexion, bewusste sittliche Begriffe‘ als natürliche Gesetzmässigkeit zu gelten habe. In der nächsten, umfangreichen Schrift, die ihn als Pädagogen europaweit berühmt machte, in ‚Wie Gertrud ihre Kinder lehrt‘, entwickelt er primär seine Vorstellungen über die naturgemässe Entfaltung der intellektuellen Kräfte, indem er zeigt, dass das zentrale Anliegen der Geistes­entwicklung darin besteht, den jungen Menschen in einem vierstufigen Gang durch die Bildung deutlicher Begriffe auf der Basis von Anschauung und differenzierter Sprache zum Fällen gereifter Urteile zu befähigen. Zudem vertieft er seinen im ‚Stanser Brief‘ grundgelegten Ansatz der sittlichen Bildung. Was indessen die Bildung des Körpers (der Hand) betrifft, bleiben seine Vorstellungen verhältnismässig vage und noch sehr im Allgemeinen. Erst in der 1807 erschienenen Schrift ‚Über Körperbildung als Einleitung auf den Versuch einer Elementargymnastik, in einer Reihenfolge körperlicher Übungen‘ kommt er ausführlicher auf diesen Bereich zu sprechen. Im Zentrum seiner Erwägungen steht einerseits die Forderung, dass physische Bildung allgemein sein muss und jede spezielle Bildung zu irgend einer physischen Kunst oder Tätigkeit der allgemeinen Körperbildung unterzuordnen ist, und andererseits das grundlegende Postulat, dass die physische Bildung in Harmonie stehen muss mit der sittlichen und der geistigen.

In grosser Ausführlichkeit abgehandelt wird die ‚physische Elementarbildung‘ dann in der grossen ‚Lenzburger Rede‘[18]. Dabei muss man allerdings bedenken, dass ein Grossteil dieser Schrift von Pestalozzis Mitarbeiter Johannes Niederer stammt, weshalb es wenig geraten scheint, sich allzu sehr auf diese Schrift abzustützen, wenn man Pestalozzis Vorstellungen von dem ergründen will, was er unter ‚Kunst‘, ‚Kunstkraft‘ und ‚Kunstbildung‘ versteht. Da greift man besser zu späteren Schriften wie etwa zur ‚Unschuld‘[19], insbesondere aber zum ‚Schwanengesang‘ (W 28/53 – 286).

Hier wird zuerst einmal die Weite dessen deutlich, was Pestalozzi mit ‚Kunst‘ meint, nämlich „alle Mittel, die Produkte des menschlichen Geistes äusserlich darzustellen und den Trieben des menschlichen Herzens äusserlich Erfolg und Wirksamkeit zu verschaffen“ sowie „alle Fertigkeiten, deren das häusliche und bürgerliche Leben bedarf“ (W 28/71). Oder noch einfacher (und noch umfassender) ausgedrückt: Der dritte Bereich (‚Kunst‘) meint schlicht und einfach das menschliche Handeln, weshalb Pestalozzi Kopf, Herz und Hand als jene Grundkräfte erklärt, von denen „Denken, Fühlen und Handeln“ ausgehen[20]. Ferner wird sofort klar, dass all diese Mittel und Fertigkeiten, um irgend etwas sichtbar (‚äusserlich‘) schaffen resp. ‚handeln‘ zu können – weshalb und wozu auch immer –, nicht bloss physischer Natur sein können. Daher betont denn Pestalozzi auch, dass die Fundamente der Kunst „innerlich und äusserlich, … geistig und physisch“ (W 28/71) sind. Mit andern Worten: die Entwicklung physischer Kräfte ist wesensmässig bereits im Ansatz mit der Entwicklung der intellektuellen Kräfte verbunden.

 Daraus erklärt sich denn auch die Uneinheitlichkeit der in obiger Tabelle unter ‚Hand/Kunst‘ subsumierten Begriffe. Unter rein logischem Aspekt sind nämlich die drei klassischen Begriffe ‚Herz, Kopf und Hand‘ gar nicht nach dem Muster a + b + c beschreibbar, sondern müssen als a + b + bc verstanden werden. Je nachdem, wie gross der Anteil von b in c ist, resultieren daraus auch andere Künste, angefangen von der Kunst, eine Säge zu führen, bis hin zur Rechenkunst, die eben auch eindeutig verstanden werden kann als eine der „Fertigkeiten, deren das häusliche und bürgerliche Leben bedarf“ und darum – als Fertigkeit – dem dritten Bereich zuzuordnen ist. Allerdings liesse sich einwenden, diese logische Verbindung des dritten Bereichs (als bc) fände ihre Analogie auch bei den andern beiden Grundkräften, insofern nach Pestalozzi bei der Bildung einer der drei Kräfte die andern beiden stets mitbeteiligt sein müssen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Glaube und Liebe (als sittliche Zielsetzungen) und das Bewusstsein von Wahrheit und Recht (als intellektuelle Zielsetzungen) prinzipiell reine Herzens- bzw. Geistesangelegenheit bleiben können und daher die Verbindung mit den andern Grundkäften ein Postulat bleibt, wogegen Arbeit und Kunst (als Zielsetzungen des physischen Bereichs und verstanden als das Beherrschen irgend einer Fertigkeit) nicht bloss eine Angelegenheit physischer Kräfte und Anlagen sein können, sondern prinzipiell an die Entwicklung geistiger Kräfte gebunden sind. Diese wesensmässige Beteiligung intellektueller Kräfte beim Aufbau einer physischen Fertigkeit wird denn auch sichtbar bei deren vierstufigem Entwicklungsgang, der mit der „Aufmerksamkeit auf die Richtigkeit“[21] anhebt, was eben ein intellektueller Vorgang ist.

Betrachten wir nun das Spezifische der Kunstbildung, also das, was Pestalozzi als ‚physisch‘ oder ‚äusserlich‘ bezeichnet: Sie beruht auf dem ‚Kunsttrieb‘, einem „Selbsttrieb, der den Kräften der Sinne, der Sprachorgane und der Glieder zum Grunde liegt.“ Dieser „reizt die Sinne, Organe und Glieder an sich selbst zur Tätigkeit, die sie bildet. Aber die Kunst[22] ist geeignet, die Wirkung dieser Tätigkeit vielseitig zu erleichtern, zu vergeschwindern und zu berichtigen“ (W 28/125). Konkret geht es also primär um Sin­nes­entwicklung und Sinnesschulung, um Spracherwerb hinsichtlich der Sprechfertigkeit sowie um körperliche Gewandtheit und Kraft. Sekundär sind sämtliche weiteren Fertigkeiten wie Schreiben, Lesen, Gesang, Instrumentalspiel, Werken usf. ins Auge gefasst. In jedem Fall ist die ‚Erziehungskunst‘ „nachhelfend“ und darf der „freien Tätigkeit des ungebildeten Kunstsinnes nicht voreilen. Die Kunst muss den Sinn des Kindes nur reizend ansprechen“ (W 28/126). Wir finden hier die beiden völlig unterschiedlichen Begriffe von „Kunst“ eng beisammen: Mit „Kunstsinn“ fasst Pestalozzi die Kräfte der Hand ins Auge, aber gleich im folgenden Satz verwendet er „Kunst“ als Gegensatz zu „Natur“. Pestalozzi macht es dem Leser wahrlich nicht eben leicht. 

‚Kunst‘ als Gefährdung: allerlei Künste, Künstlichkeit und Verkünstelung

Führt man sich das mittels der CD ROM zu gewinnende Verzeichnis der zusammengesetzten Substantive mit dem Grundwort ‚…-kunst‘ oder ‚…künste‘ zu Gemüte – eine Liste mit über 200 Nennungen –, findet man allerdings nicht bloss jene Fertigkeiten, die gemäss Pestalozzis Erziehungsgrundsätzen entwickelt werden sollen, wie etwa ‚Anschauungskunst, Ausmessungskunst, Baukunst, Kochkunst‘ usf., sondern eine erkleckliche Anzahl vom Wortschöpfungen, die Pestalozzis Abneigung gegen jene Fertigkeiten zum Ausdruck bringen, die nicht in seinem Sinne ‚harmonisch‘ im Dienste einer sittlichen Lebensgestaltung ausgebildet wurden und daher irgend eine Form eines Missbrauchs bezeichnen. Fast gilt die Regel: Je ausgefallener und je länger ein Wort, desto negativer der Sachverhalt, den er mit dem betreffenden Ausdruck bezeichnet. Insbesondere ist der weitaus grösste Teil der gut 80 Termini, in denen ‚Kunst‘ als Grundwort im Plural erscheint (‚…-künste‘), negativ gewertet, und es mag insbesondere für Leser, die mit Pestalozzis Sprache bzw. sprachschöpferischer Phantasie noch nicht allzu vertraut sind, reizvoll sein, sich diese Liste zu Gemüte zu führen: ‚Abrichtungs-, Abtreibungs-, Advokaten-, Affen-, After-, Anstreicher-, Aufklärungs-, Barbier-, Bedrückungs-, Behörden-, Beiseitesetzungs-, Beredungs-, Beschwörungs-, Blut-, Brot-, Dienst-, Einseitigkeits-, Einziehungs-, Erniedrigungs-, Erziehungs-, Finanz-, Frevler-, Geheimrats-, Gelenkigkeits-, Gesetzes-, Gewalts-, Gewerbe-, Grimassen-, Grossmutter-, Henkers-, Hexen-, Hof-, Kabinetts-, Kauf -, Kultur-, Maul-, Pfaffen-, Raffinements-, Rechen-, Rede-, Redner-, Regierungs-, Revolutions-, Scharlatanerie-, Schauspiel-, Schein-, Schleier-, Schreiber-, Schul-, Schulmeister-, Spitzhösler-, Staats-, Stadt-, Stiefmütter-, Taschenspieler-, Teufels-, Theater-, Tinten-, Todes-, Treib-, Treibhaus-, Tröler-, Unterstützungs-, Verblendungs-, Verfinsterungs-, Verführungs-, Vergiftungs-, Verkleisterungs-, Verlängerungs-, Verpfuschungs-, Verschönerungs-, Verstandes-, Verstellungs-, Wagen-, Weiber-, Welt-, Wirtshaus-, Wort-, Zauber-, Zeit-, Zivilisationskünste.‘ Ich vermute, Pestalozzi hätte angesichts dieser Liste selber gestaunt und gelächelt.

In dieser Liste trifft man ganz offensichtlich auch auf ‚Künste‘, deren Ausübung einer höchst geringen oder gar keiner physischen Komponente bedarf wie etwa ‚Abrichtungskunst, Advokatenkunst, Erbkunst, Geschwätzkunst‘, was dann doch hinter die generelle Zuweisung der Ausbildung irgend einer Kunst in den dritten Bereich (‚Hand‘) ein kleines Fragezeichen setzt.

Ebenso negativ ist für Pestalozzi auch all das, was er mit den rund 30 zusammengesetzten Substantiven bezeichnet, in denen – hinten oder vorne – ‚Verkünstelung‘ vorkommt. Da geht es dann entweder um Kunstfertigkeiten, die nicht naturgemäss gebildet wurden, oder dann um Zustände, die ihr Dasein irgend einer der erwähnten Künste zu verdanken haben: ‚Verkünstelungsabschwächung, -betrieb­sam­keit, -einfluss, -epochen, -erniedrigung, -formen, -gaukeleien, -leben, -manieren, -mass­regeln, -mittel, -nebel, -raffinement, -resultate, -surrogate, -verderben, -verirrung, -ver­ödung, -verwirrung, -zeitalter, -zustand‘ bzw. ‚Abschwächungs-, Landes-, Mode-, Schwachheits-, Sinnlichkeits-, Volks-, Zeit-, Zivilisationsverkünstelung‘.

Es wäre natürlich reizvoll – aber im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten –, all diesen ‚Künsten‘ und ‚Verkünstelungen‘ im einzelnen nachzugehen, denn man würde damit nicht bloss objektiven Missständen zu Pestalozzis und auch in unserer Zeit begegnen, sondern ebenso jenen Brillen, durch deren Blick viele Teile der Welt für Pestalozzi eine ganz bestimmte, zumeist fragwürdige Bedeutung gewannen.

Fazit

Der Begriff ‚Kunst‘ wie auch seine Zusammensetzungen und Abwandlungen nehmen in Pestalozzis Schrifttum eine tragende Stellung ein. Mit ‚Kunst‘ im modernen Sinne befasst er sich allerdings höchstens am Rande. Sehr oft hingegen verwendet Pestalozzi den Begriff in einem umgangssprachlichen Sinne und meint damit irgendeine besondere Fertigkeit oder Gewandtheit. Dieses Verständnis trifft sich zu einem grossen Teil – allerdings ohne mit ihm deckungsgleich zu sein ­– mit jenem pädagogischen Anliegen, das er mit ‚Entwicklung der physischen, handwerklichen, körperlichen Kräfte‘ und oft zusammenfassend auch als ‚Hand‘ bezeichnet, und zwar insofern, als jede Kunst auf Ausbildung angewiesen ist. Philosophisch strenger fasst er den Begriff ‚Kunst‘, wenn er in anthropologischen Zusammenhängen ‚menschliche Einwirkung‘ als Gegensatz zu ‚Natur‘ meint. Auch diese Verwendung trifft sich mit der pädagogischen Bedeutung, und zwar insofern als ‚Kunst‘ dann für das Insgesamt der auf den Zögling wirkenden Erziehungsmächte steht.

[1] Im Hinblick auf die jeweils genannten Zahlen ist stets zu bedenken, dass einerseits darin auch die Kommentare (textkritischer Apparat, Sachanhang etc.) mit berücksichtigt sind, andererseits aber die seither erschienenen Werk-Bände 17A und 29 sowie der Briefband 14 noch nicht erfasst wurden.

[2] Die Bände der Kritischen Werkausgabe sind mit W, jene der Briefausgabe mit B gekennzeichnet.

[3] Am deutlichsten spricht er dies im 23. Brief der ‚Briefe an Greaves‘ (1818/19) aus, wo er von der Musik als „von einem der wirksamsten Hilfsmittel der sittlichen Erziehung“ spricht und das Bedeutsame an der Musik „in ihrem ausgesprochenen und höchst wohltätigen Einfluss auf die Gefühle“ sieht. „Im richtigen Geiste gepflegt, trifft sie die Wurzeln jedes bösen und engherzigen Empfindens, jeder unedlen, niedrigen Neigung, jeder Regung, die der Menschheit unwürdig ist.“ Zu bemerken ist, dass von diesen Briefen bloss eine englische Übersetzung existiert; zitiert habe ich aus der Rückübersetzung ins Deutsche: Mutter und Kind, von Heidi Lohner/Willy Schohaus, Zürich und Leipzig, s.a., S. 92 f.

[4] Siehe hierzu den Brief Nr. 819 an Lavater, B 4, S. 49 f.

[5] ‚Über die Idee der Elementarbildung‘, W 22/1 bis  324

[6] Niederer, der auch die Nachfolge Pestalozzis anstrebte, verstand sich als Sprachrohr des Yverdoner Instituts und betreute dementsprechend auch die hauseigene Druckerei. In den ersten Jahren der Zusammenarbeit tolerierte Pestalozzi redaktionelle Eingriffe in seine Texte durch Niederer, aber der sehr weitgehende und den Umfang der ‚Lenzburger Rede‘ wohl mehr als verdoppelnde Eingriff in Pestalozzis Manuskript – nota bene ohne dessen Wissen – dürfte das allmähliche Zerwürfnis der beiden nicht unwesentlich begünstigt haben.

[7] Leider ist nur ein Fragment dieses hoch interessanten Dokuments erhalten. Die Eintragungen reichen vom 27. Jan. bis 19. Februar 1774. W 1/115 – 130.

[8] ‚Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts‘, 1797, W 12/1 – 166

[9] Pestalozzi äussert dieses Bekenntnis zum Primat der Natur gegenüber der Kunst im Zusammenhang mit der intellektuellen Bildung des Menschen, deren zentrales Anliegen in der Bildung deutlicher Begriffe auf der Basis der realen Anschauung besteht.

[10] Der Quellentext hat „paar“, einen sinnwidrigen Druckfehler.

[11] Pestalozzi wählt diesen starken Ausdruck in diesem Zusammenhang immer wieder, so etwa in W 6/454 und W 469, W 13/242 und 348, W 16/152, W 20/39, W 21/26, W 28/108.

[12] Er spricht hier von den drei Grundkräften: den intellektuellen, den sittlich-religiösen und den physischen (Kopf, Herz und Hand).

[13] Er meint die sog. ‚Gemeinkraft‘, konkret: die Liebe, durch die die Einheit der drei Grundkräfte zustande kommt.

[14] „Das zu erzielende Resultat der Gemeinbildung unserer Kräfte ist die Menschlichkeit selber, d.i. die Erhebung unserer Natur aus der sinnlichen Selbstsucht unseres tierischen Daseins zu dem Umfang der Segnungen, zu denen die Menschheit sich durch die harmonische Bildung des Herzens, des Geistes und der Kunst zu erheben vermag“ (W 6/470).

[15] Kaum bekannt ist, dass sich diese griffige Formel, genau in dieser Reihenfolge, im gesamten Schrifttum Pestalozzis nur ein einziges Mal findet: In der 3. Fassung der ‚Auseinandersetzung mit Karl Witte‘ 1805 ist zu lesen: „ Und es sollte die Menschen zu weit führen, wenn den Armen im Land auf eine naturgemässe Art geholfen [würde], daß sie mit Kopf, Herz und Hand werden könnten, was alle Menschen im Land mit Kopf, Herz und Hand Gott, sich selber und dem Vaterland sein sollten?“ (W 17A/168). Sinngemäss jedoch findet sich diese Dreiheit Hunderte von Malen in den Schriften Pestalozzis.

[16] Kopf/Geist oder Herz stehen stets an erster oder zweiter, Hand/Kunst folgt stets an dritter Stelle.

[17] Eine analoge Doppelverwendung eines Wortes liegt beim Terminus ‚Geist‘ vor: Pestalozzi versteht darunter in anthropologischen Zusammenhängen den Gegensatz zu ‚Fleisch‘, d.h. die ‚höhere Natur‘ im Gegensatz zur ‚tierischen Natur‘; im Zusammenhang mit der Bildung menschlicher Kräfte und Anlagen jedoch bezeichnet ‚Geist‘ den intellektuellen Bereich und ist identisch mit dem, was andernorts ‚Kopf‘  genannt wird.

[18] ‚Über die Idee der Elementarbildung‘, W 22/1 bis  324

[19] ‚An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes‘, 1815, W 24 A und B

[20]  „Sie sahen, dass in allem, was ihre Kinder vom Morgen bis an den Abend taten, ihr Kopf, ihr Herz und ihre Hand, folglich die drei Grundkräfte, von denen alles Fühlen, Denken und Handeln der Menschen ausgeht, gemeinsam und in Übereinstimmung unter sich selbst angesprochen, belebt, beschäftigt und gestärkt werden“ (W 6/64 f.).

[21]  Die Entwicklung der Kunstkräfte vollzieht sich in einem vierstufigen Gang (kursiv durch AB): „Es (das häusliche Leben) geht in der Bildung des Kindes von der Aufmerksamkeit auf die Richtigkeit jeder Kunstform zur Kraft in der Darstellung derselben, von dieser zum Bestreben, jede in Rücksicht auf Richtigkeit und Kraft wohl eingeübte Form mit Leichtigkeit und Zartheit darzustellen, hinüber, und von der eingeübten Richtigkeit, Kraft und Zartheit derselben schreitet es zur Freiheit und Selbständigkeit in der Darstellung seiner Formen und Fertigkeiten empor. Das ist der Gang, den die Natur in der Ausbildung unseres Geschlechts zur Kunst allgemein geht und allgemein gehen muss“ (W 28/73).

[22] Hier ist mit ‚Kunst‘ der Gegensatz zur ‚Natur‘ gemeint: eben die erzieherische Einflussnahme auf das heranwachsende Individuum.

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