Arthur Brühlmeier

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Rezension von Stadlers Band 1

Johann Heinrich Pestalozzis Leben
unter der Lupe des Historikers

Eine bedeutende Neuerscheinung: Peter Stadler, PESTALOZZI, Geschichtliche Biographie, 1. Teil: Von der alten Ordnung zur Revolution. 511 Seiten. Verlag NZZ 1988

Über Pestalozzi ist schon sehr viel geschrieben worden; der Herausgeber der Gesamtausgabe, Emanual Dejung, führt in seiner Kartei über 13’000 Titel. Ist es also sinnvoll, der grossen Reihe von Pestalozzi-Biographien eine weitere anzufügen? Und ist es im jetzigen Zeitpunkt sinnvoll? Bekanntlich ist die Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Pestalozzis immer noch nicht abgeschlossen. Zwar liegen 29 Werk- und 13 Briefbände vor, aber die auf eine Veröffentlichung wartenden Handschriften und Briefe (davon ein paar Tausend an Pestalozzi gerichtete) dürften noch eine stattliche Anzahl weiterer Bände füllen. Die Verantwortung für den Fortgang der Edition liegt nach wie vor beim hochverdienten, bald neunzigjährigen Emanuel Dejung, der das aufwendige und schwierige Projekt seit über 60 Jahren betreut.

Warum also jetzt? Peter Stadler, der kompetente Zürcher Geschichtsprofessor, geht (und ging wohl auch damals, als er sein Werk in Angriff nahm) davon aus, dass der Abschluss der Gesamtausgabe „nahe bevorsteht“. Er glaubte also damit rechnen zu können, dass die fehlenden Bände noch rechtzeitig für die Arbeit an seinem 2. Teil herauskommen würden. Nun, seit dem Erscheinen des letzten Pestalozzi-Bandes sind mittlerweile 13 Jahre ins Land gegangen, und der Kenner der Szene weiss: Es besteht wenig Hoffnung, dass in absehbarer Zeit weitere Bände folgen werden. So ist es denn zwar bedauerlich, dass ein hochkarätiger Biograph nicht mit dem vollständigen Material arbeiten kann, aber realistischerweise muss man annehmen, dass sich die Quellenlage nicht so bald zum Besseren wenden wird.

Trotzdem: Mit der Arbeitsgrundlage der 42 abgeschlossenen Bände der Gesamtausgabe verfügt Stadler über eine grosse Fülle bisher kaum berücksichtigten Materials. Dies verschafft ihm einen klaren Vorteil gegenüber den meisten klassischen Biographen wie etwa Hans Ganz, Walter Guyer, Adolf Haller, Alfred Heubaum, Otto Hunziker, Mary Lavater-Sloman, Fritz Medicus, Heinrich Morf, Wilhelm Schäfer, Herbert Schönebaum, Käte Silber, u.a. (einzig Max Liedtkes ro-ro-ro-Taschenbuch basiert auf dem heutigen Stand der Forschung; Michel Soetard überzeugt vor allem durch den prächtigen Bildteil). Stadler hat das Material auf kompetente, eigenständige und kluge Art genutzt, weshalb man das Erscheinen des 1. Bandes seiner Pestalozzi-Biographie wohl ohne Übertreibung als ein Ereignis bezeichnen darf, das die PestalozziForschung wesentlich bereichern und beleben wird.

Versuch einer Charakterisierung

1. Zuerst zum Äusseren: In einem leserfreundlichen Inhaltsverzeichnis finden sich zu Beginn nicht nur die Übersicht über die 18 Haupt- und 63 Unterkapitel, sondern auch knappe Stichworte zu den Inhalten auf den einzelnen Seiten. Sodann macht Stadler den Leser auf rund 450 Seiten vertraut mit der Herkunft und der Kindheit Pestalozzis, mit den Zuständen im damaligen Zürich, mit Pestalozzis politischen Umtrieben in seiner Studentenzeit, mit der Berufsentscheidung und der Verehelichung mit Anna Schulthess, mit dem Experiment auf dem Neuhof, mit seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit, mit seinen Versuchen, am Wiener Hof wirken zu können, mit politischen Vermittlungsbemühungen im Veltlin und im Zürichbiet und mit seinem Stellungsbezug zur Französischen Revolution. Stadler schreibt eine flüssige, informative Sprache, zumeist unter Verzicht unnötiger Fremdwörter. Die Pestalozzi-Zitate übernimmt er aus der Kritischen Ausgabe in der originalen, d.h. häufig sehr fehlerhaften Schreibweise Pestalozzis, was dem uneingeweihten Leser gelegentlich viel Fantasie abverlangt (Pestalozzi scheint Legastheniker gewesen zu sein). Gut 50 Seiten Anmerkungen geben vorwiegend über die Quellen, aber auch auf weitere interessante Zusammenhänge Aufschluss; das (jedenfalls notwendige) Register ist für den Schluss des 2. Bandes geplant.

Der Schnitt zwischen dem vorliegenden ersten und dem in Aussicht gestellten zweiten Band überzeugt, ja drängt sich von Pestalozzis Lebenslauf her auf: Er hat sich als bedeutender Denker und Schriftsteller einen Namen gemacht, er hat in seinen ,Nachforschungen’ (1797) philosophischen Stand gefunden, der Einmarsch der Franzosen steht vor der Tür, und dies wird ihm nun – nach einem kleinen Zwischenspiel als Redaktor – einen neuen Wirkungsbereich als Erzieher in Stans, Burgdorf, Münchenbuchsee und Yverdon eröffnen. Lag der Schwerpunkt des 1. Bandes auf Pestalozzis ökonomischem, politischem und schriftstellerischem Wirken, so wird im 2. Band der Erzieher Pestalozzi im Zentrum stehen.

2. Stadler bezeichnet seine Arbeit als „Geschichtliche Biographie“. Dass hier ein mit allen Details der Zeitgeschichte vertrauter Kenner der historischen Szene, in der Pestalozzi allmählich seine Rolle zu spielen begann, am Werk ist, leuchtet aus jeder Zeile heraus und macht das Lesen zum Genuss. Stadler spricht gewissermassen den historischen Dialekt jener Zeit. Er kennt jede Ecke von Pestalozzis Heimatstadt Zürich aus eigener Anschauung und ist mit deren Bewohnern in der Pestalozzi-Zeit derart vertraut, als hätte er mit jedem persönlich zu Mittag gespeist. Insofern ist Stadlers Buch mehr als eine Biographie, es ist zugleich ein Zeitbild, das im Leser eine hochinteressante geschichtliche Epoche zum Leben erweckt: die Zeit des aufgeklärten Absolutismus, der gnädigen Herren in den eidgenössischen Orten, der aufkommenden Baumwollindustrie, der öffentlichen und geheimen Gesellschaften (Stadler macht auch keinen Bogen um Pestalozzis Mitgliedschaft bei den Illuminaten) sowie der französischen und helvetischen Revolution.

Durch das geschichtliche Grundanliegen konzentriert sich Stadler bei der Auswahl und Interpretation des Materials naturgemäss vorwiegend auf all das, was Pestalozzi in einen Zusammenhang mit seiner Zeit und der Nachwelt stellt. Nicht, dass er deswegen die Privatsphäre völlig vernachlässigte, aber sie tritt – soweit sie überhaupt quellenmässig erfassbar ist – gegenüber der öffentlichen Bedeutung Pestalozzis stärker in den Hintergrund. So vernimmt man wenig – wohl zu wenig – von der Ehe mit Anna Schulthess und vom Leben seiner Gattin ganz allgemein, wobei hier die Quellenlage zugestandenermassen recht prekär ist. Unerwähnt bleibt auch Lisabeth Näf aus Kappel, die legendäre Magd auf dem Neuhof, die nach Max Liedtke immerhin „1780 durch ihre Energie Pestalozzis Neuhof rettete“ – keine Kleinigkeit, wenn es zutreffen sollte – und die auch nach der Konvention der Pestalozzi-Forschung das Urbild abgab für die leuchtende Mutter-Gestalt in Pestalozzis Hauptwerk, dem vierbändigen Roman ,Lienhard und Gertrud’. Nun, das kann im 2. Band nachgeholt werden, denn so bald sollte die treue Lisabeth Pestalozzi ja nicht verlassen.

Die grundsätzlich historische Sicht führt auch dazu, dass einige Aspekte von Pestalozzis Persönlichkeit der Tendenz nach (denn Stadler spricht sie durchaus auch an) eher zu kurz kommen. Das betrifft vorerst einmal Pestalozzis stürmisches Gefühlsleben, über das wir durch viele autobiographische Notizen unterrichtet sind; (überhaupt fällt auf, dass Stadler den autobiographischen Bemerkungen Pestalozzis eher mit Vorsicht begegnet und nur mit Zurückhaltung auf sie zurückgreift). Stadlers Scheu, sich allzusehr mit Pestalozzis Gefühlsleben zu befassen oder sich gar in dieses hineinziehen zu lassen, führt dann auch dazu, dass die subjektiven – vorwiegend sozialen – Motive von Pestalozzis Handeln und Wirken oft zu wenig deutlich werden. Zu kurz kommt insbesondere das tragende Motiv, das man gelegentlich als das einzige wirklich Bedeutende in Pestalozzis Existenz sehen wollte, nämlich seine elementare, leidenschaftliche Liebe, die ihn zu den unfasslichsten Entscheiden mitreissen konnte, die ihn von Kind an mit Naturgewalt packte und durchglühte und ihn bis zum letzten Lebensaugenblick immer wieder von innen her wandelte – dies bei aller Widersprüchlichkeit seiner Person, bei aller Berechnung, bei allem Zynismus, den auch Stadler anspricht, bei allem Selbstmitleid und bei aller Eitelkeit, die man nur mit sehr gutem Willen übersehen kann.

Das religiöse Element, dem bei Pestalozzi eine zentrale Bedeutung zukommt, wird von Stadler richtigerweise immer wieder zur Sprache gebracht. Und doch: Wer sich nicht zusätzlich in diese Thematik vertiefen will – etwa bei Hoffmann oder Delekat (lieber nicht bei Würzburger, dessen Vereinnahmung Pestalozzis für die Dialektische Theologie Emil Brunnerscher Prägung im „Angefochtenen“ als Missgriff zu werten ist) –, spürt wohl noch zu wenig von Pestalozzis Ringen mit Gott und seiner eigenwilligen, in mancher Hinsicht zukunftsträchtigen Christlichkeit. Ab 1800 ist bei Pestalozzi ein merklicher Wandel im religiösen Empfinden festzustellen, weshalb im 2. Band ausreichend Gelegenheit geboten ist, die Thematik erneut aufzugreifen.

Die erwähnten Vorbehalte sollen indessen den Wert von Stadlers Buch nicht schmälern, denn es geht ja in erster Linie darum, das zu würdigen, was er vorlegt (und dies ist in jedem Fall bedeutend), und nicht das, was eher in den Hintergrund tritt. Von seinem historischen Ansatz her ist seine Gewichtung legitim, sie dürfte indessen ein Grund sein, weshalb mit seinem Werk nicht einfach die Pestalozzi-Biographie in einem abschliessenden Sinne geschrieben ist. Er selbst räumt durchaus ein, Pestalozzi sei „eine so reiche und widersprüchliche Erscheinung, dass verschiedene Zugänge offen, abweichende Interpretationen stets möglich und vertretbar“ seien (S. 449). So ist es durchaus denkbar, dass andere Autoren Pestalozzi wiederum stärker von seinem engen Erlebniskreis und seiner Selbstidentifikation her sichtbar zu machen versuchen.

3. Trotz der insgesamt guten Quellenlage und seinen immensen Geschichtskenntnissen, widersteht Stadler glücklicherweise der Versuchung, nach Vollständigkeit zu streben, somit jedes Detail zusammenzuraffen und als nur gerade dem Spezialisten bekömmliches Hors d’oevre aufzutischen. Er weiss vielmehr klug auszuwählen und – trotz liebevoller Pflege des Details – auch in grossen Strichen zu malen. Er schreibt nicht nur für den Fachmann, sondern auch für den interessierten Laien oder für jene, die Fachmann werden möchten.

Der Entschluss zur Beschränkung führt dann gelegentlich auch dazu, dass der Kenner vergeblich auf den einen oder andern Aufschluss wartet. Wenn z.B. Sturmius Fischer vor rund zwei Jahren in einem in Radio DRS gesendeten Hörspiel den Unsinn kolportierte, Pestalozzi hätte gegen seinen 7jährigen Sohn prozessiert, so würde man gerne Genaueres erfahren über die rechtliche Auseinandersetzung Pestalozzis mit seinem Schwager Jacques Schuthess, den Fischer mit dem armen Jacqueli verwechselt hat. Stadler geht zwar immer wieder auf die schwierigen Verhältnisse Pestalozzis mit der Familie seiner Frau ein, doch verwöhnt er sonst den Leser mit so vielen historisch interessanten Belegen und klugen Überlegungen, dass eben der Appetit auf solche pikanten Details wächst. Auch wüsste man gerne noch Genaueres über Pestalozzis Prozesse gegen seine Nachbarn um Weid- und Wegrechte, die Sturmius Fischer in seinem Hörspiel so breit auswalzt.

4. Ein weiteres Merkmal: Stadler geht seinen eigenen Weg, vollkommen unbeirrt durch die Rituale und Konventionen der zuruckliegenden Pestalozzi-Forschung. Das mag den einen oder andern entsetzen, wird gewiss auch Anlass zu Polemiken abgeben, auch wenn Stadler selbst erklärtermassen polemischen Auseinandersetzungen, da sie ihm „wenig fruchtbar“ erscheinen, aus dem Wege geht. Es ist gerade dieser unabhängige Standpunkt, der die Lektüre dieses gewichtigen Buches auch für den Kenner spannend und lohnend macht. So macht sich Stadler beispielsweise frei von allem Anekdotischen, das Pestalozzis Person in ganz besonderer Weise umrankt. Sein Buch markiert damit so ziemlich die Gegenposition zu Adolf Hallers 125 Seiten umfassenden „Sammlung der Anekdoten, in denen“ – gemäss Umschlagtext – „Pestalozzis Gestalt unvergleichlich lebendig sichtbar wird“ (Basel, 1946). Wenn etwa ein Reithart zu erzählen weiss, Pestalozzi hätte sich im Bankkasten einer Dorfschenke versteckt gehalten, um die Bauerngespräche zu belauschen, hätte dann aber, da sich ein vierschrötiger Dorfmagnat daraufgesetzt habe und der Deckel vollends zugeklappt sei, mit Händen und Füssen gegen das Innere des Deckels klopfen müssen, um nicht zu ersticken – so stellt dies für den Historiker Stadler weder eine ernstzunehmende Quelle noch eine erhebliche Episode dar. Und ebenso verfährt er mit den übrigen Hunderten von Anekdoten: Er ignoriert sie allesamt. Dadurch verliert Pestalozzis Gestalt wesentlich das Skurrile, Bemitleidenswürdige, Kindlich-Kindische, Ungeschickte, ja tolpatschig Unbeholfene, das ihr – zur Recht oder zu Unrecht – in der Überlieferung anhaftet. Und gerade dies ermöglicht es denn Stadler auch, diesem vom Sockel der Extravaganz heruntergeholten Pestalozzi allerlei kritische Fragen zu stellen, ohne dauernd Rücksicht zu nehmen auf Eigenheiten, die man sonst niemandem verzeihen würde, aber Pestalozzi bloss darum hingehen lassen muss, weil er eben Pestalozzi ist.

Nicht dass Stadler vor Pestalozzi keinen Respekt hätte; den erweist er ihm schon durch die Gründlichkeit seiner Arbeit, aber man spürt: Das heilige Zittern, das viele ergreift (ich will mich selbst nicht ganz ausschliessen), wenn sie ein Portrait oder eine Zeile von Pestalozzi in Händen halten, befällt ihn nicht. Das führt dann dazu, dass er Pestalozzi einiges nicht abnimmt, was man ihm zumeist nachzusehen gewohnt war. Ein Beispiel: Wenn Pestalozzi auf dem Neuhof zuerst als Landwirt und später als Armenerzieher scheiterte, so lässt Stadler dafür nicht bloss die bekannten (und kaum zu widerlegenden) Gründe gelten: dass der eigene Knecht Pestalozzi beim Geldherrn in Misskredit brachte und dieser prompt sein Kapital aufkündigte; dass er in die Fänge des korrupten Gütermaklers Heinrich Märki geriet und darum finanziell blutete; dass ihn Hagelschlag und Missernten heimsuchten; dass ihn in den ersten Jahren die verwöhnte Zürcher Verwandtschaft mit ihren aufwendigen Besuchen beinahe an den Bettelstab brachten; dass später die Spinner- und Weber-Kinder nicht jene Produkte-Qualität schafften, die den Ansprüchen der Käuferschaft entsprach; dass ihm die Kinder, kaum hatte er sie aufgepäppelt und spinnen oder weben gelehrt, wieder entliefen; dass die versprochene öffentliche Unterstützung in jenen Hungerjahren nur zähflüssig hereintröpfelte; und dass schliesslich sein eigener Bruder Baptist den Erlös von 20 Jucharten Land unterschlug und sich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staube machte. Stadler macht für Pestalozzis Scheitern auch ganz anderes verantwortlich: die viel zu kurze landwirtschaftliche Lehre beim Musterbauern Tschiffeli in Kirchberg; Pestalozzis Hang, den kompetenten Unternehmer zu spielen, zu renommieren, sich finanziell stets zu übernehmen und mit der grossen Kelle anzurichten; seine Unfähigkeit, sich von andern raten und belehren zu lassen, gepaart mit seiner grossen Fähigkeit, sich wortreich zu rechtfertigen.

Stadlers Buch besticht gewiss durch wissenschaftlich saubere Argumentation. Aber gerade seine Sicht des Neuhof-Unternehmens zeigt, dass er – wie jeder andere Forscher – eben auch urteilt und interpretiert. Er kümmert sich auch hier nicht um die Konvention. So weicht denn auch das Bild, das er vom Neuhof malt, vom überkommenen ziemlich ab: Vom „Retter der Armen auf Neuhof“, wie wir in Augustin Kellers Denkmalspruch lesen, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Denn im Vordergrund steht nach Stadler weniger das soziale Engagement Pestalozzis als vielmehr die Sorge um sein eigenes Überleben. Der Übergang von der landwirtschaftlichen Unternehmung zur „Armenanstalt“ ist fliessend, und der Stein des Anstosses zur Aufnahme von Kindern in den eigenen Betrieb waren ökonomische und nicht soziale Überlegungen; diese gesellten sich erst im Nachhinein zu den ersten. So erscheint denn diese erste pädagogische Unternehmung Pestalozzis gewissermassen als Nebenprodukt seines Betriebs, in dem er – durchaus im Zuge der Zeit – Landwirtschaft und Baumwollindustrie miteinander verband. Mag sich die Lebensrealität auf dem Neuhof irgendwo ansiedeln lassen zwischen „ökonomischer Ausbeutung der Kinder“ und „sittlicher Erziehung verwahrloster Bettelkinder“: Stadler jedenfalls bewegt sich mit seiner Sicht- und Darstellungsweise näher am erstgenannten Pol. In diese Sichtweise wollen dann Pestalozzis Worte der Entrüstung über die Ausbeutung der Kinder im zweiten Tscharner-Brief doch nicht so recht passen: „Nein, der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloss um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt. Nein! Nein! dafür ist er nicht da! Missbrauch der Menschheit, wie empört sich mein Herz!“ Stadler, dem Pestalozzis Gefühlsüberschwang immer ein wenig unheimlich und verdächtig ist, zitiert Pestalozzis Entrüstung mit der einleitenden Bemerkung: „Ja, er steigert sich ins Pathetische.“

An diesem Punkt müsste wohl die weitere Auseinandersetzung mit Stadler ansetzen: Inwiefern sind die in Pestalozzis gesamtem Schrifttum so zahlreichen Ausdrücke der Liebe, des Mitgefühls und Engagements für die Elenden, Bedrückten und Armen sowie die zahllosen verbalen Zeugnisse hoher Ethik allenfalls Pathos oder nachgereichte Selbstrechtfertigung, und inwiefern sind es Selbstzeugnisse, die zum Nennwert zu nehmen sind und von der Grösse eines Mannes zeugen, der uns Nachfahren in seinem Handeln und Wirken in seine bewegte Zeit hinein als eine Gestalt mit Ecken, Kanten und Widersprüchen erscheint.

5. Pestalozzi wirkte wesentlich – auch wenn es ihm wenig behagte – mit der Feder. Dies zwingt jeden Biographen grundsätzlich, sich auch mit seinem Schrifttum zu befassen. Stadlers Stärke liegt darin, jede einzelne Schrift sauber in ihren biographischen und geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Notwendigerweise befasst er sich auch mit den Inhalten: Er referiert sie und drückt sich auch nicht um eine Interpretation herum. Dabei tritt er bei den oft interpretierten Schriften – „Abendstunde eines Einsiedlers“, „Lienhard und Gertrud“, „Gesetzgebung und Kindermord“, „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ – stärker zurück und konzentriert sich mehr auf Schriften, die sonst eher vernachlässigt werden (etwa: „Von der Freiheit meiner Vaterstadt“) oder – auch das gibt es – in der Kritischen Ausgabe unberücksichtigt blieben. Diese Entscheidung ist zu respektieren, denn hielte er sich nicht daran, wüchse sein Werk wohl auf den doppelten Umfang. Konsequenterweise muss man dann auch akzeptieren, dass jede Interpretation Stückwerk bleibt. Dies hat grosse Vorteile: Stadler erledigt damit Pestalozzis Schriften nicht, sondern macht neugierig, regt zum eigenen Lesen und eigenen vertieften Forschen an.

Abschliessend meine ich: Stadlers Buch ist derart reich und bietet eine solche Fülle von wertvollen Informationen und klugen Kombinationen, dass er grundsätzlich nicht damit rechnen darf, nirgends auf Widerspruch zu stossen und von niemandem Wasser in seinen Wein geleert zu bekommen. Eine Rezension ist freilich nicht der Ort, um kontroverse Details auszubreiten. Sein Buch belegt einmal mehr: Die Wahrheit ist nicht dingfest zu machen. Wir können uns ihr bloss annähern in einem immerwährenden Prozess. Dass dieser Prozess belebt und befruchtet wird – dazu hat Stadler einen gültigen, wertvollen Beitrag geleistet, der Dank und vorbehaltlose Anerkennung verdient. Bei allem, was man im Detail wider ihn vortragen möchte: Sein Buch ist ein Markstein in der Pestalozziforschung, und man darf sich auf den zweiten Band freuen.

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