Rezension von Stadlers Band 2
STADLER, Peter (1993): PESTALOZZI – Geschichtliche Biographie Band 2
Von der Umwälzung zur Restauration. – Zürich: Neue Zürcher Zeitung. 680 S., Fr. 65.-
Das Studium von Stadlers Buch ist ein aufwendiges Unternehmen. Hatte er sich im ersten Band (‘Von der alten Ordnung zur Revolution’, 1988) noch mit 510 Seiten begnügt, so hat man nunmehr 680 Seiten zu bewältigen, um seine Darlegungen der Jahre zwischen 1798 und 1827 (‘Von der Umwälzung zur Restauration’) zu rezipieren. Die Themenfülle ist dementsprechend reich. Hier das Allerwesentlichste:
Eingangs ist zu erfahren, wie Pestalozzi beim Zusammenbruch der alten Ordnung einerseits die Chance zu politischer und sozialer Erneuerung sieht und diese zu begünstigen trachtet, andererseits alles daran setzt, um ein Blutvergiessen zu vermeiden, und so natürlich prompt zwischen die Fronten gerät. Dann ist die Rede von Pestalozzis Kampf gegen den Zehnten, seinem eigentlichen politischen Lieblingsthema in jenen Jahren, aber auch von der relativen Wirkungslosigkeit seines Engagements. Sodann begegnet man Pestalozzi als Redaktor des ‘Helvetischen Volksblattes’ und damit als dem von Minister Stapfer begünstigten Propagandisten der Helvetik, einer Aufgabe, die der Autor von ‘Lienhard und Gertrud’ weder mit besonderem Geschick noch mit Erfolg bewältigte.
Dann folgt ‘Stans’, Pestalozzis berühmtes Wirken im Waisenhaus, „gleichsam ein Prestigeprojekt helvetischer Wiedergutmachungspolitik“ (S. 76). In Pestalozzis Biographie bedeutet der rund fünf Monate dauernde Aufenthalt die Wende: den Beginn der pädagogischen Ära, denn in Stans hat er jene pädagogischen Ideen erprobt, die in ihm in den ersten Lebensjahrzehnten heranreiften, und dann deren innere Wahrheit bestätigt gefunden. Davon kündigt sein berühmter Stanserbrief, der allerdings erst 1807 in der ‘Wochenschrift für Menschenbildung’ veröffentlicht wurde. Stadler, als historischer Biograph, zaubert in seiner bekannt gekonnten, flüssigen und gut lesbaren Sprache das ganze Szenarium vor das innere Auge des Lesers: wie es zur Eröffnung, aber auch zur doch recht frühen Schliessung dieser Anstalt kam. Dabei verschweigt er auch die etwas zwielichtige Rolle Heinrich Zschokkes nicht, welcher der Anstalt das Lebenslicht ausblies.
Des weitern führt Stadler den Leser nach Burgdorf, zeigt ihm Pestalozzi als Günstling der Helvetik, macht ihn allmählich mit seinen legendären Mitarbeitern vertraut und lässt ihn Anteil nehmen an der schnell wachsenden Berühmtheit des Pädagogen. Nach einer Darstellung von Pestalozzis nicht eben erfolgreicher Mitwirkung in der Consulta, die Napoleon im Winter 1802/03 nach Paris zwecks Erarbeitung einer neuen Verfassung beordert hat, wendet sich der Biograph Pestalozzis Vertreibung aus Burgdorf zu (bedingt durch die neue politische Ordnung, die Mediation) und schildert die kurze Zwischenstation in Münchenbuchsee und das damit verbundene Zerwürfnis Pestalozzis mit dem Hofwiler Gutsherrn und konkurrierenden Pädagogen Philipp Emanuel von Fellenberg. Im Gegensatz zu andern Biographen, die Weiss und Schwarz eindeutig auf Pestalozzi und Fellenberg verteilen (wohl nicht ganz ohne Beeinflussung durch Jeremias Gotthelf), zeichnet Stadler im allgemeinen ein positives Bild des Berner Patriziers.
Und dann schildert Stadler über rund 300 Seiten den Aufbau, das Blühen und den Niedergang des Instituts in Yverdon sowie das meiste von dem, was sonst noch in diese 20 Jahre dauernde Spätzeit fällt, so etwa die prestigeträchtigen Begegnungen Pestalozzis mit dem russischen Zaren und dem Preussenkönig Friedrich Wilhelm III., insbesondere aber die für ihn so wichtige Edition seiner gesammelten Werke bei Cotta in Stuttgart und die damit zusammenhängende Errichtung einer Armenanstalt in Clindy. Gespannt ist man natürlich auf Stadlers Darstellung des Lehrerstreits mit ihren Exponenten Joseph Schmid und Johannes Niederer. Da stellt man vorerst fest, dass dieses traurige Geschehen bei ihm nicht jenen breiten Raum einnimmt, der ihm sonst zuerkannt wird. Stadler erreicht dies u. a. damit, dass er die ganze Thematik der finanziellen Foderungen und Gegenforderungen zwischen Pestalozzi bzw. Joseph Schmid auf der einen und Johannes Niederer bzw. seiner Frau Rosette geb. Kasthofer auf der andern Seite kurz abfertigt. Und wie steht es mit Stadlers Parteinahme? Zwar beansprucht er für sich Neutralität, was ihn allerdings nicht hindert, zwar nicht eindeutig für Niederer, aber doch recht klar gegen Schmid Stellung zu beziehen. Jedenfalls teilt er Niederers These (die damals natürlich auch von vielen andern vertreten wurde), Pestalozzi sei im Alter in völlige Abhängigkeit seines Intimus Joseph Schmid geraten, eine Abhängigkeit, aus der er sich nach der Verehelichung seines Stammhalters und Enkels Gottlieb mit Schmids Schwester Katharina nicht mehr zu lösen vermochte. Damit setzt Stadler gegenüber der bekannten Schmid-Freundlichkeit und Niederer-Feindlichkeit Emanuel Dejungs und verschiedener anderer Pestalozzi-Forscher einen klaren Kontrapunkt.
Stadler wendet sich dann den drei letzten grossen Schriften Pestalozzis zu: ‘Langenthaler Rede’, ‘Meine Lebensschicksale’ und ‘Pestalozzis Schwanengesang’, erläutert deren Entstehung und bettet sie wiederum ein in den biographischen und historischen Kontext. Dass er sich über Pestalozzis Dummheit ereifert, den peinlichen Lehrerstreit in den ‘Lebensschicksalen’ auszubreiten und dabei in einem Rundumschlag sein Lebenswerk (und damit natürlich auch die Leistungen seiner Mitarbeiter) zu verurteilen, ist verständlich. Pestalozzis Leben hat denn auch tragisch geendet: Er musste und wollte – notabene ohne den Beistand Schmids, der damals in Paris weilte – als letzte Lebenstat einen bösen Angriff seiner Gegner abwehren, die sich hinter dem 23-jährigen Junglehrer Eduard Biber versteckten, und ist darob zerbrochen. Stadler legt vor, was man über diese letzte Zeit weiss, und lässt den Leser stillen Abschied von Pestalozzi nehmen.
Die Fülle an Material, die Stadler für sein Werk beigezogen und darin einbezogen hat, ist äusserst beeindruckend. Dies war bereits im ersten Band der Fall, wo er insbesondere – und geradezu virtuos – aus seiner profunden Kenntnis der Zürcher Geschichte schöpfen konnte. Diesem zweiten Band ist darüber hinaus noch der Umstand zugute gekommen, dass Stadlers wissenschaftlicher Forschung der Fundus Dejung zugänglich wurde. Am 22. Januar 1990 ist nämlich der langjährige Bearbeiter und Redaktor der wissenschaftlichen Ausgabe von Pestalozzis Werken, Dr. phil, Dr. h. c. Emanuel Dejung, hochbetagt gestorben. Dank der Bereitschaft seiner Erben und den Bemühungen des Pestalozzianums Zürich und der Zürcher Behörden konnte das Pestalozzianum Dejungs Pestalozzi-Nachlass übernehmen, u. a. weitgediehene Vorarbeiten für eine ganze Reihe weiterer Bände der Kritischen Ausgabe von Schriften und Briefen Pestalozzis sowie von Briefen an Pestalozzi. Ohne diese Quellen wäre es kaum möglich gewesen, Pestalozzis Leben teilweise bis in feinste Verästelungen hinaus nachzuzeichnen. Stadler ist sich der Gefahr bewusst, dass da ein Leser leicht die Übersicht verlieren könnte, und kommt ihm daher entgegen: Ein leserfreundliches Inhaltsverzeichnis von 7 Seiten bietet eine stichwortartige Auflistung der abgehandelten Themen, und das beide Bände umfassende Personenregister mit über 850 Namen verweist auf die Seitenzahlen, in denen sie erwähnt werden. Dies lässt wohl erahnen, mit welcher Hingabe sich der Autor dem informativen Detail widmet.
Damit ist bereits das wesentlichste Charakteristikum von Stadlers Pestalozzi-Biographie angesprochen: Obwohl sie – wie schon in der Rezension des ersten Bandes vermerkt – allem Anekdotischen aus dem Wege geht (und zwar auch dort, wo eindeutige Belege vorliegen), führt sie den Leser nahe, sehr nahe heran, so dass man gelegentlich das Gefühl bekommt, mit Pestalozzi auf Du und Du zu sein. Man fühlt sich ihm verbunden, man begleitet ihn auf Schritt und Tritt, nimmt Anteil an seinen Beziehungen, an seinen Gedanken, Hoffnungen und Sorgen. Dabei hat Stadler nicht die geringste Scheu vor dem Mythos Pestalozzi, sondern löst durch seine Annäherung das Denkmalhafte allmählich auf, um einem lebendigen Wesen aus Fleisch und Blut Platz zu machen. Gelegentlich wendet er sich explizit gegen ‘die Pestalozzi-Verehrer’ und stellt damit klar, dass er sich nicht zu ihnen rechnet. Nach der Lektüre seines Werks kommt man allerdings gar nicht mehr auf diese Vermutung, denn Stadler deckt Pestalozzis unkonventionellen Umgang mit seinen Alltagssorgen und seine Schwächen schonungslos auf: „Der grosse Mann“ ist unbeholfen, unberechenbar, unzuverlässig, eitel; er neigt chronisch zu Selbstmitleid, nimmt im Versagen scheinbar alle Schuld auf sich, um sich dann doch wieder meisterhaft selbst zu rechtfertigen und jede berechtigte Kritik in den Wind zu schlagen; seine Widersprüchlichkeit reicht von unentschuldbarer Naivität bis zur Schlitzohrigkeit, von Unterwürfigkeit bis zur Angeberei. Stadler belegt dies nicht bloss mit schriftlichen Äusserungen, die uns der „Vielschreiber“ Pestalozzi hinterlassen hat und auch mit vielen Äusserungen seiner Mitwelt – die eben deshalb recht zahlreich sind, weil Pestalozzi wirklich sehr berühmt war (Stadler stellt ihn in dieser Hinsicht noch über Goethe; S. 465) -, sondern er kommentiert, beurteilt und kritisiert selbst frisch von der Leber weg. Das hält natürlich den Leser bei der Stange, denn dieser leitet daraus zunehmend das Recht ab, seine eigenen Urteile zu fällen und damit mit Stadler in einen unsichtbaren Diskurs einzutreten. So erhebt sich denn immer wieder die Frage – und Stadler spricht sie auch mehrmals selber aus – was denn an diesem Manne Besonderes war, das ihn so berühmt machte. Stadler versucht, dies sei gerechterweise betont, auch dies immer wieder klar zu machen: Pestalozzi war eben halt doch ein Genie, er konnte beleben, echt begeistern, ja verzaubern, sah vieles – insbesondere im Bereiche der durch die Industrialisierung entstandenen und entstehenden Probleme – klarer als andere, und hat durch seine Ausstrahlung und sein beharrliches Verfolgen seiner ‘Endzwecke’ unmittelbar und mittelbar auf Menschen und in seine und eine künftige Zeit hinein gewirkt.
Nun werden gewiss nicht alle Kenner der Materie Stadlers Sichtweise teilen wollen, denn die vorliegende anschauliche Darstellung des Menschlich-Allzumenschlichen verdeckt doch der Tendenz nach eher die wahre Grösse Pestalozzis. Dieses – kaum wünschbare – Resultat liegt wohl teilweise bereits im Stadler’schen Ansatz begründet: Er besteht nämlich darauf, eine historische Biographie zu schreiben, und dispensiert sich immer wieder – implizit und explizit – von der Aufgabe, den philosophischen, pädagogischen oder gar theologischen Gehalt von Pestalozzis Schrifttum kompetent zu analysieren und zu würdigen. Einzig Pestalozzis soziale, politische, ökonomische und historische Gedankengänge erfahren in Stadlers Werk eine ihnen angemessene Würdigung. Was indessen in Stadlers Biographie wirklich im Zentrum steht, sind Pestalozzis konkrete Verstrickungen in gesellschaftliche Situationen. Nun mag zwar die spezifische (und das heisst bei Pestalozzi durchaus auch: teilweise neurotische) Art des Umgangs mit gesellschaftlichen Verstrickungen von grosser Vielfalt und Farbigkeit sein (Stadlers Werk spricht da Bände) – aber das, was in die Nachwelt hineinwirkt und die Genialität eines Menschen konstituiert, ist doch wesentlich das Geistige, und das ist bei Pestalozzi zuerst einmal die letztlich alles Krankhafte immer wieder transzendierende Liebe, es ist seine Tiefsicht in das Wesen des Menschseins, es ist der Reichtum und die innere Stimmigkeit seiner pädagogischen und übrigen Ideen, und es ist schliesslich auch seine ganz persönliche Art der Gotteserfahrung. Eine Biographie, die lediglich historisch sein will, folglich vor allem die historische Bedingtheit einer menschlichen Existenz aufzeigt, aber das in gewissem Sinne ‘überzeitliche’, die Alltagsnorm übersteigende Geistige zurückstellt oder zur Darstellung an andere delegiert, wird deshalb nicht in der Lage sein, einer Persönlichkeit in der vollen Breite und Tiefe gerecht zu werden.
Um konkreter zu werden: Zwar betont Stadler an mehreren Stellen, die Darlegung von Pestalozzis Pädagogik liege ausserhalb seines Interesses, was ihn u. a. dazu bestimmt, gewisse pädagogische Schriften (wie etwa ‘Geist und Herz in der Methode’, 1805) unerwähnt zu lassen oder – in andern Fällen – höchstens beiläufig zu berühren; aber was bleibt von diesem grossen Erzieher übrig, wenn eine Biographie den Kern, worum sich alles dreht (und sich damals ab Burgdorf alles drehte) nicht adäquat zur Darstellung bringt? Diesen Mangel mag auch Stadler gespürt haben, denn er wird zunehmend seinem Grundsatz untreu und äussert sich – teilweise recht breit und auch sehr kritisch – über Pestalozzis Pädagogik. Hier zeigt sich dann aber, dass dem im Historischen derart versierten Autor Pestalozzis Idee der Elementarbildung in wesentlichen Belangen doch eher fremd geblieben ist. So versteht er etwa den Begriff ‘Kunst’, den Pestalozzi als Synonym für ‘Hand’ verwendet (‘Geist, Herz und Kunst’ anstelle von ‘Kopf, Herz und Hand’), im modernen Sinne und missdeutet ihn dementsprechend als „Interesse für künstlerische Kultur“ (S. 564). Da kann man nur bedauern, dass dem Biographen ein exzellentes Forschungsinstrument noch nicht zur Verfügung stand: nämlich eine CD-ROM mit dem gesamten 42-bändigen Werk Pestalozzis inkl. weiterer Register, wissenschaftlich aufbereitet durch Prof. Leonhard Friedrich und Sylvia Springer und eben herausgegeben vom Pestalozzianum Zürich. Eine entsprechende Recherche zeigt, dass Pestalozzi den Begriff ‘Kunst’ allein im ‘Schwanengesang’, auf den sich Stadler bezieht, so um die 220 mal verwendet, womit sich ‘Kunst’ als pädagogischer Schlüsselbegriff erweist, den es in seiner ganzen Tragweite zu erfassen gilt.
Ein ähnlicher Vorbehalt muss in bezug auf die Darstellung von Pestalozzis Religiosität vorgebracht werden: Zwar beurteilt Stadler immer wieder gewisse religiöse Ansichten und Äusserungen Pestalozzis aus theologischer Sicht, aber Pestalozzis existentielles Ringen mit Gott und seine wesenhafte Verwurzelung im Religiösen bleiben ausgeblendet. Es liegt nun einmal einer historischen Betrachtung eines Lebenslaufes näher, mehr auf dessen gesellschaftliche Bedingtheit und Wirkung zu sehen, als die Wurzeln individuellen Daseinserlebens aufzuspüren.
So liesse sich denn zusammenfassend sagen: Stadlers Werk ist ganz klar verdienstvoll, lesenswert, sehr informativ und bereichernd. Er verwertet ein breites Quellenmaterial und verknüpft dieses gekonnt mit jenen Schlüssen, die sich daraus ableiten lassen. Stadlers grosse Stärke liegt in der Einbettung von Pestalozzis Leben in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, aber auch in seiner selbstverständlichen Art, Pestalozzi als Menschen und nicht als Standbild wahrzunehmen und darzustellen. Sein Mut, nicht bloss zu rapportieren, sondern Stellung zu beziehen, zu beurteilen und zu kritisieren, ist zu loben, jedoch über die Berechtigung und wohl auch über das Ausmass der von ihm vorgebrachten Kritik an Pestalozzi lässt sich im Einzelfall diskutieren. Für eine Auseinandersetzung mit der Pädagogik oder Religiosität Pestalozzis zieht man indessen mit Vorteil noch andere Literatur bei. Trotz dieses Vorbehalts ist zu betonen: Wer bereit ist zu einem gründlichen Studium von Stadlers Werk, wird reichlich belohnt. Er erfährt eine Fülle interessanter Einzelheiten, sieht diese verwoben in einen ihm kompetent nahe gebrachten geschichtlichen Zusammenhang und beginnt biographische Details in ihrer Entwicklung im Rahmen der speziellen Umstände zu verstehen.