Das Menschenbild bei Jung und Adler
1 Einleitung
Die Themenstellung impliziert zwei grundlegende Probleme, die im voraus diskutiert werden müssen, wenn die Arbeit auf einem tragfähigen Fundament stehen soll:
- Was soll unter ‘Menschenbild’ verstanden werden?
- Weshalb entwerfen verschiedene Menschen unterschiedliche Menschenbilder?
Zu 1: Ich gehe aus von der Kant’schen These, dass wir nichts aussagen können über das ‘Ding an sich’, sondern immer nur etwas über die Art und Weise, wie uns ein Ding ‘erscheint’. Unsere Vorstellungen vom Seienden sind somit immer schon ‘Bilder’ realen Seins. Jede Aussage, die ich über den Menschen mache, betrifft nicht den Menschen – verstanden als ‘Ding an sich’, auch ausserhalb menschlichen Bewusstseins so und nicht anders existierend – sondern stets das Bild, das ich mir vom Menschen mache.
Nun ist aber dieses Bild durchaus nicht nur evoziert durch Affektion der Sinnesorgane: Es ist mindestens ebenso sehr ein Produkt des Denkens, denn ich registriere die Sinnesdaten nicht einfach additiv – wie sich etwa zum Mosaik die Steinchen fügen –, sondern setze sie miteinander in bedeutungsträchtiger Weise in Beziehung. Dadurch wird das Bild, das ich mir vom Menschen mache, in noch erheblicherem Masse von meinem Bewusstsein abhängig. Der Begriff ‘Menschenbild’ könnte somit definiert werden als die Resultante von Sinnesdatenregistrierungen in bezug auf den Menschen und den Bedeutungen, die ich diesen Sinnesdaten verleihe.
Diese Definition könnte allerdings den Eindruck erwecken, es liessen sich Rezeption und Deutung trennen. Dies ist aber höchstens logisch, niemals aber psychologisch möglich, denn ‘Wahrnehmen’ ist immer schon mehr als Sinnesdaten registrieren, es meint immer zugleich auch Deuten von Sinnesdaten.
Zu 2: Daraus erhellt bereits, weshalb verschiedene Menschen zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen ‘Menschenbildern’ kommen müssen: Ihre Vorstellungen über ‘den Menschen’ beruhen nicht nur auf unterschiedlichen Sinnesdaten, sondern – was viel wichtiger ist – sie setzen sie anders zueinander in Beziehung, sie deuten sie anders. Der Grund liegt in der (hier nicht zu untersuchenden oder zu beweisenden, sondern lediglich festzustellenden) Verschiedenheit menschlichen Bewusstseins überhaupt. Diese Verschiedenheit stellt sich auf der einen Seite dar als Divergenz von Inhalten (jeder Mensch hat anderes erfahren, gefühlt, gedacht, erlebt), auf der andern aber auch als divergierende Denkform. Unter ‘Denkform’ soll die Art und Weise verstanden werden, wie jemand das Chaos des Seienden strukturiert: additiv oder hierarchisch, statisch oder dynamisch, polar oder reduktiv-monistisch usf. Gerade dies letztere ist für unsern Zusammenhang besonders bedeutsam, denn es wird im folgenden nachzuweisen sein, dass die Unterschiede in den beiden zur Diskussion stehenden Menschenbildern wesentlich in einer diametral entgegengesetzten Denkform gründen.
Nun kann aber die empirische Tatsache sehr unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Menschenbilder logisch nicht allein aus der Divergenz der einzelnen Wahrnehmungsprozesse (mit dem jeweils koinzidierenden Bewusstsein) abgeleitet werden. Diese Unterschiede gründen ebenso sehr im ‘Objekt’ (der Mensch). Wäre dem nicht so, so müssten – um bei unserem Falle zu bleiben – die sich durch ihr Menschenbild so sehr unterscheidenden Psychologen Jung und Adler ebenso divergierende Vorstellungen von einem Stein, einem Apfel und einem Hasen haben. Wir dürfen aber begründet annehmen, dass sie sich über diese Dinge nicht in die Haare geraten wären. Der Grund ist im Komplexheitsgrad des Objekts zu suchen: der Begriff ‘Apfel’ ist (selbstverständlich immer aus der subjektiven Sicht der beiden Antagonisten – wären sie Biologen, läge der Fall wieder anders) sehr einfach, der Begriff ‘Mensch’ aber äusserst komplex, denn er beinhaltet (wie etwas vereinfacht gesehen beim ‘Apfel’) nicht nur physisch Existierendes, sondern auch eine Idee, in der Fragen nach dem Woher, dem Wohin, dem Sinn und Ziel, dem Wesen mitenthalten sind. Mit andern Worten: Der Begriff ‘Mensch’ konstituiert sich nicht durch einfache Induktion/Abstraktion, sondern ist in wesentlichen Aspekten freier definitorischer Entscheidung unterworfen.
Bevor ich nun die beiden Menschenbilder inhaltlich einem Vergleich unterwerfe bzw. die Denkformen der beiden Psychologen darstelle, seien mir einige Vorbemerkungen gestattet:
- Die Arbeit basiert auf der Kenntnis einiger grundlegender Werke (Literaturverzeichnis im Anhang) der beiden Autoren und erhebt daher in bezug auf die gemachten Aussagen keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit; überdies muss der Wandel im Denken der beiden Psychologen völlig unberücksichtigt bleiben.
- Die Methode des Vergleichs birgt grosse Vorteile in sich: durch die Gegenüberstellung vergleichbarer Elemente können diese schärfer akzentuiert werden. Andererseits aber bleiben dadurch notgedrungen all jene Aussagen eines Autors eher im Hintergrund, für die beim andern sich kein Gegenstück finden lässt. Überdies tritt das Unterscheidende zwangsläufig mehr in Erscheinung als das Verbindende. Diese beiden Umstände führen dazu, dass in der folgenden Darstellung die beiden Systeme in zu einseitiger Weise negativ aufeinander bezogen erscheinen.
- Es ist selbstverständlich, dass die beiden Psychologen menschliches Sein unter psychologischem Aspekt apperzipieren. Ihre implizite Anthropologie ist daher psychologische Anthropologie, und ein Vergleich der beiden Menschenbilder läuft notgedrungen auf einen Vergleich der beiden psychologischen Systeme heraus. Dies ist aber in drei Tagen in der wünschbaren Ausführlichkeit nicht zu leisten. Ich muss mich deshalb vielfach mit Andeutungen begnügen, wo ich gerne länger verweilen würde.
- Als Lehrer habe ich eine gewisse Scheu, Begriffe zu verwenden, ehe sie in systematischem Zusammenhang eingeführt wurden. Da aber dem Leser dieser Arbeit der Sachverhalt bereits im ganzen Umfang bekannt ist, gestatte ich mir, wo nötig Begriffe in die Diskussion zu werfen, die erst in späterem Zusammenhang oder überhaupt nicht zu systematischer Darstellung kommen.
2 Die Denkformen Jungs und Adlers
2.1 Polarität als fundamentale Denk- und Anschauungsform bei Jung
Nach Jung ist jedes lebendige Sein, so auch psychisches Sein, nur als Bewegung verstehbar. Diese Bewegung ereignet sich aber nicht eingleisig-linear, von einem Ausgangspunkt in ein unendlich Fernes, sondern stets im Spannungsfeld zweier Pole. Leben kann nach ihm nur verstanden werden als energetischer Prozess. „Energie aber beruht notwendigerweise auf einem vorausgehenden Gegensatz, ohne welche es gar keine Energie geben kann. Immer muss Hoch und Tief, Heiss und Kalt usw. vorhanden sein, damit der Ausgleichsprozess, welcher eben Energie ist, stattfinden kann.“ (D S. 82) Deshalb seine Überzeugung: „Nur am Gegensatz entzündet sich das Leben.“ (D S. 58) Das Aufeinanderbezogensein zweier gegensätzlicher Prinzipien gilt ihm als Bedingung der Möglichkeit des Lebens überhaupt. Polarität liegt daher jedem System, das auf Selbstregulierung angewiesen ist (der Natur, dem Menschen, der Psyche, der Gesellschaft, der Kultur usf.), zu Grunde. „Es gibt kein Gleichgewicht und kein System mit Selbstregulierung, ohne Gegensatz. Die Psyche aber ist ein System mit Selbstregulierung.“ (D S. 67)
Polarität ist indessen eine rein formale Bedingung dynamischen Seins, die beliebig viele inhaltliche Füllungen gestattet und keinesfalls die Beschränkung auf ein grundlegendes Gegensatzpaar erfordert, worauf alle andern zurückzuführen wären. Es ist bezeichnend für Jung, dass er dieser naheliegenden Versuchung nicht erlegen ist. Wir treffen bei ihm die Gegensatzpaare in reicher Fülle: männlich – weiblich, bewusst – unbewusst, Individualexistenz – Sozialexistenz, Psyche – Materie, Idealismus – Materialismus bzw. Nominalismus – Realismus (siehe hierzu D S. 59), innen – aussen (B S. 93), Gestaltung – Zerstörung, Eros – Macht usf. Dadurch unterscheidet er sich prinzipiell von Freud und Adler, die beide die Dynamik des Lebens auf ein duales Prinzip reduzieren: Lusttrieb – Todestrieb, Minderwertigkeit – Geltung/Macht.
Es ist wesentlich, die ‘Polarität’ Jung’scher Prägung nicht mit ‘Dialektik’ im Sinne des Hegel’schen Dreitakts These-Antithese-Synthese zu verwechseln, obwohl Parallelitäten bestehen mögen. Während nämlich These und Antithese realiter zur Synthese verschmelzen und dadurch ihrer Eigenexistenz verlustig gehen, bleiben die gegensätzlichen Pole in ihrer (scheinbaren) Unvereinbarkeit und dadurch ihrer fortgesetzten Wirkkraft bestehen. Die ‘Lösung’ der polaren Grundgegebenheit ergibt sich nicht durch Verschmelzung der These und Antithese zu einer Synthese, die – als neues Phänomen – selbst zur These wird und erneut eine Antithese evoziert, sondern im Finden des Gleichgewichts, das ob der fortgesetzten Wirksamkeit der Pole stets labil und nie unangefochten ist. So kann z.B. der Konflikt von gleichzeitigen männlichen und weiblichen Strebungen in der Psyche nicht dadurch ’gelöst’ werden, dass die beiden Pole gleichsam zu einem Neutrum verschmolzen werden.
Freilich handelt es sich bei diesem polaren Verständnis des Lebens und der Welt nicht um einen originären Fund Jungs, worauf dieser auch niemals hätte Anspruch machen wollen. Jung steht vielmehr in einer uralten Denktradition, die in allen Zonen und zu allen Zeiten mit Ausnahme des aufgeklärten Europas eine Selbstverständlichkeit war bzw. ist. Im Abendland finden wir sie bereits bei Pythagoras und Heraklit. Nach Jung hat Heraklit „das wunderbarste aller psychischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze.“ (D S. 77) Wir finden diese Überzeugung wieder in der hellenischen Klassik, in der Gnosis und allen christlichen und heidnischen gnostischen Traditionen des Okzidents (Rosenkreuzer, Theosophen, Freimaurer), und die griechischen oder germanischen Mythen (und Märchen) sind so wenig zu verstehen wie Astrologie und Alchimie (die im Abendland immerhin über Jahrhunderte eine bedeutsame Rolle gespielt haben) ohne das Prinzip der Polarität. Überflüssig zu sagen, dass sämtliche Religionen auf dem Prinzip der Polarität aufbauen. Vielleicht am klassischsten ist dieses Wissen um die Zwei-Einheit im bekannten Symbol des Taoismus dargestellt: Dunkel und Hell, Schatten und Licht, Weibliches und Männliches – kurz: Yin und Yang (I Ging, Diederichs 1970 S. 15) machen sich in unendlicher Bewegung ihren Platz streitig, enthalten beide den Keim ihres Gegensatzes und umkreisen den einzig ruhenden Punkt, der stets im Verborgenen bleibt.
Jung ist ein profunder Kenner all jener Geistesrichtungen (Philosophien, Religionen, Mythen, Astrologie und Alchimie, gnostische Systeme, Okkultismus) und den ihnen entsprechenden Symbolismen, die ihr Seinsverständnis an das Prinzip der Polarität gebunden haben. Mehr noch: er akzeptiert diese Religionen, Mythen, Symbole etc. Aber es muss zugleich mit äusserstem Nachdruck betont werden: er akzeptiert sie als psychische Tatsachen. Wenn Jung beispielsweise von Gott, vom Teufel, von Dämonen usf. spricht und ihnen Realität zuerkennt, so handelt es sich dabei niemals um Glaubensaussagen bezüglich transzendenter Wesenheiten, sondern immer um psychische Wirklichkeiten. „Vom wesenhaften und vom absolut Seienden wissen wir nichts. Wir erleben aber verschiedene Wirkungen, durch die Sinne von ‘aussen’, durch die Phantasie von ‘innen’. Wie wir niemals behaupten würden, dass die grüne Farbe an und für sich existiere, so sollte es uns auch nicht einfallen, ein Phantasieerlebnis als etwas an und für sich Bestehendes und somit als etwas wörtlich zu Nehmendes zu verstehen. Es ist ein Ausdruck, ein Schein, gesetzt für etwas Unbekanntes, aber Wirkliches.“ (B S. 113 f.) „Wirklich aber ist, was wirkt.“ (B S. 113, Hervorhebung durch Jung)
Dem Postulat eines sich in Gegensatzpaaren darstellenden Seins entspricht auf der Seite des erkennenden Individuums eine Denkweise, die die Gleichzeitigkeit, aber auch Gleichgewichtig- und Gleichwertigkeit polarer Gegensätze nachvollziehen kann. Mit andern Worten: Das Denken nach dem Modell ‘Entweder – Oder’ muss zugunsten eines Denken nach dem Modell ‘Sowohl – Als auch’ preisgegeben werden. Man könnte dieses Denken ‘komplementäres Denken’ nennen. Jung hat komplementär gedacht. Wer ihn verstehen will, muss sich wohl oder übel dieser Denkweise bequemen.
2.2 Lineares und reduktives Denken bei Adler
Eine völlig andere Haltung zur Problematik der Polarität nimmt Adler ein. Zwar stellt auch er das Vorhandensein polaren Denkens auf Schritt und Tritt fest, aber er hält dies für das grösste Übel, das für alle psychischen Leiden der Menschen verantwortlich ist. Im Gegensatz zu Jung, der die Polaritäten als ein dem Seienden inhärentes Phänomen auffasst, betrachtet Adler das polare Verständnis der Phänomene als Folge einer simplifizierenden und verhängnisvollen Apperzeptionsweise, weshalb vor allem der Kranke, der Neurotiker, „nach der Analogie eines Gegensatzes apperzepiert“ und „zumeist nur gegensätzliche Beziehungen kennt und gelten lässt.“ (F S. 51) Adler bezeichnet dies als eine „primitive Orientierung in der Welt“ und stellt fest, dass sie „den antithetischen Aufstellungen Aristoteles’ sowie den pythagoräischen Gegensatztafeln“ entsprechen, „einem Gefühl der Unsicherheit“ entstammen und einen „simplen Kunstgriff der Logik“ vorstellen. „Was ich als polare, hermaphroditische Gegensätze, Lombroso als bipolare, Bleuler als Ambivalenz beschrieben haben,“ fährt Adler fort, „führt auf diese nach dem Prinzip des Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise zurück. Man darf darin nicht, wie es meist geschieht, eine Wesenheit der Dinge erblicken, sondern muss die primitive Arbeitsweise erkennen, eine Form der Anschauung, die ein Ding, eine Kraft, ein Erlebnis an deren arrangiertem Gegensatz misst.“ (F S. 51) Nach dieser ‘primitiven Arbeitsweise’ apperzepiert auch das Kind, wenn es sich dadurch in der Welt orientiert, indem es sie in den greifbaren Gegensatzpaaren ‘oben – unten’ und ‘männlich – weiblich’ (F S. 51) erfasst. Fatalerweise legt es die tatsächliche soziale Stellung der Frau schon seit 3000 Jahren dem Kinde nahe, die beiden genannten Gegensatzpaare derart zu kombinieren, dass ‘männlich’ als ‘oben’ und ‘weiblich’ als ‘unten’ empfunden wird. Die Begriffe ‘oben – unten’ aber sind – immer nach Adler – „wahrscheinlich schon an den Beginn des aufrechten Gangs der Menschheit geknüpft“, sind mit dem „Eindruck der Himmelskörper“ gekoppelt (Sonne hoch, dann warm und hell etc.) und mit den Empfindungen des Schmerzes beim Fallen (F S. 216 f.), weshalb in ihnen bereits eine Wertung liegt. Durch die Verknüpfung des Paars ‘oben – unten’ mit ‘männlich – weiblich’ wird diese spezifische Wertung auf den Mann und die Frau übertragen, weshalb ‘oben sein’ als ‘Mann-Sein’ und somit als erstrebenswert, ‘unten sein’ als ‘Frau-Sein’ und somit als negativ erscheint. Adler betont denn auch, dass ein Werturteil „unmerklich in jede ‘Antithetik’ hineinfliesst, weil diese immer nach dem Bilde der Zerlegung des Hermaphroditen in eine männliche und eine weibliche Hälfte vorgenommen wird.“ (F S. 222) Er stellt im weitern fest, dass wohl Plato dieser Idee am reinsten Ausdruck gegeben habe, und beklagt, die menschliche Anschauung habe sich „bis Kant nicht aus den Fängen ihrer selbstgeschaffenen Fiktion befreien können.“ (F S. 222) Ja, er bezeichnet die Unterscheidung in männlich– weiblich als eine „dem Menschen als ein Denkfehler anhaftende Apperzeption“ (F S. 273, Hervorhebung durch Adler).
Es scheint mir nun, dass Adler in bezug auf die gesamte Tradition des polaren Weltverständnisses selbst einer einseitigen Apperzeption zum Opfer gefallen ist, indem er nicht bemerkt hat, dass das Postulieren von Gegensatzpaaren einerseits nicht notwendigerweise eine Höherbewertung des einen Pols bedeuten muss, und dass andererseits – was aus den ersten folgt – die Entscheidung im Sinne des ‘Entweder – Oder’ eben falsch ist. Komplementäres Denken im Sinne des ‘Sowohl – Als auch’ liegt Adler völlig fern, weshalb es eben nicht verwundert, dass er am bipolaren Weltverständnis nur dessen Zerrbild, nämlich das Denken in Schwarz – Weiss im Sinne des ‘Entweder – Oder’ erkennt.
Man könnte Adlers eigene Denkform als linear-eingleisig und reduktiv bezeichnen:
- Linear-eingleisig ist sein Denken, weil durch dessen Interpretation die Bewegung des Lebens stets von einem Ausgangspunkt in eine Richtung verlaufend erkannt oder postuliert wird: als Erkennender stellt Adler die Lebensbewegung von ‘unten’ nach ‘oben’ fest (‘scheinbare’ Abweichungen werden umgedeutet), als Wertender bedauert er diese Strebung insgesamt oder interpretiert sie als pathologisch und möchte sie lieber ersetzt wissen durch eine Bewegung in der ‘Horizontale’, die aber wiederum einseitig als Bewegung vom Ich zur Gemeinschaft (Gemeinschaftsgefühl) postuliert wird.
- Reduktiv ist Adlers Denkform, weil er „die ursprüngliche Polyphonie der menschlichen Innerlichkeit“ (Martin Buber, Reden über Erziehung, S. 15) auf eine einzige Strebung zurückführt: auf das Geltungs- oder Machtstreben. Die Problematik der Reduktion impliziert sofort die Frage: Was heisst ‘Verstehen’ bzw. wann gilt ein Phänomen als ‘verstanden’? Die Individualpsychologie Adlers erhebt ja durchaus den Anspruch, eine ‘verstehende Psychologie’ im Sinne Diltheys zu sein (H S. 19). Die Antwort fällt – natürlich wie überall, wo auf ein Prinzip reduziert wird – nicht schwer: Das Phänomen ist dann verstanden, wenn in ihm die formale Struktur des Grundprinzips aufgedeckt werden kann.
Bei der Lektüre von Adlers Werken springt sofort in die Augen, dass das gesamte menschliche Verhalten mit diesem Ansatz erfasst werden kann. Das kann nun als Beweis oder als Bestätigung dafür gedeutet werden, dass der Ansatz eben richtig ist. Diese Annahme liegt im Falle Adlers besonders nahe, weil viele seiner Interpretationen tatsächlich überzeugen und uns auch die tägliche Erfahrung nahe legt, dass das Streben nach Geltung und Macht im menschlichen Handeln zweifellos von überragender Bedeutung ist.
Trotzdem ist aber zu überlegen, ob das restlose Aufgehen der Rechnung nicht andere Ursachen haben und ob es sich nicht vielleicht um einen methodischen Artefakt handeln könnte. Gerade der Umstand, dass mit Adlers Ansatz jegliches menschliche Verhalten erklärt werden kann, nährt den Zweifel, denn Adler postuliert ja als Alternative zur vertikalen Strebung nach Geltung und Macht das ‘Gemeinschaftsgefühl’. Für menschliches Verhalten, das aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus entstanden ist, sollte dann aber Adlers Verstehensschlüssel nicht passen; es müsste mit einem andern Denkmodell erfasst werden. Dies ist aber nicht der Fall: Auch die uneigennützigste Tat des demütigsten Heiligen lässt sich ohne Not als im Dienste der Erhöhung des eigenen ‘Persönlichkeitsgefühls’ und als ‘Sicherung’ der eigenen Geltung interpretieren. Dadurch lässt sich tatsächlich alles mit demselben Prinzip erklären, und deshalb erklärt es eigentlich nichts, denn es fehlt das Unterscheidende. Mit der Absolutsetzung seines an sich äusserst fruchtbaren Ansatzes hat sich Adler einen schlechten Dienst erwiesen. Was not täte, wären exakte Kriterien, mit deren Hilfe der Geltungsbereich des Prinzips ‘Machtstreben’ eingegrenzt werden könnte.
Wie könnte dieser methodische Artefakt entstanden sein? Mir scheint, dass die uneingeschränkte Gültigkeit des Adler’schen Prinzips auf einem logischen Zirkel beruht. Adler kennt diese Gefahr, aber bezeichnenderweise richtet sich sein kritischer Blick nicht auf seinen eigenen Ansatz, sondern auf denjenigen seines Rivalen Freud. In bezug auf dessen Finden von ‘Libido’ in allen menschlichen Regungen stellt er maliziös fest, dass „in Wirklichkeit der glückliche Finder nur herauszieht, was er vorher hineingesteckt hat.“ (F S. 32) Genau das tut aber Adler selber. Ich versuche im folgenden, die einzelnen Schritte dieses Zirkels darzustellen:
Postulate:
1. Menschliches Verhalten lässt sich auf ein Prinzip reduzieren.
2. Dieses Prinzip weist folgende formale Struktur auf: Bewegung von einem Minus- zu einem Pluspol.
3. Die beiden Pole werden wie folgt inhaltlich gefüllt: Minuspol = Gefühl der Minderwertigkeit, des Unten-Seins und des Weiblich-Seins. Pluspol = Gefühl der Geltung/Macht, des Oben-Seins und des Männlich-Seins.
Erkenntnis-Schritte:
1. Jedes Phänomen im Bereiche menschlichen Verhaltens wird unter folgendem Gesichtspunkt ‘befragt’: Weist es die dynamische Struktur von Minus zu Plus auf?
2. Diese Struktur wird in jeder Lebensäusserung gefunden denn:
– Leben ist per definitionem nur als Bewegung erfassbar,
– die Wahrnehmung des so fragenden Menschen ist formal prädisponiert,
– allenfalls rückläufig (von Plus zu Minus) scheinende Bewegungen werden durch ein Hilfspostulat (Konversion durch Kompensation) ‘richtig’ gedeutet.
3. Da das formale Prinzip von Minus zu Plus inhaltlich von Vorneherein durch das 3. Postulat besetzt wurde, findet man in jedem Phänomen die Strebung von der Minderwertigkeit zur Geltung. Damit wird festgestellt, was vorausgesetzt wurde.
Resultat:
Theoretische Grundposition: Phänomene gelten erst dann als verstanden, wenn in ihnen die Strebung vom Gefühl der Minderwertigkeit zum Gefühl der Geltung/Macht nachgewiesen werden kann.
Diese Reduktion der Phänomene auf ein einziges Prinzip, d.h. der Nachweis der immer gleichen formalen Struktur, führt zu einem nicht unbedenklichen Effekt, der sich als ‘Denaturierung des Phänomens’ bezeichnen lässt. Das heisst: Das (psychische) Phänomen als solches wird in seinem So-Sein nicht mehr ernst genommen; als wesentlich gilt nur noch die tatsächlich inhärente oder auch nur hineinprojizierte formale Motivationsstruktur. Das führt dann dazu, dass so unterschiedliche Erscheinungen wie Neurose und Genialität (vgl. F S. 206) durch die simplifizierende Attitiüde des ‘Nichts als’ praktisch auf dieselbe Ebene gestellt werden. Überdies gelingt es ohne Mühe, auch gegensätzlich definierte Verhaltensweisen wie Trotz – Gehorsam (F S. 45), Schweigsamkeit – Geschwätzigkeit (F S. 274) auf das angenommene Grundprinzip zu reduzieren. Dass hinter gegensätzlichen Verhaltensweisen identische Motive liegen können, sei keineswegs bestritten, und das Herausschälen des Motivs aus dem Verhalten ist gewiss sehr wesentlich und fruchtbar. Aber das Motiv ist eben nur ein Aspekt eines Phänomens.
Schliesslich ergeben sich aus einem reduktiven und immer passenden Ansatz Deutungen, die dem unvoreingenommenen Beobachter doch eher gewaltsam und ohne grossen Wert für das tiefere Verständnis eines Phänomens erscheinen, so etwa, wenn Adler in der Pollution – einem einfachen physiologischen Vorgang – ein „Symbol eines fiktiven, sichernden Lebensplanes“ (F S. 72 ) sieht oder den ‘Voyeurtrieb’ als „Neigung, alles sehen zu wollen“ (F S. 230) und damit als Ausdruck des Machtstrebens interpretiert.
2.3 Jungs und Adlers Haltung gegenüber Freud
Es geht mir in diesem Abschnitt nicht um eine inhaltliche Gegenüberstellung der drei Theoreme, sondern um die Frage: ‘Wie bewährt sich komplementäres, nicht-reduktives Denken auf der einen Seite und lineares, reduktives Denken auf der andern gegenüber einem seinerseits reduktiven Ansatz (Freud)? Mit andern Worten: Meine These der divergierenden Denkformen bei Jung und Adler soll an einem konkreten Fall auf die Probe gestellt werden.
Wie nicht anders zu erwarten, muss Adler von seiner Denkform der Ausschliesslichkeit her Freuds Libido-Theorie ablehnen Wohl spielt die Sexualität auch bei ihm eine dominante Rolle, aber da er die das Sexuelle bedingende Grundpolarität männlich–weiblich schon im Ansatz mit dem Geltungs-/Machtstreben identifiziert hat, gelingt es ohne Mühe, jede sexuelle Verhaltensweise in den Dienst der eigenen Theorie zu stellen. Adler wirft Freud vor, dass es ihm nicht gelungen sei, so wie die übrigen Symbole auch das „sexuelle Gleichnis“ (F S. 74) aufzulösen, d.h. die hinter der Sexualität liegende Machtproblematik aufzudecken. Mit andern Worten: Schon von seiner Denkform her vermag Adler die Sichtweise, dass menschliches Verhalten sowohl als Funktion der Libido als auch als Resultat der Spannung Minderwertigkeit–Geltung gedeutet werden kann, nicht zu leisten.
Anders Jung, der sich (im Hinblick auf Freud und Adler) zwei einander anscheinend ausschliessenden reduktiven Theoremen gegenübersieht. Von seiner Sicht her kritisiert er selbstverständlich den Absolutheitsanspruch jeder reduktiven Theorie, „denn die menschliche Seele, sei sie nun krank oder gesund, kann nicht bloss reduktiv erklärt werden“ (D S. 49, Hervorhebung durch Jung). Für sich genommen betrachtet er die beiden Ansätze nicht als „allgemeine Theorien, sondern als sozusagen ‘lokal’ zu verwendende Mittel.“ Denn „sie sind auflösend und reduktiv“ und „sagen zu jeder Sache: ‘Du bist nichts als …“‘ Es entspricht aber durchaus seiner Denkform des ‘Sowohl – Als auch’, wenn er fordert, „die beiden kontroversen Neurosentheorien“ seien „als Manifestationen typischer Gegensätzlichkeiten“ und „von einem übergeordneten Standpunkt her“ zu begreifen, „in welchem sie zu einer Einheit zusammenkommen können“ (D S. 48, 44). „Denn wenn man beide Theorien unvoreingenommen überprüft, so kann man nicht leugnen, dass sie beide bedeutende Wahrheiten enthalten, und so gegensätzlich diese auch sind, so darf dennoch die eine die andere nicht ausschliessen.“ (D S. 44) In seiner Tendenz, die Gegensätze zu sehen und zu vereinen, gelingt es Jung, einerseits beide Theorien inhaltlich zu akzeptieren, weil „die Neurose offenbar zwei gegensätzliche Aspekte haben“ muss (D S. 44), andererseits das Phänomen zu erklären, weshalb zwei redliche Forscher zu so entgegengesetzten Ergebnissen kommen können: Dies letzte ist nach Jung in der psychischen Eigenart der beiden begründet. Als Extravertierter sieht Freud „seinen Patienten in steter Abhängigkeit von und in Beziehung zu bedeutsamen Objekten“, während der aus der introvertierten Einstellungsfunktion entsprungenen Ansicht Adlers „eine ungewöhnliche Betonung des Subjekts zugrunde“ liegt, „wogegen die Eigenart und Bedeutung der Objekte ganz verschwindet.“ (D S. 45)
Es ist hier nicht der Ort, die hier angezogene Problematik inhaltlich zu diskutieren; es sollten lediglich die inhärenten Tendenzen der beiden Denkformen exemplifiziert werden: Abgrenzung, Ausscheidung, Distanzierung auf der einen Seite – Assimilation, Verbindung, Einordnung auf der andern.
2.4 Kausalität – Finalität – Synchronizität
Bekanntlich hat Freud, getreu dem Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts, zeitlebens darum gerungen, menschliches Verhalten als Wirkungen vorausgehender Ursachen, mithin als kausal determinierte Phänomene zu erfassen. Darum gilt in der Psychoanalyse ein psychischer Sachverhalt dann wesentlich als verstanden, wenn sein kausaler Bezug zu frühkindlichen Gegebenheiten nachgewiesen werden kann (vgl. hierzu: M S. 12 f.).
Adler hat nun diese Blickrichtung in die Vergangenheit, welche sich notwendigerweise aus dem Bekenntnis zur Kausalität ergibt, relativiert und sie um den Blick in die Zukunft, um die Frage nach dem Ziel, dem Zweck, dem Telos bereichert. Nach der Überzeugung der Individualpsychologie erfasst „die Ursachenforschung (Kausalität) … nur einen zweitrangigen Aspekt des Lebensgeschehens, nämlich seinen physikalisch-chemischen Teil; die eigentliche Ordnung des Lebendigen ist das ziel- und zweckhafte Handeln, das sich nur einer ‘teleologischen’ (zweckorientierten) Betrachtung erschliesst.“ Adlers Lehre hebt also den finalen Charakter des Psychischen hervor: „Leben und Seele können nur aus dieser Zielgerichtetheit verstanden werden.“ (Rattner H 17) Adler insistiert mit Nachdruck: „Wir können ohne Zielsetzung nicht denken, nicht fühlen, nicht handeln. Diese Zielsetzung ist unumgänglich bei jeder Bewegung. … Bei Trieben (kausaler Aspekt, A.B.) kann ich keine Linie ziehen; bevor ich ein Ziel setze, kann ich unmöglich etwas damit leisten.“ (A S. 36) Diese von Adler selbst als „kausale Finalität“ (F S. 31) charakterisierte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des menschlichen Lebens als Einheit begreifende (F S. 226) Betrachtungsweise ist einer der zentralsten Punkte seines ganzen Systems.
Es würde selbstverständlich Jungs Denkform widersprechen, wenn er sich auf eine einzige Sichtweise (Kausalität oder Finalität) festlegte. Konsequent postuliert er denn auch, „dass jeder Lebensprozess nicht bloss ein kausaler Ablauf, sondern auch ein final orientierter, zweckmässiger Vorgang ist.“ (B S. 18) Darüber hinaus hat aber Jung das Problem der Kausalität (Finalität ist ja ‘bloss’ eine besondere Form der Kausalität) um einen neuen Gesichtspunkt bereichert: Der täglichen Erfahrung, dass sich psychisches Sein kausal ereignet, stellt er die polar entgegengesetzte Möglichkeit gegenüber: dass zwei Phänomene zwar einen inneren Sinnzusammenhang haben, aber nicht ursächlich aufeinander bezogen sind, sondern grundsätzlich einem akausalen Prinzip unterworfen sind, das er mit ‘Synchronizität’ bezeichnet. Weitere Ausführungen darüber sind hier nicht möglich.
3 Aspekte des Menschenbildes
3.1 Die Menschennatur
Es entspricht durchaus Adlers a-polarem Denken, dass er die alte anthropologische Frage, ob der Mensch ‘von Natur aus’ gut oder böse sei, einseitig im Sinne der Aufklärung beantwortet: „Der Mensch ist von Natur aus nicht böse. Was auch ein Mensch an Verfehlungen begangen haben mag, verführt durch seine irrtümliche Meinung vom Leben, es braucht ihn nicht zu bedrücken; er kann sich ändern. Er ist frei, glücklich zu sein und andere zu erfreuen.“ (Zitiert nach H S. 17) Das steht immerhin in einem gewissen Gegensatz zum eher pessimistischen Grundton, der z.B. den gesamten ‘Nervösen Charakter’ durchzieht, wo alles menschliche Verhalten (gewiss: er hat vor allem den Neurotiker im Auge, aber trotzdem) daraufhin beargwöhnt wird, ob es nicht Ausdruck sei der „fehlerhaften Apperzeptionsweise“, die schon seit Tausenden von Jahren in der gesamten Menschheit grassiert. Die Antwort auf diesen scheinbaren Widerspruch gibt Adlers Überzeugung von der naturgemässen Schwäche des Menschen, womit er sich mit Gehlen trifft, der den Menschen als ‘Mängelwesen’ definiert. „Die Schwäche des menschlichen Organismus hätte zur Ausrottung geführt, wenn die Gemeinschaft das nicht verhindert hätte.“ (A S. 56) „Aus der Tatsache, dass der Mensch der Natur gegenüber stiefmütterlich bedacht ist, geht hervor, dass ein anderer Weg als der zu der Gemeinschaft nicht denkbar ist.“ (A S. 35) In dieser Schwäche gründet somit nach Adler die hervorragende Bedeutung der sozialen Existenz. Der Mensch ist auf die Gemeinschaft hingewiesen, weil er ihrer bedarf. „Wir sehen, dass auch im Tierreich alle Lebewesen, die der Natur gegenüber ungünstig gestellt sind, eine grosse Neigung zum Zusammenschluss haben. Die Schwächeren schliessen sich zusammen, und dadurch erwachsen ganz neue Kräfte, denen sie ihre Daseinsmöglichkeiten verdanken. Es liegt im Wesen dieser Schwächlichkeit, dass das menschliche Lebewesen untrennbar geknüpft ist an die Gemeinschaft. Es ist nicht wichtig, was einer mitbringt, sondern was er daraus macht.“ (A S. 34) Kurz zusammengefasst liesse sich Adlers Position so formulieren: Der Mensch ist von Natur aus gut, aber schwach. Die angeborene Schwäche kann durch die Gemeinschaft überwunden werden. Damit haben wir wieder seinen grundlegenden Ansatz vor uns: Vorgegebene Minderwertigkeit – Lösung nicht nach der individuellen, sondern nach der sozialen Seite hin: Gemeinschaftsgefühl. Damit ist das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft problematisiert; es soll im nächsten Abschnitt weiter erörtert werden.
Nach allem, was bezüglich Jungs Denkform dargelegt wurde, würde es überraschen, wenn er der Suggestion der Frage: ‘Der Mensch gut oder böse?’ insofern erläge, als er sich für das eine oder andere entschlösse. Tatsächlich ist Jung zutiefst überzeugt, dass „die menschliche Natur nicht nur ganz aus Licht besteht, sondern auch aus reichlich viel Schatten“ (B S. 29), und dass Gut und Böse untrennbar aufeinander bezogen sind. So finden sich in der Liste der Archetypen nicht nur Götter, Engel, Heilige, Erlösergestalten und lichtvolle Propheten, sondern auch Teufel, Dämonen, Zauberer, Hexen, Vampire. Und er beklagt sich, dass man sich blind sträubt, „gegen das heilsame Dogma der Erbsünde, das doch so unerhört wahr ist.“ (Dass es sich hierbei nicht um eine theologische, sondern um eine psychologische Aussage handelt, sollte hinlänglich klar geworden sein.) Diese Gespaltenheit in Hell und Dunkel macht ja gerade die ungeheure Dynamik der Psyche, des menschlichen Existierens aus. Schon die Existenz als Leib und Seele reisst den Menschen auseinander. Das geistige Prinzip ist auf den Körper angewiesen (um klarzustellen: es geht hier nicht um den simplen Dualismus: Geist/Psyche = gut / Körper = schlecht, sondern um die grundlegende Ambivalenz, die menschliches Sein insgesamt auszeichnet.) „Dieser Körper aber ist ein Tier mit einer Tierseele, d.h. ein dem Triebe unbedingt gehorchendes, lebendes System“ (D S. 33, Hervorhebung durch Jung).
3.2 Individualexistenz – Sozialexistenz
Wie zu erwarten, löst Adler die Polarität Individuum – Sozietät seinem Denken gemäss so auf, dass er das eine über das andere stellt, worin natürlich eine Wertung steckt. Ganz entgegen der Etikettierung seiner Psychologie als Individualpsychologie misst er der Sozialexistenz des Menschen einen höhern Wert bei. Das heisst: das Individuum hat nur insofern positive Bedeutung, als es im Dienste der Gemeinschaft steht. „Eine Bewegung des einzelnen und eine Bewegung der Massen kann für uns nur als wertvoll gelten, wenn sie Werte schafft für die Ewigkeit, für die Höherentwicklung der Menschheit.“ (H S. 38) Der letzte Sinn der menschlichen Existenz ist somit nicht im Einzelnen, sondern im Insgesamt, in der Menschheit begründet. So hebt denn auch Rattner hervor: „Für die Sicherung der Evolution forderte er eine Vertiefung und Ausweitung des Gemeinschaftsgefühls, von dessen Förderung er die Zukunft der Menschheit abhängig glaubte.“ (H S. 33)
Wesentlich ist, dass der Erzieher im jungen Menschen „das Gefühl entwickelt, ein Teil des Ganzen zu sein.“ (A S. 28) „Unsere Aufgabe ist es, das Kind zu einem Instrument des sozialen Fortschritts zu gestalten. Das ist der Kern der Individualpsychologie als Weltanschauung.“ (A S. 35 f.) Nach Adler sind „die Fragen, die einem Menschen vorgelegt werden, immer sozialer Natur. … Es gibt im Leben nur soziale Fragen.“ (A S. 91) Höchstes Ziel, das das Individuum anstreben muss, ist daher das Gemeinschaftsgefiihl, „das Gemeinschaftsgefühl ist unser Massstab.’’ (A S. 58) Konsequenterweise ist denn auch der von Adler ins Zentrum gestellte Trieb nach Macht und Geltung eine sozialpsychologische Kategorie. Jedenfalls versteht Adler ‘Macht’ stets als die Möglichkeit, über andere zu herrschen; die andere Bedeutung: ‘seiner selbst mächtig sein’ ist mir wenigstens bei der Lektüre nicht aufgestossen. Im ‘Nervösen Charakter’ schreibt er ja auch ausdrücklich, dass das Gefühl der Minderwertigkeit „stets als relativ zu verstehen“ (F S. 44) sei, d.h. bezogen auf andere. In seiner Schrift ‘Individualpsychologie in der Schule’ tadelt er dann allerdings seine Kritiker, weil sie nicht darüber hinauskamen, das Minderwertigkeitsgefühl „als relativ, aus einem Vergleich mit andern erwachsen, misszuverstehen“ (A S. 22).
Um den Jung’schen Standpunkt verständlich zu machen, muss vorerst klargestellt werden, dass die Problematik ‘Individualexistenz – Sozialexistenz’ eigentlich zwei Gegensatzpaare enthält: einerseits den Gegensatz Individuum – Gesellschaft (Gemeinschaft, Gruppe), andererseits die individual-psychologische (nicht im Adler’schen Sinne) versus die sozial-psychologische Dimension innerhalb des einzelnen Individuums. Was diese Polarität betrifft, so finden wir in der Jung’schen Psychologie die erwartete typische Balance: sowohl im Bereiche des Bewusstseins wie auch im Bereich des Unbewussten postuliert Jung je eine persönliche und eine kollektive Komponente (persönliches Bewusstsein, kollektives Bewusstsein (Persona), persönliches Unbewusstsein, kollektives Unbewusstsein). Was den Gegensatz Individuum – Gesellschaft betrifft, liegen die Dinge ein wenig anders. Offenkundig hat bei Jung das Individuum gegenüber der Gesellschaft den Primat. Wird hier Jung seinem eigenen Denken untreu? Ich glaube, dass der Grund für die auf Anhieb etwas überraschende Haltung Jungs in dieser Frage woanders liegt: Genau genommen bilden die beiden ‘Dinge’ (Individuum – Gesellschaft) gar keine echte Polarität. Was dem Ich polar auf der Ebene des Mitseins gegenüber steht, ist das Du. Individuum und Gesellschaft (als Oberbegriff organisierter Gruppierungen und kollektiver Tätigkeiten) sind nicht eben kompatibel. Der Hauptgrund liegt darin, dass die Gesellschaft kein Bewusstsein und auch kein substantielles Eigenleben hat. Es wirkt daher (für mich) immer ein wenig befremdlich, wenn für eine ‘glücklichere’ Gesellschaft gekämpft wird, denn als Gesellschaft kann sie sich des Glücks nicht erfreuen. Bewusstsein und Erlebnisfähigkeit sind nun einmal an das Individuum gebunden. Darum ist es für einen Psychologen im Grunde gar nicht möglich, der Gesellschaft als einem Konstrukt, einem Abstraktum, dem konkreten Individuum gegenüber Gleichwertigkeit zuzugestehen. ‘Gesellschaft’ ist denn auch gar keine psychologische Kategorie; in das Gebiet der Psychologie gehören die sozialen Beziehungen des Einzelnen bzw. die konkreten psychischen Beziehungen in einer Gemeinschaft. Aber auch eine Gemeinschaft ist immer getragen von Individuen. Darum ist denn Jung auch überzeugt, dass ein dem Individuum zuträgliches Gemeinschaftsleben (das niemals Selbstzweck sein kann) erst möglich ist zwischen gesunden Individuen. Die vordringlichste Aufgabe jedes Individuums ist es somit, sich um eigene Gesundung zu bemühen, d.h. das anzustreben, was Jung als Individuation bezeichnet. „Die diesem Ideal zugrundeliegende Idee ist, dass aus rechter Gesinnung das rechte Handeln hervorgehe, und dass es keine Heilung und keine Weltverbesserung gibt, die nicht beim Individuum selber angefangen hat.“ (B S. 122) „Die grossen Probleme der Menschheit wurden noch nie durch allgemeine Gesetze, sondern immer nur durch Erneuerung der Einstellung des Einzelnen gelöst“ (D S. 4, Hervorhebung durch Jung). Es ist deshalb unzutreffend, wenn man Jung des Individualismus zeiht. Individuation bedeutet gerade nicht die Vergötterung des Ego, sondern das Streben nach Harmonie zwischen den Ansprüchen von ‘innen’ und ‘aussen’, ‘oben’ und ‘unten’. „Wenn die Menschen dazu erzogen werden, die Schattenseite ihrer Natur deutlich zu sehen, so ist zu hoffen, dass sie auf diesem Weg auch ihre Mitmenschen besser verstehen und lieben lernen.“ (D S. 28)
Nach Jung ist persönliches Bewusstsein und damit Individualität eine in der phylogenetischen Entwicklung relativ späte Errungenschaft. Gerade weil die Individualpsyche nach wie vor in der Kollektivpsyche wurzelt und sich unmöglich von ihr emanzipieren kann oder auch nur soll, ist diese noch relativ zarte Pflanze des Individuellen der steten Gefahr ausgesetzt, vom Kollektiven – sei es nun das kollektive Unbewusste oder aber der Druck der Masse – aufgeschluckt zu werden. Daher wendet er sich gegen das „Hinwegsehen über das Individuelle“, denn „es bedeutet eine Erstickung des Einzelwesens, wodurch das Element der Differenzierung in einer Gemeinschaft ausgerottet wird. Das Element der Differenzierung ist das Individuum. Alle höchsten Leistungen an Tugenden, wie auch die grössten Übeltaten sind individuell.“ (B S. 40 f.) Sittliches Handeln ist an die Bedingung individueller Freiheit geknüpft. Je grösser aber der kollektive Einfluss auf das Individuum, je grösser der Druck der Masse, um so kleiner der Spielraum an individueller Freiheit. „Es ist sowieso eine offenkundige Tatsache, dass die Sittlichkeit einer Sozietät als eines Ganzen umgekehrt proportional ihrer Grösse ist, denn je mehr Individuen sich ansammeln, desto mehr werden die Individualfaktoren ausgelöscht, und damit auch die Sittlichkeit, die ganz auf dem sittlichen Gefühl und der dafür unerlässlichen Freiheit des Individuums beruht. Daher ist jeder Einzelne, wenn er in der Sozietät ist, unbewusst ein schlechterer Mensch in gewissem Sinne, als wenn er für sich allein handelt; denn er ist von der Sozietät getragen und in dem Masse seiner individuellen Verantwortlichkeit enthoben. … Je kleiner ein sozialer Körper, desto mehr ist die Individualität der Mitglieder gewährleistet, desto grösser ihre relative Freiheit und damit die Möglichkeit einer bewussten Verantwortlichkeit. Ohne Freiheit kann es keine Sittlichkeit geben.“ (B S. 41 f.) Jung leistet mit seiner eindringlichen Warnung vor den zerstörenden Einflüssen des Monstrums der Masse einen wichtigen Beitrag für das Selbstverständnis gerade des heutigen Menschen. Indem er die psychischen Gesetzmässigkeiten im Falle der Vermassung des Einzelnen aufzeigt, liefert er die psychologische Fundierung dessen, was schon die alten Römer wussten (Senatus bestia, senatores boni viri), was Pestalozzi mit grösstem Nachdruck seinen Zeitgenossen zurief und was Le Bon in seiner ‘Massenpsychologie’ (erstmals?) systematisch abhandelte.
Ein Vergleich der Jung’schen Einschätzung der Masseneinflüsse auf das Individuum mit der entsprechenden Adler’schen Auffassung zeigt genau, was wir aufgrund des bisher Gesagten erwarten müssen: Adler kennt die massenpsychologischen Effekte durchaus, aber er wertet sie im Gegensatz zu Jung positiv. „Man sieht schon in der Schule, dass dort in den Kindern etwas lebt, was nach Gemeinschaft verlangt, auf Zusammenschluss hindeutet. Es ist eine absolute, tatsächlich vorhandene Kraft, die nicht übersehen werden kann. Es besteht schon hier ein Zwang, jeden einzuordnen, das Gemeinschaftsgefühl in ihnen lebendig zu machen. Das ist ein Hinweis auf die Tatsache eines bestehenden Gemeinschaftsgefühls in den einzelnen und in der Masse und ein Hinweis darauf, wie die Masse dieses Gemeinschaftsgefühl viel stärker in den Vordergrund stellt als der einzelne. So erklärt sich auch und ist besser zu verstehen als eine massenpsychologische Tatsache, dass – wenn in der Masse sich etwas bewegt, dort sich ein Wunsch äussert, um etwas zu tun usw. – ein jeder mitgerissen wird, so dass sehr oft die eigene Überlegung in ihm zurücktritt und er in der Masse anders handelt, als wenn er allein handeln müsste.“ (A S. 103)
3.3 Der Mensch als Einheit oder ‘Vielheit’
„Die individualpsychologische Theorie baut auf der Annahme der Persönlichkeit als einer zielgerichteten Einheit auf.“ (H S. 17) Dadurch distanziert sich Adler von der damals traditionellen Elementenpsychologie, denn er ist überzeugt, „dass die Reaktionen eines Menschen durchaus kein unzusammenhängendes Konglomerat bilden, sondern eine relativ einheitliche Persönlichkeitsstruktur ausmachen.“ (H S. 62) Was die unübersehbare Fülle einzelner Lebensäusserungen eines Individuums zusammenhält, ist das, was Adler als ‘leitende Fiktion’, als ‘Leitidee’ oder ‘Leitlinie’ kennzeichnet. Die Erlebnisse der frühen Kindheit, die Erfahrungen, die ein Kind in seiner Umgebung mit seinem Verhalten macht, die Art, wie diese Umgebung auf das Kind reagiert usf., bringen das heranwachsende Individuum zur Überzeugung, dass es sich so und so und nicht anders verhalten soll, wenn es gelingen soll, das Persönlichkeitsgefühl – ‘oben’ zu sein – gegen das bedrückende Gefühl der Minderwertigkeit zu sichern. So macht z.B. ein Kind die Erfahrung, dass ihm nur dann Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn es ‘das Erste’ ist. Das prägt sich nun als leitende Fiktion, als ‘Leitlinie’ in seine Psyche ein, so dass es sich künftig in der Gemeinschaft nur dadurch sichern zu können glaubt, dass es immer und überall ‘der Erste’ ist. Solche Kinder fallen dann etwa auf durch übertriebenen Ehrgeiz, oder durch völlig inadäquate Reaktionen: Ernten sie beispielsweise für eine Schulleistung nicht den erwarteten Sechser, brechen sie in Weinen aus.
Adler ist nun überzeugt, dass das gesamte Verhalten des Individuums von dieser Leitlinie her motiviert ist. „Eine einzelne Erscheinung gibt es überhaupt nicht, sein (des Kindes) ganzes Leben wird denselben Lebensstil aufweisen.“ (A S. 28) „Das Material zur Bildung der Charakterzüge ist im Psychischen allenthalben vorhanden, und seine angeborene Verschiedenheit verschwindet gegenüber der einheitlichen Wirkung der leitenden Fiktion.“ (F S. 277) Die Kenntnis der jeweiligen Leitlinie bildet denn auch den Schlüssel zum Verständnis eines Individuums, indem sie gestattet, die den Einzelhandlungen zugrundeliegenden Motive auf ein grosses Hauptmotiv zu reduzieren.
Ob der Mensch ‘an sich’ eine Einheit oder eine Vielheit sei, lässt sich ‘objektiv’ nicht ausmachen. Welche Auffassung als richtig erscheint, hängt eben vom erkennenden Subjekt im allgemeinen und von dessen Denkform im besonderen ab. Dies zeigt sich jedenfalls am Fall Adler und Jung mit verblüffender Deutlichkeit: Adlers monistische Denkweise lässt ihn den Menschen unter dem Gesichtspunkt der Einheit begreifen, während Jung auch in dieser Hinsicht das ‘Sowohl – Als auch’ gelten lässt. So betont er auf der einen Seite bezüglich des traditionellen Dualismus Körper – Seele, dass sie „nichts Getrenntes, vielmehr ein und dasselbe Leben“ (D S. 126) sind, ist aber auf der andern Seite überzeugt, dass die „Psyche keineswegs eine Einheit, sondern eine widerspruchsvolle Vielheit von Komplexen ist.“ (B S. 95) Die Autonomie archetypischer Komplexe geht bei ihm so weit, dass er sich nicht scheut, ihnen „sogar etwas wie ein eigenes, selbständiges Leben, etwa wie das von Partialseelen“ (B S. 72) zuzubilligen. Dadurch glaubt er einen Schlüssel in der Hand zu haben, um auch die in den sog. primitiven Völkern und in spiritistischen Kreisen bekannten ‘Erscheinungen von Geistern’ mit seinem psychologischen Ansatz erklären zu können. „‘Geist’ (im spiritistischen Sinne, A.B.) ist eine psychische Tatsache.“ (B S. 78) Was dem Primitiven erscheint, ist ein Archetypus, z.B. die ‘Elternimago’ (B S. 79). „Das Bild ist unbewusst projiziert, und wenn die Eltern sterben, so wirkt das projizierte Bild weiter, wie wenn es ein an und für sich existierender Geist wäre.“ (B S. 80)
3.4 Rationalität und Irrationalität
Es ist mir bewusst, dass durch meinen Ansatz – hie reduktiv-lineares, dort komplementäres Denken – der jeweilige Sachverhalt da und dort überspitzt oder gar vereinfacht dargestellt wird. Eigentlich müsste man jede Aussage eines Autors wieder relativieren durch eine andere, die sich nicht so ohne weiteres in das hier angewandte Denkschema fügt.
Unter dem hier angebrachten Vorbehalt möchte ich postulieren, dass Adler einseitig die Rationalität anstrebt und alles Irrationale als krankhaft abwehrt, während Jung – hier gilt die Aussage allerdings ohne jede Einschränkung – Rationalität und Irrationalität als gleichwertige und –wichtige Existenzmöglichkeiten gleicherweise akzeptiert und das Gleichgewicht der beiden fordert.
Das mag auch der Grund sein, weshalb Adler das Streben nach Geltung und Macht so leidenschaftlich ablehnt: Es ist in höchstem Masse irrational, denn sowohl die dualistische Apperzeption der Welt nach dem Schema ‘oben (männlich) – unten (weiblich)’ als auch das erstrebte Persönlichkeitsideal sind eine Fiktion, einzig die Hinwendung zur Gemeinschaft ist rational. Über den vorwiegend rationalen Charakter des Gemeinschaftsgefühls kann – so scheint es mir wenigstens – auch der Terminus ‘Gefühl’ nicht hinwegtäuschen. Und so ist es denn auch nichts als konsequent, dem leidenden Menschen seine irrationale Fiktion des Geltungsstrebens und der Persönlichkeitserhöhung einsichtig zu machen. Das folgende Beispiel stehe für viele: Ein Stotterer sollte geheilt werden. Adler: „Dieser Junge sollte aufgeklärt werden über sein unrichtiges Verhalten zu Lehrern, Kameraden, Aufgaben. Solange er das nicht als unrichtiges Verhalten erkennt, wird er immer die Empfindung haben: ‘Was ihr von mir verlangt, ist zu schwer.’ Es ist ein unermesslicher Schaden für seine Entwicklung, wenn er glaubt, dass er nicht dasselbe leisten kann wie die andern. Er kann es nur nicht leisten, weil er sich nicht zu verbinden versteht und weil er dieses Sich-Verbinden nicht übt und nicht ausgestaltet, weil er nicht dabei ist. Diese Aufklärungsarbeit müsste in erster Linie die irrtümliche Haltung des Jungen ändern.“ Es geht mir hier nicht darum, zu beurteilen, was an dieser Aussage richtig und was falsch sein könnte, sondern ich möchte daran Adlers grundsätzlich hohes Vertrauen in die Rationalität nachweisen. Der Glaube an die Rationalität zeigt sich auch in seiner These, die Logik sei „Schöpfung und Band der Menschenseele“ (F S. 87).
Diesem ungebrochenen Vertrauen in die Rationalität steht ein ebenso grosses Misstrauen dem Irrationalen gegenüber. Mythen und Märchen, Gleichnisse, Traumbilder sind Adler primär suspekt. (F S. 64, 245) Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist seine Schilderung eines eigenen Traums: Als er als Leiter eines Kriegsspitals einem Studenten den Wunsch um Befreiung vom Kriegsdienst nur teilweise erfüllen konnte, kam er sich nachts darauf im Traum als Mörder vor. „Logisch konnte ich nicht anders handeln, ohne ihn in Gefahr zu bringen. Ich hätte ihm nur schaden können. Ich hatte aber doch das Gefühl, dass ich weitergehen sollte. Ich wollte im Traume meine Logik morden, ich wollte ihm eine noch leichtere Beschäftigung verschaffen, damit seine Eltern gerettet werden. Ich bin diesem Selbstbetrug auf die Spur gekommen und blieb bei meiner logischerweise begründeten Auffassung. Seitdem ich diesen Sachverhalt erkannt habe, lasse ich mich durch übertriebene Gefühle nicht fangen, nicht betrügen.“ Dann verweist er darauf, dass der Traum eben übertreibe und sich in einem Gleichnis ausdrücke und fährt dann fort: „Unsere ästhetische Ausbildung bringt es mit sich, dass wir für Gleichnisse vieles übrig haben. Wir lieben Gleichnisse, aber wir dürfen nicht übersehen, dass ein Gleichnis unter allen Umständen ein listiger Trug ist und im Sinne der wirklichen Tatsachen, der Logik, eine Fälschung. Das trifft auch für die Gleichnisse der Dichter zu. Gleichnisse brauchen wir stets dann, wenn wir etwas erklären oder beschreiben wollen und mit der nackten Wahrheit nicht mehr auskommen können.“ (A S. 81) Es zeigt sich nicht nur in dieser zitierten Stelle, dass Adler kein positives Verhältnis zum Symbolhaften gewinnen konnte. Das liegt wohl schon in seinem Ansatz begründet: Genauso wie eigentlich jede menschliche Lebensäusserung ‘nichts als’ ein Streben nach Geltung und Macht darstellt, genauso lässt sich diese Struktur in jedem Gleichnis wiederfinden. Gleichnisse bringen somit nichts grundsätzlich Neues. Das trifft insbesondere auch für den Traum zu. Träume sind ja Funktionen des Unbewussten; aber da sich bei Adler auch das Unbewusste hinsichtlich seiner motivierenden Funktion grundsätzlich von den bewussten Motivierungen des Individuums nicht unterscheidet, weil beide dem „gleichen Ziel zustreben“ (A S. 76), so ist es von vornherein unmöglich, dass der Traum qualitativ Andersartiges ans Licht bringen könnte als das, was schon die Einheit von Bewusstsein und Unbewusstsein gewährleistet: eben die Leitlinie. Wie jede Lebensäusserung des Individuums ist auch der Traum der ordnenden und vereinheitlichenden Funktion der Leitlinie unterworfen, seine Aufgabe ist es lediglich, „eine Stimmung zu erzeugen, die den Träumer entgegen seiner Logik in einer bestimmten Situation seines Lebens dorthin führen soll, wohin ihn sein Lebensstil eigentlich leitet.“ (A S. 82)
Vom Jung’schen Standpunkt aus gesehen, ist diese Traumtheorie selbstverständlich völlig unhaltbar, und einem Jungianer müssen die Traumdeutungen, die Adler beispielsweise im Buch ‘Individualpsychologie in der Schule’ gibt, als naiv und aus vollkommener Hilflosigkeit dem Irrational-Symbolhaften gegenüber entsprungen erscheinen. Diese Deutungen liegen einerseits zumeist auf der reinen Objektstufe, andererseits können sie tatsächlich ob der Voreingenommenheit, dass sie grundsätzlich nichts Neues bringen können, die Einsicht in das psychische Geschehen nicht wesentlich bereichern.
Im Gegensatz zu Adler ist Jung davon überzeugt, dass der Traum wesentlich anderes zu Tage schafft, als das, was im bewussten Lebensvollzug ohnehin erkennbar ist, ja, dass er gerade das zur Darstellung bringt, was das Individuum bewusst nicht realisiert. Mit andern Worten: Der Traum hat – wie übrigens die Dynamik des Unbewussten ganz allgemein – eine kompensatorische Funktion. Dadurch erhalten die irrationalen Produktionen des Unbewussten (Träume, Phantasien) einen Eigenwert, der einen andern Zugang und ein positiveres Verhältnis zum Irrationalen und zum Symbolhaften geradezu erfordert. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Akzeptieren der aus irrationalen Tiefen entsprungenen Symbolen und der Versuch der Deutung nur einen Aspekt des positiven Verhältnisses Jungs zum Irrationalen darstellt: das Irrationale ist in gewissem Sinne Vorwurf an die Ratio, die Erkenntnis (und damit das rationale Element) zu erweitern. Dem steht ein zweiter Aspekt gegenüber: dass nämlich das Irrationale in seinem So-Sein (als irrational) belassen wird, ja als eine mögliche Form menschlicher Existenzweisen postuliert wird. Irrationalität wird dann nicht nur – gewissermassen gezwungenerweise – zugestanden, sondern als dem Menschen neben der Rationalität gleichfalls zugehörig bejaht. Dies tut Jung allerdings aus der psychologischen Erkenntnis heraus, dass im andern Falle der Mensch hoffnungslos erkrankt und aus dem Geleise geworfen wird. Hören wir zum Schluss Jung selbst: „Die Fülle des Lebens ist gesetzmässig und nicht gesetzmässig, rational und irrational. Darum gelten die Ratio und der in ihr begründete Wille nur eine kurze Strecke weit. Je weiter wir die rational gewählte Richtung ausdehnen, desto sicherer können wir sein, dass wir damit die irrationale Lebensmöglichkeit ausschliessen, die aber ebensogut ein Recht hat, gelebt zu werden.“ (D S. 53) „Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, als dass man das Irrationale als eine notwendige, weil immer vorhandene psychische Funktion anerkennt.“ (D S. 103) „Das Irrationale soll und kann nicht ausgerottet werden.“ (D S. 78)
Schlussbemerkung:
Es ist mir bewusst, dass die Darstellung der beiden Menschenbilder noch in keiner Weise erschöpfend geleistet wurde. Meine ursprüngliche Absicht war es denn auch, neben den hier behandelten Themen noch die folgenden zu erörtern: Begriff der Psyche, der Mensch als geschlechtliches Wesen, Krankheit und Heilung.
4 Literaturverzeichnis
A | Adler: Individualpsychologie in der Schule, Fischer-TB 1973 |
B | Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Olten 1971 |
C | Jung: Das Gewissen als Problem, Darmstadt 1966 |
D | Jung: Über die Psychologie des Unbewussten, Olten 1971 |
E | Jung: Psychologische Typen (Skript) |
F | Adler: Über den nervösen Charakter, Fischer-TB 1973 |
G | Bitter: Freud – Adler – Jung, Kindler-TB |
H | Rattner: Die Individualpsychologie Alfred Adlers, Kindler 1974 |
I | Wyss: Die tiefenpsychologischen Schulen, Göttingen 1972 |
J | Jung: Welt der Psyche, Kindler-TB |
K | Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie, München 1967 |
L | Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse, Fischer 1955 |