Die Individualpsychologie Alfred Adlers
1 Kurzbiographie
Alfred Adler wurde 1870 in Wien geboren und wirkte daselbst als Arzt. Sigmund Freud forderte ihn 1902 auf, seiner Studiengruppe beizutreten. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit entwickelte Adler aber seine eigenen Ansichten, weshalb es 1911 zu einem offenen Bruch zwischen den beiden kam. Adler begründete nun seine eigene Auffassung der Individualpsychologie, mit einer eigenen Schule und einer eigenen Zeitschrift. Ab 1925 reiste er häufig nach Amerika, wo er sich 1935 endgültig niederliess. Hier fand seine Psychologie grosse Beachtung und Anerkennung bis in die Gegenwart. Während einer Vortragsreise starb Alfred Adler 1937 in Aberdeen.
Wichtige Werke: Menschenkenntnis. Über den nervösen Charakter. Der Sinn des Lebens. Individualpsychologie in der Schule. Heilen und Bilden. Theorie und Praxis der Individualpsychologie.
2 Kausalität – Finalität
Angenommen, ein Schüler stört den Unterricht, so drängen sich zwei mögliche Fragen auf:
· Was ist die Ursache des störenden Verhaltens? (kausale Betrachtung)
· Was ist der Zweck des störenden Verhaltens? (finale Betrachtung)
Im ersten Fall blicke ich in die Vergangenheit des Schülers und stelle möglicherweise fest, dass er eine belastende frühe Kindheit hatte und jetzt als Schlüsselkind bei der berufstätigen Mutter lebt.
Im zweiten Fall habe ich die Zukunftsbezogenheit des Schülers im Auge und stelle möglicherweise fest, dass er stets die Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, um im Zentrum stehen zu können.
Die meisten Psychologen legten zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schwergewicht auf die ursächliche (kausale) Betrachtungsweise. Freud z.B. verstand das Verhalten des Menschen vorwiegend als Wirkung frühkindlicher Erfahrungen, und die meisten Verhaltenspsychologen (Behavioristen) betrachteten alle Äusserungen des Menschen als Reaktionen auf vorausgehende Reize.
Adler setzte hier mit seiner Kritik ein: Er wies darauf hin, dass alles Lebendige einem Ziel bzw. Zweck entgegenstrebt und dass menschliches Verhalten in seinem Wesen nur verstehbar ist, wenn man es als ziel- und zweckgerichtet betrachtet. Die Beweggründe für unser Verhalten liegen somit nicht einfach in der Vergangenheit, sondern wesentlich in der Zukunft. Adler war der Ansicht, dass vorausgehende Ursachen zu den verschiedensten Verhaltensweisen führen können, die unter sich kaum einen sinnvollen Zusammenhang haben, und dass es nur die in der Zukunft liegenden Zwecke sind, die bewirken, dass in unserem Verhalten Konsequenz und Einheitlichkeit zu erkennen sind. Er war überzeugt: Wer einen Menschen oder eine einzelne Verhaltensweise eines Menschen verstehen will, muss nach dessen Zielen und Zwecken forschen.
3 Der Mensch als Ganzheit
Die Bewusstseinspsychologen (Begründer: Wilhelm Wundt) hatten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das Experiment in die wissenschaftliche Psychologie eingeführt. Ebbinghaus beispielsweise untersuchte in unzähligen Versuchsreihen die Gesetzmässigkeiten des Gedächtnisses und stellte die statistischen Ergebnisse graphisch dar (Vergessenskurven). Adler hielt wenig von der Experimentalpsychologie, weil er überzeugt war, dass sie den Einzelmenschen gewissermassen in unzusammenhängende Einzelteile zerstückele und dass darum die so gewonnenen Ergebnisse für das Verstehen des Einzelnen wenig bringen können. Für ihn war klar, dass ein ,gutes’ oder ,schlechtes’ Gedächtnis nicht einfach eine gehirnphysiologische Angelegenheit ist, sondern seinen Sinn hat im Rahmen der gesamten Persönlichkeit. So war er beispielsweise der Ansicht, dass ein Mensch möglicherweise darum ein ,schlechtes’ Gedächtnis entwickelt, um sich verantwortungsvollen Aufgaben entziehen zu können.
Im Gegensatz also zu den Experimentalpsychologen, denen es mehr um allgemeine Gesetzmässigkeiten der einzelnen psychischen Funktionen ging als um das Verständnis des einzelnen Menschen, versuchte Adler die Ganzheit des Individuums zu verstehen. Er nannte darum seine Psychologie ,Individualpsychologie’, wobei er freilich nicht bemerkte, dass dieser Ausdruck bereits verwendet wurde als Gegensatz zur Sozialpsychologie.
(Die Individualpsychologie im ursprünglichen Sinn befasst sich mit dem Individuum, die Sozialpsychologie mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. Da – wie sich zeigen wird – Adler den Menschen grundsätzlich als soziales Wesen sieht, das so oder so stets auf die Mitmenschen bezogen ist, gehört seine ,Individualpsychologie’ eigentlich in den Bereich der Sozialpsychologie.)
Natürlich richtete auch Adler das Augenmerk auf Teilaspekte der Persönlichkeit, aber er war überzeugt, dass die einzelnen Züge eines Menschen wiederum nur auf dem Hintergrund seiner Ganzheit zu verstehen sind. Damit stand er vor einem Problem, dem sich eigentlich jeder gegenübersieht, der einen Sachverhalt verstehen will: Die einzelnen Teile sind nur verstehbar im Hinblick auf das Ganze, und das Ganze wiederum kann nur erfasst werden, insofern einzelne Teile verstanden sind. In der Hermeneutik (Lehre des Verstehens) nennt man diese wechselseitige Abhängigkeit den hermeneutischen Zirkel.
4 Minderwertigkeit und Kompensation
Bekanntlich sind die Menschen ungleich, und zwar in jeder Hinsicht. Kein einziger verfügt über dieselben Talente, Charakterzüge und Neigungen wie ein anderer. Es gibt drei Möglichkeiten, das Entstehen von unverwechselbaren Individualitäten zu erklären:
- durch die unterschiedlichen Umwelteinflüsse
- durch unterschiedliche Erbanlagen
- durch die Annahme, dass der geistig-seelische Kern des Menschen bereits vor der Zeugung existierte und sich in einen physischen Leib inkarniert
Dass die Umwelt den Menschen prägt, lässt sich leicht nachweisen und ist so offensichtlich, dass Beweise als beinahe überflüssig empfunden werden. In Bezug auf die Erbanlagen ist das schwieriger, und die dritte Hypothese (Präexistenz) ist wohl wissenschaftlich kaum beweisbar und wird daher nur von Vertretern bestimmter Glaubensrichtungen akzeptiert. Der Annahme, dass alle drei Faktoren die Individualität mitprägen, steht grundsätzlich nichts im Wege.
Adler zog als Materialist, Sozialist und Atheist die Möglichkeit der Präexistenz gar nicht in Erwägung, lehnte auch die individuelle Vererbung ab und anerkannte bloss die Umwelteinflüsse als prägende Kräfte. Aber er sah natürlich auch, dass Menschen in einer relativ homogenen Umwelt (z.B. in derselben Familie) sich sehr verschieden entwickeln können, und so fragte er sich, wie diese individuellen Unterschiede zu erklären seien. Da machte er als Arzt eine interessante Entdeckung, die ihm eine schlüssige Antwort auf diese Frage zu geben schien: Er stellte nämlich fest, dass es gewisse Menschen mit geschädigten oder geschwächten Organen (‘Organminderwertigkeit’) ausgerechnet auf den durch die Schädigung betroffenen Gebieten zu überdurchschnittlichen Leistungen bringen können. Ein Musterbeispiel war für ihn der griechische Redner Demosthenes, der von Natur aus eine schwache Stimme hatte und erst noch an einem für eine Rednerlaufbahn höchst hinderlichen Tic litt. Bekanntlich konditionierte er sich den Tic weg, indem er ein Schwert mit der Spitze nach unten an die Decke über seine nackte Schulter hängte, so dass er jedesmal gestochen wurde, wenn seine Schulter unnötigerweise nach oben zuckte. Und um seine Stimme zu stärken, stellte er sich an die Meeresküste und schrie seine Reden gegen die tosende Brandung. Nach Adler überwand auch Van Gogh seine Sehschwäche dadurch, dass er Maler wurde. Man kann das von Adler beobachtete Phänomen immer wieder feststellen. So wurde das traditionelle Zürichsee-Schwimmen (Rapperswil – Zürich) über lange Zeit von einem beinamputierten Schwimmer gewonnen, und der ebenfalls beinamputierte Arnie Boldt übersprang an der Olympiade der Behinderten im Hochsprung fast 2 Meter. Auch dass Georges Paillout über 200’000 km mit einem Stelzbein zu Fuss durch die Welt gezogen ist, weiss man allgemein, denn er hat selbst dafür gesorgt, dass man dies in vielen Zeitungen nachlesen kann. Alle diese Sonderleistungen haben nach Adler den Zweck, die erlebte Minderwertigkeit der geschwächten Organe auszugleichen, zu kompensieren.
Nun ist in gewissem Sinne jeder Mensch bei der Geburt als minderwertig zu bezeichnen, da ihm der noch unreife Organismus die Äusserungen der spezifisch menschlichen Verhaltensweisen noch nicht gestattet. Der Anthropologe Arnold Gehlen bezeichnet darum den Menschen (in Anlehnung an Herder) als ,Mängelwesen’. Adler ist davon überzeugt, dass das Kleinkind diese ,objektive Minderwertigkeit’ fühlt, da es sich unvermeidlich mit den älteren Kindern und Erwachsenen vergleicht. Das ,Minderwertigkeitsgefühl’ ist somit eine psychische Grundgegebenheit in jedem heranwachsenden Menschen und treibt ihn auch lebenslang zu kompensierenden Leistungen an.
Nach Adler erklären sich nun die individuellen Unterschiede der Menschen dadurch, dass jeder aufgrund seiner sozialen Situation (z.B. Stellung in der Geschwisterreihe) eine für ihn typische Art des Kompensierens ausbildet (siehe Kapitel 6: Die Leitlinie).
5 Zwei Möglichkeiten des Ausgleichs
Der Mensch ist grundsätzlich ein soziales Wesen. Er kann als Einzelner nicht Mensch werden und im allgemeinen auch nicht überleben. Adler ist davon überzeugt, dass dem Menschen ein Gefühl für sein Hingeordnetsein auf die Gemeinschaft angeboren ist. Er nennt es ,Gemeinschaftsgefühl’. Ist dieses Gefühl genügend entwickelt, so kommt der Mensch zur Erkenntnis, dass er seine gefühlte und auch objektiv bestehende Minderwertigkeit nur dadurch auf eine menschenwürdige Weise ausgleichen kann, dass er mit andern zusammenarbeitet und die Lebensaufgaben gemeinsam löst. Minderwertigkeit kann also durch Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ausgeglichen werden.
Fatalerweise legen nun aber nach Adler die gegebenen sozialen Strukturen (Kapitalismus) und der Zeitgeist (Konkurrenz–Denken) dem Kinde, das seine Minderwertigkeit erlebt, die Fiktion nahe, es könnte einen Ausgleich durch individuelles Höherstreben erreichen. Mit diesem ichbezogenen vertikalen Streben versucht der Einzelne, sich Anerkennung und Geltung zu verschaffen, Überlegenheit über andere zu gewinnen oder Macht auf sie auszuüben. Adler hält dieses Streben nach Anerkennung, Geltung, Überlegenheit und Macht als Kompensation des allgegenwärtigen Minderwertigkeitsgefühls zwar auf der einen Seite für eine verfehlte Antwort auf die objektiv gegebene Minderwertigkeit, auf der andern Seite aber für den Motor für die allermeisten menschlichen Verhaltensweisen. (Ein christlicher Theologe könnte versucht sein, in diesem Adlerschen Gedankengang eine psychologische Entsprechung zur traditionellen Vorstellung des Christentums von der Gefallenheit des Menschen zu erkennen.)
Die Aufgabe des Menschen (und damit auch der Erziehung sowie der psychotherapeutischen Arbeit) ist es nun, das vertikale Streben bewusst abzubauen zugunsten der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls (horizontales Streben).
6 Die Leitlinie
Nach Adler bringen die Erfahrungen in der frühen Kindheit das Kind dazu, dieses Höherstreben (Kompensieren) mit bestimmten, sich stets wiederholenden Verhaltensmustern zu realisieren. Mit andern Worten: Das Kind legt sich schon früh einen persönlichen Lebensstil zurecht, von dem es annimmt, dass er ihm das Erreichen der erwähnten Ziele (Anerkennung und Geltung, vielleicht auch Überlegenheit und Macht) garantiert. Adler spricht in diesem Zusammenhang von einem ,geheimen Lebensplan’ und drückt damit aus, dass diese Zusammenhänge dem Kind selbstverständlich unbewusst sind. Adler verwendet für die individuellen Verhaltensmuster, mit denen Minderwertigkeitsgefühle kompensiert werden, gelegentlich den Ausdruck ,Lebensschablone’, meistens jedoch den Begriff ,Leitlinie’.
Leitlinien können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Je grösser die Minderwertigkeitsgefühle sind, desto tyrannischer ist die Leitlinie und desto mehr wird sie auch vom Individuum als innerer Zwang erlebt. Dieses Zwanghafte der Leitlinien kommt in den Formulierungen durch das ,Ich muss …’ zum Ausdruck.
Beispiele:
„Ich muss stets der Erste sein, wenn ich angenommen sein will.“
„Ich muss durch Clownerie, durch Witz, durch Charme usf. im Zentrum stehen.“
„Ich muss mich selbst aufgeben und mich ganz für andere aufopfern.“
„Ich darf nicht auffallen und muss mir meinen Platz durch zurückhaltendes Wesen und durch Schweigen sichern.“
„Ich muss stets dagegen sein.“
„Ich muss mich stets anpassen und unterziehen.“
„Ich muss immer angreifen und darf mich nie in die Defensive drängen lassen.“
„Ich muss Besitztümer anhäufen und vorzeigen können.“
„Ich muss mich stets klein machen und meine Schwächen hervorstreichen.“
„Ich darf mir niemals eine Blösse geben.“
„Ich muss leiden.“
„Ich muss mich pflegen lassen.“
„Ich muss mich in jeder Situation in der Gewalt haben.“
„Ich muss immer die Verantwortung tragen.“
„Ich muss stören.“
Adler ist davon überzeugt, dass man erst dann in Anspruch nehmen kann, das Wesen eines Menschen (einigermassen) zu verstehen, wenn man dessen Leitlinie erkannt hat; dann ist man auch in der Lage, sein Verhalten in einer bestimmten Situation vorherzusagen. Das zeigt natürlich, dass die zwanghafte Wirkung der Leitlinie stets ein Stück Unfreiheit bedeutet und die Vielfalt menschlicher Verhaltensmöglichkeiten einschränkt. Es ist daher nach Adler die Hauptaufgabe der Psychotherapie, die Leitlinie aufzudecken und den Menschen von ihrem tyrannischen Einfluss zu befreien. Gelingt dies, so muss der betreffende Mensch nicht länger der Fiktion der individuellen Selbsterhöhung (Adler nennt dies auch: ,Gottähnlichkeitsstreben’) nachjagen, sondern kann seine Lebensaufgaben sachlich, d.h. im Hinblick auf deren gesellschaftlichen Nutzen angehen und lösen.
Blickt man auf die Liste der oben genannten Leitlinien, so drängt sich die Frage auf, ob es denn nicht wünschenswert ist, dass z.B. ein Mensch Verantwortung übernimmt. Da ist zu bemerken, dass es Adler nicht um die objektive Beurteilung einer Handlung geht, sondern um das Verstehen der subjektiven Motive. Es ist eben ein grundsätzlicher Unterschied, ob jemand aus sachlicher Notwendigkeit und aufgrund eines entwickelten Gemeinschaftsgefühls Verantwortung übernimmt oder eben nur darum, weil er das Verantwortungtragen braucht, damit er sich bestätigt fühlen kann. Im ersten Fall beruht die Übernahme der Verantwortung auf Einsicht und Freiheit und ist demnach nach Adler ein Ausdruck von ,Sachlichkeit’, im zweiten Fall aber beruht das Tragenwollen (bzw. –müssen) von Verantwortung auf innerem, psychischem Zwang.
Trotzdem sind natürlich nicht alle Leitlinien vom selben Wert, auch wenn sie letztlich in jedem Falle in einem gewissen Masse der individuellen Selbsterhöhung dienen. Grundsätzlich kann sich nämlich das vertikale Streben mit dem Gemeinschaftsgefühl verbinden, so dass die auf einer solchen Leitlinie beruhenden Verhaltensweisen der Gemeinschaft oder Gesellschaft dienlich sind. In diesem Falle bewegt sich der Mensch ,auf der nützlichen Seite des Lebens’ (nützliche Leitlinie). Besonders verhängnisvoll wirkt sich die Leitlinie aus, wenn sie den Menschen dazu veranlasst, sich ,auf der unnützlichen Seite des Lebens’ zu bewegen (unnützliche Leitlinie): Er ist dann asozial, kriminell, süchtig, neurotisch oder psychotisch.
Nicht alle der vorstehend aufgelisteten Leitlinien klingen auf Anhieb so, als wären sie geeignet, dem betreffenden Individuum Geltung, Überlegenheit und Macht zu gewährleisten. So könnte man annehmen, dass sich ein Mensch, der sich für andere aufopfert, auf der horizontalen Linie bewegt. Das ist durchaus möglich, es kann aber auch sein, dass der Betreffende das Sich–Aufopfern für sich braucht, um seine Minderwertigkeitsgefühle kompensieren zu können. Dass dann Geltungsdrang im Spiele ist, lässt sich durch genaueres Beobachten unschwer feststellen, und die Menschen, denen ,zuliebe’ die Aufopferung geschieht, können meist auch bezeugen, dass auf sie Macht ausgeübt wird. Adler unterscheidet daher direkte von indirekten Leitlinien.
Verfolgt jemand seine Ziele mittels einer direkten Leitlinie, so besteht über das vertikale Streben keinerlei Zweifel. Im Bereiche der nützlichen Leitlinien finden wir dann etwa Spitzensportler, Künstler oder Führertypen jeglicher Art (Offiziere, Wissenschaftler, Politiker, Manager, Lehrer usf.), und im Bereiche der unnützlichen Leitlinien entdecken wir Querulanten und Kriminelle.
Indirekte Leitlinien hingegen erwecken den Anschein der Negation des vertikalen Strebens, dienen aber bei näherem Besehen ebenfalls den Zielen der Selbsterhöhung. In ihrer nützlichen Ausprägung finden wir sozial tätige Menschen (wobei nochmals betont werden soll, dass soziales Engagement natürlich auch ein Ausdruck von entwickeltem Gemeinschaftsgefühl sein kann), in ihrer unnützlichen Ausprägung Menschen, die ihr Leiden und ihre Schwächen zur Schau stellen und damit ihre Mitmenschen tyrannisieren (siehe Punkt 9: Minderwertigkeitskomplex).
Demnach gibt es von den nützlichen bzw. unnützlichen Leitlinien je eine direkte und eine indirekte Ausprägung.
Hier einige Beispiele:
nützliche Leitlinien: |
unnützliche Leitlinien: |
|
direkte |
Ich muss auf jeden Fall die Verantwortung tragen. Ich muss durch Erfolg glänzen. |
Ich muss querulieren. Ich muss angreifen. Ich muss anderen meinen Willen aufzwingen |
indirekte |
Ich muss mich für andere aufopfern. Ich muss stets charmant sein. |
Ich muss krank sein. Ich muss meine Schwäche demonstrieren. |
7 Tendenziöse Apperzeption
Als Apperzeption bezeichnet die Psychologie das verstehende, deutende, strukturierende Wahrnehmen. Dabei wird das Wahrzunehmende mit Hilfe der eigenen Denk– und Fühlstrukturen erfasst und in eben diese Strukturen eingebaut. Mit andern Worten: Verantwortlich für das, was wir wahrnehmen, sind nicht nur die von aussen kommenden Sinnesreize, sondern ebenso sehr unsere individuellen Voraussetzungen: Weltanschauung, Interessen, bereits gemachte Erfahrungen, Wissen, Denkstil, Art und Weise des Fühlens und Denkens, Stimmungen, Bedürfnisse.
In der Individualpsychologie Adlers kommt diesem Sachverhalt eine zentrale Bedeutung zu. Zwischen der Wahrnehmung und der Leitlinie besteht nämlich eine Wechselbeziehung:
- Einerseits bestimmen frühe Erlebnisse (Wahrnehmungen) die konkrete Ausbildung der Leitlinie,
- andererseits nehmen wir – sobald sich die Leitlinie gefestigt hat – alles gemäss dieser Leitlinie wahr.
Die Leitlinie ist somit nicht nur bestimmend für das Verhalten, sondern auch für die Wahrnehmung.
Um den weiteren Gedankengang zu verstehen, muss man nun unterscheiden zwischen dem allgemeinen (bei allen Menschen gleichen) und dem spezifischen (individuell verschiedenen) Inhalt der Leitlinie:
Bei allen Menschen gleich ist nach Adler das ihren Leitlinien zu Grunde liegende Streben nach Anerkennung, Geltung, Überlegenheit und/oder Macht. | Von Mensch zu Mensch verschieden sind indessen die spezifischen Leitlinien (siehe Kapitel 6), d. h. die Art und Weise, wie jeder das allgemeine Ziel zu erreichen hofft. |
Dieselbe Unterscheidung muss nun gemacht werden in bezug auf die durch die Leitlinie bestimmte Apperzeption:
Das bei allen Menschen Gleiche: Die Kultur und der Zeitgeist legen uns (nach Adler) nahe, alles uns Begegnende nach dem polaren Schema ,oben = gut; unten = schlecht’ wertend zu apperzepieren. Fatalerweise hat sich im Laufe der Geschichte diese Wertung mit der Polarität ,männlich – weiblich’ verbunden, weshalb Männlichsein als ,Obensein’ und damit als erstrebenswert gilt, während Weiblichkeit als ,Untensein’ mit Minderwertigkeit gleichgesetzt wird. Adler betrachtete dieses Streben nach einem Männlichkeitsideal nicht nur als die Ursache für die weltweite Unterdrückung der Frau, sondern auch als das allgemeine menschliche Grundübel, das jedem sachlichen und von Wohlwollen geprägten Zusammenleben im Wege steht. Er bezeichnet dieses Streben nach einem Männlichkeitsideal als ,männlichen Protest’. Dieser äussert sich beim Mann darin, dass er mit allen Mitteln seine Vorrangstellung verteidigen will, und bei der Frau, dass sie versucht, sich mit allen Mitteln die Vorrangstellung des Mannes anzueignen, womit auch sie sich am Männlichkeitsideal orientiert. |
Das von Mensch zu Mensch Verschiedene: Jeder Mensch nimmt nach Adler die Welt gemäss seiner persönlichen Leitlinie wahr. So erlebt beispielsweise jemand mit der Leitlinie „Ich muss stets angreifen“ eine Diskussion in einem Wirtshaus völlig anders als jemand mit der Leitlinie „Ich muss mich stets anpassen und unterziehen“: Während der erste insbesondere jene Meinungsäusserungen beachtet, die seinen Ansichten widersprechen, nimmt der zweite diejenigen Aussagen wahr, denen er beipflichten kann. Durch diese tendenziöse Apperzeption hat sich die Weltsicht von beiden bestätigt. |
8 Sicherungstendenz
Die menschliche Seele lässt sich denken als ein äusserst zartes, verletzliches Gebilde, das sich im Verlaufe der Kindheits–Entwicklung zunehmend mit einer ,Schutzhülle’ umgibt. Wird diese Schutzhülle durchbrochen, erwacht im Menschen im allgemeinen das Gefühl der Scham. Er fühlt sich blossgestellt, ausgeliefert, verraten.
Man kommt am ehesten zu einer Vorstellung dieser Schutzhülle, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchen Lebenssituationen sie – ganz oder nur teilweise – zusammenbricht oder aufgegeben wird, nämlich:
bei starken Frustrationen: | bei starken positiven Affekten: | in extremen Sozialsituationen: | in extremer Schwäche: |
Wut, Aggression | im Freudentaumel | in der Masse | im Rausch |
extreme Angst | im Liebesakt | im völligen Alleinsein | in der Krankheit |
Schmerz, Trauer | in der sexuellen Lust | im absoluten Vertrauen | im Schlaf |
Verzweiflung | in jeder Form der Ekstase | im Sterben |
Bei einem Säugling ist noch nichts vorhanden von dieser Schutzhülle. Er kehrt seine ganze Innenwelt nach aussen und lässt seinen Gefühls– und Befindlichkeitsäusserungen freien Lauf. Aber im Verlaufe der Jahre erwirbt der Mensch die Fähigkeit, sein Innenleben gegen aussen – mindestens teilweise – zu verbergen. Er muss im Interesse eines vernünftigen Zusammenlebens seine Gefühle und Triebimpulse ein Stück weit steuern lernen. Er tut dies nicht zuletzt aus der Erfahrung heraus, dass er von den Mitmenschen verletzt werden kann, wenn er sich ihnen völlig ungeschützt zeigt. Durch solche Verletzungen erhalten insbesondere die bei allen Menschen latent vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle neue Nahrung, was als schmerzhaftes Unterliegen erlebt wird.
Je grösser bei einem Menschen nun die Minderwertigkeitsgefühle sind, desto heftiger ist seine Angst vor dem Unterliegen. Dieses erlebt er eben als schmerzende Bestätigung seiner Minderwertigkeit. Und wie wir wissen, führt das erlebte Minderwertigkeitsgefühl zu jeder Form von Kompensation. All die Kompensationen des Minderwertigkeitsgefühls entspringen demgemäss der Angst, die selbst erlebte Minderwertigkeit könnte von andern wahrgenommen und ausgenützt werden. Jeder Mensch sichert sich daher ständig mehr oder weniger ab, um sich ja keine Schwäche oder Blösse zu geben. Adler nennt diese Grundgestimmtheit ,Sicherungstendenz’. Je grösser die Minderwertigkeitsgefühle sind, desto grösser ist auch die Sicherungstendenz und desto geringer ist die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen. Damit wird die Begegnungs– und Liebesfähigkeit in erheblichem Masse eingeschränkt, da jede wirkliche Begegnung mit einem Menschen (und einer Sache) ein Wagnis einschliesst. Die Begegnungs– und Liebesfähigkeit eines Menschen verhält sich somit zu seinen Minderwertigkeitsgefühlen und seinen kompensatorischen Absicherungen umgekehrt proportional: Je minderwertiger er sich fühlt, desto verbissener kämpft er und desto stärker mauert er sich ein. Die Sicherungstendenz – so unumgänglich sie für das gesellschaftliche Leben ist – hemmt das Leben, und die Schutzmauer wird im Extremfall zur tödlichen Kruste.
Es ist indessen zu betonen, dass die beschriebene ,Schutzhülle’ nicht bloss Echtheit in der mitmenschlichen Begegnung erschwert oder verhindert, sondern andererseits auch das gesellschaftliche Zusammenleben erleichtert und teilweise erst ermöglicht. Die Absicherung ist demgemäss – für sich genommen – ambivalent, d. h. zugleich belastend und notwendig. Zum echten Problem wird die Sicherungstendenz dann, wenn die Absicherung auch dort nicht aufgegeben werden kann, wo die Möglichkeit bestünde: in der Liebe und in an sich unproblematischen zwischenmenschlichen Beziehungen.
9 Der Minderwertigkeitskomplex
Es gilt, drei verwandte Begriffe auseinanderzuhalten, nämlich:
- objektive Minderwertigkeit
- Minderwertigkeitsgefühl
- Minderwertigkeitskomplex
Mit objektiver Minderwertigkeit meint die Individualpsychologie den Tatbestand, dass entweder ein Mensch durch geschädigte Organe behindert ist (‘Organminderwertigkeit’), oder dann ganz einfach die Tatsache, dass der Säugling hinsichtlich seinen spezifisch menschlichen Möglichkeiten dem weiterentwickelten Kinde oder dem Erwachsenen unterlegen ist.
Das Minderwertigkeitsgefühl ist das subjektive Erleben dieses objektiv gegebenen Sachverhalts. Der Grad seiner Ausprägung ist indessen nicht nur von der objektiven Minderwertigkeit abhängig, sondern insbesondere von der Art und Weise, wie ein Mensch als Kleinkind von seinen Bezugspersonen akzeptiert und ermutigt wurde und wie er von seinen Mitmenschen angenommen wird. Das Minderwertigkeitsgefühl darf also, obwohl bei jedem Menschen vorhanden, nicht als eine fixe Grösse betrachtet werden.
Von einem Minderwertigkeitskomplex spricht Adler dann, wenn ein Individuum seine Minderwertigkeit zur Schau stellt, sie ausspielt, um damit Anerkennung, Überlegenheit, Geltung und/oder Macht zu erlangen. So kann z.B. jemand seinen Mitmenschen dauernd besondere Rücksichtnahme und Zuwendung abnötigen durch mimosenhafte Verletzlichkeit oder dadurch, dass er ständig wiederholt, es wäre ihm wohl bewusst, dass man ihn nicht achte, dass er zu nichts tauge, dass er weniger wert sei als die andern usf. Oder jemand kann sich durch ein zur Schau gestelltes schlechtes Gedächtnis oder durch allerhand Angstzustände seine Mitmenschen hörig und untertan machen. Der Minderwertigkeitskomplex ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass ein Mensch an einer Neurose leidet.
10 Die Neurose
Adlers Hauptwerk heisst ,Über den nervösen Charakter’. Er beschreibt darin die Existenzweise des Neurotikers. Dieser bewegt sich – insoweit er neurotisch ist – auf der ,unnützlichen Seite’ des Lebens, sein vertikales Streben ist stark ausgeprägt, und seine Sicherungstendenz ist hochgradig übersteigert. Dadurch wird der neurotische Mensch ein Sklave seiner eigenen Zwänge, er ist unfrei und verschliesst sich den Menschen und dem Reichtum der Welt. Der Neurotiker ist nur in eingeschränktem Masse beziehungs– und liebesfähig. Er befragt unbewusst jede Situation unter dem Gesichtspunkt: „Was trägt sie mir ein?“, statt: „Was kann ich beitragen?“ Selbst wenn er vordergründig etwas Nützliches beiträgt, geht es ihm zutiefst nicht um die Sache, sondern um seine Geltung und Selbsterhöhung.
In der Psychotherapie geht es darum, dass der neurotische Mensch vorerst Einsicht gewinnt in seine verhängnisvolle Leitlinie. Das allein bewirkt aber noch keine Heilung. Wesentlich ist, dass der psychisch leidende Mensch seinen Therapeuten als wohlwollenden, annehmenden Menschen erfährt und dass er im Rahmen dieser zwischenmenschlichen Beziehung allmählich lernt, neue Verhaltensmuster aufzubauen.
11 Das Verhältnis zwischen vertikalem und horizontalem Streben
Im Hinblick auf die Tatsache, dass jedes Kind – gleichgültig, in welchen sozialen Verhältnissen es lebt – seine objektive Minderwertigkeit gefühlsmässig erlebt und dadurch Minderwertigkeitsgefühle ausbildet, ist nicht anzunehmen, dass es Menschen gibt, deren Verhalten keinerlei kompensatorischen Charakter hat. Jeder Mensch hat also in seinem Seelenleben neurotische Züge. Trotzdem ist der Anteil an Kompensation im Verhalten der einzelnen Menschen sehr unterschiedlich: Während bei den einen das Gemeinschaftsgefühl stark ausgebildet ist, dominiert bei andern das Überlegenheits– und Machtstreben. Theoretisch kann man davon ausgehen, dass sich das Machtstreben umgekehrt proportional (komplementär) zum Gemeinschaftsgefühl verhält: Je mehr vom einen, desto weniger vom andern.
In der folgenden Auflistung finden sich komplementäre Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten, die der vertikalen bzw. horizontalen Linie entsprechen. Sie können auch als ein Ausdruck dessen verstanden werden, was die neuere Philosophie als ,Haben’ oder als ,Sein’ zu charakterisieren pflegt (Adler selbst verwendet diese Begriffe nicht):
Vertikale Linie: | Horizontale Linie: |
Machtstreben | Liebesmöglichkeit |
Minderwertigkeitsgefühl | Selbstwertgefühl |
Geltungsstreben | Sachbezogenheit |
Sicherungstendenz, Absicherung | Risikobereitschaft |
Angst | Sicherheit |
Selbst-Ablehnung | Selbst-Annahme |
Eigenliebe, Selbsthass | Selbstliebe |
Verschlossenheit | Offenheit |
Maske, Rolle | Echtheit |
Misstrauen | Vertrauen |
Zwanghaftigkeit | Freiheit |
Heteronomie (wichtig ist, was man tut) | Autonomie (Eigenständigkeit) |
Entspricht der Modalität ,Haben’ | Entspricht der Modalität ,Sein’ |
Regeln:
1. Die Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten in derselben Kolonne verhalten sich zueinander proportional.
Beispiele: Je grösser das Geltungsstreben, desto grösser das Bedürfnis, eine Maske zu zeigen und eine unwahre Rolle zu spielen. / Je mehr ein Mensch sich selbst wirklich annimmt, desto echter kann er sein.
2. Die Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten der linken Kolonne verhalten sich zu denjenigen in der rechten Kolonne umgekehrt proportional (komplementär).
Beispiele: Je eigenständiger ein Mensch ist, desto weniger ist er von den Meinungen anderer Leute abhängig. / Je mehr ein Mensch auf Ansehen und Geltung ausgeht, desto weniger kann er eine Aufgabe sachlich lösen.
3. Demgemäss können die einzelnen Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten zueinander beliebig proportional oder komplementär in Beziehung gesetzt werden.
Beispiele: Je grösser die Angst bei einem Menschen ist, desto kleiner ist seine Liebesmöglichkeit. / Je mehr ein Mensch seine persönliche Macht sucht, desto weniger kann er echte Risiken eingehen.
4. Beide Seiten gehören zum Menschen. Die Vorstellung, es liesse sich ein Menschsein ohne das Schattenhafte verwirklichen, ist irreal.
5. Psychische Gesundheit ist demgemäss etwas Relatives: Je selbstverständlicher einem Menschen die Seins-Modalität zur Verfügung steht, desto gesunder ist er. Krank (neurotisch) sind Menschen, die in hohem Masse an die Haben-Modalität fixiert sind und wenig Spielraum in Richtung auf die Seins-Modalität mehr haben.
6. Wie gross jeweils die Anteile der beiden Seiten sind, hängt (a) von der generellen psychischen Gesundheit des Individuums und (b) von der jeweiligen Situation ab.
12 Die Lebensaufgabe
Aufgrund all des Dargelegten wird deutlich, dass es die Aufgabe des Menschen ist, in sich das Gemeinschaftsgefühl und all jene Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten auszubilden, die oben unter der ,Modalität Sein’ zusammengefasst wurden. Dabei muss ihm bewusst bleiben, dass auch das Schattenhafte (vertikales Streben, Kompensation, Haben-Modalität) ein Teil seines Wesens ist. Sich selbst akzeptieren bedeutet somit, auch diese belastenden Seiten der Persönlichkeit anzunehmen, ohne die ständige Arbeit daran aus dem Auge zu verlieren. Diese Haltung lässt sich als ,Gelassenheit’ bezeichnen, was heisst, beharrlich nach der Seins-Modalität zu streben, das Schattenhafte in wahrer Selbsterkenntnis zu entdecken und sich darüber nicht (zu sehr) zu ärgern.
Diese Arbeit an sich selbst ist untrennbar verbunden mit den sozialen Lebensaufgaben. Adler vertritt die Ansicht, dass jeder Mensch drei grundlegende Lebensaufgaben zu lösen habe, die alle sozialer Natur sind:
- das Sich-Bewähren in der Gemeinschaft/Gesellschaft (allgemeine Beziehungsfähigkeit,
Fähigkeit des geselligen Umgangs, öffentliche Aufgaben)- das Sich-Bewähren in der Ehe (auf Wahl beruhende Partnerbeziehung, erotische Liebe,
Sexualität)- das Sich-Bewähren im Beruf (durch die Arbeit leistet der Einzelne seinen Beitrag an die gemeinschaftliche Bedürfnisbefriedigung und hilft so mit, die objektiv gegebene Schwäche des menschlichen Individuums durch einen sachlichen, gemeinschaftlichen Beitrag auszugleichen)
13 Pädagogische Konsequenzen
Entsprechend den drei genannten Aufgaben hat sich das Kind nach Adler mit den drei ,Vorfragen’ auseinanderzusetzen:
- Freundschaft, Kameradschaft
- Beziehung zum andern Geschlecht
- Schule, Berufsausbildung
Adler definiert als Ziel seiner Lebensauffassung: „Verstärkter Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen, die aber ganz nur zu gewinnen sind durch die bewusste Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewussten Abbruch des Strebens nach Macht.“ (Praxis und Theorie der Individualpsychologie, Fischer-TB 6236, S. 32)
Dieses Zitat zeigt, dass sich der Pädagoge einer zweifachen Aufgabe gegenübersieht:
- Der Gegenwirkung (Abbau des Machtstrebens) und
- der Unterstützung (Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls).
Aber gerade die Adlersche Psychologie macht in besonderem Masse deutlich, dass diese beiden Aspekte der Erziehung in der Praxis nicht voneinander zu trennen sind. Der ,Abbruch des Strebens nach Macht’ kann nämlich nur in dem Masse nachhaltig erwirkt werden, als dem Machtstreben die Basis entzogen wird und das ist eben das Minderwertigkeitsgefühl. Abbau des Minderwertigkeitsgefühls ist aber identisch mit Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls.
Paradoxerweise ist aber das Minderwertigkeitsgefühl nicht nur negativ. Adler glaubt nämlich, dass letztlich die ganze Erziehbarkeit des Kindes auf dem Erlebnis seiner Minderwertigkeit beruht; offensichtlich wirkt die Wahrnehmung, dass andere Menschen vieles besser können und in ihrer Entwicklung weiter fortgeschritten sind, auch als Anreiz für Lernen und Entwicklung. Trotz dieses positiven Aspekts hat nach Adler der Erzieher darauf zu achten, dass das Minderwertigkeitsgefühl so klein als möglich gehalten werden kann, damit sich das vertikale Streben in akzeptablen Grenzen hält. Nach Adler hat der Erzieher sorgsam darauf zu achten, dass das Kind von klein auf so wenig als möglich entmutigt wird. Es gilt darum vor allem zwei Erziehungsfehler zu vermeiden, die beide gleichermassen entmutigend sind:
- die Verwöhnung (sie entmutigt das Kind, weil ihm alle Schwierigkeiten abgenommen
werden und man ihm selbst nichts zutraut) und- die Unterdrückung (sie entmutigt das Kind, weil seine Eigeninitiative abgewertet wird).
Sehr entmutigend wirken auch Erzieher (Eltern und Lehrer), die stets nur mit Vollkommenem zufrieden sind, alles bekritteln, was das Kind äussert, und überall das Negative herausstreichen. Auch sehr tüchtige Eltern, die tatsächlich Wertvolles und Perfektes leisten, stellen oft für die Kinder eine Belastung dar. Alle das Selbstwertgefühl des Kindes verletzenden ,Erziehungsmittel’ sind zu vermeiden: Nörgeln, Lächerlichmachen, Blossstellen, Schuldgefühle erwecken, Beleidigen, abschätzig Urteilen usf.
Statt dessen ist das Selbstwertgefühl des Kindes von klein auf bewusst zu stärken. Das geschieht vor allem dadurch, dass man es akzeptiert und liebt, unabhängig von seinen Leistungen. Es geht darum, das Kind zu ermutigen, was nicht gleichbedeutend ist mit loben. Dem Lob muss immer eine als gut gewertete Leistung vorausgehen, wogegen die Ermutigung ein Ausdruck einer positiven emotionalen Beziehung ist. Sie äussert sich z.B. darin, dass wir das Kind ernst nehmen, auf seine wahren Bedürfnisse eingehen, echt Anteil nehmen an dem, was es tut und wofür es sich interessiert, und ihm höflich und mit Respekt begegnen. Dieser Abbau des Minderwertigkeitsgefühls und Aufbau des Selbstwertgefühls steht immer im Dienste der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls, denn dieses kann nicht anders entwickelt werden, als in einer gelebten, von gegenseitiger Zuneigung und Annahme getragenen Gemeinschaft.
Nachtrag:
Pädagogische Grundgedanken von Rudolf Dreikurs
Als Pädagoge bekannt geworden ist ein Schüler Adlers: Rudolf Dreikurs. Bekannte Bücher sind ,Kinder fordern uns heraus’ und ,Psychologie im Klassenzimmer’ (Klett-Verlag Stuttgart, 19715). Dreikurs hat Adler insofern erweitert, als er annimmt, dass der Mensch nicht bloss eine Leitlinie, sondern mehrere ausgebildet hat, so dass ein neues Verhaltensmuster in Funktion treten kann, sobald der betreffende Mensch mit dem zuvor versuchten keinen Erfolg hat. So sieht er mögliche Verlagerungen von Leitlinien störender Kinder einerseits proportional zum abnehmenden (bzw. zunehmenden) Gemeinschaftsgefühl, andererseits proportional zur zunehmenden (bzw. abnehmenden) sozialen Entmutigung.
von links gegen rechts: Abnehmendes Gemeinschaftsgefühl | |||||
nützliche Leitlinien |
unnützliche Leitlinien |
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von oben gegen unten: Zu- sozi- Ent- |
aktiv-konstruktiv | passiv-konstruktiv | aktiv-destruktiv | passiv-destruktiv |
verfolgte Ziele: |
Ich muss Erfolg haben | Ich muss charmant sein | Ich muss Unfug treiben | Ich muss faul sein |
Aufmerksamkeit |
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Ich muss opponieren | Ich muss stur sein |
Überlegenheit |
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Ich muss hinterhältig sein | Ich muss verstockt sein |
Vergeltung |
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Ich muss zeigen, dass ich mich aufgegeben habe |
Demonstration der Unzulänglichkeit |
Bei der obigen horizontalen Auflistung der verschiedenen Klassen von Leitlinien erkennen wir unschwer Adlers Unterscheidung in direkte/indirekte und nützliche/unnützliche Leitlinien. Das Absinken von einer aktiv-konstruktiven (direkt-nützlichen) Leitlinie über die passiv-konstruktive (indirekt-nützliche) und die aktiv-destruktive (direkt-unnützliche) zur passiv-destruktiven (indirekt-unnützlichen) geht nach Dreikurs Hand in Hand mit dem abnehmenden Gemeinschaftsgefühl. Je mehr indessen ein Kind sozial entmutigt ist, desto irrealer werden seine Zielsetzungen. Geht es sozial kaum entmutigten Kindern primär darum, entweder durch Erfolg oder Charme auf positive Weise oder allenfalls durch Unfug und Faulheit auf negative Weise aufzufallen (Aufmerksamkeit erregen), so streben sozial entmutigtere Kinder nach der Überlegenheit über Mitschüler und Lehrer. Sind sie noch mehr abgelehnt, so beginnen sie sich an jenen zu rächen, von denen sie glauben, dass sie sie ablehnen, und führt auch das nicht mehr zum Erfolg, so erfolgt oft die Demonstration der totalen Hilflosigkeit.
Dreikurs unterscheidet grundsätzlich zwei Arten von Verbesserungsmethoden:
- Bei den spezifischen Verbesserungsmethoden handelt es sich um pädagogische Massnahmen, die als Reaktion auf das störende Verhalten eines einzelnen Kindes zu verstehen sind. Nachfolgend soll noch kurz darauf eingegangen werden.
- Mit den unspezifischen Verbesserungsmethoden sind all jene Massnahmen gemeint, die geeignet sind, das Minderwertigkeitsgefühl der Schüler ganz allgemein abzubauen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken, damit störendes Verhalten schon gar keine Ursache hat, in Erscheinung zu treten. Im Vordergrund stehen die Herstellung einer guten Beziehung zwischen Lehrer und Schülern, die Ermutigung, die Pflege des Klassengeistes und – als Wichtigstes – regelmässige Klassengespräche. Dies soll nicht hier, sondern im Zusammenhang mit der Konfliktlösungsmethode von Thomas Gordon näher beleuchtet werden. (Siehe hierzu: Broschüre „Macht, Autorität und Konfliktlösung“ / um an diese Stelle zurückzukommen, klicken Sie im Browser auf „zurück“.)
Die spezifischen Verbesserungsmethoden
1 Die Ziele des Kindes erkennen:
Es entspricht konsequentem Adlerschen Denken, dass der Lehrer angesichts eines störenden Verhaltens nicht primär nach dessen Ursachen sucht, sondern die Ziele, die das Kind damit verfolgt, zu erkennen versucht. Dreikurs zeigt vier Wege auf:
1.1 Deutung des Verhaltens
Im allgemeinen sieht man es einem Verhalten an, welche der vier erwähnten Ziele angestrebt werden.
a) Grundsätzlich betrachten wir den aktiv-konstruktiven Mechanismus, das Streben nach Erfolg als unproblematisch, ja erwünscht, aber spätestens dann, wenn ein Kind zu weinen beginnt, wenn es bloss eine 5–6 kriegt, spüren wir den ungesunden inneren Zwang, welchem es ausgeliefert ist, und erkennen wir, dass es dem Kind nicht primär um die Sache an sich geht, sondern um die Anerkennung durch die andern.
b) Nach Dreikurs wird der passiv-konstruktive Mechanismus, Aufmerksamkeit zu erregen, zumeist übersehen, da der Charme dieser Kinder und ihre Abhängigkeit von andern der Eitelkeit des Lehrers schmeicheln. Sie tun im allgemeinen, was man ihnen sagt, aber sie haben wenig eigene Initiative. Dreikurs hält diese Überangepassten als wesentlich entmutigter als diejenigen, die sich aktiv–destruktiven Methoden bedienen.
c) Die aktiv-destruktive Methode, um Aufmerksamkeit zu erregen, ist allen Lehrern wohlbekannt: Schwatzen, mit Stiften spielen, mit dem Stuhl schaukeln, das Buch laut zuklappen, vernehmlich fluchen, mittels Gummiringen die Mitschüler beschiessen, hoch angeben, unpünktlich erscheinen, Zwischenbemerkungen machen etc.
d) Kinder, die mit passiv-destruktiven Mitteln Aufmerksamkeit erringen wollen, geben sich betont langsam und tolpatschig, zelebrieren stets eine grosse Unordnung und lassen sich alles mehrmals sagen.
(Ich teile indessen die Ansicht von Dreikurs nicht, dass jede Form von ,Faulheit’ bloss dazu dient, Aufmerksamkeit zu erregen. Es haben nämlich nicht alle Menschen gleich starke Antriebskräfte, und auch spezielle psychische Probleme können ein Kind sehr blockieren.)
1.2 Die spontane Reaktion des Lehrers
Dreikurs weist darauf hin, dass wir Lehrer im allgemeinen ganz automatisch das tun möchten, was das Kind von uns erwartet. Sind wir versucht, uns zu ärgern, zu tadeln, zu ermahnen, so will das Kind Aufmerksamkeit. Fühlen wir uns persönlich herausgefordert, sucht der Schüler den Machtkampf. Fühlen wir uns verletzt, gemein behandelt, so zielen die entsprechenden Verhaltensweisen auf Vergeltung ab. Und sind wir verzweifelt und wissen nicht mehr, was anfangen, so stellt das Kind seine Unzulänglichkeit zur Schau.
1.3 Die Reaktion des Kindes auf Zurechtweisung
Dreikurs macht ein Beispiel: Nach Schulschluss sollten alle Kinder den Mantel anziehen und das Schulhaus zügig verlassen. Die kleine Maria ist langsam und bewegt sich kaum. Will sie Aufmerksamkeit, reagiert sie freudig auf die Hilfe des Lehrers. Will sie Überlegenheit zeigen, rennt die davon. Will sie Vergeltung üben, stösst, kratzt und beisst sie. Und will sie ihre Unzulänglichkeit zur Schau stellen, erduldet sie alles passiv ohne die geringste Mitarbeit.
1.4 Das Erkennungslächeln
Als Psychologe kann man oft die Erfahrung machen, dass – im Rahmen eines auf Vertrauen beruhenden Gesprächs – der Klient mit einem Lächeln reagiert, sobald man etwas ausspricht, das diesem nicht voll bewusst ist. Auch die Leitlinien sind dem Kinde ja nicht bewusst, und darum kann ein Lehrer, der mit einem Kind (allein) ein Gespräch über seine Probleme führt, darauf achten, ob es mit diesem Reflex reagiert, wenn er – vorsichtig und als Vermutung – die möglichen Ziele ausspricht. Etwa so: Könnte es vielleicht sein, dass Du mit Deinem Unfug–Treiben eigentlich bewirken möchtest, dass ich mich mit Dir beschäftige?
Vorsicht ist hier jedenfalls am Platz, aber nachdem Dreikurs in seinem Buch ,Psychologie im Klassenzimmer’ darüber spricht, sehe ich keinen Grund, dies unerwähnt zu lassen. Dreikurs weist darauf hin, dass es zwei Arten von Kindern gibt, bei denen es nicht funktioniert: die völlig verstockten und jene, die – aus Verlegenheit – immer lachen.
2 Die Ziele des Kindes ändern
Dreikurs schlägt ganz allgemein vor, alles zu unternehmen, um aus destruktiven Leitlinien konstruktive und aus passiven aktive zu machen. Das ist natürlich schneller gesagt als erreicht. Am einfachsten ist bei jenen Kindern, die mit ihren Störungen Aufmerksamkeit erreichen wollen. Nachdem man mit ihnen über die verborgenen Ziele gesprochen hat, kann man ihnen eben die erwünschte Aufmerksamkeit immer dann geben, wenn sie sich aktiv und konstruktiv verhalten.
3 Strafen oder logische Folgen
Wie viele neuere Pädagogen ist auch Dreikurs ein Gegner von Bestrafungen. An ihre Stelle setzt er sog. ,logische Folgen’. Das Kind soll an den Konsequenzen seines Tuns lernen. Wenn es sich am Morgen verschläft, verpasst es eben eine Schulstunde und muss das dann einfach nachholen. Wenn es sein Etui vergessen hat, so ist klar, dass es nun eben nicht schreiben kann oder das Etui zu Hause holt.
Das Konzept der logischen Folgen ist alt und wurde u.a. auch von Rousseau propagiert. Bei ihm stand es im Zusammenhang mit seiner Verstellung einer ,natürlichen Erziehung’. Die Natur, so Rousseau, ist unerbittlich. Wenn ich schlecht ausgerüstet auf eine Wanderung gehe und sich das Wetter verschlechtert, werde ich eben nass und friere und werde das nächste Mal klüger handeln. In den ersten 15 Lebensjahren sei diese natürliche Erziehung, so meinte Rousseau, die angemessene, und der Erzieher solle so unerbittlich sein wie die Natur selber.
Obwohl sich das so logisch anhört, habe ich gegenüber diesem Konzept ernsthafte Bedenken, die ich kurz anführen möchte:
- Es ist ein sehr wesentlicher Unterschied, wenn die ,unfühlende Natur’ zurückschlägt oder wenn ich als Erzieher die logischen Konsequenzen gewissermassen ,verordne’. Tue ich dies, so nimmt mich das Kind in jedem Falle als Mächtigen wahr und wird keinen Unterschied gegenüber einer ganz normalen Bestrafung machen.
- In vielen Fällen ist das Durchsetzen einer logischen Folge lieblos, und man würde als Erzieher dem Kinde besser aus der Patsche helfen, statt es sein Versagen fühlen zu lassen. Ich habe festgestellt, dass ich mehr Erfolg hatte, sobald ich z.B. Kinder nicht mehr ihre vergessenen Schulsachen zu Hause (bis 10 Min. Schulweg) holen liess, sondern ihnen kurzfristig Ersatz auslieh oder sie diesen von ihren Mitschülern ausleihen liess.
- Es gibt viele Verstösse gegen Sitte und Moral, die ausser dem angerichteten Schaden keine logischen Folgen nach sich ziehen. Wenn ein Bub böswillig einen Käfer zertritt, so hat diese Tat für ihn keine direkt nachvollziehbaren Folgen.
Die im Konzept der logischen Folgen aufscheinende Härte empfinde ich nicht als zwingende Konsequenz aus dem Adlerschen Denken und ist einer der Gründe, weshalb ich gegenüber Dreikurs seit längerer Zeit auf Distanz gegangen bin. Ein zweiter Grund liegt darin, dass ich das Dreikurs’sche System als stark vereinfachend und starr empfinde. Ich glaube nicht, dass man sämtliche Verhaltensweisen der Schüler in die vorgeschlagenen vier Ziel–Kriterien einteilen kann, obwohl diese natürlich eine Orientierungshilfe bilden können. Ein dritter Grund liegt darin, dass Dreikurs fordert, nicht spontan auf die störenden Verhaltensweisen der Kinder zu reagieren, da wir damit deren Leitlinien bekräftigten statt abbauten. Dreikurs bleibt aber dem Erzieher die Antwort auf seine Frage schuldig, was er denn mit seinem Frust anfangen soll, wenn ihn ein Kind z. B. dauernd ärgert oder verletzt.
Dieses Dilemma wird völlig schlüssig gelöst durch die Konfliktlösungsmethode von Thomas Gordon. Sein Konzept der Ich-Botschaften vermeidet sowohl das automatische Reagieren und damit das unerwünschte Verstärken der falschen Ziele des störenden Kindes als auch die Unterdrückung der Gefühlswelt des Erziehers. Seine Konfliktlösungsmethode ist grundsätzlich kooperativ und schiebt dem Erzieher weder die Aufgabe noch die Macht zu, das Kind mit logischen Folgen zu konfrontieren. Überhaupt entspricht Gordons Theorie viel konsequenter der Adlerschen Psychologie als jene von Dreikurs, obwohl nicht zu leugnen ist, dass sich auch bei ihm manch Brauchbares und Bedenkenswertes findet. Auch wenn Gordon dies, soweit ich sehe, in seinen Büchern nicht ausspricht, ist seine Konfliktlösungsmethode die klare pädagogische Konsequenz der psychologischen Einsichten Alfred Adlers.