Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Die Notwendigkeit der Gegenwirkung in der Erziehung

Betrachten wir im Geiste eine gute Mutter, wie sie in aller Selbstverständlichkeit mit ihrem dreijährigen Mädchen umgeht: Der Grossvater kommt auf Besuch, und sie fordert es auf, ihn freundlich zu begrüssen. Sie deckt den Tisch und bittet ihr Kind um Mithilfe. Dieses streicht sich beim Essen die Teigwaren ins Haar, und die Mutter sagt: „Bitte, tu das nicht.“ Sobald es ordentlich isst, anerkennt sie sein Bemühen, sie lobt es und gibt ihrer Freude über sein Wohlverhalten Ausdruck. Nach dem Essen möchte sie ihre Ruhe haben, und so regt sie das Mädchen an, allein oder mit dem Bruder zu spielen. Und wenn es dann später wütend in die Stube kommt, hört sie ihm zu, wie es den Streit mit dem Bruder erlebt hat. Will sich das Kind nun in seinem Ärger auf den Bruder stürzen, schreitet sie ein, ermahnt oder tadelt und tritt den Aggressionen ihres Kindes entgegen.

In diesem Verhalten der Mutter kommt eine allgemeine Gesetzmässigkeit zum Ausdruck: Wer erzieht, muss in zweifacher Hinsicht handeln; einerseits muss er sich von sich aus ans Kind wenden, das Gespräch mit ihm aufnehmen und es zu erwünschten Tätigkeiten anregen, und andererseits muss er auf die Verhaltensweisen des Kindes reagieren. Dabei hat er wiederum zwei Möglichkeiten: Er anerkennt und lobt das Erwünschte oder weist jene Verhaltensweisen, die er als unerwünscht betrachtet (z.B. Aggressionen, vorschnelles Urteilen usf.) zurück.

Daraus ergeben sich drei Arten der Einwirkung des Erziehers auf das Kind, nämlich Anregen (Fordern), Unterstützen und Gegenwirken. Wie jeder Praktiker weiss, ist das Anregen und Unterstützen die erfreulichere Seite des Erziehens. Mag aber die Gegenwirkung auch der unerfreulichere und beschwerlichere Teil der Erziehung sein, so wäre es doch völlig unrealistisch, sie vermeiden zu wollen oder grundsätzlich als verwerflich zu betrachten. Je verstörter und verwahrloster sich ein Kind verhält, desto nötiger wird die Gegenwirkung. Wollen wir wahrhaft erziehen, so dürfen unsere pädagogischen Einwirkungen allerdings nicht einer schwankenden Laune entspringen, sondern müssen auch vom Kind als folgerichtig erkannt und dementsprechend vorausgesehen werden können. Der Erzieher muss sich deshalb darüber im klaren sein, nach welchen Grundsätzen er seine Massnahmen trifft. Dies ermöglicht es ihm dann auch, seine Reaktionen dem Kinde gegenüber zu erklären.

Ich möchte nun dieses Problem von zwei Seiten her beleuchten: vorerst von einer philosophischen Warte aus, wodurch das grundsätzlich Notwendige und Wünschbare erkannt werden soll, und danach von einer psychologisch-pädagogischen Warte aus, wodurch die tatsächlich erreichbaren Möglichkeiten, die psychischen Bedingungen und die konkreten Wege sichtbar werden sollen. Dabei beschränke ich mich weitgehend auf den beschwerlicheren Teil der Pädagogik: auf die Gegenwirkungen.

Bedürfnisse und Wünsche in Konfliktsituationen

Ich betrachte Pestalozzis Anthropologie als ein hilfreiches Konzept, um komplexe Sachverhalte des menschlichen Lebens zu analysieren und zu strukturieren, weshalb ich mir gestatte, diese Sichtweise in grösstmöglicher Knappheit darzustellen: Pestalozzi sieht den Menschen hineingestellt in den Widerspruch zwischen drei verschiedenen Existenzweisen: dem. Naturzustand, wo er seinen Trieben und Instinkten gehorcht oder ausgeliefert ist, dem gesellschaftlichen Zustand, wo er Rechte nutzt und Pflichten erfüllen muss, und dem sittlichen Zustand, wo er auf seinen Egoismus verzichtet und selbstverantwortlich seine eigentliche Menschlichkeit  entfaltet. Den ersten beiden Zuständen kann der Mensch nicht entrinnen, ob und inwieweit er indessen den sittlichen Zustand verwirklichen will, steht in seiner individuellen Freiheit.

Betrachtet man nun das störende Verhalten der heranwachsenden Menschen aus dieser Sicht, liesse sich sagen: Die Kinder und Jugendlichen (oft natürlich auch die Erwachsenen) versuchen in den Konfliktsituationen ihre zumeist egoistischen Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen; sie handeln somit als Wesen im ‚Naturzustand‘, teilweise unter Inanspruchnahme gesellschaftlicher Mittel (Regelungen, Rechte). Was ihnen jedoch sehr schwer fällt, ist das Handeln als ’sittliche‘ Wesen, denn dies bedeutet den Verzicht auf selbstsüchtige Ansprüche zu Gunsten eines andern, zu Gunsten der Gemeinschaft oder zu Gunsten der eigenen Persönlichkeits-Entwicklung.

Nun hat sich in den letzten Jahren – teilweise genährt durch entsprechende Tendenzen in der Humanistischen Psychologie – gerade in Erzieher- und Psychologenkreisen ein meines Erachtens kaum mehr genügend durchdachtes Handlungsprinzip herausgebildet, von dem man sich leiten lässt, nämlich: Wo immer ich eigene Bedürfnisse spüre, melde ich sie an und versuche ich sie zu realisieren. Dabei soll ich bereit sein, Bedürfnisse anderer zur Kenntnis zu nehmen und flexibel darauf zu reagieren.

In diesem Grundsatz steckt gewiss viel Richtiges: Tatsächlich kann es nicht der Sinn unseres Lebens sein, uns und unsere Bedürfnisse in jeder Situation zurückzustellen oder uns gar von andern – auch vom Kind nicht – überfahren und unterdrücken zu lassen. Eine gehörige Dosis Selbstbehauptung ist im eigentlichen Sinne ’natürlich‘; diese Haltung entspricht auch der Sichtweise Pestalozzis, auf die ich mich in meinen Gedankengängen beziehe, denn wir können nicht ‚rein sittlich‘ handeln und bleiben auch im Streben nach Sittlichkeit ’natürliche‘ Wesen.

Nun gehört es aber zum Wesen von uns Erziehern, dass wir dem Kinde in doppelsinniger Weise gegenübertreten: Einerseits sind wir Menschen wie alle andern und vertreten als solche im Konfliktfalle unsere persönlichen Bedürfnisse, andererseits aber nehmen wir in unsern Forderungen und Grenzsetzungen ‚Bedürfnisse‘ wahr, die mit uns persönlich gar nichts zu tun haben, sondern sich aus unserer Aufgabe als Erzieher ergeben.

Die oben formulierte Handlungsnorm der Bedürfniswahrung ist daher in zweifacher Hinsicht auf ihre Tauglichkeit hin zu untersuchen: im Hinblick auf unsere private Existenz und im Hinblick auf unsere erzieherische Tätigkeit.

Solange ich mich nun als erwachsene Privatperson einem andern Menschen gegenüber, für den ich keine erzieherische Verantwortung trage, vom oben formulierten Grundsatz leiten lasse, ist dagegen wohl nichts einzuwenden, und dies vor allem, solange mir bewusst bleibt, dass darin eine gehörige Dosis Egoismus – wenn vielleicht auch berechtigter Egoismus – steckt und dass ich dadurch stets in der Gefahr bin, einen Machtkampf – vielleicht sehr feiner Art – anzuzetteln oder mitzukämpfen.

Legt indessen jemand die oben formulierte Norm seinen Handlungen als Erzieher zu Grunde, so schafft er damit eine pädagogische Atmosphäre und erreicht er damit beim Kinde Auswirkungen, die ich für sehr problematisch halte. Ich bezeichne im folgenden eine pädagogische Praxis, die sich in ihrem Gewähren und in ihren Grenzsetzungen von dieser Handlungsnorm leiten lässt, als ‚Bedürfnis-Pädagogik‘ und unterziehe diese einer kritischen Analyse.

Kritische Beurteilung der ‚Bedürfnis-Pädagogik‘

Problematisch wird die erwähnte ‚bedürfnis-pädagogische‘ Handlungsnorm dann, wenn man sich über das Wesen dessen zu wenig im klaren ist, was man landläufig unter Bedürfnissen versteht. Im Pestalozzischen Sinne sind Bedürfnisse Ansprüche der Menschennatur, die sich aus dem Streben nach körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit ergeben. Wir müssen essen, trinken, schlafen, in frischer Luft atmen, uns bewegen, unsere Sinnesorgane betätigen, im weitesten Sinne unsere Triebe befriedigen, um gesund zu bleiben; wir benötigen   emotionale Geborgenheit, Annahme, Zuwendung, um seelisch nicht zu verkümmern; und unsere geistige Natur, die sich nach Wahrheit, Schönheit und Liebe sehnt, braucht geistige Nahrung in der erlebnishaften Erfahrung des Schönen, Guten, Wahren und Heiligen. Dies sind echte Bedürfnisse, die zu befriedigen stets die Aufgabe von uns Erziehern bleiben wird. Und auf der Basis dieses Begriffs wird auch verständlich, weshalb gerade Pestalozzi mit besonderer Eindringlichkeit gefordert hat, dass die Bedürfnisse des Kindes befriedigt werden müssen, wenn es zur Sittlichkeit soll heranreifen können.

Neben diesen echten Bedürfnissen gibt es eine beliebige Anzahl von Wünschen. Wünsche können – um Pestalozzis Lehre von der Doppelnatur des Menschen heranzuziehen – grundsätzlich ein Ausdruck der ‚höheren‘ oder der ‚tierischen (physischen)‘ Natur des Menschen sein. Sie stammen aus der höheren Natur, wenn sie dem Streben nach sittlichen Zielen entstammen, und sie sind Abkömmlinge der physischen (niederen) Natur, insofern deren Befriedigung bloss zur Erhöhung persönlicher Lust bzw. zur Vermeidung oder Verringerung persönlicher Unlust dient. Diese Wünsche sind ebenfalls ’natürlich‘, denn der Mensch im Naturzustand strebt grundsätzlich nach Erhöhung von Lust und Verringerung von Unlust.

Bei ’störenden‘ Kindern sind die geäusserten Wünsche (die sich auch als Verweigerung manifestieren können) wohl nur ausnahmsweise ein Ausdruck ihres sittlichen Strebens und stammen in den meisten Fällen aus einem egoistischen Streben nach persönlichen Vorteilen. Dies zeigt sich – neben der ganz offensichtlichen Ich-Bezogenheit der geäusserten Wünsche – zumeist auch an der Heftigkeit, mit der diese Wünsche vertreten und durchzusetzen versucht werden. Es kann indessen nicht Aufgabe der Pädagogik sein, alle diese Wünsche zu befriedigen; im Gegenteil: Der Erzieher muss die egoistische Natur der immer neu auftauchenden Wünsche erkennen und sie klar unterscheiden können von echten Bedürfnissen, deren Befriedigung der körperlich-seelisch-geistigen Gesundheit des Kindes dient.

Wer somit den ‚bedürfnis-pädagogischen‘ Standpunkt vertritt, muss sich fragen lassen, ob er erstens klar genug unterscheidet zwischen ‚Bedürfnissen‘ und ‚Wünschen‘ und ob er zweitens die ‚Wünsche‘ des Kindes zu differenzieren vermag in solche, die einem sittlichen Streben entstammen, und solchen, die bloss im Dienste des Lustprinzips stehen. Durch die sprachliche Vereinnahmung der ‚Wünsche‘ in den Begriff ‚Bedürfnis‘ sowie durch die mangelnde Differenzierung im Bereich der Wünsche geht nämlich die fundamentale Unterscheidung zwischen legitimen Ansprüchen der niederen und höheren Natur und den nur bedingt legitimen Ansprüchen der niederen Natur des Menschen verloren. Konkret führt dies z.B. dazu, dass es im Erleben des Kindes dasselbe wird, ob es nun z.B. seinen Hunger meldet und mit Recht die Befriedigung seines Bedürfnisses erwartet oder – allenfalls mit Nachdruck und Arroganz – ein Stück Kuchen und Schokolade wünscht; es wird dasselbe, ob das Kind einem Raucher Grenzen setzt oder sich abgrenzt gegen einen Mitmenschen, dessen Wahrheit es nicht hören mag; es ist dasselbe, ob es sich über einen schlechten Lehrer beklagt oder über einen schlechten ‘Diener’, d.h. über irgend einen Mitmenschen, der ihm seine Wünsche nicht subito erfüllt; es ist dasselbe, ob es sich Freiraum erkämpft, um zu sich selbst kommen zu können oder um nichts leisten zu müssen. In allen Fällen kämpft es dann eben bloss um ‚Bedürfnisse‘. Oder anders ausgedrückt: Die legitime und notwendige ‚Selbst‘-Verwirklichung wird vermischt und verwechselt mit einer problematischen ‚Ich‘-Verwirklichung.

Macht man nun in der Erziehung den Unterschied zwischen Bedürfnis und Wunsch und zwischen sittlichem Wunsch und egoistischem Wunsch nicht immer wieder klar und erzieht man gleichzeitig die Kinder dazu, stets ihre ‚Bedürfnisse‘ anzumelden und möglichst zu realisieren, so erhebt man – wohl unwissentlich und sicher kaum mit Absicht – den Kampf aller gegen alle zum regelnden Prinzip des Zusammenlebens. Jeder soll seine ‚Bedürfnisse‘ (in denen dann eben auch viele egoistische Wünsche verpackt sind) so lange realisieren können, als ihm nicht eine Grenzsetzung eines Mitmenschen dies verwehrt. Die jeweils gültige tolerierte Norm in einer Gemeinschaft ergibt sich somit stets aus der Resultante der gegeneinander wirkenden egoistischen Kräfte. Dass der physisch, psychisch oder gesellschaftlich Stärkere dann eben über einen grösseren Freiraum verfügt als der an die Wand gespielte Schwächere, ist bloss folgerichtig. Die ‚ausgehandelten‘ Regulative des Zusammenlebens sind dann de facto die egoistischen Ansprüche der jeweils Stärkeren. ‚Moralisch‘ ist dann das, wogegen niemand etwas einzuwenden hat oder einzuwenden wagt.

Die Folgen für das Zusammenleben sind klar und können auch in beliebig vielen Beispielen täglich beobachtet werden: In einem dauernden Gerangel kämpft jeder um den Platz an der Sonne, und jeder schiebt dem andern mehr oder weniger geschickt den Schwarzen Peter zu. Es entsteht genau jene Atmosphäre, die z.B. ein Alfred Adler als unmenschlich entlarvt und deren psychologische Hintergründe und Wirkungen er überzeugend dargelegt hat. Darüber hinaus resultiert aus diesem pädagogischen Konzept ein völliger Wert-Relativismus: Was jeweils gut ist, bestimmen die konkret beteiligten Menschen (resp. die Stärkeren unter ihnen), und da jeder Mensch in wechselnden Gruppen lebt, ist immer wieder etwas anderes gut. Diese Erfahrung stachelt den Egoismus jederzeit neu an, da in jeder neuen Situation Gelegenheit geboten ist, durch genügend psychischen Druck die ‚Gesetzgebung‘ nach den eigenen Wünschen zu gestalten oder zumindest wesentlich zu beeinflussen.

Dabei soll freilich nicht übersehen werden, dass es tatsächlich viele Regelungen gibt, die sehr wohl von den jeweils betroffenen Individuen vereinbart werden können und sollen. Es handelt sich dabei in der Regel um rein organisatorische Bestimmungen, die ein vernünftiges Zusammenarbeiten gewährleisten sollen. In der Regel entstehen daraus auch nicht die wirklich ernsthaften Konflikte. Besteht z.B. die Abmachung, dass man sich um vier Uhr zu einer Besprechung trifft, so kann dies an sich zumeist allgemein akzeptiert werden. Kommt jedoch ein Beteiligter gewohnheitsmässig zu spät, so steht nicht die konkrete Bestimmung zur Diskussion, sondern seine Unpünktlichkeit, d.h. eine innere Haltung.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Es liegt in der Natur des Menschen und kann ja auch in der täglichen Erfahrung beobachtet werden, dass er sich in seinen Ansprüchen so lange und so weit ausbreitet, bis von irgendwo her eine Grenze wirksam wird. Insofern besteht gerade im Bereich der Erziehung ’störender‘ oder ‚verhaltensgestörter‘ Kinder und Jugendlicher ein grosser Teil der pädagogischen Aufgabe darin, ihrem fast allgegenwärtigen Egoismus Grenzen zu setzen. Dabei erhebt sich die Frage, womit der Mensch ganz allgemein und der Erzieher im besonderen seine Grenzsetzungen gegenüber andern Menschen legitimiert. Wie wir gesehen haben, geschieht dies im Rahmen der ‚Bedürfnis-Pädagogik‘ durch den Hinweis auf die eigenen Bedürfnisse der beteiligten Individuen. Es soll nochmals betont werden, dass dies seine teilweise Berechtigung hat: Das Kind soll lernen, dass der Erzieher wie alle andern Menschen ebenfalls seine Ansprüche hat und dass es darauf Rücksicht nehmen muss. In dem Masse aber, wie ein heranwachsender Mensch die persönliche Wahrung der Ansprüche der Erwachsenen als Ausdruck von deren eigenem Egoismus empfindet, lernt er im Rahmen dieser Grenzsetzung nicht die Rücksichtnahme, sondern den möglichst erfolgreichen Kampf.

Pädagogische Ansprüche auf der Basis von Normen und Werten

Damit stossen wir zur grundlegenden Frage vor:Womit sollen denn Forderungen oder Begrenzungen von Handlungsimpulsen gegenüber Mitmenschen gerechtfertigt werden, wenn nicht durch die persönlichen Bedürfnisse der in Kontakt stehenden Menschen?

Logischerweise können unter dieser Einschränkung Forderungen und Grenzsetzungen nur aus einem Bereiche stammen, welcher ausserhalb der persönlichen Wünsche der betroffenen Individuen liegt.

Grundsätzlich sind zwei Möglichkeiten gegeben:

  1. Vorerst kann es ein gesellschaftlich definiertes Norm-System sein, dem sich die Individuen durch einen grundsätzlichen Entscheid zu unterziehen bereit sind und an dem sie alle in konkreten Situationen auftretenden Wünsche messen. Wird ein solches gesellschaftliches Norm-System von den Erziehern anerkannt und ihren pädagogischen Interventionen psychologisch geschickt zu Grunde gelegt, so resultiert daraus eine Erziehung mit einer hochgradigen gesellschaftlichen Integrationswirkung. Die Kinder und Jugendlichen werden dann zu guten Schülern, Staatsbürgern, Arbeitern, Kirchen-Mitgliedern, Soldaten, Partei-Genossen oder Partei-Freunden, Standesvertretern usf. Dies ist grundsätzlich weder vermeidbar noch von vornherein negativ; aus der Sicht Pestalozzis verfehlt jedoch der Mensch seine Bestimmung, wenn er beim blossen Funktionieren in diesen gesellschaftlichen Rollen stehen bleibt. Die Erziehung muss tiefer greifen: Sie muss den Menschen zum Selbstsein im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten und seiner individuellen Bestimmung erziehen.
  2. Dies ist – immer aus der Sicht Pestalozzis – indessen nur möglich, wenn unseren Handlungen über-gesellschaftliche Motive zu Grunde liegen, Werte also, die gar nicht der gesellschaftlichen Verfügbarkeit offen stehen. So können verschiedene Gesellschaften z.B. ohne weiteres unterschiedliche Ansichten über das Arbeitsverhalten, über die Kommunikationsformen oder über die Struktur des Wirtschaftslebens entwickeln, aber es steht keiner Gesellschaft zu, absolute Werte entweder zu setzen oder umzustossen. Diese Werte sind vielmehr überzeitlich und können sich allenfalls im Verlaufe der Geschichte in unterschiedlicher Reinheit herausbilden. Solche Grundwerte sind – um Max Scheler beizuziehen – das Wahre, das Gute, das Schöne und das Heilige. Sie sind die Grundlage, welche dem Erzieher – als Erzieher – überhaupt erst das Recht geben, das Verhalten des Kindes nachhaltig zu beeinflussen.

Fatal ist natürlich, wenn man gesellschaftliche Normen mit absoluten Werten verwechselt. Das führte dann beispielsweise dazu, dass sich ein Erzieher herausnähme, einem jungen Menschen etwa die Teilnahme an einer Demonstration oder das Tragen einer bestimmten Frisur mit demselben Nachdruck an- oder abzuraten, wie er ihn ermahnt, auf sein Gewissen zu hören und auch in schwierigen Situationen wahr zu sein.Es ist hier festzuhalten, dass dieser Standpunkt – Anerkennung absoluter Werte – heute von vielen Menschen abgelehnt wird. Insbesondere für den Materialismus und den darin wurzelnden Marxismus ist es inakzeptabel oder zumindest problematisch, dass es ausserhalb des Menschen verpflichtende Ideen geben soll, denen sich der Mensch zu unterziehen habe. Im Rahmen dieser Denkmodelle ist der Mensch stets das, was er aus sich macht, und er ist es, der Werte und Normen autonom setzt. 

(Anmerkung: In seinem ausserordentlich lesenswerten Buch ‘Die Zukunft gehört der Freiheit’ (Rowohlt 1991) wird der ehemalige sowjetische Aussenminister Eduard Schewardnadse nicht müde zu betonen, dass das eigentliche Unheil des Sowjetkommunismus darin bestand, dass  die Werte, die an sich absolut sein und darum über allem stehen müssten, den Zielen des Klassenkampfes untergeordnet wurden. ‘Gut’ war darum in jedem Fall das, was dem nützte, was als ‘Arbeiterklasse’ bezeichnet wurde, in Tat und Wahrheit aber die Partei-Interessen und die Partei-Macht waren.)

Der hier vertretene Standpunkt geht dagegen von der Überzeugung aus, dass es eine vom konkreten Menschen unabhängige geistige Welt gibt, welche ebenso strengen Gesetzmässigkeiten unterliegt wie die physische Natur den Naturgesetzen. So wie der Mensch als physisches Wesen untergeht, wenn er gegen die biologischen Gesetze verstösst, ebenso leidet er als geistiges Wesen Schaden, wenn er die geistigen Gesetze, die sein Verhalten zu regeln bestimmt sind, missachtet. Diese geistigen Gesetze treten mit einem Sollens-Anspruch an den Menschen heran, und dieser Sollens-Anspruch findet seine Verdichtung in den Grundwerten, nach denen sich der Mensch auszurichten hat.

Im Rahmen der Erziehung ist diese Denkweise insofern grundlegend, als ein Erzieher, der auf diesem geistigen Boden steht, weder seine eigenen Verhaltensweisen noch diejenigen seiner Kinder oder Schüler bloss durch das Anrecht auf Wunsch-Erfüllung zu legitimieren sucht; er richtet sein Tun und Lassen vielmehr der Tendenz nach aus auf die oben erwähnten Grundwerte. Soweit dies gelingt, entfällt grundsätzlich die Grenzziehung zwischen den Individuen auf der Grundlage des egoistischen Kräftemessens. Die Auseinandersetzung, die beim ‚Bedürfnis-Befriedigungs-Modell‘ stets zwischen konkreten Menschen stattfindet und daher tendenziell den Machtkampf begründet und nährt, wird ins Innere des einzelnen Menschen verlagert: Hier – im eigenen Gewissen – findet die Auseinandersetzung zwischen egoistischem Wunsch und dem Anspruch der Werte statt.

In diesem pädagogischen Modell kämpft dann auch der Erzieher, wenn er sich mit dem Kinde auseinandersetzt, nicht um seine eigene, persönliche Position, sondern er repräsentiert das von ihm akzeptierte Wertsystem, dem er sich grundsätzlich genauso sehr unterzieht, wie er dies vom Kinde verlangt. Seine Autorität legitimiert sich somit nicht in seiner physischen, psychischen, geistigen oder gesellschaftlichen Überlegenheit, sondern im Ausmass seiner Verwurzelung im System der Werte. Mit andern Worten: Aus dem eigenen Gehorsam gegenüber dem Anspruch der übergeordneten Werte ergibt sich das Anrecht des Erziehers, vom Kinde ebenfalls Gehorsam zu fordern – nicht der eigenen Person gegenüber, sondern dem Wertsystem gegenüber, das in der Person des Erziehers auf- und durchscheint.

Das hört sich theoretisch an, hat aber deutlich wahrnehmbare praktische Konsequenzen. So reagiere ich beispielsweise im Rahmen des ‚Bedürfnis-Befriedigungs-Modells‘ auf den Diebstahl eines Kindes mit dem Hinweis, ich hätte es nicht gerne, dass man mich bestiehlt, da mir mein Besitz geschmälert wird, und wenn das Kind die Nachbarn bestiehlt, muss ich ihm dies abgewöhnen, indem ich ihm klarmache, dass ich keine Scherereien mit den Nachbarn haben will. In beiden Fällen nimmt mich das Kind als Egoisten wahr, der entweder um seine Besitzerhaltung kämpft oder seine Ruhe haben will. Insofern stehe ich dem Kind auf gleicher Ebene gegenüber, und ‚Erziehung‘ ereignet sich nur insofern, als dem Kind allenfalls das Stehlen in meiner eigenen Lebens-Sphäre abgewöhnt werden kann. Unausgesprochen aber erzeuge ich im Kind das Bewusstsein, alles, was den Vater oder Lehrer ärgere, sei schlecht, und alles, was ihn kühl lasse, sei gestattet. Damit mache ich es von mir als Person abhängig, und die Basis seiner Moral ist genauso schwankend wie meine Laune oder meine Aufmerksamkeit.

Im Rahmen des ‚Wert-Verwirklichungs-Modells‘ hingegen setze ich dem Diebstahl des Kindes – ganz gleich, wer davon betroffen ist – eine Grenze aufgrund meiner Verwurzelung in einem Wertsystem. Das Kind soll darum nicht stehlen, weil mit dieser Aggression gegen einen Mitmenschen bzw. dieser ungezügelten Äusserung des Egoismus der Wert des Guten verletzt wird und – und dies ist sehr wesentlich – weil damit der eigentliche Schaden nicht beim Bestohlenen, sondern beim Dieb selber angerichtet wird. Sowohl ich als reicher Vater wie auch der reiche Nachbar können gegebenenfalls den Diebstahl eines Kindes materiell verkraften, ja er kann so geringfügig sein, dass er nicht einmal bemerkt wird. Aber im Rahmen der seelisch-geistigen Entwicklung des Kindes ist die durch den Diebstahl gesetzte Aggression gegen einen Mitmenschen bzw. die von reinem Egoismus genährte Missachtung einer für das friedliche Zusammenleben grundlegenden gesellschaftlichen Einrichtung, mithin der Verstoss gegen einen absoluten Wert, eine ernste Sache, der ich mich als Erzieher stellen muss, wenn mir am Wohlergehen des Kindes etwas gelegen ist.

Auch bei diesem pädagogischen Modell erwirke ich beim Kinde eine Abhängigkeit, aber nicht von der Laune und der zufälligen Einschätzung und Bedürfnislage irgend eines Mitmenschen, sondern von einer stabilen Wertordnung, der gegenüber es sich ganz unabhängig von konkreten Menschen und Situationen verantwortlich weiss. Insofern nun aber jeder Mensch als geistiges Wesen im Reich des Geistes verwurzelt ist, insofern ist die hier in Blick genommene Abhängigkeit eine Abhängigkeit von sich selbst als einem im Geiste beheimateten Wesen, mithin wirkliche Autonomie. Autonomie wird eben gerade nicht erreicht, indem man den Kampf aller gegen alle kämpft, sondern indem man seine Egoismen zurücknimmt und aus seinem eigenen, wahren Innern heraus lebt.

Gegenwirkung in den verschiedenen Werte-Bereichen

Ich habe mich in den vorstehenden Ausführungen in meinen Beispielen grundsätzlich auf den Wert des Guten bezogen und hatte auch im allgemeinen das Kind – insbesondere das ’störende‘ oder gar ‚verhaltensgestörte‘ Kind – im Auge; zur Diskussion stand somit stets das, was ethisches Handeln in einem engeren Sinne ausmacht. Im Rahmen der Erziehung verwahrloster Kinder könnte man denn vorerst auch damit zufrieden sein, hier einige Fortschritte zu erzielen, so dass diese jungen Menschen wenigstens nicht asozial werden.

Aber eigentlich dürfte die Erziehung dabei nicht stehen bleiben, sondern müsste die Ansprüche höher stellen, dies nicht zuletzt darum, weil die genannten Grundwerte ja kaum isoliert betrachtet werden können, sondern in einem inneren Zusammenhang stehen. Eine wertorientierte Erziehung muss sich darum bemühen, im jungen Menschen auch den Sinn für das Wahre, insofern mehr als die bloss ethische Vermeidung der Lüge zur Debatte steht, dann auch das Gespür für das Schöne und schliesslich auch die Hochschätzung des Heiligen zu entwickeln. Praktisch heisst dies etwa: Der junge Mensch müsste allmählich den Unterschied erspüren zwischen dem wirklichen Kunstwerk und dem  vielleicht billigen, vielleicht raffinierten Machwerk, das als blosse Hülse ohne Geist bestenfalls dem Nervenkitzel dient. Er müsste feinfühlig werden für alles Schöne, was in der Natur und auch in jener Welt, die erst der Mensch erschaffen hat, gefunden werden kann, um allenfalls fähig zu werden, selber Schönes zu schaffen. Und er müsste auch zur Erfahrung kommen, dass ein in der Verehrung des Göttlichen geführtes und vor Gott verantwortetes Leben einen gültigen Gehalt gewinnt.

Von einem bedürfnis-pädagogischen Standpunkt aus sind solche pädagogischen Ansprüche grundsätzlich nicht mehr zu rechtfertigen, denn auf der Basis dieses Erziehungsmodells fragt der Schüler den Lehrer durchaus zu Recht: Was behelligt Sie, wenn ich billigen Schund verschlinge? Was stört es Sie, wenn ich allabendlich meinen Krimi und wöchentlich meinen Action-Film haben muss? Tut es Ihnen weh, wenn ich in meinem Walkman den ganzen Tag Elvis höre? Und was stört es Sie, wenn ich mein Gehör kaputtmache? Was gehen Sie die Bilder an, mit denen ich die Wände tapeziere? Was ärgert Sie das, wenn ich rede wie ein Rossknecht und esse wie ein Schwein? Was kümmert es Sie, dass mich ‚Kunst‘ nun mal nicht interessiert? Und was stört es Sie, wenn ich nicht zum lieben Gott bete? Würde ich den bedürfnis-pädagogischen Standpunkt teilen, müsste ich freilich antworten: Recht hast Du, das alles schmerzt mich nicht; ich habe darum weder einen Grund noch ein Recht, Dich in Deinen Gebräuchen in Frage zu stellen, denn Du tangierst in keiner Weise meine persönlichen Bedürfnisse.

Vom werte-pädagogischen Standpunkt her sieht dies freilich ganz anders aus. Da stelle ich diese Ansprüche nicht als individuelles Wesen, sondern als Sachwalter einer Wertordnung, nach welcher ich mich nicht bloss als konkrete Individualität, sondern als Mensch schlechthin ausrichten soll. So soll sich eben der junge Mensch mit dem Schönen in Natur und Kunst, mit dem Wahren in Kunst, Wissenschaft und Philosophie und mit dem Heiligen im religiösen Leben befassen und sich mit ihm verbinden, nicht weil es für mich als Erzieher gut ist, sondern für ihn als werdenden Menschen, in dem sich das Geistige entfalten soll.

Werte-Erziehung

Damit dürfte klar geworden sein, was unter Werte-Erziehung zu verstehen ist: Eine Beeinflussung des Verhaltens des heranwachsenden Menschen, die sich durch ihre Verwurzelung in einem als absolut geltenden Wertsystem legitimiert, einem Wertsystem, dem sich der Erzieher selbst zu unterziehen bereit ist.

In einem ersten Einschub sei mir die Bemerkung gestattet, dass natürlich nicht bloss die gegenwirkenden, sondern auch die anregenden und unterstützenden pädagogischen Massnahmen im gleichen Sinne begründet sind: Würde ich als Erzieher einfach jene Verhaltensweisen im Kinde anregen und unterstützen, die meinen persönlichen Bedürfnissen entsprechen, würde ich letztlich das Kind in den Dienst meines persönlichen Egoismus stellen. Als Erzieher habe ich aber vielmehr die Aufgabe, im Kinde die ‘Kräfte und Anlagen’ (Pestalozzi) so zu fördern, dass sie es zur Verwirklichung seiner eigenen Menschlichkeit befähigen.

Und in einem zweiten Einschub möchte ich bemerken, dass sich selbstverständlich über die Thematik der Werte-Erziehung ein ganzes Buch schreiben liesse, wozu ich im Moment nicht gesonnen und auch nicht in der Lage bin.

Mit der philosophischen Klärung der Legitimations-Basis pädagogischer Massnahmen sind natürlich die praktischen Probleme des Weges und der Erreichbarkeit nicht gelöst, sondern beginnen erst eigentlich. Für uns Erzieher geben die formulierten Grundsätze zwar die allgemeine Richtung an und bilden einen Massstab, womit die Qualität von Motiven und Begründungen von Verhaltensweisen eingeschätzt werden kann; um aber in der Erziehung praktischen Erfolg zu haben, müssen die psychologischen Gesetzmässigkeiten berücksichtigt werden.

Fassen wir nun wieder das Kind ins Auge. Aus entwicklungspsycho-logischer Sicht ist festzustellen, dass es ein Kind in jungen Jahren nicht versteht, wenn wir unsere Anforderungen und Grenzsetzungen ihm gegenüber logisch oder philosophisch begründen. Die Verankerung des kindlichen Verhaltens in einem absoluten Wertsystem muss darum als Ziel unserer erzieherischen Bemühungen erkannt werden, das nicht allzu früh erreicht werden kann. Der Hinweis z.B. auf die allgemeine Verwerflichkeit des Lügens ist an sich so abstrakt, dass ein Kind dies nicht verstehen kann, ganz abgesehen davon, dass es – selbst wenn es dies verstünde – nicht in der Lage wäre, einer rationalen Einsicht zu gehorchen. Kinder sind hochgradig von Gefühlsstimmungen und unbewussten Gegebenheiten abhängig, und diese wiederum stehen in engstem Zusammenhang mit der Annahme des Kindes durch die erwachsenen Bezugspersonen. So nimmt ein Kind rasch wahr, ob die Mutter mit ihm zufrieden ist oder nicht, und reagiert gefühlsmässig darauf. Darum bildet bei Verstössen gegen ethische Werte oder gesellschaftliche Normen in den ersten Lebensjahren die Missfallenskundgebung der Erzieher eine wesentliche Grundlage für die Verhaltensänderung des Kindes: Es möchte die Anerkennung und Zufriedenheit der Erwachsenen erhalten und richtet sich darum, um belastenden Gefühlen auszuweichen, nach ihren Wünschen. Vom Kinde aus gesehen, sind daher ethische Verhaltensweisen in der Regel egoistisch motiviert; es ist noch nicht zu etwas anderem in der Lage. Um so wichtiger ist es deshalb, dass die an das Kind gerichteten Wünsche der Erzieher nicht durch ihren eigenen Egoismus motiviert sind, sondern durch ihre Verwurzelung in absoluten Werten. Diese Verwurzelung gibt den pädagogischen Entscheiden und Handlungen der Erzieher Stabilität und Konsequenz.

Damit nun das Kind allmählich zu wertbezogenem Verhalten geführt werden kann, muss es den Zusammenhang zwischen den Interventionen des Erziehers und seiner Verwurzelung in übergeordneten Werten auch wahrnehmen können. Daraus ergibt sich zuerst einmal die Notwendigkeit, in entsprechenden Störungs- und Konflikt-Situationen überhaupt zu reagieren. Gerade im Bereiche erschwerter Bedingungen sind Erzieher erfahrungsgemäss – und auch verständlicherweise – immer wieder versucht, zu tun, als hörten und sähen sie nichts. Aber der Pädagoge verpasst wichtige Chancen, wenn er aus dem Gefühl der Resignation heraus anstössiges Verhalten des Kindes solange mit Stillschweigen übergeht, als er persönlich nicht behelligt wird. Die Kinder deuten dies nämlich instinktiv als ein Gutheissen. Darum muss man sich als Erzieher auch dann zu einer Stellungnahme durchringen, wenn man sich keinen unmittelbaren Erfolg davon versprechen kann und wenn man durch das störende Verhalten des Kindes auch nicht unmittelbar selbst betroffen ist. Dass dies alles zu verbinden ist mit dem Sinn für vernünftiges Mass, dürfte selbstverständlich sein.

Da wir ja nun als Erzieher aufgefordert sind, uns selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen, welche von unsern an das Kind gerichteten Wünschen unserer persönlichen Selbstbehauptung und welche unserer Wert-Verwurzelung entspringen, so sollen wir auch darauf hinwirken, dass das Kind diese Unterscheidung allmählich lernt. Und hier vermag uns einmal mehr die Psychologie Thomas Gordons (niederlagelose Konfliktlösungs-Methode) den Weg zu weisen, denn Gordon unterscheidet bei den Konflikten klar zwischen ‚Bedürfnis’– und ‚Wertvorstellungs-Konflikten‘. Die Grenzsetzung im Rahmen von Bedürfnis-Konflikten findet ihren klaren sprachlichen Niederschlag in der sog. ‘Ich-Botschaft’. So sage ich etwa als vielbeschäftigter Vater meinem Dreikäsehoch: „Ich möchte jetzt die Zeitung lesen und habe es nicht gerne, wenn Du mich ständig an den Haaren zupfst.“ Wenn aber das Kind faustdick lügt, ist eine Rede wie „Ich habe es nicht gern, wenn Du lügst“ unangemessen und verschleiert den eminent pädagogischen Charakter dieser Situation. Richtig wäre daher: „Man darf nicht lügen“ – oder wenn man lieber will (nicht nur wegen der Abneigung  vieler Psychologen gegenüber dem Wörtchen ‚man‘): „Wir Menschen dürfen nicht lügen.“ Das Kind soll schon aus der Form der Rede schliessen können, dass es sich bei dieser Grenz-Setzung um etwas handelt, das mit den individuellen Bedürfnissen des Vaters oder der Mutter nichts zu tun hat, und es soll spüren, dass die Eltern das Recht haben, im Namen dieser über-individuellen Erfordernisse einen Anspruch zu stellen.

Nachdem ich mich oben schon auf Thomas Gordon bezogen habe, möchte ich immerhin anführen, dass Gordon auch bei Wertvorstellungs-konflikten den Gebrauch von Ich-Botschaften empfiehlt. Nach ihm setzt sich eine gute wertbeeinflussende Ich-Botschaft aus drei Informationen zusammen:

  • Das Verhalten (bzw. die Wertvorstellung) des Kindes, das für den Erzieher nicht akzeptabel ist.
  • Das konkrete und spürbare Resultat, welches das Kind zu gewärtigen hat.
  • Das Ausmass der Besorgnis des Erziehers.

Meine Reaktion auf die Lüge meines Kindes würde dann etwa so lauten: „Wenn Du Deinen Kameraden etwas vorschwindelst, werden Sie es bald merken und mit Dir nichts mehr zu tun haben wollen. Es macht mir Kummer, wenn ich sehe, wie Du Deine Freunde verlierst.“ Im Hinblick darauf, dass das ‚moralische‘ Verhalten von Kindern primär egoistisch motiviert ist, betrachte ich auch diesen Weg für psychologisch korrekt, dies um so mehr, als das Kind wahrnehmen kann, dass sich meine Besorgnis nicht auf mein, sondern auf sein Wohlergehen bezieht.

Gordon ist sich natürlich sehr bewusst, dass unsere Möglichkeiten, die Wertvorstellungen unserer Kinder zu beeinflussen, nicht so gesichert sind wie die Möglichkeiten, den Kindern mit Ich-Botschaften Grenzen zu setzen, wenn sie gegen unsere persönlichen Bedürfnisse verstossen. Er hält darum auch den Gebrauch von Ich-Botschaften nicht für ein Patentrezept, sondern sieht diese grundsätzlich im Zusammenhang mit dem aktiven Zuhören. Er zeigt auf, dass uns grundsätzlich verschiedene Wege zur Bereinigung eines Wertvorstellungskonflikts zur Verfügung stehen, wobei uns bewusst sein muss, dass einzelne mit einem erheblichen Risiko verbunden sind, die emotionale Beziehung zum Kinde zu gefährden. Im einzelnen erwähnt er folgende Möglichkeiten, wobei (von oben nach unten gelesen) das Risiko, das Kind innerlich zu verlieren, steigt:

  • Sich selbst ändern
  • Mit dem eigenen Vorbild wirken
  • Konfrontieren (Ich-Botschaften) und aktiv zuhören
  • Beraten
  • Dem Kind die Verantwortung abnehmen und das Problem selber lösen
  • Dem Kind drohen
  • Unverhüllte Macht ausüben

Es ist freilich nicht zu übersehen, dass die Grenzen zwischen Bedürfnis- und Wertvorstellungs-Konflikt fliessend sind. Was liegt vor, wenn ein kleines Kind die Mutter schlägt, weil sie ihm etwas verweigert? Wohl beides, und darum stimmen wohl auch beide Formulierungen: „Es tut mir weh, wenn Du mich schlägst, und das will ich nicht.“ oder: „Kinder dürfen niemals ihre Eltern schlagen, ich dulde das darum nicht mehr.“ Persönlich gäbe ich der zweiten Formulierung den Vorzug, weil ich den mir zugefügten körperlichen Schmerz für geringfügig, die Verletzung eines Werts hingegen für bedeutender halte.

Wirklich glaubwürdig werden diese Stellungnahmen allerdings nur in dem Masse, wie die Erzieher – für das Kind wahrnehmbar – sich den erhobenen ethischen Forderungen selber unterziehen; im selben Masse verwandelt das (’normale‘) Kind allmählich seinen Gehorsam gegenüber seinen Erziehern in den Gehorsam gegenüber den verinnerlichten Werten und Normen. Es gehorcht jetzt nicht mehr bloss sichtbaren Personen, sondern dem in seinem eigenen Inneren spürbaren Gewissen.

Diese Umwandlung des Gehorsams gegenüber bestimmten Personen in den Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen – das eigentliche Kernstück der Gewissensbildung – findet nicht ohne weiteres statt, und bei schwierigen oder verhaltensgestörten Kindern erst recht nicht. Je älter die Kinder werden, desto mehr ist daher das Gewissen als eine innere Erlebnistatsache ins Gespräch zu bringen und desto mehr soll der Erzieher auch immer wieder darauf hinweisen, dass er dem Kind eine Verhaltens-weise aus denselben Gründen verbietet oder verlangt, wie er sie selber unterlässt oder sich abfordert.

Damit wird aber auch eine Grenze der erzieherischen Möglichkeiten sichtbar. Einerseits leitet sich natürlich aus dem Wesen der Werte als Ideen deren unbedingter Geltungsanspruch ab, andererseits ist es ebenso klar, dass kein Mensch – da jeder ein unvollkommenes und beschränktes Wesen ist – einem vollkommenen Anspruch zu genügen vermag. Jeder von uns ist daher vis-à-vis des Kindes ein unvollkommener Repräsentant der Wert-Ordnung, sei es, weil er die Werte als solche und die Notwendigkeit wertbezogenen Handelns zu wenig klar erkennt, sei es, dass er trotz besserer Erkenntnis die Kraft zu konsequentem Handeln nicht aufbringt. Könnte eine Wert-Ordnung ein Geschick haben, wäre man versucht zu sagen: Es ist das tragische Geschick des Vollkommenheit beanspruchen-den Organismus der Grundwerte, dass diese zwar ausserhalb des konkreten Menschen objektiv bestehen, sich aber nur im konkreten Menschen realisieren können. Sie vermögen daher den jungen Menschen stets nur in mehr oder weniger starker Trübung zu erreichen, da sie keine Chance haben, sich in den Erziehern rein zur Darstellung bringen zu können. Damit ist schon im Ansatz klar, dass es weder eine vollkommene Erziehung noch einen vollkommenen Erziehungserfolg geben kann. Es wäre indessen kleinmütig, sich ob dieser ernüchternden Erkenntnis auf eine vordergründige bedürfnis-pädagogische Position zurückzuziehen.

Die wert-orientierte Erziehung stösst aber nicht bloss bei den Erziehern, sondern selbstverständlich auch bei den zu Erziehenden auf mehr oder weniger starke Grenzen. So kann man sich vorerst einen wirklichen Erfolg auf dem Gebiete der ethischen bzw. Gewissenserziehung nur dann versprechen, wenn es gelingt, die Mauer der Absicherung, die das Kind um sich herum aufgebaut hat, zu lockern und das Innere des Kindes zu erreichen. Dies ist – insbesondere bei schwierigen Kindern – praktisch nicht zu erreichen im Rahmen von akuten Konflikten. Hier muss man froh sein, wenn sich der Konflikt nicht immer weiter auswächst und eine einigermassen praktikable Lösung für den Moment gefunden werden kann. Pädagogisch viel fruchtbarer sind die konfliktfreien Phasen, die es bei allen Kindern, mögen sie noch so schwierig sein, immer wieder gibt. Hier ist wichtig, dass der Erzieher nicht einfach die ersehnte Ruhe geniesst, sondern die Chance nutzt und das Gespräch mit dem Kinde sucht. In einer ruhigen Atmosphäre kann eine echte Öffnung des neurotischen Abwehrsystems möglich werden und können in die Tiefe wirkende Worte des Erziehers das Innere der kindlichen Seele erreichen.

In den vorstehenden Ausführungen habe ich vorwiegend die gegenwirkenden Massnahmen im Bereiche der ethischen Erziehung des Kindes ins Auge gefasst. Wie ich aber bereits darlegte, darf sich eine wert-orientierte Erziehung nicht auf das rein Moralische beschränken, sondern muss den ganzen Organismus der Grundwerte berücksichtigen. Daraus leitet sich, wie ich schon andeutete, auch die Aufgabe ab, im jungen Menschen Sinn für das Echte, für Qualität, für das lebendige Kunstwerk, überhaupt eine gewisse Leidenschaft für das Wahre, Schöne und Heilige zu wecken und – wo schon vorhanden – weiterzuentwickeln.

Auch in diesem Bereich hat die Gegenwirkung ihre Berechtigung, aber es liegt wohl auf der Hand, dass mit Druck und Verboten kaum etwas auszurichten ist. Wir haben es hier vielmehr mit einem Gebiet zu tun, in welchem die unterstützenden Massnahmen zugleich die beste Form der Gegenwirkung sind, wobei dann allerdings der Begriff ‚Gegenwirkung‘ in einem ausgeweiteten Sinne verstanden ist. Wenn es z.B. gelingt, die Jugendlichen zu echten Kunst-Erlebnissen zu führen, so besteht eine gewisse Chance, dass immer wieder einige ihre Qualitäts-Ansprüche erhöhen und gewisse Verhaltensweisen, die auf ein wenig entwickeltes Geistesleben schliessen lassen, künftig durch ertragreichere zu ersetzen.

In allem: die Liebe

Mit diesem Hinweis auf die fördernden Massnahmen als eine weiter gefasste Form der Gegenwirkung sind wir auch im Rahmen der ethischen Erziehung, wo eigentlich bloss der Wert des Guten und teilweise des Wahren zur Debatte stehen, an einen entscheidenden Punkt gelangt: Jede Gegenwirkung bleibt unfruchtbar, wenn sie nicht eingebettet ist in den viel wichtigeren Bereich der unterstützenden Massnahmen.

Über die Vielfalt der Möglichkeiten auf diesem Gebiet liesse sich natürlich wiederum sehr viel sagen. Ich möchte mich indessen auf eine einzige Aussage beschränken: Das wichtigste Anliegen im Bereiche der ethischen Erziehung ist nicht das Erreichen braver Wohlerzogenheit, sondern das Wecken der Liebeskräfte. Wo immer auch sich Liebe verwirklicht, ist der letzte Sinn des Daseins erreicht. Darüber hinaus produziert derjenige, der seine Mitmenschen liebt, auch mit aller Selbstverständlichkeit nicht dauernd Situationen, welche von irgend jemandem aversive Massnahmen erheischen. Im Zentrum der wert-orientierten Erziehung steht darum die Liebeserziehung. Sie durchdringt alles und verbindet unterstützende und gegenwirkende Massnahmen zu einem harmonischen Ganzen.

Die Liebe steht nun aber nicht bloss im Rahmen der ethischen Erziehung im Zentrum, sondern auch in jenen Bereichen, wo es um guten Geschmack, um Kunstsinn, um Qualitätsbewusstsein, um Interessentiefe und -vielfalt, um Originalität, um Wahrheitsleidenschaft, um personale Religiosität, um Treue an einer Aufgabe – kurz: um die Verwurzelung des heranwachsenden Menschen im Geiste geht. Diese hohen Zielsetzungen bleiben dürr und hohl, wenn sich nicht all die genannten Äusserungen des Geistes mit der Kraft der Liebe verbinden. Damit ist dem bildenden Erzieher und dem erziehenden Bildner das Ziel gewiesen, auf welches hinzubewegen sich täglich lohnt.

Weitere Themen: