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Die Noten als pädagogisches Problem

Grundsätzliche Erwägungen zur versuchsweisen Änderung der Notenpraxis im Lehrerseminar St. Michael Zug, veröffentlicht in der 'Schweizer Schule' 10/1980 

Esparsette

Siehe auch den Fortsetzungs-Aufsatz Nr. 5:
Einige grundsätzliche Überlegungen zur Notenproblematik

 

1. Einleitende Bemerkungen

Bevor ich auf das spezielle Problem der Notengebung im Rahmen der Lehrerbildung und auf den geplanten Versuch im Lehrerseminar St. Michael Zug zu sprechen komme, möchte ich die Notenpraxis ganz allgemein von einem pädagogischen Standpunkt aus einer kritischen Analyse unterziehen. Wer sich in der reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur über das Problem der Beurteilung und Bewertung von Schülerleistungen umsieht, stellt bald einmal fest, dass die Schulnoten den Anspruch, klar definierte Schülerleistungen zu messen, nicht erfüllen können. Es kann verhältnismässig leicht nachgewiesen werden, dass Noten nicht objektiv, nicht zuverlässig und nicht gültig sind. Das heisst: Noten sind erstens in hohem Masse abhängig von den subjektiven Normvorstellungen und von der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen Lehrer; sie sind zweitens insofern unzuverlässig, als derselbe Lehrer identische Leistungen in unterschiedlichen Zeitpunkten anders bewertet; und sie können drittens nicht im strengen Sinne als gültig angesehen werden, da sie oft nicht das messen, was sie zu messen vorgeben. So ist z. B. weit herum unklar, ob eine Note die tatsächlich erbrachte Leistung oder – mindestens anteilsmässig – den aufgewendeten Fleiss und Einsatz ausdrücken soll.

Diese von der Erziehungswissenschaft aufgedeckten Unzulänglichkeiten der Noten führen dann zumeist zum Vorschlag besserer Beurteilungsinstrumente (objektive Leistungstests, ganzheitliche diagnostische Verfahren) oder allenfalls zur radikalen Forderung nach Abschaffung der Noten, dies freilich, weil sie unzulänglich und nicht, weil sie schädlich sind.

Das ist nun aber genau der Punkt, an dem es vom pädagogischen Standpunkt aus anzusetzen gilt. Man sollte meiner Ansicht nach damit aufhören, in immer neuen Untersuchungen die Unzulänglichkeiten der Noten nachzuweisen, sondern vielmehr den Blick umwenden, hin zu den pädagogischen Auswirkungen des Notensystems ganz allgemein. Ich tue dies im folgenden und versuche zu zeigen, dass die Schulnoten – unabhängig von ihrer Objektivität, Gültigkeit und Zuverlässigkeit – pädagogisch in hohem Masse schädlich sind.

 

2. Offene und verdeckte Funktionen

Die Überzeugung von der Berechtigung, ja Notwendigkeit von Schulnoten ist tief im Bewusstsein von Lehrern, Eltern und Behörden verwurzelt. Eine Änderung der Notenpraxis setzt daher ein allgemeines Umdenken voraus. Dieses kann nur in Gang kommen, wenn Klarheit herrscht über die zahlreichen Funktionen der Note und deren Stellung im Bildungsprozess. Ich führe im folgenden die wichtigsten der in der Literatur genannten Funktionen an und nehme dazu jeweils kritisch Stellung. Im Anschluss daran versuche ich, auf einige verdeckte Funktionen, d. h. auf unbeabsichtigte negative Auswirkungen der Noten hinzuweisen, und beschliesse dann das Kapitel mit einer zusammenfassenden Stellungnahme.

 

2.1. Offene Funktionen

2.1.1. Diagnostische Funktion

Die Note zeigt an, wo der Schüler leistungsmässig im Vergleich zu den gestellten Anforderungen, zu seinen Mitschülern und zu früheren Leistungen steht.

Kommentar: Wie bereits erwähnt, erfüllen die Schulnoten diese Funktion weder objektiv noch zuverlässig und gültig. Um dem Schüler Klarheit über seinen Leistungsstand zu verschaffen, braucht es indessen die Note gar nicht. Durch kurze Hinweise im täglichen Umgang, durch schriftliche oder mündliche Kommentare im Anschluss an schriftliche Leistungen und durch gelegentliche Gespräche kann der Lehrer dem Schüler helfen, sich objektiv einzuschätzen. Darüber hinaus zeigen die regelmässigen Lernkontrollen, die auch in einer notenfreien Schule zum Lernprozess gehören, dem Schüler deutlich genug, wo er steht. Wenn einer in einer Prüfung von 10 Mathematik-Aufgaben deren 8 falsch löst, so weiss er Bescheid; eine Umwandlung dieses objektiven Sachverhalts in eine subjektive Wertung (Note 2) ist überflüssig.

Unsere Notenpraxis basiert grossenteils auf dem ständigen Vergleich des einzelnen Schülers mit den andern, mit den bessern, mit dem Klassendurchschnitt. Der Vergleich eines Schülers mit einem andern ist nun aber pädagogisch grundsätzlich fragwürdig. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Schüler eine unverwechselbare Individualität darstellt, zu deren Ausreifung und Verwirklichung der Bildungsprozess in der Schule Wesentliches beitragen soll, so ist es eine der vordringlichsten Aufgaben, im Kinde das Bewusstsein seiner Einmaligkeit, seiner in ihm schlummernden Möglichkeiten, seiner eigenen "Kräfte und Anlagen" (Pestalozzi) zu stärken. Der ständige und durch die Noten institutionalisierte Vergleich mit den andern behindert die Festigung eines gesunden Selbstwertgefühls und begünstigt Eigenschaften wie Eifersucht, Neid, Hochmut, Ehrgeiz, die das Zusammenleben erheblich belasten. Das Kind soll aber vielmehr daran gewöhnt werden, sich mit sich selbst, mit seinen eigenen Möglichkeiten zu vergleichen. Dadurch wird es auch nicht – wie in unsern Schulen, wo es sich häufig genug an einem fiktiven Durchschnitt orientiert – über- oder unterfordert.

 

2.1.2. Prognostische Funktion

Die Noten gestatten Vermutungen über die künftige Entwicklung eines Schülers (etwa hinsichtlich weiterführender Schulen).

Kommentar: Gemäss wissenschaftlichen Untersuchungen ist der prognostische Wert von Noten relativ gering. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Noten auf verschieden gründlichen Prüfungsverfahren beruhen. Auch gibt es Lehrer, die die Zeugnisnoten eher als Einschätzung der Leistungsfähigkeit eines Schülers verstehen, während sich andere mechanisch an erbrachte Leistungen und die daraus resultierenden Durchschnitte halten. Es ist daher anzunehmen, dass der prognostische Wert von Zeugnisnoten je nach Lehrer unterschiedlich gross ist.

Immerhin ist es ein Trugschluss zu glauben, der Lehrer benötige für seine Prognosen Zeugnis- oder Prüfungsnoten, denn sowohl die Benotung wie auch das Prognostizieren beruhen ja auf derselben Grundlage, nämlich auf dem Urteil des Lehrers.

 

2.1.3. Selektionierende Funktion

Die Note bildet die Grundlage für einen Pro- resp. Remotionsentscheid sowie für die Aufnahme in weiterführende Schulen.

Kommentar: Gegner des Jahrgangsklassen-Systems und der dreigliedrigen Oberstufe weisen darauf hin, dass sich in einem ihren Vorstellungen entsprechenden System das Problem der Remotionen und der Selektion gar nicht stellt und daher keine Noten gebraucht werden. Ich glaube indessen, dass es nicht möglich ist, alle Probleme auf einmal zu lösen, und gehe daher in meiner Stellungnahme von der jetzigen Situation aus.

Der Entscheid, ob ein Kind in die nächst höhere Klasse aufsteigen kann, sollte auf keinen Fall aufgrund von Zeugnisnoten, die ja ihrerseits Durchschnitte (zufällig) erbrachter Einzelleistungen darstellen, gefällt werden. Wenn dies geschieht, so machen es sich Lehrer und Behörden zu leicht. Diesem für das Kind oft folgenschweren Entscheid muss ein sorgfältiges Abwägen seiner Leistungsmöglichkeiten zu Grunde liegen. Dazu ist wohl in erster Linie der gegenwärtige Lehrer in der Lage. Er sollte sich daher für seinen Entscheid nicht an Notendurchschnitte gebunden fühlen müssen, sondern sich auf sein unmittelbares Gesamturteil berufen dürfen. Dieses Problem ist rechtlich ohne weiteres lösbar, denn der Staat kann den Promotionsentscheid genau so gut dem Urteil des Lehrers wie einem Notendurchschnitt (worin – zwar verschleiert, doch glücklicherweise – häufig genug ein Lehrerurteil steckt) unterwerfen. Das Verfahren kann durch einen allfälligen Beizug des Schulpsychologen und/oder eines andern Lehrers abgesichert werden.

Bezüglich der Selektion für höhere Schulen stellt sich das Problem anders, je nachdem, ob die Auslese bei der Zubringer- oder bei der Abnehmerschule liegt. Beim ersten Fall ist ein Zuweisungsverfahren, das auf dem Urteil des bisherigen Lehrers beruht, grundsätzlich denkbar. Im zweiten Fall sind Prüfungen und damit wohl auch Noten unumgänglich. In einzelnen Kantonen hat sich ein gemischtes Verfahren bewährt: Der Lehrer der Zubringerschule fällt den Entscheid, in welche der drei Züge der Oberstufe das Kind einsteigen kann, aus freiem Ermessen; wer damit nicht einverstanden ist, kann sich einer Prüfung an der weiterführenden Schule unterziehen. Dass die hier erbrachten Leistungen von den Prüfungsorganen benotet werden, setzt nicht voraus, dass der Schüler einen durch Noten gesteuerten (und belasteten) Lernprozess hinter sich hat.

 

2.1.4. Evaluations- und Planungsfunktion

Die Noten gestatten Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des vorausgegangenen Unterrichts. Sie geben dem Lehrer Hinweise für die weitere Unterrichtsgestaltung.

Kommentar: Lernkontrollen gehören in jedem Fall zum Lernprozess und sind nicht an das Notensystem gebunden. Ein Lehrer, der die Schülerarbeiten aufmerksam korrigiert und in den Übungsphasen auf den einzelnen Schüler eingeht, weiss, wie wirksam sein Unterricht war und was künftig not tut.

 

2.1.5. Berichtsfunktion

Die Note orientiert Eltern und andere Interessierte über die Leistungen des Schülers.

Kommentar: Dass die Eltern regelmässig über das Verhalten und die Leistungen ihres Kindes orientiert werden sollen, ist wohl selbstverständlich. Es ist zuzugeben, dass das Notenzeugnis dazu ein rationelles Mittel ist. Im allgemeinen wollen die Eltern gar nichts Genaueres wissen, es genügt ihnen ein Überblick über den "Stand" des Kindes anhand der Zahlenwerte.

Die Berichtsfunktion ist einer der wichtigsten Aspekte der Note, weshalb bei einer allfälligen Ersetzung der Notenzeugnisse eine akzeptable Alternative angeboten werden muss. Vielerorts wird anstelle der Zeugnisse ein schriftlicher Bericht z. H. der Eltern gefordert, und in einzelnen Schulen ist dies bereits realisiert. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass dieses Verfahren für die Lehrerschaft eine grosse Belastung bedeutet. Möglicherweise ist das Elterngespräch die praktikablere Lösung. Im Kanton Zug ist eben ein Versuch in dieser Richtung angelaufen: In der 1. und 2. Klasse wird nur noch am Ende des Schuljahres ein Notenzeugnis ausgestellt (ergänzt durch einen kurzen schriftlichen Bericht), während das Halbjahreszeugnis vor den Sportferien entfällt und durch ein Gespräch mit den Eltern ersetzt wird. Dieses wird anhand eines vom Erziehungsrat erlassenen Beurteilungsschemas geführt. (Siehe den Beitrag von Vreni Näf auf S. 349 'schweizer schule' 10/80.)

 

2.1.6. Beratungsfunktion

Die Note bildet eine Grundlage für Berufs- und Laufbahnberatungen.

Kommentar: Im allgemeinen hat der Lehrer den Umweg über die Zeugnisnote nicht nötig, um einem Schüler im Hinblick auf die Zukunft zu raten. Für Aussenstehende hat die Note ohnehin einen relativ geringen Informationswert, da von Ort zu Ort und von Lehrer zu Lehrer verschieden benotet wird. So wird sich denn auch der Berufsberater eher auf Resultate selbst durchgeführter Tests oder auf seine eigenen Beobachtungen verlassen. Noten sind hinsichtlich der Beratung nicht erforderlich.

 

2.1.7. Sozialisationsfunktion / leistungsvorbereitende Funktion

Das Notensystem konfrontiert den jungen Menschen mit Leistungsnormen der Gesellschaft und erzeugt in ihm das Bewusstsein, dass gute Leistungen belohnt, schlechte bestraft werden.

Kommentar: Vielen mag es Mühe bereiten, diese Funktion der Schulnoten einzugestehen. Persönlich halte ich die Notenpraxis für so etwas wie das pädagogische Pendant zur freien Marktwirtschaft: "Freie Bahn dem Tüchtigen! Es ist nur gut, dass das Kind möglichst bald den Ernst, den rauhen Wind des Lebens kennen lernt." Das mag in gewisser Hinsicht seine Berechtigung haben. Doch wer so argumentiert, setzt stillschweigend voraus, dass Schulleistungen vom Schüler als ein Muss erlebt werden (sollen), und er vergisst, dass in der Erziehung andere Gesetzmässigkeiten gelten als in der Wirtschaft. Oder, um es mit Pestalozzis Philosophie auszudrücken: Die Wirtschaft ist Teil des gesellschaftlichen Zustandes, wo Macht und Konkurrenz ihre (beschränkte) Berechtigung haben; die Erziehung aber ist in ihrer reinen Form Teil des sittlichen Zustandes, wo die Tugenden echter personaler Beziehungen (Liebe, Zuneigung, Vertrauen, Dankbarkeit) das Verhalten regeln sollen. Wir sollten doch eigentlich allmählich erkennen, wohin uns ein übersteigertes Macht- und Konkurrenzdenken geführt hat, und nun die pädagogischen Konsequenzen daraus ziehen. Das würde u.a. bedeuten, dass hinfort die Kinder nicht im Hinblick auf spätere Konkurrenzsituationen (woran sie durch die Noten gewöhnt werden sollen) lernen, sondern aus echter innerer Beteiligung am Lerngegenstand.

 

2.1.8. Motivationsfunktion

Gute Noten werden vom Schüler als positiv, somit als erstrebenswert empfunden, schlechte als negativ und als zu vermeiden.

Kommentar: Das war, will man ehrlich sein, der Vater des (Noten-)Gedankens: Wer brav lernt und gut vorankommt, der wird ausgezeichnet, und wer zurückbleibt, soll eben die Quittung erhalten. Sicher waren die Noten ursprünglich als Mittel (Verstärker) zu einem guten Zweck gedacht. Aber es ging, wie es immer geht, wenn das Mittel, das zur Erreichung eines Zwecks eingesetzt wird, an sich (zu) wertvoll ist: die Zweck-Mittel-Relation kehrte sich um. Das heisst: Der Schüler macht nicht gute Noten, um etwas zu lernen, sondern er lernt, um gute Noten zu machen. Und dass das ursprüngliche Mittel, die Noten, an sich in den Augen des Schülers wertvoll ist, kann man wohl im Ernst nicht bestreiten, wenn man bedenkt, dass allenfalls seine Promotion oder sogar seine berufliche Zukunft daran hängt.

Dieses Lernen um der Note willen halte ich für das Krebsübel unserer Schulen. Alles wirklich Wesentliche wird einer Fiktion, einem falschen Ziel geopfert: das Sich-begeistern-Können für eine Sache, das nachgehende, fragende Verweilen, das dauernde Bestreben, sich selbst im Lernstoff zu finden – kurz: die echte Begegnung mit der Sache. Auf all das kann man verzichten, wichtig ist das Endresultat, die Note. Und wer einen schlauen Kopf hat, kriegt bald heraus, dass auch die Note nicht maximal zu sein braucht, dass es sich so um 4–5 herum recht gut mitschwimmen lässt, bis hinauf an die Universität. Hoch im Kurs ist Noten-Mathematik: "Auf die nächste Chemieprobe lerne ich nicht, es liegt eine blanke Zwei noch drin, im Schnitt bringe ich es immer noch auf eine 3–4, und das macht mit dem halben Minuspunkt in Deutsch einen ganzen: immer noch gut definitiv." So denken nicht einige, so denkt die Mehrzahl unserer Mittelschüler, die ein Dutzend Jahre Umgang mit unserm Notensystem hinter sich haben. Und ein grosser Teil hat noch einiges dazu gelernt: nämlich raffiniert zu betrügen; dann kann man es nämlich noch billiger haben. Und wir Lehrer lassen uns schlank in die Rolle der Aufpasser drängen, ohne zu erkennen, dass wir darin Opfer eines Systems sind, das zwar seine bequemen Seiten hat (siehe 2.1.3. und 2.1.5.), das uns aber Schwierigkeiten einbrockt, die manchem die Freude am Beruf verleiden.

Im Rahmen der ganzen Notenproblematik scheint mir das Wichtigste, dass es gelingt, die Bedeutung der Noten als Motivationsinstrument zurückzudrängen. Durch die Pflege der personalen Beziehungen und bestimmter Unterrichts- und Lehrformen muss der Schüler dahin gebracht werden, dass er um der Bereicherung willen, die er in der Begegnung mit der Sache erfährt, sich engagiert. Das ist gewiss leichter gesagt als getan, und es hat weitreichende Konsequenzen bezüglich des Lehrplans (Beschränkung auf Elementares und wirklich Wesentliches; neues Verständnis für Lehr- und Methodenfreiheit), des Stundenplans (vermehrte Konzentration in längeren Einheiten; Epochenunterricht), der Beziehung des Lehrers zum Stoff (allseitiges Interesse, Engagement), der Lehrer-Schüler-Beziehung (sozial-integrativer Stil) und der Lehrerbildung (Persönlichkeitsbildung anstelle von Anhäufung von Wissensstoff).

Die Vermutung ist wohl berechtigt, dass viele Lehrer gerade im Hinblick auf die Motivationsfunktion an der bisherigen Notenpraxis festhalten wollen. Sie spüren intuitiv, dass sie durch die Änderung der Notenpraxis eines Machtmittels beraubt werden, und kommen sich deshalb als Versager vor, weil sie glauben, darauf angewiesen zu sein. Was sie leider oft zu wenig klar sehen: dass sie es erstens meist mit Schülern zu tun haben, die bereits durch das Notensystem verdorben sind, und dass sie zweitens in ein System eingespannt sind, das vom Ansatz her auf Machtausübung konzipiert ist (Schulzwang, Leistungszwang, Selektion, Notensystem) und sie in eine Rolle drängt, die sie wohl kaum freiwillig übernehmen würden. Wenn wir die Schule menschlicher gestalten wollen, so müssen wir erkennen, wo das System Menschlichkeit verhindert. Das ist meiner Ansicht nach beim Notensystem klar der Fall, und deshalb muss es geändert werden. Es gilt, ein Stück Macht zurückzunehmen, um der echten Begegnung – sei's mit der Sache oder dem Mitmenschen – Raum zu geben.

 

2.2. Verdeckte Funktionen

Neben den erwähnten Funktionen, die alle mehr oder weniger eine positive und eine negative Seite haben, müssen Nebenwirkungen gesehen werden, die völlig unbeabsichtigt und nur störend sind.

 

2.2.1. Störung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses

Das Notensystem führt den Lehrer in eine widersprüchliche Beziehung zum Schüler. Als Erzieher soll er dem Schüler vertrauen, ihm gegenüber risikofreudig sein, ihm etwas zutrauen, ihn verstehen, ihn lieben, kurz: die Beziehung zwischen Erzieher und jungem Menschen ist – um mit Pestalozzi zu sprechen – ein sittliches Verhältnis. Als Handhaber des Notensystems übernimmt nun aber der Lehrer eine völlig andere Rolle: er wird, insofern Noten z. B. über den Verbleib eines Kindes in einer Klasse entscheiden, zum Vollstrecker gesellschaftlicher Forderungen, die im Endeffekt sogar dazu führen können, dass – wie im erwähnten Beispiel – das erzieherische Verhältnis zwischen ihm und dem Kind beendigt wird. Oder mit andern Worten: Als Benoter tritt der Lehrer dem Kind nicht als sittliches, sondern als gesellschaftliches Wesen entgegen, ausgerüstet mit gesellschaftlicher Macht (Promotionsordnung), die – da im Lehrer personal verkörpert – vom Kind als personale Macht und damit als Störfaktor im eigentlich pädagogischen Verhältnis wahrgenommen wird. Ich gestehe ein, dass ich unter diesem Widerspruch zwischen personaler und gesellschaftlicher Beziehung zum Schüler stets litt und dass ich den Schülern gegenüber, denen ich ihre Probleme lösen half und die – gerade als problematische Schüler – auf meine Hilfe angewiesen waren und auf sie bauten, ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich sie dann, als Vollstrecker gesellschaftlicher Forderungen, an der Prüfung scheitern lassen musste. Ich weiss, dass viele Lehrer diesen Widerspruch – mindestens bewusst – nicht empfinden; mir kommt er vor wie der Widerspruch, in dem sich ein Ehemann befindet, wenn er auf der einen Seite seine Frau liebt (sittlicher Zustand), am Arbeitsplatz aber als ihr Chef sie z. B. wegen Mangel an Aufträgen entlassen muss (gesellschaftlicher Zustand).

Ich bin überzeugt, dass diese widersprüchliche Beziehung zwischen Lehrer und Schülern ausserordentlich viel Schaden anrichtet und das Zusammenleben in der Schule sehr belastet. Mancher Lehrer wird mit dem Problem dadurch fertig, dass er sich einfach auf die gesellschaftliche Funktion zurückzieht. Er ist Funktionär, verschanzt sich in jedem Fall hinter Vorschriften und Reglementen und identifiziert sich mit der Position der Macht. Der grössere Teil der Lehrerschaft scheint sich indessen "irgendwie" zu arrangieren und wird mit den widersprüchlichen Rollen (Freund und Helfer, Polizist und Richter) "irgendwie" fertig. Ich möchte mich aber damit nicht abfinden, da mir klar geworden ist, dass das Aufrechterhalten einer derart doppeldeutigen Beziehung zu den Schülern etwas richtiggehend Krankmachendes an sich hat und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schülern – mithin das pädagogische Fundament – permanent untergräbt. Auch erschwert es dieses widersprüchliche Verhältnis dem Schüler, zu sich selbst zu stehen, da es ihm einen dauernden Vorwand abgibt, die Schuld für seine Schwächen und sein allfälliges Versagen dem (bösen, machthungrigen, misstrauischen usf.) Lehrer zuzuschieben.

 

2.2.2 Abschieben von Verantwortung

Die Notenpraxis beruht traditionsgemäss auf dem Brauch, dass der Lehrer die Leistungen der Schüler beurteilt und bewertet. Und da die Noten gleichzeitig als gehöriges Druckmittel eingesetzt werden, bildet sich im Schüler allmählich die feste Meinung aus, es sei eigentlich der Lehrer, der etwas von ihm wolle. Das führt dann einerseits dazu, dass der Schüler unbewusst den Lehrer für seinen Lernfortschritt verantwortlich macht (was sich etwa darin auswirkt, dass Schüler nichts arbeiten, solange sie keine konkreten Aufträge erhalten), andererseits dahin, dass er Wenig- bis Nichtstun als befriedigenden Normalzustand erlebt, der durch die Leistungsanforderungen des Lehrers gestört wird. Dabei kommt es zu einem psychischen Seilziehen, das wir Lehrer in der Regel mitspielen: Tut einer nichts, setzen wir Druck auf, und wenn es immer noch nicht fruchtet, verstärken wir den Druck. Noten sind dazu bestens geeignet, womit der Teufelskreis geschlossen ist.

Ich meine, dass eine allfällige Abkehr von der Notenpraxis nur dann einen Sinn hat, wenn es gelingt – mindestens in den höheren Jahrgängen –, die Verantwortung für das Lernen und den Lernfortschritt dem Schüler zurückzugeben. Das bedeutet, dass der Schüler lernen muss, seinen Lernprozess wach und ehrlich zu reflektieren und seine Leistungsqualität selbst zu beurteilen.

 

2.3 Zusammenfassende Stellungnahme

Die Noten erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen. Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass sie für die Diagnose des Leistungsstandes der Schüler, für prognostische Aussagen, für Evaluation und Planung des Unterrichts sowie für die Beratung unnötig sind. Einen echten Dienst leisteten sie bis anhin als Selektions- und Orientierungsinstrument. Selektion und Information können indessen durch andere Verfahren bewerkstelligt werden. Pädagogisch fragwürdig ist die Note hinsichtlich ihrer Sozialisierungs- und Motivationsfunktion. Darüber hinaus sind äusserst unerwünschte Nebenwirkungen festzustellen, die den ganzen Bildungsprozess erheblich belasten.

Die folgenden negativen Erscheinungen und Auswirkungen werden somit durch das Notensystem verursacht oder zumindest begünstigt (wenn auch offensichtlich ist, dass noch andere Ursachen mitbeteiligt sind):

Ich gestehe ein, dass diese negativen Auswirkungen nicht bei jedem Schüler voll zum Tragen kommen. Dass sie aber generell feststellbar sind und den Bildungsprozess in teils erheblicher Weise stören, weiss ich aus eigener Erfahrung und aus Gesprächen mit Hunderten von Schülern. Der empirisch orientierte Erziehungswissenschafter möge obige Feststellungen als Hypothesen annehmen zum Zwecke der Verifizierung bzw. Falsifizierung.

 

3. Die Notenproblematik im Rahmen der Lehrerbildung

Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf die Noten-Schule ganz allgemein und dürften daher – insoweit sie überhaupt zutreffen – für alle Schulen gelten, in denen das herkömmliche Notensystem praktiziert wird.

In einer Lehrerbildungsanstalt gewinnt nun das Noten-Problem in zweifacher Hinsicht an Dringlichkeit:

a) Der Lehrer ist – glücklicherweise – in der konkreten Gestaltung seiner Arbeit weitgehend frei. Er hat sich zwar an den Lehrplan zu halten, doch untersteht er keinem Chef, der täglich und stündlich seine Arbeit überwacht und ihm genaue Anweisungen gibt. Eine solche Arbeitsweise setzt einen hohen Grad an Verantwortungsbewusstsein voraus. Es wird aber nur derjenige seine Entscheidungen eigenverantwortlich treffen können, der gelernt hat, sein Tun selbstkritisch zu überprüfen und die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Wie gezeigt wurde, verstärkt nun aber das Notensystem gerade die Tendenz des Schülers (auch des Seminaristen), die Verantwortung für sein Lernen dem Lehrer zu überbinden. Wenn es nicht gelingt, ihn zu eigenverantwortlichem Handeln zu erziehen, so kann er nicht als für die Praxis gut ausgebildet und vorbereitet betrachtet werden. Insofern wirken sich die Noten in einer Lehrerbildungsanstalt hinsichtlich eines wesentlichen Bildungsziels kontraproduktiv aus.

b) Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass unsere Volksschule der Reform bedarf (diese Aufgabe ist ja nie abgeschlossen). Auch die Änderung der Notenpraxis ist als Bestandteil einer umfassenden Reform zu verstehen. Nun ist wohl jedes Reformprojekt zum Scheitern verurteilt, das nicht getragen ist durch die Überzeugung eines Grossteils der Lehrerschaft. Damit kommt der Lehrerbildung hinsichtlich der Anregung von Reformen eine zentrale Bedeutung zu. Man kann sich freilich keine nachhaltige Wirkung davon versprechen, wenn Reform nur theoretisch gelehrt, nicht aber praktiziert wird. Dies trifft wohl in besonderer Weise für die Änderung der Notenpraxis zu, denn wenn es einer Lehrerbildungsanstalt nicht gelingt, die Schüler ohne Notendruck zu sachbezogenem Lernen zu bringen, so sind wohl alle weiterreichenden Hoffnungen illusorisch.

 

4. Der Versuch zur Änderung der Notenpraxis im Lehrerseminar St. Michael Zug

4.1 Vorbemerkungen

Das Lehrerseminar St. Michael in Zug ist eine freie katholische Schule (die allerdings auch Schülern anderer Konfession offensteht) mit einer relativ kleinen Schülerzahl (Frühjahr 1980: 120). Zwei wesentliche Gegebenheiten erleichtern somit die Reform: Freiheit und Überschaubarkeit.

Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass die hier dargelegte versuchsweise Änderung der Notenpraxis letztlich nur ganz verstanden werden kann im Zusammenhang mit zwei andern Reformprojekten, die teils realisiert sind, teils zu berechtigten Hoffnungen Anlass geben: Konzentration im Stundenplan durch den Block-Unterricht und ein gezieltes Projekt in der 1. Klasse zur Förderung der Erlebnisfähigkeit, der Eigenaktivität und der sachbezogenen Motivation. Wir möchten mit beiden Projekten noch mehr Erfahrung sammeln und werden sie daher erst später öffentlich darstellen. Eigentlich hätten wir auch den Versuch mit der geänderten Beurteilungs-Praxis lieber einige Zeit laufen lassen und ihn erst später der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir befürchten jedoch, dass bald irreführende Schlagworte und Fehlinformationen herumgeboten werden könnten, die sich zum Nachteil unserer Schule auswirken müssten, und ziehen es deshalb vor, den Versuch hier zu beschreiben und das Risiko einzugehen, bei einem allfälligen Scheitern den Misserfolg einzugestehen.

 

4.2 Die neue Noten-Praxis

Um den Grundgedanken des Versuchs zu verstehen, ist es nötig, zwischen den folgenden drei Situationen zu unterscheiden:

a) Notengebung im Rahmen der Aufnahme- und Patentprüfungen

b) Notengebung in den Semesterzeugnissen

c) Notengebung im Lernprozess.

Zu a): Im Rahmen der Aufnahme- und Abschlussprüfungen wird die bisherige Praxis beibehalten. Unsere Schüler werden vom Kanton Zug patentiert, und wir sind nicht befugt, den Prüfungsmodus eigenmächtig zu ändern. Wir betrachten dies aber keineswegs als tragisch, denn in den Prüfungen stehen wir zu den Kandidaten in einem andern Verhältnis als während der fünfjährigen Ausbildungszeit: Während wir hier eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen gewillt sind, also nach Pestalozzis Anthropologie in einem sittlichen Verhältnis zu den Schülern stehen, so nehmen wir als Prüfende eine gesellschaftliche Funktion wahr. Sowohl bei der Aufnahme- wie auch bei der Abschlussprüfung müssen wir unsere Entscheidungen der Gesellschaft gegenüber vertreten können, da wir ja Lehrer mit der Berechtigung für den öffentlichen Schuldienst ausstatten. Haben wir aber einmal einen Schüler aufgenommen, so erwächst uns daraus ein wesentlich anspruchsvollerer pädagogischer Auftrag, den wir insbesondere dem einzelnen Schüler und seinen Eltern gegenüber zu verantworten haben. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass wir die Noten als eine gesellschaftliche Einrichtung in den Prüfungssituationen beibehalten, während wir sie aus dem dazwischen liegenden Bildungsprozess als störenden Faktor so weit wie möglich eliminieren möchten.

Zu b): Die Semesterzeugnisse erfüllen zwei wesentliche Funktionen: Bericht an die Eltern und allfällige Selektion. Trotzdem möchten wir künftig auf die Abgabe von Semesterzeugnissen verzichten und sie durch sogenannte Lernberichte ersetzen (siehe später).

Dem Beschluss zum Verzicht auf Semesterzeugnisse liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Semesternote vom Schüler als relativ wertvoll erlebt wird und daher zurückwirkt auf die Einzelleistungen während des Semesters (siehe 2.1.8). Das heisst: Die Semesternote wirkt sekundär motivierend und verwandelt den eigentlichen Zweck – die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff – in ein blosses Mittel zum Zwecke der Note. Wir möchten aber künftig diese Art von Motivation verhindern und statt dessen versuchen, durch Gespräche und die Art der Stoffdarbietung im Schüler die Einsicht in den Sinn seines Lernens und die Freude am Lerngegenstand zu wecken und zu fördern. Die Berichts- und Selektionsfunktion der bisherigen Semesterzeugnisse müssen daher von andern Verfahren übernommen werden. Die Information der Eltern wird künftig durch einen vom Schüler verfassten und vom Klassenlehrer allenfalls ergänzten und unterzeichneten zusammenfassenden Lernbericht gewährleistet.

Der Entscheid, ob ein Schüler ins Provisorium versetzt oder von der Schule weggewiesen werden soll, wird nicht nach einem starren Promotionsschema gefällt, sondern von der Lehrerkonferenz in freier Kompetenz getroffen. Dass sie einen solchen Schritt nur mit guten Gründen, nur nach gründlicher Überlegung und nach eingehender Beschäftigung mit dem betroffenen Schüler, d. h. unter Berücksichtigung seiner Entwicklungsmöglichkeiten und seiner Einstellung und Eignung zum Lehrer- und Erzieherberuf, tun wird, ist wohl selbstverständlich. Wenn man einem Lehrerkollegium nicht so viel Verantwortungsbewusstsein und Urteilsvermögen zutraut, sollte man ihm auch keinen Sohn zur Erziehung und Bildung anvertrauen.

Zu c): Im Rahmen der neuen Situation, wo die Noten von Einzelleistungen nicht mehr zu Durchschnitten für das Semesterzeugnis verrechnet werden, besteht für den Schüler keine Veranlassung mehr, um der Note willen zu lernen oder durch einen allfälligen Betrug die eigenen Schwächen zu verschleiern. Es ist daher mehr oder weniger gleichgültig, ob im Lernprozess im Rahmen von Lernkontrollen Noten gesetzt werden oder nicht; sie sind in jedem Fall eine einfache Mitteilung des Lehrers an den Schüler über seine Leistung. In gewissen Fällen vermag die Mitteilung via Note genügen, in andern werden Lehrer und Schüler das Bedürfnis haben, sich eingehender über die Qualität einer Leistung zu unterhalten. Es steht daher den Lehrern frei, ob und in welchem Masse sie Noten im Rahmen des Lernprozesses setzen wollen.

 

4.3. Die Lernberichte

Sie bilden das Kernstück des Reform-Projekts und sollen die Schüler dazu anhalten, den Verlauf ihres Lernprozesses in jedem Fach permanent zu reflektieren und die Verantwortung für den Lernfortschritt selbst zu übernehmen. Die Lernberichte werden für jedes Fach gesondert abgefasst und in regelmässig, im voraus festgelegten, aber den Bedürfnissen der einzelnen Fächer angepassten Abständen dem Lehrer zur Einsicht und allfälligen Stellungnahme vorgelegt. Zur Erleichterung der Arbeit, aber auch im Interesse einer gewissen Führung benützt der Schüler für seine Lernberichte vorgedruckte Formulare, worin die folgenden Fragen – bezogen auf jedes einzelne Fach – zu beantworten sind:

  1. Stichwortartige Darstellung des im Unterricht behandelten Stoffes (Themen, Übungen)

  2. Was hat mir die Auseinandersetzung mit dem oben dargestellten Stoff gegeben?

  3. Welche Schwierigkeiten und/oder Lücken sind dabei aufgetaucht?

  4. Was werde ich unternehmen, um diese Schwierigkeiten und Lücken zu beheben?

  5. Inwieweit habe ich die in früheren Berichten festgestellten Schwierigkeiten bzw. Lücken behoben?

  6. Wie beurteile ich meinen Einsatz in diesem Fach und meine Beiträge zur Gestaltung des Unterrichts?

  7. Persönliche weiterführende Arbeiten?

  8. Prüfungsarbeiten (Daten, Aufgabenstellung, allfällige Noten bzw. mündliche oder schriftliche Beurteilungen / Bewertungen durch den Lehrer)?

  9. Allgemeine Bemerkungen, Anregungen usf.

Dieses Formular bietet bei jeder Frage genügend Raum für allfällige Bemerkungen und Ergänzungen durch den Lehrer. Der Schüler fasst die wesentlichen Punkte am Ende des Semesters in einem freien schriftlichen Bericht zusammen, legt ihn dem Klassenlehrer zur Begutachtung und Unterzeichnung vor und informiert damit seine Eltern über seine Arbeit im verflossenen Semester.

Es ist völlig klar, dass das neue Verfahren einerseits ein tragfähiges Vertrauensverhältnis zwischen Schülern und Lehrern voraussetzt und andererseits geeignet ist, schwelende Konflikte sichtbar zu machen. So ist es möglich, unter Punkt 9 Kritik zu üben oder einem unguten Gefühl Luft zu verschaffen. Das Projekt steht und fällt daher mit der Bereitschaft zur Kooperation und zur sachlichen Konfliktlösung sowohl seitens der Schüler wie auch seitens der Lehrer.

 

4.4. Schlussbemerkungen

Die neue Regelung gilt ab Frühjahr 1980 für die 1. und 2. Klasse und soll mit dem Aufsteigen dieser Schüler allmählich für alle Klassen eingeführt werden. Dies hängt mit dem bereits erwähnten, aber noch nicht detailliert dargestellten Projekt in der jetzigen 1. Klasse zusammen, das auf die Entwicklung vertieften Erlebens und einer intrinsischen Motivation abzielt.

Es ist zu betonen, dass es sich beim beschriebenen Projekt um einen Versuch handelt. Eine Rückkehr zur bisherigen Praxis ist jederzeit möglich, wenn es sich herausstellen sollte, dass die angestrebten Ziele nicht erreicht und die beabsichtigten Prozesse nicht genügend aktiviert werden können. Wir versprechen uns von der Reform die folgenden positiven Veränderungen:

Wir werden nach andern Lösungen suchen, wenn sich diese Erwartungen nicht erfüllen oder wenn die neue Regelung von den Lehrern und von den Schülern als Überforderung erlebt wird.

 

Abschliessende Bemerkung Mai 2003:

Dieses hier entwickelte Leistungsbeurteilungsmodell wurde am Lehrerseminar St. Michael während 20 Jahren erfolgreich praktiziert. Niemals hat es als "System funktioniert", sondern musste von allen Beteiligten stets aus der grundlegenden Gesinnung heraus neu gestaltet und gehandhabt werden. Damit hat es eine wesentliche Funktion erfüllt: dass nämlich die bei jeder Bildungsunternehmung entstehenden Probleme wirklich dort in Erscheinung traten, wo sie ihre Wurzeln hatten, und nicht einfach mittels eines starren (und deshalb "funktionierenden") Systems verdrängt werden konnten. Die massgebenden Kräfte der schweizerischen Bildungspolitik haben es als richtig befunden, sämtliche Lehrerseminare aufzuheben und die Lehrerbildung an die Hochschulen zu verlagern. Damit gehört auch die hier beschriebene, in pädagogischem Denken wurzelnde Leistungsbeurteilung der Vergangenheit an.

 

Adresse des Verfassers:

Dr. Arthur Brühlmeier

CH - 5452 Oberrohrdorf (Kanton Aargau, Schweiz)

arthur@bruehlmeier.info

www.bruehlmeier.info